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Samstag, 15. Juni, 16 Uhr
Als Markham die Einzelheiten des Verhörs telefonisch an Heath durchgegeben hatte, kehrten wir wieder in den Club zurück. Normalerweise schließt das Büro des Staatsanwalts am Samstag um dreizehn Uhr; aber heute war es später geworden. Markham war in gedankenvolles Schweigen versunken, das er bis zu unserer Ankunft im Club nicht durchbrach. Erst als wir in den bequemen Clubsesseln saßen, platzte er heraus: »Verdammt nochmal! Ich hätte sie nicht laufen lassen sollen. – Ich habe noch immer das Gefühl, daß sie schuldig ist.«
Vance tat überrascht: »Tatsächlich?«
»Vorläufig habe ich noch keine Beweise«, sagte Markham, »daß dein Glaube an ihre Unschuld auf etwas anderem basiert als auf einer Einbildungskraft.«
»Aber natürlich gibt es diese Beweise«, sagte Vance. »Ich weiß eben, daß sie unschuldig ist. Außerdem weiß ich, daß dieses Verbrechen unmöglich von einer Frau begangen werden konnte.«
»Komm mir bloß nicht damit, daß eine Frau nicht mit einem fünfundvierziger Armee-Colt umgehen kann.«
»Ach was!« Vance tat diesen Einwand mit einem Schulterzucken ab. »Wie du weißt, interessiert mich so etwas überhaupt nicht. Ich habe andere und sicherere Methoden um zu einem Schluß zu kommen. Deshalb habe ich dir auch gesagt, daß, wenn du irgendeine Frau einsperren würdest, du dich furchtbar blamiert hättest.«
Markham schnaufte. »Und trotzdem scheinst du alle anderen Wege, wodurch die Wahrheit gefunden werden könnte, abzulehnen. Hast du vielleicht zufällig dein Vertrauen in die Tätigkeit des menschlichen Geistes aufgegeben?«
»Aha, da spricht die Stimme von Gottes großem Durchschnittsmenschen!« sagte Vance. »Deine Gedanken sind typisch Markham. Es geht nach dem Prinzip, daß das, was du weißt, kein Wissen ist, und daß es – nachdem du etwas nicht verstehst – es keine Erklärung gibt. Ein bequemer Standpunkt. Es befreit einen von jeder Sorge und Unsicherheit. Findest du nicht, daß die Welt etwas sehr Hübsches und Wunderbares ist?«
Markham gab sich leutselig: »Während unseres gemeinsamen Mittagessens hast du, glaube ich, von einer unfehlbaren Methode gesprochen, ein Verbrechen aufzuklären. Wärst du so nett, uns dieses einfache und unbezahlbare Geheimnis zu erläutern?«
Vance verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit.
»Aber selbstverständlich, mit Vergnügen«, gab er zurück. »Ich bezog mich bereits auf die Wissenschaft des individuellen Charakters und die Psychologie der menschlichen Natur. Wir alle tun Dinge auf eine gewisse individuelle Art, die unserem jeweiligen Temperament entsprechen. Jede menschliche Tat – egal wie groß oder wie klein – ist der direkte Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit, und sie trägt unweigerlich den Stempel seiner Natur. Ein Musiker kann beispielsweise, wenn er ein Notenblatt sieht, sagen, wer die Komposition geschaffen hat. Und ein Künstler, der ein Gemälde sieht, weiß sofort, ob es ein Rembrandt oder ein Franz Hals ist. Und genauso sind zwei Gesichter niemals absolut gleich. Wenn sich zwanzig Maler hinsetzen, um denselben Gegenstand zu malen, wird es jeder anders auffassen und ausdrücken. Das Ergebnis ist in jedem Fall ein bestimmter und unverkennbarer Ausdruck der Persönlichkeit des Malers, der es geschaffen hat. Es ist doch ganz einfach, oder nicht?«
