Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Rauch treibt aufs Haus zu

1

Am Tag darauf verbrannten sie das Leichenstroh. Die Luft war still, nur ein leiser Windhauch kam aus Osten. Ane trug selbst die Halme hinaus, und sie gingen damit nach Westen. Sie holte Feuer aus der Stube, um das Stroh in Brand zu setzen, und ging dann wieder ins Haus.

Ja, der Rauch stieg auf und zog nach Westen. Er wälzte sich wie eine mächtige Wächte durch die Luft, weißlichgrau und gelbgrau, mit rundem Rücken, er rollte nach Westen. Schwer wie das Unglück selbst.

Ja, der Rauch ging nach Westen. Auf einmal aber sagt Beret und wendet sich dabei zur Mutter, so dünn und blau wie sie ist:

»Ich meine, jetzt kommt er hierher, Mutter!«

»Hm, hm!« Ane hatte es bereits gesehen.

Er kam geradeswegs auf den Hof zu, hüllte die Häuser und alles andere ein, man konnte ihn drinnen in den Stuben spüren, wo man auch gerade stand, und jedes wandte sich mit grauem Gesicht vom andern ab; der Rauch legte sich an die Fensterscheiben; er war schwer wie der Tod.

»Das gilt wohl mir, denke ich«, sagte Beret, und damit ging sie schnell hinaus.

»O nein, Kind«, murmelte Ane. Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt und war gerade im Begriff, die Bettstatt des Toten zu waschen. »He! Das gilt doch nicht euch Jungen, die ihr leben sollt! Wer alt ist, der – –«

Beret aber hatte die Schneeschaufel ergriffen und war hingelaufen, sie lief geradeswegs auf den Strohhaufen zu und riß ihn über den Hang hinunter, so daß die Funken um sie sprühten. Der Rauch trieb zum Hof wie zuvor.

Jens stand beim Stall und grinste. Beret kam still zurück, sie schüttelte das Haar aus und klopfte die Kleider ab.

Ja, glaubte sie denn, daß das helfen würde? wunderte sich Jens.

Beret sah ihn an, verlangsamte ihren Schritt und hielt den Blick auf Jens gerichtet. Sie war heiß geworden vom Lauf, jetzt aber erbleichte sie und wurde wie zuvor, ein langes, blau-blasses Unglück; sie lächelte ihm schief zu und wollte weitergehen.

»Kopf hoch!« sagte er. »Der Tod ist nicht so gefährlich wie er häßlich ist, weißt du.«

»O nein. Den, der jetzt stirbt, wird niemand vermissen.«

Er aber blieb stehen und sah ihr nach. Sie vermochte sich kaum mehr hineinzuschleppen. Nein, die Arme, sie würde wohl keiner vermissen. Und allzu gut hatte sie es wohl auch nicht gehabt. – Jetzt erinnerte er sich so deutlich eines Erlebnisses aus seiner Kindheit: Er hatte einmal ein kleines Vogelei zerdrückt. Das hatte genau die gleiche wehrlose, blaue Farbe gehabt wie ihre Augen; er konnte die Erinnerung nicht mehr loswerden.

Später am Tag kam er einmal zu ihr in die Küche und zog sie ein wenig am Haar.

»Sieh her, Beret« – er hielt einen kleinen Spiegel in der Hand, mit Rosen und vergoldetem Rahmen ringsherum; den habe er oben in seiner Truhe gefunden, da sei er herumgelegen und ihm im Weg gewesen: Ob sie ihn haben wollte? Denn er würde sich wohl kaum mehr barbieren, meinte er; das könne der Per tun – es genüge, wenn einer auf sich halte und nach dem Brauch lebe. Wenn sie ihn haben wollte, dann – –

Sie nahm ihn an und dankte dafür; nicht sehr erstaunt, ihr Gesicht war starr wie immer, aber sie blickte doch zu ihm auf. Da wird ihm sonderbar zumut. Herrgott, daß sie ihn annahm, von ihm, und sich fast darüber freute! Da stand es nicht gut um sie.

Die Mutter ging umher und machte sich, wie an jedem anderen Tag, irgend etwas zu schaffen. Nur hörte sie es nicht, wenn die anderen sie anredeten. Valborg tat das meiste von dem, was zu tun war.

Die Leiche war in der Alt-Stube auf Stroh aufgebahrt. Valborg sagte zu Jens und richtete sich dabei von ihrer Arbeit auf: »Jetzt werden wir doch nicht in die Alt-Stube ziehen, Per und ich. Denn jetzt wage ich es nicht mehr.«

Sie hatte das gleiche ernsthafte Gesicht wie immer, wie ein vertrauensseliges Kind. Jens stand da und sah ihr geradeaus ins Gesicht. Es war so breit und offen und gut; ein wenig sommersprossig, aber schön – und welch weißen und stattlichen Körper sie hatte!

