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Mittwoch, 19. Juni, 17.30 Uhr
Die Haushälterin schien sich unbehaglich zu fühlen. Sie war eine große, kräftig gebaute Frau, aber jetzt machte sie einen deutlich zusammengeschrumpften Eindruck und sah aus, als habe sie seit langem schreckliche Angst. Wie in einem Trancezustand setzte sie sich auf den Stuhl, den Vance ihr anbot und erwartete dann ihr Todesurteil. Als Vance sie musterte, zuckte sie ängstlich zusammen und wandte ihr Gesicht ab, als fürchte sie, er könne etwas darinnen lesen, was sie ängstlich zu verbergen trachtete.
»Mrs. Platz«, fragte Vance ohne jede Vorrede, »war Mr. Benson wegen seines Toupets besonders eigen? Hat er oft Freunde empfangen, ohne es zu tragen?«
Die Frau schien erleichtert zu sein. »Nein, Sir, niemals!«
»Überlegen Sie genau, Mrs. Platz. War Mr. Benson niemals, soviel Sie wissen, in Gesellschaft anderer Leute ohne dieses Toupet?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Einmal sah ich, wie er seine Perücke abnahm und sie Colonel Ostrander zeigte. Das ist ein älterer Herr, der ihn öfter besuchte. Aber der Colonel war ja auch ein alter Freund von ihm. Sie hatten einige Zeit zusammen eine Wohnung.«
»Sonst niemand?«
»Nein«, antwortete sie nach kurzem Überlegen.
»Und seine Kunden?«
»Mit denen und mit Fremden war er besonders eigen. Wenn es heiß war, und er saß ohne seine Perücke da, dann zog er immer an diesem Fenster die Blende herunter.« Sie deutete auf jenes Fenster, das der Halle am nächsten lag. »Hier kann man nämlich von der Treppe aus hereinsehen.«
»Es freut mich, daß Sie diesen Punkt zur Sprache bringen«, antwortete Vance. »Wenn also jemand auf der Treppe stand, konnte er an das Fenster klopfen, oder sich an den Gitterstäben festhalten, um die Aufmerksamkeit desjenigen, der hier saß, auf sich zu ziehen?«
»Sicher, Sir!«
»Und die Person, die Mr. Benson erschoß, konnte doch auf die Art Einlaß gesucht haben, oder nicht?«
»Ja, Sir«, gab sie eifrig zu.
»Eine Person, die Mr. Benson gut kannte, klopfte also vielleicht lieber an das Fenster, als zu läuten. Stimmt das, Mrs. Platz?«
»Ja, Sir.« Das klang nicht mehr ganz so sicher, aber wahrscheinlich begriff sie den Sinn der Frage nicht.
»Wenn ein Fremder an das Fenster klopfte, würde Mr. Benson ihn ohne sein Toupet eingelassen haben?«
»Nein! Einen Fremden niemals!«
»Und die Klingel haben Sie in jener Nacht wirklich nicht gehört?«
»Da bin ich ganz sicher, Sir.«
»Können Sie durch die Tür sehen, wer draußen steht, ohne sie aufzumachen?«
»Nein, Sir. Manchmal wünschte ich mir das schon.«
»Wenn jemand an das Fenster klopfte, konnte Mr. Benson doch die Stimme erkennen?«
»Das nehme ich auch an, Sir.«
»Wer hatte eigentlich einen Wohnungsschlüssel?«
»Mr. Benson und ich. Sonst niemand, Sir.«
Vance nickte. »Sie sagten, in der Nacht, als Mr. Benson erschossen wurde, hatten Sie Ihre Schlafzimmertür offen. Ist sie immer oder öfter offen?«
»Nein, sie ist fast immer zu. In der Nacht war es entsetzlich schwül.«
»Dann war es reiner Zufall, daß sie offen war.« Sie nickte heftig. »Glauben Sie, Sie hätten den Schuß gehört, wenn Ihre Tür geschlossen gewesen wäre?«
»Wenn ich hellwach gewesen wäre, vielleicht, aber nicht, wenn ich geschlafen hätte. Die Türen in diesen alten Häusern sind nämlich ziemlich dick, Sir.«
»Hm. Und sehr schön.« Vance musterte eine Weile die Mahagonitür, und Mrs. Platz musterte ihn. »Was hat Mr. Benson mit diesem Schmuckkästchen gemacht, als er zum Essen wegging?« fragte er.
»Nichts, Sir«, erwiderte sie nervös. »Er ließ es auf dem Tisch stehen.