»Deine Theorie würde zweifellos jedem Maler verständlich sein«, sagte Markham ironisch. »Aber diese metaphysische Betrachtungsweise ist beträchtlich außerhalb der Reichweite eines normalen Sterblichen. Es gibt eben doch einen kleinen Unterschied zwischen der Kunst und dem Verbrechen.«
»Psychologisch gesehen, mein Freund, gibt es den nicht«, stellte Vance fest. »Verbrechen besitzen die Grundfaktoren eines Kunstwerkes – Annahme, Konzeption, Technik, Phantasie, Angriff, Methode und Organisation. Darüber hinaus variieren Verbrechen in ihrer Art genauso wie Kunstwerke. Tatsächlich ist ein sorgfältig geplantes Verbrechen ein genauso direkter Ausdruck eines Individuums wie zum Beispiel ein Gemälde und gerade darin liegt die große Möglichkeit der Aufklärung. Genauso wie ein fachlicher Ästhet ein Bild analysieren kann und dir dann sagt, wer es gemalt hat oder welche Persönlichkeit und welches Temperament die Person hat, die es gemalt hat, genauso kann ein guter Psychologe ein Verbrechen analysieren und dir sagen, wer es begangen hat – das heißt, nur dann, wenn er diese Person zufällig kennt oder sie ihm beschrieben wurde. Mit mathematischer Genauigkeit passen die Natur des Kriminellen und der Charakter des Verbrechens zusammen ... Und das, mein lieber Markham, ist die einzige sichere Möglichkeit, menschliche Schuld nachzuweisen; alles andere ist Herumrätseln, unwissenschaftlich, unsicher und – gefährlich.«
Markham hatte interessiert zugehört, aber man sah ihm an, daß er die Theorien von Vance nicht ernst nahm.
»In deinem System gibt es keine Motive«, wandte er ein.
»Natürlich«, antwortete Vance, »weil das bei den meisten Verbrechen nicht stichhaltig ist. Jeder von uns, mein lieber Freund, hat ein Motiv, um eine ganze Reihe von Leuten umzubringen. Wenn jemand ermordet wird, gibt es mindestens ein Dutzend unschuldiger Leute, die ein genauso starkes Motiv für die Tat hatten wie der wirkliche Mörder. Die Tatsache, daß jemand ein Motiv hat, ist wirklich keinerlei Beweis dafür, daß er ein Verbrechen begangen hat. Jemanden eines Mordes zu verdächtigen, nur weil er ein Motiv hat, ist beinahe so, als beschuldigte man jemand, mit der Frau eines anderen durchgegangen zu sein, nur weil er zwei Beine hat. Der Grund, warum einige Leute töten und andere nicht, ist einfach eine Frage des Temperaments – der individuellen Psychologie. Nur darauf läuft alles hinaus. Und noch etwas: wenn jemand ein wirkliches Motiv hat – ein gewaltiges, übermächtiges Motiv –, so wird er es hübsch für sich behalten, es verstecken und sich besonders zurückhalten. Er könnte sein Motiv sogar im Laufe der Jahre, wo er sich vorbereitet, so verfremden, daß es nicht mehr erkannt wird; oder das Motiv entsteht ganz plötzlich, innerhalb von fünf Minuten. Deshalb ist das Nichtvorhandensein eines offensichtlichen Motives unter Umständen belastender, als wenn man ein Motiv findet.«
»Du wirst Schwierigkeiten haben, wenn du den Gedanken des cui bono aus der Betrachtung eines Verbrechens ausschalten willst.
