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Lucie-Langnacht Lucie-Langnacht: Die Nacht vor dem St. Lucie-Tag, 13. Dezember, galt früher in Norwegen für die längste Nacht, da vor dem Jahre 1700 der Kalender in Norwegen um 11 Tage verspätet war.

1

Sie konnten es nicht verstehen, die Frauen: was war denn heute mit dem Alten los? Er ging immer wieder aus und ein und auf den Hügel hinauf; er vergaß, ihnen das Holz hereinzutragen und vergaß, darüber zu schelten, daß es nicht trocken genug sei, man konnte wirklich sagen, es herrschte der reine Frieden im Hause. Sie folgten ihm mit den Blicken, wenn er kam und wenn er ging – denn vielleicht wußte er doch etwas davon? Nach und nach legte es sich ganz schwer auf das Haus.

Die Sache war die, daß sie ihn gestern gründlich gefoppt hatten, sie hatten hinter seinem Rücken getan, was sie wollten; er war den ganzen Tag im Wald gewesen, und sie waren fortgegangen. Eines Tages nämlich war die Frau von Ommunstranda hergelaufen gekommen und hatte erzählt, sie hätten über dem Juwikhof einen Feuerschein gesehen. Sie waren um Mitternacht in den Stall hinübergegangen und hatten nach einer Kuh gesehen, die kalben sollte, und da schlug die helle Lohe hinter den Hügeln auf, gerade über Juwika; sie erschraken so, daß ihnen die Knie versagen wollten, dann aber weckten sie den Bauern und liefen hierher, jedes mit seinem Wassereimer. Als sie aber auf die Höhe hinaufkamen und Ausschau hielten, da lag der Juwikhof im tiefsten Frieden der Nacht, die Häuser standen im Mondschein da, und es war keine Spur von Feuer zu sehen. Nein, da wußten sie es auf einmal: es war eine Brandwarnung gewesen! So hatte man es auch über Haaberg gesehen, kurz bevor das Feuer dort ausbrach. Aber damals brannten nur die Schmiede und ein Vorratshaus ab, als es soweit war, denn die Leute hatten der Kirche und den Armen sogleich Spenden gegeben. Und über Skarsvaagen zeigte es sich auch, ehe es dort brannte, und über Vanvika und über vielen anderen Höfen. Aber überall dort, wo man sich nicht darum bekümmerte, dort brannte es. Sie hatten es zu allen möglichen Zeiten gesehen: in der schwärzesten Herbstnacht, in mondgelber Winternacht – ringsum war alles wie ausgestorben gewesen, und mitten über dem Unglückshof hatte eine große flackernde Lohe gen Himmel gestanden, unheimlich anzusehen. – Und darum mußte die Ommunstrandbäuerin hierherkommen und Ane unter vier Augen sprechen, denn vor Per Anders wagte sie sich damit nicht heraus; er war wegen seines Unglaubens berüchtigt, er glaubte nie etwas, bevor es geschehen war. – So waren sie denn gestern fortgegangen, die Weiberleute von Juwika, hinüber zu den kleinen Häuslerhöfen, eine jede mit ihrem Korb, sie hatten viele Gaben weggetragen und hatten Glück dabei gehabt, der Alte war im Wald gewesen und die Burschen auch. Und sie waren gelaufen, als hätten sie den Korb und den eigenen Leib gestohlen, waren mitten durch den Wald gelaufen, auf dem kürzesten Weg und ohne Aufenthalt. Doch der Per Anders war ein Fuchs; er glaubte an nichts, aber er wußte alles, das hatte er so in sich.

Im übrigen geschah es der Ane gerade recht, fanden die Mägde, weiß Gott, denn sie war so geizig, daß es ein Jammer war. Nie hatte sie einen Bissen übrig für einen Armen; die Leute auf dem Hof mußten froh sein, wenn sie selber satt wurden.

Ane Juwika war eine kleine, schmächtige Frau in den Siebzigern; eine kleine, spitze Nase und ein Paar wachsame Augen schauten aus dem Kopftuch heraus, viel mehr sah man nicht mehr von ihr. Sie war wie blaugefroren, und die Mägde dachten sich allerhand, wenn sie sahen, wie sie zusammenschauderte und so blau wurde, und sie fragten die Bäuerin, ob sie friere. Sie schob gern die Unterlippe ein wenig vor: man sollte nur nicht glauben, daß sie schon alle Macht auf dem Hofe aus der Hand gegeben hatte. Sie schien heute den Alten nicht zu beobachten. Das aber tat die Schwiegertochter, die Valborg. Sie war gewissermaßen jene, die den Per Anders in letzter Zeit am besten kannte und die es am besten mit ihm verstand. Man erzählte sich, daß er es war, der sie auf den Hof geholt hatte.

Valborg war noch jung, zwischen zwanzig und dreißig, groß und kräftig, mit breitem, sommersprossigem Gesicht, rötlichem Haar und weißer, zarter Haut. Sie hatte langsame Bewegungen und war wortkarg, aber man konnte es ihr ansehen, sie wußte sehr wohl, daß sie hierher gehörte.

»Er weiß es«, sagte sie zu Beret, als sie miteinander am Herd standen; er war soeben einen Augenblick in der Stube gewesen.

Beret war die jüngste Tochter im Haus, und sie war noch unverheiratet und daheim. Erschreckt sah sie Valborg an; sie war so schmächtig wie die Mutter und blaß und blutlos und unfroh. Es war nicht viel an ihr. – »Ja, wenn er es nur nicht weiß!« sagte sie.

Aber Per Anders wußte es. Er erfuhr es, als er am Oststrand mit einem Mann sprach, und heute war er im Vorratshaus gewesen. Er war wie die Krähe, schien es ihm selbst, er konnte schon auch bis drei zählen. Aber das war es nicht, was ihn an diesem Tag plagte. Es waren die Buben. Sie wollten unbedingt nordwärts nach Skavstranda rudern und Holz holen, und sie hatten gesehen, wie ein Boot vor ihnen nach Norden hinaufgefahren war, vermutlich ein Holzdieb von der anderen Seite des Fjords. Da konnte man allerlei von ihnen erwarten. – Die Buben, das waren seine beiden Söhne; sie waren beide in den Dreißigern.

Barhaupt stand er im Weststurm droben auf dem Hügel, das Haar flatterte lang und weiß und zottig im Winde, ein Windstoß nach dem andern überfiel ihn, aber er stand wie im Fels eingewurzelt, groß und breitschultrig, ein wenig gebeugt von den Jahren. Er hielt Ausschau nach einem Boot im Norden, aber die Augen taugten nicht mehr recht, er sah nur noch so viel, daß er allein gehen konnte. Die Augen waren das erste, was in der Juwikasippe nachließ, sie waren von Natur hellblau; im übrigen behielten die Männer alle bis in die achtziger und neunziger Jahre ihre volle Rüstigkeit. Er richtete sich auf und ging heim. Das Gesicht war das Jüngste an ihm, rotwangig und glatt rasiert, mit weißer Haut wie bei einem jungen Mädchen. So waren fast alle Männer hier auf dem Hof gewesen; und das Rot wurde blau, wenn sie auf der Totenbahre lagen. Die Nase war klein und scharf, und scharf waren auch die Augen, sie versuchten alles zu durchschauen, was ihnen in den Weg kam.

Es war kurz vor Weihnachten, aber es war jetzt nicht kalt, gerade recht zum Brauen und Backen, wie die Leute sagten, und damit sollten sie jetzt anfangen, die Frauen, gleichviel, wenn es auch eine Woche zu früh sei. Die alten Bräuche müßten jetzt abgeschafft werden, so nach und nach, meinte er. Man schreibe jetzt doch schon seit langem die Zahl 1800.

