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Punkt neun Uhr wurde leise an die Tür geklopft; es war das Modell.
Ein Mädchen zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Jahren trat ein, in einem etwas zu kurzen, blauen Merinokleid, auf dem Kopfe einen Strohhut mit Lilaband. Ein kleiner, nicht ganz reiner Kragen, ein großkariertes Umhängetuch, Schnürschuhe und Seidenhandschuhe mit ziemlich defekten Fingerspitzen komplettierten dieses Kostüm. Es fiel mir aber eigentlich gar nicht auf. Denn ich hatte von einem Mädchen, welches 6 Franks für eine Sitzung erhielt, nicht erwartet, daß dasselbe in Spitzen und Seide daherkommen werde, auch hatte ich derartige bescheidene Kostüme bei den Arbeiterinnen meiner Mutter und bei meiner Mutter selbst gesehen. Das überraschte mich also nicht, es schien mir auch nicht lächerlich; es hatte vielmehr für mich einen gewissen intimen Reiz. Aber das alles hing von Fräulein Mariette so nachlässig herunter, daß ich mich fragte, durch welches Wunder aus dieser unscheinbaren Person eine Venus hervorgehen solle.
Der Kopf bot nichts Bemerkenswertes; die Augen waren ziemlich sanft, die Haare braun, der Teint etwas rot, die Zähne regulär; ein kleines Stumpfnäschen, ein Durchschnittsprofil und eine ziemlich sympathische Stimme.
Ich brauche nicht zu sagen, daß Herr Ritz seine Modelle mit vollendeter Liebenswürdigkeit und ausgesuchter Höflichkeit behandelte.
»Sie haben sich erkältet, mein liebes Kind,« sagte er zu dem Mädchen, das ein wenig hustete.
»Das hat nichts auf sich, ich habe mir das bei Herrn P. N. geholt. Ihm ist immer zu heiß und da läßt er das Feuer ausgehen. Er merkt nichts davon, da er doch angezogen ist.«
»Woran arbeitet er denn jetzt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Haben Sie nicht hingesehen?«
»Nein, er hat's nicht gern, wenn man neugierig ist. Ich weiß nichts weiter, als daß ich auf den Knien mit hoch erhobenen Armen liegen mußte. Höchst wahrscheinlich ist es wieder ein » Löwe von Florenz«.
Ich konnte mich nicht enthalten, zu lachen.
»Beruhigen Sie sich,« sagte Herr Ritz, »heute müssen Sie nicht die Arme hochhalten.«
»Ist mir egal, hier ist's wenigstens warm.«
»Also gehen wir an die Arbeit.«
Mariette entfernte sich vom Ofen, wo sie seit ihrem Eintreten gestanden. Ich machte den Versuch, recht unbefangen dreinzuschauen, aber ich knetete ziemlich nervös den Ton. Nachdem Mariette Hut und Umhängetuch abgelegt, ging sie nach der Estrade zu und fragte Herrn Ritz:
»Ganz?«
»Ja.«
Dann, als ob es sich um das Harmloseste und Natürlichste von der Welt gehandelt hätte, knöpfte sie die Taille auf, schlüpfte aus den Aermeln und ließ sodann ihr Kleid der Länge nach auf die Erde hinabgleiten. Ruhig hob sie es auf und trug es nach einem Stuhle. Darauf nahm sie den Kragen ab, den sie sorgfältig auf das Kleid legte, band den Unterrock los und befand sich, da sie kein Mieder trug, im Hemde. Sie setzte sich nieder und den rechten auf den linken Fuß legend, knüpfte sie ihre Schuhe auf in jener Stellung, welche Pradier einer seiner reizendsten Statuetten gegeben hatte. Schließlich zog sie die Strümpfe aus, ließ ihr Hemd zur Erde fallen und stieß alles mit dem nackten Fuße in einen Winkel.
Mit leicht zurückgeworfenem Kopfe und mit beiden Händen das über die Schulter fallende Haar haltend, sagte sie:
»Welche Stellung soll ich denn einnehmen?«
Ich drehte mich nach Herrn Ritz um, einesteils um inzwischen Haltung zu gewinnen, andererseits um seine Antwort zu hören. Er hatte sich auf ein Sofa hingestreckt, ohne ein Auge von mir zu wenden.
»Bitte, bestimmen Sie selbst,« sagte er zu mir.
»Diejenige, welche das Fräulein soeben eingenommen hatte,« antwortete ich mit etwas unsicherer Stimme.
»Meinetwegen.«
Mariette hatte inzwischen die Arme sinken lassen.