»Haben Sie es noch gesehen, nachdem er gegangen war?«
»Ja, Sir. Ich wollte es wegräumen, aber dann dachte ich mir, es sei besser, ich rühre es nicht an.«
»Und niemand betrat das Haus, nachdem Mr. Benson weg war?«
»Nein, Sir. Das weiß ich ganz genau.«
Vance stand auf und ging mit langen Schritten auf und ab. Vor der Frau blieb er plötzlich stehen und sah sie an. »Sagen Sie, Mrs. Platz, war Ihr Mädchenname Hoffman?«
Sie wurde blaß, riß die Augen auf, und die Unterlippe fiel zitternd herab.
Vance sah sie noch immer an. »Ich hatte das Vergnügen, Ihre entzückende Tochter kennenzulernen.«
»Me-Meine T-T-Tochter?« stammelte sie.
»Miß Hoffman, wissen Sie. Die hübsche junge Dame mit dem blonden Haar. Mr. Bensons Sekretärin.«
Die Frau richtete sich hoch auf. »Sie ist nicht meine Tochter«, quetschte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Na, na, Mrs. Platz!« meinte Vance begütigend. »Warum streiten Sie's denn ab? Weil Sie glaubten, ich hätte ein persönliches Interesse an der jungen Dame, die bei Mr. Benson zum Tee war? Sie fürchteten, ich hätte geglaubt, es sei Miß Hoffman gewesen. Warum sollten Sie sich ihretwegen Sorgen machen? Sie ist doch ein reizendes Mädchen, Mrs. Platz, wirklich.« Er lächelte sie beruhigend an, und das tat auch schließlich seine Wirkung.
»Miß Hoffman ist klug und tüchtig, und Sie glaubten, eine Haushälterin als Mutter sei ihrem Erfolg vielleicht hinderlich. Das war ja sehr großzügig von Ihnen ... Ihre Tochter wohnt allein?«
»Ja, Sir. In Morningside Heights. Ich sehe sie jede Woche.«
»Klar, so oft Sie können. Haben Sie die Stellung hier angenommen, weil sie Mr. Bensons Sekretärin war?«
Sie sah gequält auf. »Ja, Sir. Sie sagte mir ja, wie er war. Er ließ sie oft abends zu Extraarbeiten hierherkommen. Und ich wollte auf sie aufpassen, damit sie's leichter hatte mit ihm.«
»Warum hatten Sie am Morgen nach dem Mord so Angst, als Mr. Markham Sie fragte, ob Mr. Benson hier im Haus Waffen hatte?«
»Ich ... hatte keine Angst.«
»Das weiß ich sicher und ich sage Ihnen auch warum. Sie dachten, wir könnten annehmen, Miß Hoffman habe ihn erschossen.«
»Nein, Sir, ganz bestimmt nicht!« rief sie. »Ich schwöre, meine Tochter war an diesem Abend gar nicht da!« Die nervöse Spannung einer ganzen Woche machte sich in ihrer Verzweiflung bemerkbar.
»Kommen Sie, Mrs. Platz«, versuchte Vance sie zu beruhigen. »Keiner glaubt auch nur für eine Sekunde, Miß Hoffman könnte etwas mit Mr. Bensons Tod zu tun haben.«
Die Frau sah ängstlich zu ihm auf, und er hatte es wirklich nicht leicht, sie zu beruhigen. Als wir endlich nach etwa einer weiteren Viertelstunde das Haus verließen, hatte sie sich jedoch wieder einigermaßen gefaßt.
Im Club rauchte Vance verträumt vor sich hin. Wir hatten das Abendessen im Dachgarten eingenommen und sahen über die Baumspitzen zum Madison Square hinunter.
»Und jetzt, Markham, gib mal alle deine Vorurteile auf und sieh die ganze Sache mit den Augen eines neutralen Juristen an«, riet ihm Vance plötzlich. »Wir wissen, weshalb Mrs. Platz so wegen der Waffen besorgt war. Wir wissen, weshalb sie meine Frage nach dem Teebesuch so erregte. Diese zwei Probleme sind gelöst.«
»Wie hast du ihr Verhältnis zu dem Mädchen herausgefunden?« fragte Markham verwundert.