Er trat in die Küche. Juwika war der einzige Hof weit und breit, der eine Küche hatte, das war etwas Großartiges, ganz wie auf dem Pfarrhof, und Per Anders hielt sich gern in dieser Küche auf. Jetzt sollten sie sich einmal auslüften, sagte er überlaut zu den Frauen. Sie sahen ihn alle auf einmal an, ein jedes blickte von seiner Arbeit auf. Ja, das sollten sie; sie sollten westwärts zu den Häuslerplätzen gehen und den Leuten eine Kleinigkeit mitbringen. »Komm mit mir ins Vorratshaus, Ane«, sagte er, »und du auch, Valborg.« Die beiden wechselten Blicke miteinander, legten aber still die Arbeit weg und folgten ihm. – »Denn hier gibt es genug zu essen, schaut her, da unterm Dach hängen dreißig Hammel- und Schafkeulen und fünf bis sechs große Schinken, und auch sonst haben wir reichlich Brot und andere Gottesgaben.«

Ane räusperte sich hinter ihrem Kopftuch, und Valborg wurde glühend rot. Denn jetzt waren es nicht mehr dreißig. Er wies an, was sie nehmen sollten: da und da, oh, noch viel mehr! Daher! Und hier und dort! »Leg es hinein, Weib, in den Korb und in das Bündel.« Und sie mußten einpacken, alle die schönen Dinge, die schon vorher so bedenklich abgenommen hatten, die Ane nie anrührte, ohne zu seufzen. Das war mit das Schwerste, was sie bisher hatte tun müssen, und der Hausvater stand hinter ihr und lachte innerlich, so daß sie nicht einmal aufzublicken wagte.

Anders, Valborgs ältester Sohn, kam in das Vorratshaus herein. Er stand eine Weile da und sah zu, und dann fing er an: »Jetzt wieder? Und gestern auch schon! Und jeden Tag! Wie wird es da mit deinem Vorrat gehen, Großmutter?« Sie taten, als hörten sie ihn nicht; besonders Per Anders tat nicht dergleichen.

Und auf den Weg mußten sie sich machen, Ane und Valborg und eine von den Mägden, der Alte begleitete sie ein langes Stück. Und sie gingen, und sie trugen, ganz kläglich über Hügel und über Moore, man hätte weinen mögen, hätte man nicht lachen müssen. Die Valborg lachte.

Der Per Anders lachte auch, als er heimwärts ging. Er richtete sich auf, so straff er konnte.

So wollten sie es haben, die Weibsbilder, denn abergläubisch waren sie, und unzuverlässig waren sie, und Prügel nützten gar nichts, sie waren wie die Ziegen. Per Anders meinte, er habe sein ganzes Leben lang in diesem Streit gestanden. »Keinen Aberglauben!« pflegte er gern zu sagen, »kommt mir nur nicht mit solchem Unsinn, wir sind doch erwachsene Leute.« Es war, als schwimme er gegen den Strom, es war, als stehe er unter dem Wasserfall. Aber er stand immer noch aufrecht da. Kein Mensch wagte jetzt noch zu sagen, daß es auf Juwika spuke. – »Na, es ist gut, wenn sich die Leute die Seele ein bißchen lausen«, sagte er zu sich selbst. Die Buben – viel taugten sie ja nicht, aber wenigstens glaubten sie doch nicht jeden Unsinn, in dieser Beziehung steckte doch ein guter Kern in ihnen.

Das mußte Per Anders wissen können, wie er auch wissen mußte, daß sein Körper rein war. Denn auch in diesem Punkt war er ein wenig anders als andere: er wusch sich und badete im Sommer und ging im Winter in die Badestube. Manchmal grinste er ihnen nach: diese Weiber, die hatten Angst vor dem Wasser!

Aber die Buben, ja, er mußte sich wirklich umschauen, was die trieben.

War es nicht so, wie er gedacht hatte: sie jagten hinter dem Holzdieb her! So etwas machte ihnen Spaß. Ein alter Mann und ein Knabe saßen in dem Boot, und das Boot war schwer mit Brennholz beladen, wie er zu sehen glaubte; und die Buben hetzten dahinter her und riefen, jetzt hörte er es – der Alte muß weiter und weiter vom Ufer weg, sie jagen ihn in Sturm und Wellen hinaus, so daß ihm fast das Boot vollschlägt. Die Buben drohen und lachen.

Per Anders ruft, daß es in den Bergen hallt. Sie hören es, aber sie gehorchen nicht sofort. – »Wollt ihr wohl hören!« singt er hinaus. Da kamen sie endlich an Land herein.

Als sie landen, steht er am Strand und nimmt sie in Empfang. Schweigend steht er da, während sie das Boot heraufziehen. – »So mit den Leuten umzugehen«, sagt er. »Wie die Hunde. Das muß jetzt ein Ende haben auf Juwika.«

»He!« grinst Jens, der ältere von den beiden: »ein Holzdieb!«

»Ich werde dir einen Holzdieb geben!« Und der Alte packt ihn beim Schopf und zerrt ihn hinter den Steinwall. Und er knurrt vor sich hin, ob denn das so schlimm sei, wenn sich jemand so kurz vor Weihnachten einen Prügel Holz hole? Er wolle mit dem Dieb reden, er selbst!

Jens war ein großer und langer Bursche, größer als der Vater, und breitschultrig, aber etwas schlanker, er hatte ein blasses Gesicht und ein kaltes Lächeln; mit den anderen Juwikleuten hatte er nicht viel Ähnlichkeit. Es sah fast aus, als wisse er nicht, was er nun dazu sagen solle – ließ er sich so etwas von jemand gefallen? Er war dreißig Jahre alt, reichlich dreißig Jahre, und außerdem war er einer von denen, die, wenn sie schon nicht zuerst zuschlagen, so doch gleich danach zuschlagen. Aber er schlenderte so allmählich vom Ufer hinauf.

Der Alte wendet sich hart zu Per, dem anderen Sohn: »Du hättest doch gescheiter sein müssen, du Nichtsnutz. Wozu hast du denn deinen Verstand?«

Per griff zu und lud das Holz ab, das sie geholt hatten. Es war fast lauter trockenes Kiefernholz für das Feuer an Weihnachten, und dann noch der Weihnachtsklotz, ein großer, mächtiger Kienklotz. Per gab niemals Antwort, wenn der Vater über ihm war. Er hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Vater als der Bruder; aber er sah etwas weicher aus, sowohl im Gesicht als auch sonst. Er blickte kurz auf, und die Augen waren mild und ruhig.

Per Anders stand da und sah ihn eine Weile an, dann ging er hinauf. – »Nur Dummheiten und Unsinn«, knurrte er, »so ist es immer mit diesen Buben gewesen. Lauter Verkehrtes haben sie im Kopf. Es kommt nichts Ordentliches dabei heraus, nur Kleinkram und Armseligkeit. Anders … wenn der hätte leben dürfen, das wäre ein Mann gewesen!«

Per und Anders, ja, so hatten sie immer geheißen, Sohn auf Vater, durch alle Zeiten zurück. Aber dann wurde es ein Per Anders, und damit war es geschehen … der Gedanke stand klar und deutlich vor dem Alten, als er so dahinging. Ja, ja, aber aus dem Per konnte vielleicht etwas werden. Er hatte ihm jetzt ein braves Weib verschafft; die Valborg war eine, an die man sich halten konnte.

Per Anders ging ins Haus und ließ sich zu essen geben, er wartete heute nicht auf die anderen, fragte nichts nach der Sitte, er wollte fort. Wohin er wollte? He! er müsse über den Fjord hinüber.

Dann suchte er die Sonntagskleider hervor, zog den blauen Düffelsrock an und schwarze lange Hosen, er band sich einen großen, vielfarbenen Wollschal um den Hals und setzte eine neue Schaffellmütze mit rotem Futter auf; das Fell hatte er selbst zugerichtet, und er fuhr darüber hin und fühlte, wie schön weich es war.

Per fragte unten am Strande, wo der Vater hin wolle. Der Alte schob das Boot hinaus, ehe er antwortete. »Hinausrudern«, sagte er. Und dann fügte er hinzu, hart: »Ich will mich umschauen, wo ihr den hingejagt habt.« Dann ruderte er fort.