»Bitte, Fräulein, halten Sie sich Ihr Haar, so wie Sie es vorhin getan haben.«
Sie versuchte diese Stellung wiederzugewinnen, aber es gelang ihr nicht vollständig.
»Den Kopf ein wenig nach rückwärts – nicht so!« Und ohne zu merken, was ich tat, sprang ich auf die Estrade, nahm sie bei den Armen und brachte dieselben in die Lage, in welcher ich sie modellieren wollte.
»Na, ich sehe schon,« sagte das Mädchen lachend, »meine Arme werden heute wieder in der Luft hängen!«
Ich zog meine Jacke aus, schlug die Hemdärmel hinauf, setzte mich sodann auf meinen Arbeitsschemel, um den Kopf des Modells deutlich zu sehen und machte mich resolut an die Arbeit. »Ich habe auch zu tun,« sagte Herr Ritz und verließ das Atelier. »Lassen Sie das Feuer nicht ausgehen.«
Mit merkwürdiger Raschheit hatte mein Denken eine andere Wendung genommen und war nur darauf gerichtet, wiederzugeben, was ich sah. Keine Minute war verflossen, und schon schien mir alles, was geschehen, ganz natürlich. Ich studierte und betrachtete mein lebendes Modell genau so, wie ich bislang alle die leblosen betrachtet hatte; nur daß ich vor Ungeduld brannte, das Leben in seinen Einzelheiten zu erfassen und den Eindruck, welcher mir von einem Augenblick zum andern entschlüpfen konnte, in meinem Tonmodell festzuhalten. Der Arbeitseifer schien durch eine Art Kampf mit dem flüchtigen Moment noch zu wachsen. Dazu trat ferner die Bewunderung, welche frei war von jeder sinnlichen Beimischung.
Wie unbedeutend sind doch die schönsten Schöpfungen der Kunst gegen die Schöpfungen der Natur! Ich begriff jetzt erst das Wort, welches ich so oft von meinem Meister und seinen Freunden gehört hatte: »Die Natur ist zum Verzweifeln.« Und dabei dachte ich an die vielen Künstler, welche es vorziehen, sich an die Tradition zu halten, und nur die Werke der Menschen nachzuahmen, anstatt die des Herrn sich zum Muster zu nehmen. Es ist ganz richtig, daß, was das Ebenmaß der Erscheinung anbelangt, kein Weib so vollkommen ist wie eine Statue, und daß, wenn Gott eine dieser Statuen plötzlich beleben würde, diese vollendeter wäre als die berühmteste Schönheit und daß sie in sich enthalten würde alles, was das Genie des Künstlers mit den Gaben des Schöpfers vereinigen konnte. Aber Gott braucht nicht diese heidnischen Wunder und das unvollkommenste Werk seiner Hände ist und bleibt immer erhabener als das unsrige, so vollkommen es uns auch scheint; denn von unserer Hände Werken vermag keines den Blick, das Lächeln und den warmen Pulsschlag des Lebens wiederzugeben.
Die zwei ersten Stunden der Sitzung vergingen wie im Fluge. Ich war von der Arbeit ganz in Schweiß geraten, aber ich bemerkte dies ebensowenig wie Mariettens Ermüdung, welcher ich nur zwei oder drei Mal gestattet hatte, die Arme zu senken, um ihr gleich wieder zuzurufen: »Rühren Sie sich nicht«. Das Atemholen, wodurch in regelmäßigen Zügen ihre Brust mit unendlicher Grazie sich hob und senkte, das leichte Erschauern des Körpers bei jedem noch so kleinen Gefühl von Kälte, das junge, üppige Blut, welches die feingeäderte, zartbraune Haut durchschimmerte, das alles wollte ich künstlerisch verwerten und meinem Geiste einprägen. Ich war wie berauscht und dachte nicht allein an die Komposition, die ich unter den Händen hatte, sondern tausend Ideen gingen mir durch den Kopf, neue Attitüden, Konturen, Stellungen und Statuen wurden in mir lebendig.
»Wollen Sie nicht für heute die Arbeit unterbrechen?« hörte ich plötzlich hinter mir die Stimme des Herrn Ritz.
»Das ist 'ne brillante Idee,« rief Mariette, »ich will inzwischen im Ofen nachlegen.«
Sie zog ihren Unterrock an, warf ihr Tuch um die entblößten Schultern und legte, indem sie sich vor den Ofen setzte, Kohlen in denselben. Ich trocknete mein Gesicht ab und blickte Herrn Ritz an, um ihn zu fragen, ob er zufrieden sei.
»Das ist zum Staunen,« rief er, indem er bald mich, bald meine Arbeit betrachtete. »Es ist großartig. Ich habe mich in Ihnen in der Tat nicht getäuscht.
