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23. Kapitel

Etwa einen Monat nach dieser Szene kam ich unerwartet in Auteuil an. In dem Augenblick, als ich die Salontüre öffnete, vernahm ich die Stimme von Iza; ich hatte sie nie so schreien, man könnte sagen kreischen gehört.

»Ach was! Soll sie der Teufel holen!« sagte sie. Ich trat ein.

»Von wem sprichst du so?« fragte ich.

»Wir sprechen von der Kammerzofe,« antwortete die Gräfin.

»Mein liebes Kind, du sollst dich nicht solcher Ausdrücke bedienen, die einer Dame deines Standes nicht ziemen, auch Dienstboten gegenüber nicht. Was hat es denn gegeben?«

»Nichts von Bedeutung, aber ich bin heute bei schlechter Laune. Deine Mutter ist unpäßlich. «

»Meine Mutter? Liegt sie zu Bette?«

»Nein, sie klagt nur über Kopfschmerzen.«

»Warum bist du denn nicht bei ihr?«

»Sie wollte allein sein.«

Ich eilte nach dem Zimmer meiner Mutter; ich fand sie bleich und in großer Aufregung. Ganz bestimmt hatte sie geweint, und das Weinen lag ihr noch nahe, als ich eintrat. Es gehörte ihre ganze Selbstbeherrschung dazu, um die Tränen zu unterdrücken.

»Iza hat mir gesagt, du seiest krank.«

»Nicht der Rede wert, mein Kind, etwas Kopfweh.«

»Du hast geweint.«

»Ja, die Schmerzen waren einen Augenblick fast unerträglich!«

»Warum wolltest du denn allein sein?«

»Weil mich der geringste Lärm stört.«

»Hast du dich über jemand zu beklagen?«

»Nein, über niemand.«

Sie konnte sich nicht mehr halten, sie fiel mir um den Hals und weinte bitterlich.

Ich bekam tatsächlich einen großen Schreck.

»Sag' mir, Mutter, was dir fehlt. Etwas ist nicht in Ordnung.«

»O nein, mach' dir keine Sorgen.«

»Ist dem Kinde etwas passiert?«

»Nein, dem Kinde geht es gut; ich gebe dir die Versicherung, es ist nichts – ich bin unliebenswürdig. Seit einiger Zeit ist mir nicht gut. Aber jetzt bist du da und ich fühle mich wieder wohler. Wir wollen in den Salon hinuntergehen.«

Sie war den ganzen Abend sehr ruhig. Eine volle Woche blieb ich auf dem Lande, und während dieser ganzen Zeit herrschte zwischen meiner Mutter, meiner Frau und der Gräfin das beste Einvernehmen.

Aber zusehends veränderte sich meine Mutter, sie wurde mit jedem Tage schwächer. Ich zog einen befreundeten Arzt zu Rate und verlangte von ihm die reine Wahrheit zu wissen.

Sie leide an Hypertrophie des Herzens, jener Krankheit, von welcher diejenigen befallen werden, die viel gearbeitet und viel gelitten hätten. Das Uebel datiere schon von früher her. Man könne nichts dagegen tun, sondern es nur mit großer Sorgfalt überwachen; besonders sei jede große Erregung fernzuhalten. Dies war der Rat des Arztes.

Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, in welche geistige Verfassung mich diese Nachricht versetzte. Ich verließ meine Mutter nicht mehr, welche die Wahrheit zu erraten schien. Hätte es sich nur um sie, um ihren Tod gehandelt, so hätte sie ihn getrost erwartet. Der Tod schreckt diejenigen nicht, welche viel gekämpft haben; er beschließt für sie nur die Reihe der Kämpfe. Aber sie kannte die Ränke, von welchen ich umgeben war, und die ich nicht ahnte, sie wollte mir nichts von diesen Intrigen sagen, aus Furcht, daß diese Enthüllungen mich töten würden. So lange sie lebte, konnte sie sich zwischen mich und die Ereignisse werfen, konnte ich bei ihr Schutz, Trost und Rat finden, falls die Wahrheit an den Tag träte. Wer sollte mir, wenn sie gestorben, in diesem Falle zur Seite stehen! Das waren die Gedanken, welche das Gehirn dieser Mutter zermarterten, dieser Mutter, welcher jede Aufregung verboten war!

Nichts verkürzt das Leben so als ein Geheimnis, welches man nicht verraten darf, welches sich täglich tausendmal auf die Lippen drängt, und das man wieder mit Gewalt in der innersten Falte des Herzens verbirgt. Glücklicherweise hatte meine Mutter einen Vertrauten, Konstantin, dem sie mich warm ans Herz legte, und der mir später diese Mitteilung gemacht hat. Sie besuchte ihn jedesmal, so oft sie ausging, aber er konnte nur selten kommen, als sie an das Zimmer gefesselt war. Ich war ihm für seine Besuche dankbar, und die Veranlassung, die ihn zu uns führte, minderte einigermaßen meinen Groll. Aber die vertraulichen Mitteilungen Izas hatten uns dennoch entfremdet.

»Du hast keinen besseren Freund als Konstantin,« sagte meine Mutter. »Versprich mir, daß du dein Kind seiner Schwester anvertrauen willst, falls dir ein Unglück zustößt. Man muß gerade in glücklichen Tagen an derartige Zwischenfälle denken. Vergiß niemals, daß du dieser Familie alles verdankst, was du bist. Unser ganzes Glück kommt von ihnen. Sei nicht undankbar, was so oft der Fall ist, wenn man Erfolg gehabt hat.«

Iza pflegte meine Mutter mit allen Zeichen der Ergebenheit, aber es ward ihr bald zu traurig zu Hause. Sie langweilte sich offenkundig. Ich bot ihr alle möglichen Zerstreuungen; meine Mutter selbst wünschte dies. Aber mit welcher Unruhe begleitete ich sie, sei es nach dem Theater oder in Gesellschaft! Zumeist ließ ich sie mit der Gräfin allein gehen.