Per sah ihm lächelnd nach. Denn wenn der Vater in dieser Laune war, konnte man nicht mit ihm reden. Als er auf den Hof hinaufkam und hörte, daß die Frauen fortgesandt worden waren, pfiff er leise vor sich hin, und Jens schaute auf und lachte: »Da hast du es!«

Es war immer mehr und mehr so gekommen, daß Per Anders alles auf seine Art haben wollte. »Jetzt ist es bald nicht mehr auszuhalten«, sagte Jens, »wir machen es nicht mehr lange.« Per sah ihn nur an, tat, als höre er nicht. – »Aber die Weiber, Gott verzeih mir die Sünde, ha, ha, ha!« Jens schlug sich auf die Schenkel und lachte. Per verzog den Mund zu einem Lächeln und dachte nach.

Jens nahm die Büchse und ging in den Wald. Das tat er immer, wenn der Vater weg war. Per machte sich an die Arbeit und fuhr das Holz hinauf.

Es war ein großer Unterschied zwischen den beiden Brüdern, in allem und jedem. Jens packte allerlei an und ließ es wieder liegen, aber wenn er etwas tun mußte, so griff er zu, als ginge es ums Leben. So waren die Juwikinger immer gewesen, hatten sich aber doch stets hinaufgearbeitet. Per machte seine Sache ruhig, aber er war fleißig wie eine Ameise: er war allzu fleißig, fand der Vater, und wußte nicht, warum er das fand.

2

Als Per Anders in der Mitte des Fjords war, gingen die Wellen schon hoch, und gegen das andere Ufer hin nahmen sie immer mehr zu. Per Anders hielt gerade auf die Häuslerplätze von Haaberg zu, und dort fand er den Holzdieb. Der Sünder dachte auch gar nicht daran zu leugnen, denn Per Anders traf ihn gerade dabei an, als er das Holz hinauf schaffte. Sein Gesicht wurde lang, und die Knie sanken unter ihm ein, und die Frau, die ihm beim Tragen half, ließ den Prügel fallen und blieb jäh stehen.

»Gott zum Gruß!« grüßte Per Anders.

Sie schluckten mehr an ihren Worten, als sie sie aussprachen. – »Es gibt Sturm«, sagte Per Anders. Das Weib faßte sich zuerst, und sie legte sich ins Zeug, als gelte es das Leben: »Ja, ja, jetzt gibt es einen gehörigen Sturm, ja, so ein richtiges Hundewetter jetzt, und Kriegszeiten und Unfriedenszeiten, und Mißjahr und Notjahr überall zu Wasser und zu Lande, ja wahrhaftig.« Sie glaubte wohl, sie könnte ihn dummschwätzen.

Per Anders klopfte das Wasser aus seiner Pelzmütze: er wolle sie nur warnen und ihnen sagen, wenn sie sich noch einmal bei Juwika blicken ließen, dann bekämen sie's mit ihm zu tun. »Merkt euch das!« Ja, und für dieses Mal wolle er's dann gut sein lassen. Aber mein soll mein sein und nicht dein, und Diebstahl ist Diebstahl, und Dieb ist Dieb, wenn es auch noch so schmal bei ihm hergeht.

Per Anders richtete sich gerade auf und ging fort, und sie kamen still hinter ihm her bis zum Zaun.

»Wie kann man nur so jämmerlich aussehen«, brummte er vor sich hin. »He! kommt doch einmal bei gutem Wetter zu uns, beim Satan!« – Er wandte sich so jäh zu dem Manne um, daß dieser zusammenfuhr. »Dann will ich dir Holz geben

Sie brachen in Danksagungen und Segenswünsche aus, und er machte sich so schnell wie möglich davon. Er schlug den Weg nach Haaberg ein. »Pfui, pfui!« sagte er, machte den Rücken rund und spuckte aus. Ja, es war schon so: Mißjahr und schlechte Zeiten ringsherum und Unfrieden. Und Menschen waren eben Menschen, die verloren gleich den Mut.

Er ging weiter und erblickte nun die Häuser von Haaberg. Das Wohnhaus wuchs unter dem Hang heraus, es nützte gleichsam nichts, sich länger zu verstecken, wenn man auch noch so niedrig und schwarzgrau war, denn hier kam er. Aber wie klein es doch aussah! Es sollte doch ein großer Hof sein. Lang und niedrig wie eine alte Mähre, und der Schornstein groß und häßlich auf dem Dach, als reite das leibhaftige Unglück auf dem Haus; das Haus wurde ganz hohlrückig – es spürte seinen Reiter!

Ja. Aber damals, als er die Ane, seine älteste Tochter, hierher verheiratete, da meinte er, es sei ein Glückstreff; und sie meinte es auch. Ja, gewiß war Haaberg der größte Hof ringsum, und an Wohlstand fehlte es nicht, aber da stand nun das Haus und schämte sich förmlich vor ihm, wie die Hütte eines armen Mannes; man konnte nicht leugnen, daß hier auf dem Hof nicht alles in Ordnung war, seit langer Zeit nicht mehr; und nun war der Bauer selbst seit zwei Jahren tot.

Ganz unwillkürlich stellte er sich den Juwikhof vor, er schien ihm so groß und mächtig: das Wohnhaus war hoch und breit, und die Fenster sahen blank ins Land hinaus; die fürchteten sich vor nichts, die schrumpften vor niemand zusammen; und weiße Fensterrahmen und weiße Türen. Hier gab es nur ein Fenster, und das war blind, braun- und grünschillernd war es – da saß man sicher dahinter, wenn man Angst hatte!

Per Anders blieb stehen und richtete sich auf:

Ja, Angst, das war es gerade. Da saßen sie und krochen hinter ihrem blinden Fenster zusammen und horchten auf Gespenster und Spuk, sobald es Abend wurde. Und Angst vor einem neuen Haus, vor frisch gestrichenen weißen Türen hatten sie; saßen da und warteten auf ihn, der sich hierher wagte: ob nicht der Mond ihm auf den Kopf falle. Und trotzdem so darauf versessen, mit dabei zu sein; keiner wollte der erste sein und keiner der letzte. So waren die Schafe, so war auch das Weibervolk. Ja.

Per Anders hielt treu am alten Brauch fest. Er ließ die anderen gar manches Mal vorausgehen. Aber plötzlich dann wieder packte es ihn, und dann griff er zu und machte es auf seine Weise; mochten sie dann allein zurechtkommen.

Aber heute wollte er die Ane treffen. Er hatte in letzter Zeit viel an sie gedacht. Sie war so klug gewesen, als sie noch daheim war, sie war immer so erwachsen gewesen, sie hätte es verdient, daß es ihr gut ginge. Es war jetzt lange her, seit er sie gesehen hatte. Er ging rascher zu, immer rascher: wirklich ein Jammer, wie lange er nicht mehr mit ihr gesprochen hatte.

Drinnen im Wohnhaus war es nicht hell, und ihm, der von draußen kam, schien es wie grauer Abend; er sah fast nur die Herdstätte, wo die Glut unter dem großen Kessel schlief. Hinter der Türschwelle war nur Lehmboden, der reine Sumpf, fand er; und der Halbboden klaffte und war schwarz wie die Stalldielen daheim auf Juwika. Daheim hatte er einen glatten, gehobelten Boden von Wand zu Wand, und es war hell in der Stube wie der Tag, auch in der Küche, wie im schönsten Pfarrhof; das war etwas anderes!