Jawohl,« fuhr er fort. »Ich will noch einige Bemerkungen machen, obzwar Sie von nun ab, das ist meine feste Ueberzeugung, niemandes bedürfen. Sie werden ganz allein Ihren Weg machen und Sie werden es weit bringen, weil Sie die Natur verstehen und lieben. Aber merken Sie sich wohl: die Natur ist nicht der einzige Zweck der Kunst. Wissen Sie, was die Kunst ist? Sie ist das Schöne in dem Wahren, und sie hat sich nach diesem Prinzipe grundlegende Regeln geschaffen, welche Sie vergeblich in der Natur allein suchen würden. Wenn die Natur allein genügen würde, dann brauchten Sie nur ein gutes Modell vom Kopf bis zu den Füßen sklavisch nachzuformen, um ein Meisterwerk zu schaffen. Aber auf diesem Wege gelangen wir nur zu dem Grotesken. Das Talent muß die Natur zu ergänzen suchen. Nur derjenige, welcher immer die Regeln des Schönen vor Augen hat und dabei die Wahrheit nicht vergißt, nur derjenige kann ein großer Künstler werden, wie wir dies bei Phidias, Michel Angelo und Rafael sehen. Ich habe Sie heute einer Probe unterworfen. Sie haben sie nach jeder Richtung hin glänzend bestanden.
Stehen Sie auf, Mariette, und nehmen Sie wieder die Stellung von vorhin ein. So ist's recht. Diese natürliche Pose, mein Freund, hat sofort Ihren Beifall gefunden. Aber sie genügt nur für eine Skizze, nicht aber für eine Statue. Ein Mädchen, welches mit den Händen das Haar zusammenhält, kann den Gegenstand einer Nippesfigur auf dem Kamine bilden, aber das ist kein Sujet für eine ernste Arbeit. Zudem haben Sie nur eine Seite ins Auge gefaßt.«
Auf seine Aufforderung mußte Mariette verschiedene Stellungen einnehmen, an welchen er die Einzelheiten und Geheimnisse unserer Kunst exemplifizierte.
Herr Ritz hatte mit großer Wärme und künstlerischer Erregung gesprochen.
Mariette zog sich inzwischen langsam wieder an, schlüpfte allmählich in alle ihre groben Kleidungsstücke und verhüllte dadurch die Schönheiten ihres Körpers, so wie der Trödler die blitzenden Diamanten, welche er uns zum Kaufe angeboten, wieder einen nach dem andern in seine schmutzige Tasche steckt, nachdem er sie gezeigt. Sie nahm das alles mit sich, wahrscheinlich ohne ein Wort von dem verstanden zu haben, was sie soeben gehört hatte.
Die Gefühle, welche in mir tobten, nachdem das Modell die Tür hinter sich geschlossen, bin ich nicht imstande zu schildern. Zu verschiedenartig waren die Eindrücke, welche das, was ich gesehen und gehört hatte, bei mir hervorgerufen hatte. Ich begann die Größe der Kunst und ihre Schwierigkeiten zu verstehen. Wie viel Illusionen werde ich aufgeben, wie viel Neues werde ich lernen müssen? Werde ich zu allem den Mut haben! Wird es mir nicht selbst an Zeit gebrechen?
Dieses bedauernswerte Mädchen hatte mich unendlich traurig gestimmt. Welches Schicksal harrt ihrer, die um das trockene Brot die Geheimnisse ihrer Schönheit von Atelier zu Atelier trägt, um schließlich im Armenhospital zu sterben und noch mit ihrem Leichnam auf dem Seziertisch der Fakultät zu anatomischen Demonstrationen zu dienen. Es war das erste Mal, daß ich über die Zukunft dieser armen Wesen nachdachte, welche mich doch eigentlich nichts angingen. Aber ich hatte den Wunsch, Marietten nützlich zu sein, da sie die erste große Ueberraschung in meiner künstlerischen Laufbahn gewesen.
Sie war mir dadurch nicht mehr fremd; für jenes Mädchen, von welchem Konstantin nichts anderes als einen Augenblick zur Befriedigung seiner Lust begehrt hätte, habe ich Zeit meines Lebens eine dankbare Erinnerung bewahrt, vielleicht auch deshalb, weil ich bei dieser Probe allen Anfechtungen widerstanden habe. Merkwürdiger Einfall! Ich wünschte damals, daß niemand anders diesen Körper mehr sehe als ich, dem er durch eine unkörperliche Verbindung zu eigen geworden. Es war die erste Regung einer im Charakter des Mannes liegenden Eifersucht, welche für immer für sich behalten wollte, was ihr nur für den Moment gehörte. Dann sagte ich zu mir, meine Reflexionen beschließend: Also das ist ein Weib!