Zu meinem ungeheuren Erstaunen tat sie das mit merkwürdiger Bereitwilligkeit. Mich deuchte, daß sie doch meine Sorgen und Beängstigungen teilen, sie mitfühlen sollte! Sie war so jung und hatte stets tausend Ausflüchte zur Hand!

Zwei oder drei Mal hatte meine Mutter, als sie ihr Ende nahen fühlte, lange Unterredungen ohne Zeugen mit meiner Frau. Iza kam von denselben stets ganz verwirrt zurück.

»Erspare mir diese Szenen,« bat sie eines Tages. »Sie machen mich ganz krank.«

Meine Mutter verließ das Bett nicht mehr.

Die letzten Symptome raubten alle Hoffnung auf Genesung. Unter allen Arten, die Welt verlassen zu müssen, ist die Herzkrankheit die schmerzlichste für diejenigen, welche sterben und desgleichen für diejenigen, die den Todeskampf mit ansehen müssen.

»Gibt es denn gar keine Rettung mehr?« fragte ich den Arzt.

»Es geschehen manchmal Wunder,« erwiderte er mit jenem traurigen Lächeln, welches ein Eingeständnis von der Ohnmacht und Unzulänglichkeit der Wissenschaft ist.

An diesem Tage blieb ich zwei Stunden in der Kirche. Ich weiß nicht, was ich zu Gott gesprochen habe, wieviel von meinem Ruhm, meiner Gesundheit und meinem Leben ich ihm als Ersatz für das Leben meiner Mutter geboten; aber so viel weiß ich, daß wohl noch niemals ein Mensch dringlicher und inniger seine Bitten zum Himmel gesandt hat.

Gott berücksichtigte mein Flehen nicht.

»Mein teurer Sohn,« sagte diese ergebene und mutige Kranke einen Tag vor ihrem Tode, »ausgenommen den Umstand, daß ich dich unter bösen Verhältnissen zur Welt gebracht, habe ich mir dir gegenüber keinen Vorwurf zu machen. Seit deiner Geburt war mein einziges Bestreben, dich glücklich zu machen. Wenn der Segen eines Wesens, welches dich über alles in der Welt liebte, dein Glück dir befestigen und stärken kann für die Zeit deines Lebens, so segne ich dich aus tiefstem, heißliebendem Herzen. In diesem hehren Augenblicke habe ich das Recht, segnend meine Hand auf deinen Kopf zu legen. Die Fehler, die ich begangen, habe ich gebüßt. Daß meine Buße angenommen, dafür ist mir Beweis die Liebe und die Achtung, mit welchen du, mein Sohn, mich umgeben, und das Glück, welches mir dies bereitet; es hat niemals eine glücklichere Mutter als deine gegeben, und dies sei, merke darauf, dein Trost, wenn sie nicht mehr hienieden weilen wird. Ich habe mich während meiner Krankheit oft gefragt, ob ich dir das Geheimnis deiner Geburt, welches auf dir lastet, entschleiern soll. Aber wozu soll dies gut sein? Vergib, mein Sohn, auch ohne zu wissen, wem du vergibst. Wir sind alle schuldig. Niemand kann für sich bürgen. Und wenn die Stunde kommt, welche ich gegenwärtig nahen sehe, dann fühlt man sich um so stärker, je nachsichtiger man gewesen ist. Ich lasse dich zurück in der Blüte deiner Jahre, im Vollbesitz deiner Gesundheit, und auf der Höhe deines künstlerischen Rufes, bei deinem Weibe und deinem Kinde, welche du liebst und die allmählich den Platz einnehmen werden, den ich leer lasse. Vergiß mich nicht zu rasch. Das ist alles, um was ich dich bitte. Ich war stets in meinem Leben ein einfältig Weib, aber ich versichere dir, es gibt ein Jenseits, in welchem wir uns wiedersehen werden. Umarme mich, verlasse mich nicht, bis alles zu Ende ist, damit ich dich fühle, wenn ich dich auch nicht mehr sehen und hören kann.«

Ich erinnere mich noch, daß in diesem Augenblick ein Leierkasten unter unseren Fenstern zu spielen begann. Ich wollte ihn wegjagen.

»Tue das nicht,« sagte meine Mutter. »Laß den armen Menschen sein Brot verdienen und schenke ihm selbst etwas. Ich liebe diese Musik der Armen, welche mich so oft bei meiner Arbeit erfreut hat.«

Sie verlangte nach einem Geistlichen.

Tags darauf starb sie, um fünf Uhr morgens nach langem Todeskampfe, während dessen sie von Fieberphantasien geschüttelt wurde.

Aber selbst in diesem Augenblick verriet die teure Sterbende nicht durch ein Wort das Geheimnis, welches ihren Tod beschleunigt hatte.

Als ich sie starr und kalt sah, diese Mutter, welche so lange mein ganzes Herz und mein ganzes Denken erfüllt hatte, da war es mir, als ob das Licht des Himmels erloschen wäre, und als sollte ich selbst leblos zur Erde sinken.

Es war zu Ende! Ein letzter Seufzer hatte alle diese Zärtlichkeit, all diese grenzenlose Liebe mit sich genommen.

Fremde Leute, die Tiere lebten und – meine Mutter war tot. Es war nicht möglich! Es konnte nicht sein!


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