Ane lebte etwas auf, als sie sah, wer es war, aber man konnte ihr nicht anmerken, daß sie sich freute. Sie bat ihn herein, rückte ihm einen Stuhl zurecht, und da saß er nun und redete von dem und jenem. Sie aber saß förmlich auf der Lauer, fand er, und ihre Hände waren so ratlos. Mitten drin lachte er und warf den Kopf zurück, wie es so seine Gewohnheit war: »Hat mich vielleicht ein böser Spuk angemeldet? Lagen heute morgen vielleicht ein paar Späne über Kreuz vor der Türe, he? Das kann ich mir denken! Oder hat mich die Graukrähe und nicht die Elster angemeldet?«

Anes Gesicht kam gleichsam aus dem Kopftuch heraus, er sah sehr wohl, wie schlecht es um sie stand. Hm. Und mein Gott, wie sehr sie ihrer Mutter glich! – »Man soll auf so etwas nicht achten«, sagte sie, »lauter Aberglaube.«

Hm. Graublau und langnasig, mit einem Tropfen an der Nase und allem übrigen; sie kroch wieder in ihr Kopftuch zurück und ging umher und machte sich allerlei zu schaffen. Er wußte es ganz genau, wie er da saß: Früh heraus und spät zu Bett, und brachte doch nie etwas vom Fleck. Hier roch es nach Nahrungssorgen und kleinen Kümmernissen. So stand es um Ane, jetzt.

Sie redeten weiter. Immer und immer wieder kam sie auf die Nachbarn zu sprechen. Das waren schlechte Leute; sie taten das und taten jenes, es war nicht mit ihnen auszukommen. Per Anders wollte nicht darauf eingehen, er räusperte sich lauter und lauter: Die Nachbarn, die hausen gut, für sich, hm! Ordentliche Leute. Aber daheim auf Juwika brauten sie und schlachteten sie und bereiteten auf Weihnachten vor und schafften für sieben. Und so trieben sie es das ganze Jahr. Sie waren ihrer viele und schafften, daß es eine Art hatte, dann schnauften sie auf und überlegten und packten wieder an. Ja, auf dem Hof wehte ein frischer Wind. Sie waren im Sommer mit Birkenrinde und Lohe auf dem Naeröymarkt gewesen und mit Butter! Schafe hatten sie jetzt wenig, nur ein paar – so sollte sie es auch machen: sich mehr auf die Kühe verlegen und dann dafür sorgen, daß man frühjahrsträchtige Kühe habe, da gäbe es Bargeld. Warum hatte sie nur einen Buben als Knecht?

Ane seufzte leise und jammerte: der Knecht, den sie gehabt hatte, war so unverschämt gewesen; zuletzt verlangte er vier Speziestaler im Jahr und außerdem noch Stiefel und Hosen und alles mögliche. Nein, ehe er noch ein Paar Stiefel im Jahr bekam, sollte er lieber gehen; und das tat er auch.

»Schlimm, schlimm«, murmelte Per Anders. Sie sollte ein wenig mehr dahinter her sein, sich mehr rühren. »Schaff dir Netze an und schick den Knecht im dunkelsten Winter auf den Fischfang; es ist nicht gerade großartig, aber es bringt doch etwas ein.« Und schließlich schlug er es fest, mit dem Ende seines Messergriffes, mit dem er auf die Tischplatte klopfte – denn er war jetzt schon bis zum Tisch vorgerückt: »Sparen und immer wieder sparen ist schon recht, aber: wer sich nicht satt ißt, der kann sich auch nicht satt schlecken; vergiß das nicht, Ane!«

Das Essen war nicht schlecht. Freilich, es war kein Essen wie auf Juwika, aber es ging an. Doch er fühlte sich hier nicht wohl. Man saß wie in einem Keller eingeschlossen. Trotzdem griff er zu und hatte ein kleines Lächeln um die Augen: wenn sie schon geizig war, dann sollte sie ihm auch nichts Gutes zu essen vorsetzen; er hatte Lust, sie arm zu essen.

Sie fing wieder an, von den Nachbarn zu reden. Da stand er auf und ging. Er müsse jetzt heim.

Sie begleitete ihn ein Stück Weges. Dabei fragte er sie, wie es hier mit der Erbfolge stünde, da sie doch kinderlos sei.

»Kinderlos?« sagte sie nach einer Weile. Hm! sie sei doch nicht so kinderlos.

Totgeborene Kinder sind keine Kinder, war er nahe daran zu antworten, aber dann ließ er es doch ungesagt.

»Es lebte noch, als es zur Welt kam!« erklärte sie, und jetzt klang ihre Stimme härter.

»Nein, wirklich?« Er war ganz erstaunt. Denn alle hatten sie gesagt, alle, die es wissen mußten, daß das Kind totgeboren war; es kam gleich, nachdem der Vater gestorben war.

»Mögen sie lügen, wie sie wollen: ich habe gehört, daß noch Leben in ihm war!«

Er blieb stehen und sah sie an. Hatte er ihr eine zu schwere Last auferlegt, damals, als er sie hierher sandte?

Die Erinnerung daran, was für ein kleines und heimatloses Mädchen sie damals gewesen war, als sie von Juwika fortzog, traf ihn so, daß ihm fast der Atem stockte. Und jetzt ging sie da hinter ihrem Kopftuch verborgen neben ihm her und war ihm wildfremd.

»Ja, das sage ich«, fuhr sie fort. »Und darauf will ich gern meine Seligkeit verschwören! – O nein, die sollen mich nicht wie eine Hündin vom Hof fortjagen!«

Er sagte nichts darauf, sondern ging nur weiter. Sie begleitete ihn bis hinunter, denn jetzt war sie so ins Reden gekommen, daß sie nicht mehr aufhören konnte.

Sie sagte nur immer wieder: sie wolle einen Eid darauf schwören, daß das Kind am Leben war und daß es schrie; und da müßten sie wohl nachgeben! Je mehr sie sich das vorstellte, desto sicherer war sie ihrer Sache.

Per Anders seufzte ein paarmal und legte den Kopf schief, es klang fast, als murmle er nein, nein! vor sich hin. Dann wandte er sich unmittelbar an sie.

»Schwören ist die eine Sache. Eine andere ist es, den Schwur mit sich herumtragen!« Sein Gesicht war fast weiß.

Ane ging schweigend weiter. Dann sagte sie still und kalt:

»Ehe sie mich vom Hof verjagen – – –. Denn ich bin nicht nachtscheu, das weißt du, Vater!«

»Jetzt schweig aber. Daß du's weißt.«

Sie gehorchte. Und er ging so rasch, daß sie ihm kaum folgen konnte. Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht, und scharfe Schneekörner schlugen brennend gegen ihre Wangen. Erst unten beim Kreuzweg, wo der Weg nach Nesse abzweigte, machte Per Anders halt. – »Leb wohl!« Und sie wisse ja, wo sie ein Heim habe, wenn es darauf ankäme. Wie gesagt, sie solle sich mehr zu schaffen machen, damit sie nicht die ganze Zeit über das gleiche nachgrüble. Und dann sollte sie die Leute tun lassen, was sie wollten, jene, die kleinlich und schlecht seien. Dann sagte er, ganz nahe ihrem Gesicht: »Nein, denn wenn es dir erst einmal zustößt, falsch zu schwören – das ist eine gefährliche Sache. Das ist respektierlich! Ja, leb wohl, Ane, und Dank für die Bewirtung.«

Er hörte nicht, was sie erwiderte. Und dann ging jedes seines Weges.

»Das ist respektierlich«, murmelte er und blickte starr auf den Weg vor sich. Per Anders gebrauchte gern dieses oder jenes seltsame Wort, das ihm alt und kräftig zu sein schien. – Nein, nachtscheu war sie nicht, die Ane; in diesem Punkt war sie sein Kind. Aber daß es so schlimm um sie stand, das hatte er nicht geglaubt, als er auf dem Weg hierher war. He, he!