»Ich muß schon sagen«, meinte Vance, »die Idee des cui bono ist albern genug, um unausrottbar zu sein. Und doch haben viele Leute irgendwelche Vorteile, wenn irgend jemand stirbt.«
»Die bloße Gelegenheit«, beharrte Markham, »ist ein unübersehbarer Faktor bei Verbrechen.«
»Noch ein nichtssagender Faktor«, sagte Vance. »Denke einmal an die vielen Möglichkeiten, die wir Tag für Tag hätten, jemanden umzubringen, den wir nicht ausstehen können! Erst kürzlich hatte ich zum Abendessen zehn unbeschreibliche Langweiler bei mir zu Haus – eine gesellschaftliche Verpflichtung. Aber ich konnte mich zurückhalten – mit nicht geringem Kraftaufwand, wohlgemerkt –, ihnen Arsen ins Essen zu tun. Verstehst du, die Borgias und ich gehören einfach in verschiedene psychologische Kategorien.«
»Da ich nicht so denke wie du«, gab Markham zurück, »kann ich mich nur an die menschliche Vernunft halten.«
»Zweifellos«, gab Vance verbindlich zu. »Und die bisherigen Ergebnisse dieser Methode bringen mich zu dem Schluß, daß ein Mann mit einer Handvoll juristischer Logik sich erfolgreich den heldenhaftesten Schlußfolgerungen des gesunden Menschenverstandes widersetzen kann.«
Markham war pikiert. »Denkst du immer noch daran, daß die St. Clair unschuldig ist? Aber da es keine anderen Beweise gibt, habe ich keine andere Wahl, das mußt du zugeben.«
»Das werde ich auf gar keinen Fall zugeben«, sagte Vance, »denn ich versichere dir, daß es sehr wohl noch andere Möglichkeiten gibt. Nur hast du sie einfach nicht erkannt.«
»So, meinst du?« Vances ruhige, selbstsichere Art hatte es endlich dahin gebracht, daß es mit Markhams Fassung vorbei war. »Sehr wohl, alter Junge; hiermit bestreite ich ganz entschieden, daß von deinen feinen Theorien auch nur eine etwas taugt. Trotzdem fordere ich dich auf, ein einziges Beweismittel aufzuzeigen, von dessen Existenz du so überzeugt bist.« Er machte eine kurze, wütende Bewegung mit dem ausgestreckten Zeigefinger, um damit zu zeigen, daß dieses Thema von seiner Seite aus erledigt war.
Ich glaube, Vance geriet jetzt auch ein wenig in Erregung. »Weißt du, mein lieber Markham, ich bin kein blutgieriger Rächer, noch ein Verteidiger von bestehendem Recht und Ordnung. Diese Rolle würde mich langweilen.«
Markham lächelte, antwortete jedoch nicht.
Vance rauchte eine Weile nachdenklich. Dann wandte er sich zu meinem Erstaunen völlig ruhig an Markham und sagte: »Ich werde deine Herausforderung annehmen. Sie geht mir zwar ein wenig gegen den Strich; aber das Problem gefällt mir ganz gut.«
Markhams Zigarre blieb auf halben Wege zwischen Tisch und seinen Lippen hängen. »Sag' mir dann mal, wie du eigentlich vorgehen willst?«
Vance winkte lässig ab. »So wie Napoleon es machte: Ich unternehme etwas, dann sehe ich weiter. Ich muß aber dein Wort darauf haben, daß du mir jede mögliche Hilfe zuteil werden läßt.«
Markham schob die Lippen vor. Er war offensichtlich erstaunt, aber gleich darauf lachte er herzlich. »Also gut«, meinte er. »Mein Wort hast du. Und wie geht's jetzt weiter?«
Nach einer Weile zündete Vance sich eine neue Zigarette an und erhob sich lässig. »Als erstes«, begann er, »werde ich die genaue Größe des Täters feststellen. Zweifellos wird eine solche Tatsache unter die Rubrik erwiesene Tatsachen fallen – oder nicht?«
Markham starrte ihn ungläubig an. »Wie willst du denn das bewerkstelligen?«
»Durch die primitiven Suchmethoden, an die du so rührend glaubst«, antwortete er leichthin. »Aber komm' jetzt; gehen wir zusammen zurück zum Tatort.« Er ging zur Tür, und Markham folgte ihm zögernd und etwas irritiert.«
»Aber du weißt doch, daß die Leiche abtransportiert wurde«, wandte Markham ein; »und in der Zwischenzeit ist zweifellos gründlich aufgeräumt worden.«
»Gott sei Dank!« murmelte Vance. »Ich bin nämlich gar nicht angetan von Leichen; und Unordnung ist mir ein Greuel.«