Herr Ritz hatte sofort bemerkt, daß in mir etwas vorgehe. Ich stierte die Wand an, ohne einen Laut von mir zu geben. In väterlichem Tone fragte er mich, worüber ich nachdenke; ich sagte es ihm ganz aufrichtig. »So ist es recht,« erwiderte er, »so muß es kommen, und ich beglückwünsche mich lebhaft zu dem Experiment, welches ich gemacht. Ich habe in der Tat mehr beabsichtigt, als ein Modell dem Künstler vorzuführen, vielmehr hatte ich die Absicht, ein Weib den Blicken eines jungen Mannes auszusetzen, welcher sicherlich wiederholt an die Weiber gedacht hat. Ich habe einige Male mit Ihrer Mutter über diese Angelegenheit gesprochen. Ihr war bange vor der Prüfung. Es hieß, alles auf eine Karte zu setzen. Wer wird stärker in Ihnen sein, der Mann oder der Künstler? Der Künstler hat gesiegt, ich habe nie daran gezweifelt. Der Mann hat bei diesem unerwarteten Anblick nur edle Gedanken in sich erstehen gesehen. Sie sind edel veranlagt, mein teurer Jüngling, und ich bin glücklich, daß dieser Eindruck bei Ihnen vorherrscht. Man glaubt allgemein, daß die Sitten der Künstler ungebundenere und lockerere seien als diejenigen der anderen Gesellschaftsklassen, und daß die Leidenschaft, das Laster und die Liederlichkeit sich dort entwickeln wie auf angestammtem Boden. Alles das wäre unzertrennlich vom Genie. Sie werden mit eigenen Augen sehen und sich zu überzeugen Gelegenheit haben, daß dies irrige und falsche Meinungen sind. Es gibt keinen dauernden Zusammenhang zwischen Laster und Genie. Wenn diese beiden Eigenschaften in einem Menschen zusammentreffen, vernichtet untrüglich eine die andere. Betrachten Sie aufmerksam das Privatleben jener, welche mit Recht auf den Namen Künstler Anspruch erheben dürfen, und Sie werden finden, daß dies Männer sind von wirklicher Gläubigkeit, und einige darunter von einer Reinheit der Sitten wie die Heiligen. Das wahre Genie ist keusch, und welche Form immer auch sein Werk habe, es bewahrt den keuschen Charakter.
Ich rate Ihnen selbstverständlich nicht dazu, der Liebe zu entsagen. Ihre ganze Individualität heischt Liebe und Sie sind einer tiefen Liebe fähig. Aber enthalten Sie sich so lange wie möglich dieser Liebe, welche nebst der Arbeit Ihr ganzes Leben auszufüllen berufen ist. Lassen Sie der Natur Zeit, alle jene Kräfte in Ihnen zu entwickeln, um diesen unvermeidlichen Feind zu empfangen und vielleicht um zu leiden. Sie werden sich zweifelsohne wie die anderen täuschen, Ihr Herz wird sich Schmarotzern öffnen in dem Glauben, daß es wahre große Freunde sind. Aber Sie werden lieben. Wen? Das ist Nebensache; die Hauptsache ist lieben!
Sie sehen, daß ich mit Ihnen wie mit einem Manne spreche. Wenn schließlich der Gegenstand Ihrer Liebe würdig sein wird, Ihre Lebenswege mit Ihnen zu gehen, wenn diejenige, welche Sie lieben, wert ist, Ihr Weib zu sein und wenn Sie in einer ruhigen Häuslichkeit in Ihrer künstlerischen Entwicklung fortschreiten und bedeutende Werke schaffen werden, dann haben Sie das große Problem gelöst: das Große mit dem Reinen, das Schöne mit dem Guten zu vereinen. Ich wünsche Ihnen dies von Herzen, da ich Sie von ganzem Herzen liebe. Ich habe diese Gelegenheit benutzt, um Ihnen ein Bild von der Zukunft aufzurollen, damit Sie die Gefahren des Lebens kennen. Betrachten Sie mich stets wie Ihren Vater, und was Sie vor Ihrer Mutter verschweigen wollen, sagen Sie es ungescheut mir. Meine Erfahrungen, meine Freundschaft und mein hilfsbereiter Rat stehen immer zu Ihrer Verfügung. Sie werden es bestimmt weiter bringen als ich, wozu übrigens«, schloß Herr Ritz melancholisch lächelnd, »nicht viel gehört.«