»Dann ziehe ich hinein«, sagte er. »Denn dort bin ich gern.«

Sie hörte nicht auf ihn, und das ärgerte ihn stets.

Vielleicht sollte er etwa heute abend noch hinüberziehen? meinte er – er würde gern in der schwärzesten Nacht einen Tanz mit einem Toten tanzen, he? Hol mich der und jener – –

Sie wandte sich ab. Das tat sie immer, wenn er ein wenig Kraft in seine Worte legte, wie er es nannte. Warum wandte sie ihm den Rücken – sie konnte ihn mit diesem Rücken ganz rasend machen!

»Schön war es nicht vom Vater, daß er dich dem Per gab.«

Valborg erwiderte nichts. Sie haben? Nein, versteht sich, er war von Herzen froh, daß er davon verschont geblieben war, aber – –

Jetzt jedoch blickte Valborg auf. Sie dachte einen langen und tiefen Gedanken, der quer durch sie hindurchging:

»Ja, ja, zieh du nur hinüber. Das wäre noch nicht das Schlimmste. Du und dann die Beret.«

Jens schnitt eine Grimasse. Er pfiff im Fortgehen. In der Türe aber drehte er sich um und tat gleichgültig: »Wo steckt der Per? Ist er mit dem Boot fort?«

»Ja, das ist er«, gab sie zur Antwort, »– er sieht sich nach einem Grab um.«

Per war über den Fjord gefahren, um das Grabgeläute zu bestellen. Das war ein uralter Brauch, wenn auch sein Sinn verlorengegangen war, aber gerade darum hielten sie in Juwika daran fest. Per Anders hatte nichts davon erwähnt, aber Valborg war ihrer Sache gewiß, daß es sein Wunsch gewesen wäre, und Per war der gleichen Meinung, wenn er sich's überlegte. – Per ruderte bei stillem Wetter hinüber, in Hemdärmeln, und er ruderte rasch.

Der Glöckner war ein winzig kleiner und behender Mann, er kletterte wie eine Katze über die Turmtreppe hinauf, freute sich, wenn er läuten durfte, ob es nun Hochzeit oder Leichenfeier galt. Er liebte die Glocke wie etwa den Schnaps. Per stand unten und sah ihm nach. – »Läute nur stark«, rief er hinauf, und dann ging er auf den Kirchhof. Dort betrachtete er die Gräber; er kam so selten zur Kirche.

Jetzt läutete die Glocke. Der Schwengel schlug an das Erz, schlug noch einmal, mit voller Stärke, und dann nahm der Laut zu und wurde in großen runden Schwingungen durch die Luken, über die Erde hin und zum Himmel hinauf getragen. Alles andere schwieg, wenn die Glocke anhub: es konnte nicht mehr mit.

Per wußte nicht, wie es kam, aber er mußte sich setzen. Da saß er auf einem Grab, auf einem Hügel mit Grasbüscheln und vereisten Stellen, denn hier gab es keinen Schnee, der fühlte sich nicht wohl auf dem Kirchhof. »Hier sind viele Tote«, sagte Per, »und die schlafen sicher gut.« Aber er griff sich an den Kopf. Es schmerzte, so nahe der Glocke zu sitzen – diesen Laut hatten die Leute auf Juwika nie recht vertragen, das spürte er jetzt. Mehrere Male fuhr er sich mit dem Joppenärmel über die Stirn. Dann stand er auf und ging zur Nordwand hinüber. Denn mit solch einem Meeresbrausen in sich – kann man nicht gut stillsitzen; er atmete auf und sah über Land und Fjord hinaus. – »Wenn der Himmel selbst sich über einem öffnet, da fühlen sie sich fremd, die Juwikinger, da werden sie fahl und bleich und leer im Gesicht, ist das so merkwürdig? Denn es liegt ihnen nichts daran, hierher zu kommen, das fühle ich.«

Per wußte kaum, wo seine Leute lagen. Wohl auf der Südseite. »Aber das muß ich heute noch feststellen«, sagte er, »damit man doch weiß, wo man einmal hinkommt.«

Endlich hörte es im Turm oben zu läuten auf. Der Klang lag noch zwischen den Bergen, wie der Abend nach einem großen Tag. Alles faßte sich ein Herz und blickte um sich: Schwarze Berge sahen aus dem Schnee heraus wie früher, und der Fjord war salzige Armut.

Der Glöckner kam heraus, der Schädel glänzte ihm vor Schweiß, und er lächelte.