Er hatte sich heiß gelaufen und schwitzte, aber dennoch fror ihn. Er merkte, daß er im Begriff war, den großen Bogen nach Nesse zu machen – man muß doch in den Kramladen hineinschauen, wenn man schon unterwegs ist. Er trat ein und kaufte einen großen Kranz Bergener Brezeln und ließ sich sein Taschentuch mit hartem Gebäck füllen; denn er hatte ein unvergleichliches Taschentuch. Er wurde ins Kontor gebeten, und der Kaufmann selbst setzte ihm großartig zu trinken vor, das gehörte sich, wenn der Juwiking über den Fjord kam; aber Per Anders schenkte ihm im übrigen heute nicht viel Aufmerksamkeit, weder ihm noch den anderen.

Die Häuslerleute kamen hinter ihm her ans Ufer hinunter, wollten ihm mit dem Boot behilflich sein, aber er schob es ihnen mitten vor der Nase allein hinaus. Doch als er dann im Boot stand und sich vom Ufer abstieß, rief er ihnen zu:

»Kommt zur Sigurdsmesse zu uns, da schlachten wir.«

Dann legte er sich in die Ruder.

3

Der Nordwest hatte zugenommen. Nie ist er so arg, als wenn er so vereinzelte Schneekörner vor sich hertreibt, und jetzt fuhr er mit kurzen, beißenden Böen übers Wasser. Der Fjord war aufgewühlt und drohend, und Per Anders blickte ein wenig mißtrauisch über ihn hin. Er sollte sich vielleicht näher ans Land halten, bis er mehr in Lee des anderen Ufers käme, denn die Juwikhalbinsel reichte weit nach Norden hinauf. Aber er tat es nicht, sondern ließ sich nach Süden treiben. Er wollte jetzt, da er schon unterwegs war, gleich auch südlich bei Vikan nach Aasel Umschau halten.

Die ganze Zeit schon, seitdem er Haaberg verlassen hatte, mußte er an Aasel denken. Ebenso wie er an Ane dachte, als er von daheim wegfuhr: schlimm, wie das in ihm fraß und bohrte, wie eine Krankheit, die sich einem auf die Brust legt. Er mußte sie sehen. Ja, und da hatte er nun gute Sachen für ihre kleinen Burschen. Denn dort gab es Kinder – Gott mochte wissen, wie viele es jetzt waren.

Aasel hatte nach ihrem eigenen Wunsch geheiratet, einen Häusler sozusagen; er hatte hier einen kleinen Häuslerhof als Eigentum gekauft. Mit Aasel war es ein wenig schnell gegangen, sie hatte nicht mehr lange auf die Hochzeit warten können. Das war damals etwas ganz Unerhörtes, und in Juwika war das noch nie vorgekommen. Aber Per Anders hatte nicht viel darüber gesagt. »So heirate eben, zum Teufel!« sagte er mir. »So so, ja ja«, sagte er zum Bräutigam und betrachtete ihn, »dich also will nun die Aasel haben. Ja, sie hätte einen Besseren haben können.« Die Aasel war ihr ganzes Leben lang überlustig gewesen, nur Lachen und Übermut, wo sie ging und stand, aber ein herzensgutes Kind und tüchtig bei der Arbeit. Die Mutter wollte sie nicht mehr sehen, und auch der Vater hatte ihr die Türe nicht eingerannt.

Die Stube in Vikan war eine Häuslerstube, daran ließ sich nichts deuteln. Sie hatte fast kein Fenster, ein Eichhörnchennest. Aber es lebte sich gut darin, gewiß. Und ähnlich war auch der Mann, war der Mikkal selber: wie ein Eichhörnchen. Ja, er hatte runde, blanke Eichhörnchenaugen; er stand vor einem wie das Eichhörnchen auf seinem Zweig, neugierig und leichtlebig, ein kluges, kleines Tier. Sicher hatte er auch Zähne wie ein Eichhörnchen, wenn er sie nur hätte zeigen wollen. Nein, sie hätte einen Besseren haben können, die Aasel. – Aber ein Draufgänger auf dem Meer draußen war er, ja, weiß Gott, das mußte man ihm lassen! Da nahmen sie es nicht mit ihm auf, die Juwikinger, und andere auch nicht. Er hatte ihn oft beobachtet, wenn er heimgesegelt kam – er hätte ihn am liebsten mit der Otter verglichen. Ob er heute wohl daheim war?

Er war nicht daheim, er war auf dem Heringsfang. Aasel saß allein in der Stube bei den Kindern und der Schwiegermutter – die war alt und lag zu Bett. Aasel erschrak fast, als der Vater kam. »Gott steh mir bei, ist es etwas mit der Mutter?« fragte sie. Er hatte Aasel kaum je ernsthaft gesehen; man konnte sie sich nicht ernst vorstellen. – »Nein, aber dann ist es wohl die Änderung vor dem Tode, Vater, daß Ihr kommt und Euch nach uns umschaut?« – Jetzt kam das Lächeln zum Vorschein, rings um die Augen und über das ganze Gesicht. So war sie gewesen, damals, als er sie noch daheim hatte. Die Augenlider falteten sich doppelt vor lauter Lachen, und das Gesicht war rund und gut wie bei einem Kind. Das ganze junge Weib war lauter Gutmütigkeit. Er wandte die Blicke nicht von ihr ab, die ganze Zeit, während er in die Stube trat und sich hinsetzte und mit ihr über das redete, was ihm am Herzen lag.

»Nein, Goldvater, daß Ihr kommt und Euch nach uns umschaut! Jetzt wird's aber Feiertag! sagte der Mann, als er ins Himmelreich kam.«

Und da fühlte er, wie unabsehbar lang es her war, seit sie von daheim fortgezogen war. Wie leer es jetzt ohne sie war; mit all ihrem Lachen und Leben und ihrem ganzen Ich war sie hierhergezogen.

Sie holte die Kinder herbei und zeigte sie ihm; sie hatte schon vier, in vier Jahren – »das geht mit dem Kalender hier bei uns«, lachte sie. »Schau sie dir an – siehst du? Keine Häuslerkinder, oder?«

Er schaute und schaute. Er sah, was sie meinte. Das waren Juwikinger, weiß mit roten Wangen und stark und kräftig im Blick; bis auf den Jüngsten, der war sicher nur ein Eichhörnchen.

Sie redete und erzählte. Nein, es war nicht schwer hier zurechtzukommen, die Großmutter paßte auf die Kinder auf und die Kinder auf die Großmutter, Vieh hatten sie nicht mehr als notwendig, zwei Milchkühe, außer dem Stier und dem leeren Stand. »Und«, sagte sie still, »die Nachbarn sind gut.« Käme es darauf an, so fänden sich immer hilfsbereite Hände, beim ersten Wort; sie zählte sie ihm mit Namen auf. – Dabei lebte er auf und saß da und lauschte. Zuletzt lächelte er: so war sie, die Aasel.

Sie hatten es gut hier. Klare Fensterscheiben, helle Wände und eine blendend weiße Schornsteinmauer; den Boden mit Dielen belegt und neben der Herdstätte einen eisernen Ofen; über der ganzen Stube einen Speicherraum; und eine kleine Kammer für die Großmutter. Hier fühlte er sich wohl. Er zerschnitt den Brezelkranz und knüpfte das Taschentuch auf. Du meine Güte, was hatte er da alles für sie gekauft! Sie machten große Augen und wußten nicht, wo sie anfangen sollten.

Aasel trug herbei, was sie hatte, das ging so rasch, als habe sie Angst, er könnte von ihr fortgehen – und lauter Sachen, wie er sie von Juwika her gewohnt war! Das hatte dagestanden und auf ihn gewartet. Sie hatte solches Essen; das hatte sie sich zusammengespart. Er wandte sich zu der Alten in der Kammer: Wenn man mitten in der Armut so ruhig leben kann, da war man wert, es auch besser zu haben.

»Ja, der Arm, ja, die Gicht, red nicht davon.« Sie war zu alt und hörte schlecht.

Er schaute wieder die Tochter an. Sie saß da und betrachtete ihn. Dann blickte er durchs Fenster hinaus:

Gab es hier keine Geister droben in den Bergen?