»Mit meinen Äugelchen. Du weißt doch, wie genau ich die junge Dame bei dem ersten Besuch unter die Lupe genommen habe. Weißt du noch, daß wir uns über Schädelformen unterhalten haben? Miß Hoffman, das sah ich sofort, hatte die gleichen Merkmale wie die Haushälterin Bensons. Sie ist kurzköpfig, hat sehr ausgeprägte Wangenknochen, eine absolut normale Kieferstellung, ein flaches Scheitelbein, eine Nase von mäßiger Breite und mittelhohem Nasenrücken – und das Ohr. Mrs. Platz hat ein sogenanntes ›Sartyrohr‹, also ohne Läppchen. Dieses Ohr vererbt sich. Daß Mrs. Platz als Mädchen Hoffman hieß, habe ich nur vermutet, aber das ist ja egal, denn es stimmt ja.«
Und jetzt die juristischen Überlegungen. Der Mörder kam also kurz vor halb eins in der Nacht des Dreizehnten zu Bensons Haus, klopfte an das Fenster und wurde sofort eingelassen. Worauf läßt das nun schließen?«
»Daß Benson mit ihm bekannt war«, antwortete Markham. »Aber das hilft uns auch nicht weiter. Wir können schließlich nicht jeden aufhängen, den er gekannt hat.«
»Es lassen sich viel weitergehende Schlüsse ziehen«, widersprach ihm Vance. »Bensons Besucher war ohne Zweifel ein Mann, bei dem es ihm egal war, wie er aussah; ein sehr intimer Freund vielleicht. Das fehlende Toupet weist eindeutig darauf hin. Ein solches Toupet ist für einen Mann mittlerer Jahre, der mit Kahlköpfigkeit geschlagen ist, eine unerläßliche Notwendigkeit. Du hast doch gehört, was Mrs. Platz darüber sagte. Was meinst du, wie viele so naher Freunde könnte Benson gehabt haben, mit denen er sich so halbnackt an einen Tisch setzte?«
»Drei oder vier vielleicht«, erwiderte Markham. »Aber ich kann sie doch nicht alle einsperren.«
»Du würdest es schon tun, wenn du es könntest. Nötig ist es allerdings nicht.« Vance zündete eine frische Zigarette an. »Es gibt noch andere, sehr nützliche Hinweise. Diese Juwelen, Markham. Diese Unterpfänder der Liebe. Hast du an die gedacht? Sie lagen auf dem Tisch, als Benson nach Hause kam, waren aber am Morgen verschwunden. Mir scheint, der Mörder muß sie mitgenommen haben. Vielleicht waren sie sogar einer der Mordgründe? Wenn ja, wer von Bensons intimsten Freunden wußte, daß sie im Haus waren? Und wer wollte sie haben?«
»Ja, genau, Vance.« Markham nickte nachdrücklich. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Bei diesem Pfyfe hatte ich schon von Anfang an ein so unbehagliches Gefühl. Ich wollte heute schon den Haftbefehl für ihn ausschreiben, aber da kam dann Leacocks Geständnis dazwischen. Als sich diese Geschichte dann in Luft auflöste, kam ich sofort wieder auf Pfyfe zurück. Und was du heute im Laufe des Nachmittags gesagt hast, deckt sich mit dem, was mir durch den Kopf gegangen ist. Pfyfe ist unser Mann ...«
Er hatte bei den letzten Sätzen mit dem Stuhl geschaukelt, und ließ nun unvermittelt die Vorderbeine auf den Boden krachen. »Und du läßt ihn, verdammt noch mal, entwischen!«
»Reg' dich nicht so auf, Alter«, redete Vance ihm zu. »Ich stelle mir vor, daß er bei Mrs. Pfyfe recht gut aufgehoben ist. Du brauchst ihn weder heute noch morgen.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« fuhr Markham auf.
»Er ist doch ein recht liebenswerter, netter Mensch«, behauptete Vance voll unverschämter Ruhe. »Stimmt doch, oder nicht? Und außerdem – er ist ja nicht der Mörder.«
Markham machte ein Gesicht, als nehme er an, Vance sei plötzlich übergeschnappt. »Ich begreife dich nicht. Wenn du Pfyfe für unschuldig hältst, wer soll dann der Mörder sein?«
Vance sah auf die Uhr. »Komm morgen früh zu mir zum Frühstück und bring diese Alibis mit, um die du Heath gebeten hast. Ich sage dir dann, wer Benson erschossen hat.«
Irgendwie schien Markham doch beeindruckt zu sein. Ein solches Versprechen würde Vance niemals abgeben, wenn er nicht felsenfest davon überzeugt wäre, daß er es halten könnte. Er kannte Vance wirklich sehr genau. »Warum sagst du es mir nicht jetzt gleich?« fragte er.
»Tut mir schrecklich leid, aber ich gehe heute zu den Philharmonikern«, entschuldigte sich Vance. »Komm doch mit, Alter. Beruhigt die Nerven und so weiter.«
»Meine nicht!« knurrte Markham. »Ich brauche einen Brandy.«
»Also dann morgen um neun bei mir«, sagte Vance, als wir uns verabschiedeten. »Laß dein Büro ein bißchen warten. Und vergiß nicht, Heath um die Alibis zu fragen. Und noch etwas, Markham. Wie groß, meinst du, ist Mr. Platz?«