»Ging sie schwer heute?« sagte Per. Es war nur ein Scherz, aber er sah den Glöckner doch an und wartete auf Antwort. Dann fragte er noch einmal, und jetzt war es grauer Ernst: »Ging sie schwer, hörst du?«

»Ach ja. Leicht ging sie nicht«, seufzte der Glöckner. »Sie ist schon leichter gegangen«, fügte er hinzu.

Per biß sich auf die Lippe. Jetzt wäre es gut gewesen, den Jens da zu haben. Der Glöckner und er begannen zu gehen. Sie hatten ein Stück weit den gleichen Weg. Elias mußte heute selber an den Lohn fürs Läuten erinnern. Er erhielt ein Silberstück und einen Schnaps dazu. Per aber stand da und sah ihn mit leeren Blicken an. Er sagte ihm nicht Lebewohl. »Und das Grab?« fragte Elias. – »Ja, freilich, das Grab, ja – –«

Per schüttelte den Kopf: »Mir macht keiner weis, daß es etwas zu sagen hat, wenn diese Sauglocke so hart geht, der Teufel hol mich, wenn ich auch nur einen Deut davon glaube!«

Der Glöckner hatte sein großes breites Kirchenlächeln, fast bis an die Ohren reichte es ihm. »Ja, wie man's nimmt«, sagte er, und dann ging er, den Hang hinauf und heim. Und Per ging seiner Wege.

Die Mutter sah ihn ein wenig unruhig an, als er nach Hause kam, sie erwartete sich so halb und halb eine gute Nachricht, wagte jedoch nicht zu fragen. – War er auf Haaberg gewesen? – Nein, er hatte sich dort nicht aufgehalten. – Nein, nicht? Die Mutter bekam Angst, was waren es denn für Gedanken, die ihn plagten? – »Aber die Glocke«, sagte Per, »die ging so leicht, als gehe sie von selber. Der Elias hat sie noch nie so übermütig gesehen. Wenn man also darauf etwas geben kann, dann ist der Vater gut aufgehoben.«

»Ja, ja, Gott sei Dank, das will gewiß nicht wenig sagen.« Ane faltete die Hände. Es trieb sie in der Stube umher. »Da hat er einen guten Tod gehabt!« sagte sie.

»Sie ging wie geschmiert!« sagte Per.

»Wie mit Himmelsfett geschmiert«, grinste Jens, er stand auf und verließ die Stube.

Am Abend trafen sich die beiden Brüder draußen auf dem Hof.

»Der Teufel hol mich, wenn sie leicht gegangen ist«, sagte Jens. »Ich habe es dir angesehen. Die hat das Himmelreich nicht versprochen.«

Per gab keine Antwort. Schwer und finster wie der Abendschatten stand er da, wuchs über Jens hinaus und lastete auf ihm. Jetzt war er es, der hier auf dem Hof etwas zu sagen hatte, und so sollte es bleiben.

»Mag sie gehen, wie sie will«, sagte Jens still. »Dabei ist nichts zu machen.«

»Nein«, sagte Per; er rührte sich nicht von der Stelle. Jens mußte fortgehen und ihn allein lassen.

2

Am Tag darauf standen sie in der Alt-Stube und nahmen Maß. Der Sarg sollte gezimmert werden. Valborg kam auch dazu, sie wollte die Leiche noch einmal sehen. Später kamen auch noch die anderen – als dann endlich schon mehrere Leute dort waren. Per zog das Tuch vom Gesicht weg.

Sie hatten Per Anders das Gesangbuch unter das Kinn geschoben, damit der Mund geschlossen blieb, und auf jedes Augenlid hatten sie eine Kupfermünze gelegt. Aber die eine Münze war zur Seite geglitten, so daß das Auge ein wenig offen stand und sie gerade ansah. Die Frauen bekamen einen kleinen Schrecken, einige fingen an zu schluchzen, und Valborg trat hin, legte den Schilling wieder aufs Auge und drückte ihn fest. – Das Antlitz schlief einen tiefen und kalten Schlaf, es schwieg ihnen wie Berge entgegen. Per Anders wollte nichts mehr von ihnen. Sonst war er ganz wie immer: mit blauroten Wangen und weißer Stirn, die eine Augenbraue ein wenig hochgezogen.

Die Frauen gingen wieder fort, bis auf Valborg; sie stand noch eine Weile mit gefalteten Händen da. Die Leiche war frisch barbiert, das hatte sicher Per getan. Valborg nahm den silbernen Knopf aus ihrem Jackenkragen oben am Hals und knöpfte ihn dem Toten ins Hemd. Noch eine Weile stand sie da, dann ging sie.

»Ja, da liegt er nun«, sagte Jens. »Der letzte von uns.«

Per blickte auf.

»Ja, denn – es wird noch lange dauern, bis du an der Reihe bist«, fügte Jens hinzu.

»Und du?«

»Ich? Glaubst du, ich werde mich einmal so zum Staat da herlegen?«

Darauf gab Per keine Antwort, und so machten sie sich fertig und gingen.