Mein Gott, freilich, sie rollten jede Nacht die Steine herunter, sah er denn nicht das Geröllfeld gleich oberhalb des Hauses? Sie lachten beide, und dieses Lachen erquickte ihn mehr als das Essen. – »Übrigens«, sagte sie, »ist es hier unheimlich, mit Geistern und allem möglichen, das ist wahr, Vater. Doch sie sind freundlich«, fügte sie hinzu.

»Aber deine Schwester, die Ane, die ist ganz verrückt.«

»Die Ane?«

»Sie will einen Meineid schwören. Darauf, daß das Kind gelebt hat, als es zur Welt kam.«

Aasel erbleichte. – »Nein, wirklich?«

Er saß da und blickte zwischen den Knien zu Boden. Er habe so fest an die Ane geglaubt, sagte er: die fohlt nicht im Moor. »Unglaublich, wie man an so einem kleinen Ding hängen kann, das nie um etwas bittet, das alles allein zuwege bringen will. Und jetzt sitzt sie da, die arme Haut. Nichts mehr von ihr übrig, nur noch Nahrungssorgen und ein Meineid.« Er legte den Kopf auf die Seite: Nahrungssorgen sind schwere Sorgen, sie fressen einen bei lebendigem Leibe auf. »Und was soll man dagegen tun, was meinst du?« er blickte auf.

»Und wenn die Mutter –?«

»Ja, glaubst du? Ja, vielleicht. Und – ein ganz klein wenig dürfen wir auch auf den da oben vertrauen.« Wieder saß er da und blickte zu Boden, er war weit weg von ihr mit seinen Gedanken. – »So ist es wohl, vielleicht«, murmelte er, »auf Juwika und auch auf anderen Höfen: wenn man an das eine nicht glaubt, so glaubt man an gar nichts. Glaubt man nicht an Lügen und Geschwätz – kennt man keine Nachtscheu mehr, so fragt man nach nichts mehr und verschreibt sich dem Teufel selber.« Nein, die Ane war nicht nachtscheu, in diesem Punkt war sie seine Tochter. »Aber«, er blickte Aasel in die Augen, »die Ane wird das Juwikgeschlecht nicht fortsetzen, nein.«

»Ja, ich will gern zu ihr gehen und mit ihr reden; ich werd sie schon zur Vernunft bringen!« Aasel lächelte jung und furchtlos: sie wußte, daß man sie auf Haaberg hinauswerfen würde, aber trotzdem wollte sie hingehen, trotzdem; sie würde schon wieder auf die Füße fallen.

Sie begleitete ihn zum Strand hinunter, mit der ganzen Kinderschar hinter sich, stemmte mit am Boot an und schob es hinaus. Die Buben schrien ohoi! immer wieder, bis sie blau wurden. Per Anders holte tief Atem, ehe es ihm über die Lippen kam:

»Du mußt zu Weihnachten zu uns kommen, Aasel. – Die Mutter meinst du? Ach was, sie wartet auf dich, Kind.«

Es tue ihr leid, daß sie nicht mitkommen und ihm beim Rudern helfen könne, sagte Aasel. Und heute nacht sei Lucie-Langnacht …

»Ja freilich. Rudern? Ach was. Im Rudern bin ich ein Mordskerl, will ich dir sagen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich da müde werde.«

Das gleiche sagte er vor sich hin, als er im Nordwest draußen lag und sich plagen mußte. Der Schnee legte sich wie ein dichter Pelz auf ihn, man mußte sich von Landzunge zu Landzunge vorwärtsarbeiten und immer so nah am Ufer bleiben, daß man es förmlich mit dem Ruder greifen konnte. – Immer noch stand Aasel dort und sah ihm nach, so schien es ihm. Sie lachte, als es über den Vordersteven hereinschlug, aber sie hatte doch Angst, das arme Ding. Das sei kein Wetter zum Rudern, hatte sie gesagt.

Der Drang, hatte sie zu ihm gesagt. Sie hätten ihn hier im Fjord gehört. Ja, natürlich! hatte er erwidert. Und sie hatte mitgelacht, so lustig und furchtlos wie nur möglich. Sie hätte auf Juwika sein sollen! Da aber hörte er einen Ruf. Hoh! klingt es dicht neben ihm, daß es in den Bergen widerhallt. Und dann wieder, und noch ärger. »Noch einmal, solang du das Maul offen hast!« sagt Per Anders, er lacht verwundert. »Wollen wir um die Wette rudern? Denn im Rudern bin ich ein Mordskerl.«

Die Nacht war düster, und er kam nicht nach Juwika. Er fuhr ans Ufer, lag da und hielt Umschau, dann tastete er sich weiter, fuhr in alle Buchten hinein, in Schneetreiben und Unsichtigkeit. Überall war ihm das Ufer fremd. Und draußen auf dem Fjord schreit es immer wieder. Er mußte lachen: mochte es sein, was es wollte, aber es war doch wirklich da.

Per Anders hätte in dieser Nacht niemals heimgefunden, wäre nicht das Schneetreiben vom Sturm zerrissen worden: da war er an der nördlichen Landzunge und lag gerade vor der Juwikbucht. Jetzt erst merkte er, daß er erschöpft und durchfroren war, schlotternd saß er auf der Ruderbank und konnte überhaupt nichts mehr sehen. »Erst werd ich blind, und dann versagen die Augen«, sagte er, um sich ein wenig munter zu machen und wieder der alte zu sein. Und dann wandte er sich dem Fjord zu: »Gute Nacht, du, ja, und Dank für die Begleitung, ich will jetzt heim, ich.«

Er kroch in den Netzschuppen und legte sich hin. Draußen hatte der Schneesturm wieder eingesetzt, und der Weg nach Juwika hinauf war vereist, da war kein Vorwärtskommen mehr. Und in der Netzkammer lag sich's gut. Er schob sich die Netze zurecht, legte sich darauf und deckte sich mit Blähen, Segeln und Felldecken zu, um nicht zu erfrieren. Nun konnten sie merken, die Buben, daß er immer noch ein Kerl war und keine Angst hatte; und wenn es auch zehnmal Lucie-Langnacht war.

Es war Lucie-Langnacht. Die Nacht, die kein Ende nimmt. Da jammern die Kühe im Stall und die Schafe dazu; und den Leuten steigt's in den Hals, das Hasenherz, zähneklappernd sitzen sie da und schlottern; Berggeister rollen Steine vom Gebirge herab, Zwerge springen und trampeln um die Hauswand herum, es geistert und spukt überall, wer möchte in solch einer Nacht auf dem Speicher oder im Schuppen sein? Keiner! Keiner erträgt ein fremdes Geräusch. – Per Anders legte sich zurecht, sagte In Jesu Namen, wie er jeden Abend zu tun pflegte, und schlief dann ein. Nein, das gerade nicht, nicht sogleich, aber er war am Einschlafen.

Da rührte sich etwas draußen im Schuppen neben der Netzkammer. Irgend etwas fiel herab; dort, wo er lag, polterte es an der Wand. Bootsschuppen und Netzkammer lagen nebeneinander; es befand sich eine Tür dazwischen, aber sie war verschlossen, sonst wäre er hinausgegangen und hätte nachgeschaut. Nach einiger Zeit schlich etwas wie ein Hund an der Wand entlang, die Nase an der Erde. Per Anders fühlte nach, ob er sein Messer bei sich habe, dann drehte er dem Ganzen den Rücken und schlief ein. Im Schlaf hörte er jemand vom Ufer heraufkommen, die Tür aufreißen und im Dunkeln stehenbleiben. Eiskalt drang der Wind herein, weckte ihn auf. »Wenn du stehen kannst, dann kann ich wohl liegen«, meinte Per Anders und blieb liegen. Jetzt wurde die Tür wohl wieder geschlossen, denn es war wieder still. Per Anders deckte sich gut zu denn er war naß und fror nach dem langen Rudern. Er schlief eine gute Weile.

Dann aber geistert es unter dem Dach, er setzt sich auf und lauscht, die Hand am Messer.

»Ist da jemand?« ruft er. Da wurde es mäuschenstill. Doch dann rumpelt es und bewegt sich aufs neue, über die Balken und die Netzstangen, ein großer und schwerer Kerl. Per Anders springt auf, packt ein Ruder und schlägt gegen das Gebälk, daß das Ruder zersplittert: »Halt Frieden im Schuppen, das rat ich dir! Du Teufel, der du bist!«

Da lachte es oben im Dunkeln, ganz still, aber tief, als lache die ganze Nacht. Und jetzt wußte er es: das war der Leibhaftige selber; er selber. Per Anders war im Begriff hinauszugehen, aber dann brachte er es doch nicht fertig – hier war doch wohl Raum für zwei? Das war einer, den es wirklich gab; nicht der Draug oder irgendein anderes Aberglaubenszeug; vor dem Mann zu fieren, war keine Schande. Er setzte sich. Er war nicht mehr er selber und fror ganz gottserbärmlich. Dann betete er ein Vaterunser – er konnte nicht anders, obwohl es in diesem Augenblick unrecht war; gleichsam als gebrauche man eine zu schwere Waffe, weil man schwach wurde. – Im übrigen waren sie ja alle hier, alle die alten Juwikinger, rings um ihn. Er fürchtete sich nicht. Er deckte sich gut zu und tat, als schlafe er.

Und die Nacht verging. Oder: sie verging nicht. Sie legte sich mit ihm hin, als wollte sie nicht mehr weiter.

Er hörte die Kuh im Stall, sie brüllte und klagte: »Lange Nacht! Lange Nacht!«, und die Schafe und die Ziegen blökten und meckerten, mit eingezogenen Köpfen: »Sie ist länger als zwei!«

4

Oben auf dem Hof warteten sie endlos und endlos auf den Alten, aber er kam nicht.

Die Frauen waren betroffen gewesen, als sie endlich heimgekehrt waren und zu hören bekamen, daß er fort war. »Was?« sagte Ane – »ist dein Vater fort?« Ja. Beret wußte nichts anderes. Ane fragte die Jungen, und auch die wußten nicht mehr. Die anderen dachten gleich nicht mehr daran – er kam wohl wieder heim; aber Ane konnte ihn nicht aus dem Kopf bringen.

Denn er ist einmal so, der Per Anders, sagte sie sich immer wieder. Nie ein unzufriedenes Wort. Zu mir wenigstens nicht. Aber wenn er so davonläuft, dann ist er schlechter Laune.

Nach und nach, als es immer später und dunkler wurde, kam eines nach dem anderen herein und warf ein paar Worte hin. »Er bleibt aber lang aus, der Vater.« Valborg stellt sich vor Per hin und flüstert ängstlich: »Wo steckt nur dein Vater? Er muß doch wohl bald kommen?« – Oh, der fand schon zum Hof zurück. Deshalb brauchte sie keine Angst zu haben.

Sie setzten sich alle miteinander in die Stube, zündeten Licht an und legten neue Scheiter aufs Feuer. Der Sturm tobte in schweren Stößen über die Häuser hin, er donnerte im Schornstein wie ein Sturzbach, und der Schnee flüsterte in einem fort gegen die Scheiben, ängstlich und verwirrt. Sie pflegen auf Juwika die Fensterläden nicht zu schließen, »das braucht's nicht«, sagte Per Anders immer.

Von Zeit zu Zeit gingen Per und Jens abwechselnd hinaus und sahen sich um; Jens kam mit einem kalten Lächeln wieder zurück, Per verfiel in andere Gedanken, er dachte an dies und jenes, was er zu tun hatte. Petter, Pers jüngster Sohn, schlief wie immer, aber Anders, der sechs Jahre alt war, blieb lange auf, obwohl er immer müder wurde und die Augen ihm immer mehr zufielen. Er gab nicht nach: »Ich will auf den Großvater warten«, sagte er, »es wäre doch eine Schande, wenn ich das nicht täte.« Er sagte es noch im Schlaf. Die Mutter nahm ihn und legte ihn neben den Bruder ins Bett. Sie und Per schliefen in der Stube, und die Alten in der Kammer.

Als sie gerade in ihre Arbeit vertieft waren, lachte Jens kurz auf und schaute sie alle der Reihe nach an: Ist heute nacht nicht Lucie-Langnacht?

Sie blickten ihn nicht gerade freundlich an, keines. Sie hatten eben selber daran gedacht, und was sollte es nützen, wenn einer es ihnen nun erzählte? Ane räusperte sich und hielt ihr Strickzeug ans Licht. Sie sah Jens kurz an, und gleich darauf hörte man sie in ihrem Kopftuch seufzen. Danach war es still in der Stube, man vernahm, wie der Abend sich immer dichter um das Haus schloß. In den anderen Häusern draußen hörte man es rumpeln. Der Rauch schlug durch den Schornstein herab. Bei der Flausecke stand eine Leiter an der Birke und meckerte und wetzte hin und her. Leiter und Birke hatten lange Zeit so dagestanden und aneinander gewetzt, aber bisher hatte niemand dessen geachtet: es lachte und ächzte gleichzeitig, wie aus boshaftem Herzen.

Jetzt stand Per auf, dehnte sich ein wenig, Valborg trat still hinzu und sah an ihm hinauf. Und er gähnte und sagte, er wolle jetzt hinausgehen und diese Leiter wegnehmen, sonst würde sie ihrer Lebtag dastehen und wetzen. Es sei so widerlich anzuhören, es ginge ihm durch Mark und Bein, sagte er. Allen in der Stube fiel gleichsam ein Stein vom Herzen, als er das sagte. »Herrgott, die Leiter kann ja auch gern stehenbleiben.« Jens blickte zu ihm auf und lächelte kalt: »Es ist besser, du nimmst sie weg, Per.«

Nicht lange danach zündete er ein Stallicht an, pfiff ein paarmal vor sich hin und ging hinaus. Sie glaubten, er wolle nach den Pferden sehen, aber er blieb lange aus.

Während sie so dasitzen und sich darüber wundern, wo er bleibt, hören sie Schritte vor der Haustüre. Es geht in den Gang herein, man hört es im Sausen des Windes nur undeutlich, und sie horchen auch nicht sehr aufmerksam, denn es war wohl der Jens, der da hereinkam; – jetzt geht es zum Dachraum hinauf. Zuerst blickt Valborg auf, dann einer nach dem andern, und Ane sagt: »Fast als wär's der Per Anders.« »Es ist doch wohl nur der Jens«, sagt ein anderer. – »Ich höre gar nichts«, sagt Per. Aber dann steht er auf und geht in den Dachraum hinauf. Da sitzen sie alle still, und es überläuft sie kalt über den ganzen Körper; denn er wird im Dachraum nichts finden, das weiß ein jeder. Er kommt in anderen Gedanken wieder herunter, hat vergessen, was er da oben wollte, dann geht er in die Küche hinaus und trinkt einen Schluck Wasser. »Dummes Zeug!« sagt er, als er hereinkommt. Jedes wendet sich wieder seiner Arbeit zu, denn sie hatten viel zu tun, jetzt in der Weihnachtszeit.

Jens kommt herein und stellt das Licht weg. Er ist mit Schnee bedeckt und muß wieder hinaus und sich abklopfen. »Der Vater wird wohl heute nacht auf dem anderen Ufer bleiben«, sagt er ruhig.

»Hm, ja«, meinen die andern. Es tat so gut, daß jetzt einer etwas sagte. Keines legte sich schlafen.

Um Mitternacht ging Per hinaus. Jetzt mußte er einmal zum Strand hinunter und dort nachschauen. Aber er konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Es war, als gehe man auf eine Wand zu – so dicht fiel der Schnee. Heimwärts lief er in langen Sprüngen, denn es war hundekalt, und er war nur dünn angezogen. Das letzte Stück rannte er aus allen Kräften. Als er eintrat, waren die Frauen gerade im Begriff, eine nach der andern zu Bett zu gehen. Ane zuletzt.

»Schaut noch einmal ans Wasser hinunter, ihr beiden, ehe ihr euch schlafen legt«, bat sie. – »Ach nein, übrigens, es ist ja –«

Jens und Per blieben noch lange auf. Niemand durfte in dieser Nacht wach sein, gerade darum aber wollten sie hier sitzenbleiben. »Man sitzt hier auf eigene Gefahr«, meinte Per. »Und auf seinem eigenen Hintern«, brummte Jens. Er holte einen halbfertigen Holzlöffel aus der Truhe, auf der er saß, und machte sich daran, ihn fertig zu schnitzen; – dabei blinzelte er Per zu, als wollte er sagen, der Löffel sei für ein Mädchen bestimmt. Er war mit dem Messer so geschickt wie ein echter Juwiking. Wenn er nur wollte. Per machte einen kurzbeinigen und steifen Holzgaul für die Kinder.

Aber mit der Zeit mußten sie nachgeben. Denn die Nacht, die gab nicht nach. Es war, als müßten sie im Schlafe laufen, sie kamen nicht vom Fleck. Die Kühe brüllten und stöhnten im Stall, und unten am Strand klatschte es unentwegt, es hörte nicht auf. Die beiden erhoben sich zu gleicher Zeit, schlüpften in die Joppen und gingen hinaus. Schweigend schritten sie dahin.

Der Sturm hatte das Gestöber zerrissen, der Himmel zeigt sein unverhülltes Antlitz, es ist wild und fremd für sie, ein Nachtgesicht; irgendwo am Himmel ist ein Lichtstreif, unheimlich, er kommt weder vom Mond noch von den Sternen.

Jens schüttelt sich und wendet sich zu Per: »Es wird dem Alten doch nichts zugestoßen sein? Denn er ist so ein Dickkopf, kümmert sich nie um das Wetter.«

Per schwieg eine Weile. – »Du bist doch immer der gleiche, du.«

Jens grinste höhnisch: »Ja, und du, was meinst du wohl? Pfui Teufel, du riechst christlich! Du riechst nach verständigen Leuten!«

Oh, meinte Per, damit habe es keine Gefahr für sie beide. Aber vielleicht war es doch richtig, was der Vater sagte: daß sie nicht recht erwachsen seien?

»Weißt du, Per, du bist mir widerlich, manchmal. Du und der Vater. Pfui! sagte der Teufel, als er die Fliegen fraß.«

»Jetzt halt's Maul!« Per sagte dies so scharf, daß Jens ein wenig zusammenzuckte. Und dann fügte er hinzu: »Hör: Ob nun der Vater heimkommt oder nicht, so muß doch von nun an Schluß sein mit diesen Dummheiten. Denn du weißt doch auch, daß das jetzt bald not tut.«

»Oh, du bist, scheint's, am Ende, das kann man hören. Verheiratet und fertig, wie jeder andere arme Teufel.« – Jens wandte sich von ihm ab.

Dies war das erstemal, daß Per dem Bruder gegenüber gerade heraus geredet hatte, so weit hatte er es bisher nie gebracht, und im Grunde war es das erstemal, daß er überhaupt etwas Größeres sagte. Im übrigen hatte er etwas ganz anderes sagen wollen. Es klang fast, als säßen ihm die Tränen im Hals, so nahe ging es ihm. Denn nie hatte es ein böses Wort zwischen ihnen gegeben, so verschieden sie auch voneinander waren.

Je länger sie gingen, desto schwerer fiel es Per aufs Herz. Er fühlte sich immer widerstandsloser gegen den Stoß – und gleich war er zu erwarten, denn Jens schwieg so seltsam. Jens räusperte sich und sagte dann so leicht und sorglos wie ein Kind:

»Hm, hm, wirklich, jetzt weiß ich es: Ich gehe meiner Wege. Diesmal mache ich Ernst damit. Dann sind wir einander los. Hm, hm, ja, ganz richtig, jetzt weiß ich es!« Er schnippte im Gehen mit den Fingern.

Und lächelte dabei boshaft vor sich hin. Denn er wußte nur allzu gut, daß er den Per jetzt für lange Zeit gezüchtigt hatte. Früher, immer wenn der Vater ihm aufsässig gewesen war und er davon redete, seiner Wege zu gehen, war der Bruder es gewesen, der ihn zurückgehalten hatte. Per sagte nicht viel, aber er ging neben ihm her wie ein leerer Sack. Und Jens konnte sich nicht zurückhalten, sondern mußte heraus damit: »Du bist ein Mordskerl, du, Per. Aber auch ein Scheißkerl: du fällst gleich um, sobald man dich nur anrührt. Ja, ja. Jetzt wirst du ein richtiger Ehrenmann. Ein schöner Ehrenmann. Das ist auch das einzige, wozu du taugst; es soll dir herzlich vergönnt sein.«

Jens hatte den Bogen überspannt. Um Pers Lippen zitterte es noch ein wenig, im übrigen aber hatte er sich gefaßt und war dem anderen, wie ein Mann, weit überlegen:

»Das Schlimmste wär's noch nicht, wenn du wirklich deiner Wege gingst. Da du hier daheim doch nicht festwachsen kannst.«

»Oh, davor werde ich mich auch hüten. Nein, Bursch!« Jens stieß den Eisbrocken, der im Weg lag, mit dem Fuß weit fort.

Das Boot stand neben dem Schuppen heraufgezogen; und der Schlüssel steckte von innen in der Türe. Sie klopften an die Wand und riefen »Vater«, und nach einer Weile kam der Alte und schloß auf.

Hatte er denn hier geschlafen?

Hier, ja! Hier war es doch ganz gut? Schließlich war es doch besser, hier zu bleiben, als auf dem vereisten Weg sich grün und blau zu schlagen, er hatte richtig gut geschlafen!

Er ging mit ihnen hinauf. Dabei aber taumelte und wankte er so, daß Per ihn stützen mußte. Per Anders lachte darüber: es sei doch traurig, wie alt man werde, wenn man alt werde – nein, he! Wie verfroren man sei, wenn man durchfroren sei – he! Er versprach sich ein ums andere Mal, und dabei schüttelte es ihn so, daß ihm die Kiefer aufeinanderschlugen, aber er redete in einem fort, während sie heimwärts tappten. Und von Zeit zu Zeit richtete er sich auf, und dann kam es lang und klagend: »Oh, das ist respektierlich!« Oben an der Hauswand reckte er sich empor und blickte nach Westen über die Moore und Hügel hin, zu den Häuslerhöfen:

»Heute nacht haben sie Angst, die Leute. Heute nacht kriechen sie unter die Felldecke. Aber es ist ein ganz anderer – der sie beim Schopf hat. Und der ist rings um uns. An dem haben sie sich alle die Hörner abgestoßen, die Früheren hier auf dem Hof. So scheint es mir. Der Vater und der Großvater – hier war manch ein unerschrockener Mann, hier auf dem Hof. wahrhaftig. In ihrem Kielwasser gab es keinen Aberglauben – geht mir aus dem Licht! Aber mit dem Leibhaftigen nahmen sie es nicht auf. He, he, ich wette, sie knurrten, wenn sie nachgeben mußten. Oh, das waren Leute, die durch das Dunkel Bahn brachen. Dagegen ist ein anderer nur –«

Endlich brachten sie ihn ins Haus, und er legte sich, wie er war, ins Bett. Er fror so, daß die ganze Bettstatt zitterte. Ane stand auf und wärmte ein Webstück, in das sie ihn einhüllte: Per hatte ihm Joppe und Stiefel ausgezogen.

»Oh, danke, danke!« sagte er, und das waren seltene Worte bei ihm. – »Das war eine lange Nacht, Ane.«

Ane legte sich nicht schlafen, sie blieb wach und hielt das Feuer in Brand.


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