Sie gaben sich große Mühe mit dem Sarg, und er wurde sehr schön. Jens behauptete, es sei gar nicht schlimm, tot zu sein, wenn man in so ein schönes Staatsbett käme. Aber bis alles zum Leichenschmaus bereit war, verging noch einige Zeit; und das taugte niemand so recht, denn es war so eine Sache, eine Leiche im Haus zu haben. Wenn es dunkel geworden war, wagten sich die Frauen kaum zur Türe hinaus. Wo sie gingen und standen, glaubten sie eine weiße Gestalt hinter sich auf den Fersen zu haben; und am Abend konnte man allerlei unheimliche Laute hören. Im übrigen war diesmal merkwürdig wenig davon zu verspüren. Wenn früher in der Alt-Stube eine Leiche gelegen hatte, war dieses und jenes vorgekommen: sie seien so unruhige Kerle gewesen, die Juwikinger, erzählte man sich.

Nach Per Anders entstand eine Leere. Das war das einzige Schlimme, was sie spürten. Sie kamen sich ganz verlassen vor auf Juwika, denn wer sollte jetzt aufstehen und hinausgehen, wenn es draußen etwas Unheimliches gab? Und wieder hereinkommen und sie beruhigen? Der Jens, ja freilich, der konnte ja immerhin hinausgehen; aber es half nicht viel, wenn er wieder hereinkam. Eines Abends sagte er, er müsse in die Alt-Stube gehen und ein Paar Stiefel holen; und er ging wirklich. Aber er war grauweiß, als er wieder zurückkam. Seine Joppe hatte sich an der Türe verhängt, als er die Alt-Stube verließ, und das war, als packe ihn einer und halte ihn zurück. – »Laß los, du Tölpel«, rief er, und als er das gesagt hatte, wurde ihm beinahe angst, nach seinem Bericht, er schloß die Türe wieder zu, wäre dann aber am liebsten gelaufen.

Je näher der Tag der Leichenfeier heranrückte, desto besser ließ es sich ertragen. Es gab soviel zu tun, man vergaß alles andere. Ja, beinahe; nur einmal war es anders. Da kam die Graukrähe, setzte sich auf das Dach der Alt-Stube und krächzte. Und das bedeutete eine neue Leiche. Beret jagte sie ein paarmal weg, aber sie war gleich wieder da; die wußte, auf wen sie wartete. Die Leute sahen einander an, bald aber hatten sie es wieder vergessen.

Per ging jeden Tag einmal hinüber und betrachtete die Leiche. Ihm war es, als wollte sie noch etwas. Wenn er aber dort stand, so wollte sie nicht das geringste. Sie schlief wie immer.

Ja, dachte er, hier liegt der Letzte. Von ihnen.

Und beim Hinausgehen sagte er vor sich hin: »So fallen die Berge ins Meer ab. Sie wollen nicht mehr weiter. Und so wie der Tod dieses Gesicht gezeichnet hat, so hebt der Abend Hügel und Berge zum Himmel empor: steinstill und steintot, so weit entfernt vom Leben und von allem, was lebt und sich rührt.« Per wunderte sich über sich selbst, er hatte solch seltsame Gedanken; woher kamen sie? Dies konnte er Jens gegenüber nicht aussprechen. Er mußte es der Valborg sagen – ihr, mit der er bisher noch kaum oder gar nicht gesprochen hatte. – »Ja, jetzt ist der Vater fort«, sagte er, mehr wurde es nicht. Valborg beugte sich gerade über einen Bottich und wand Wäsche aus. – »Ach ja«, sagte sie über ihrer Arbeit. » Er ist jetzt fort.« Eine gute Weile später straffte sie den Rücken und betrachtete das Wäschestück, es war ein großes weißes Leintuch: »– Dein Vater, der war wie ein Weg im Dunkeln.« – »Ja wie ein ganz schmaler Weg im Dunkeln. Und jetzt ist es nur noch dunkel. Und leer, scheint mir.« – Sie gab keine Antwort darauf, sondern wurde rot und befangen, denn an solches war sie nicht gewöhnt. – »Und leer, sage ich, he?« Sie konnte das doch wohl zugeben? – »Ach ja; jetzt so gleich danach«, sagte sie. Er ließ sie stehen und ging fort. Da war es doch besser, mit Jens zu reden.

– – – Als der Samstagabend vor der Leichenfeier endlich anbrach, fiel von allen auf Juwika eine Last ab. Nun kamen nach und nach jene, die den weitesten Weg hatten, und die von den zunächst gelegenen Höfen sandten Eßkörbe, einen nach dem andern; man erkannte jeden Hof an seinem Korb.

Sie kamen still, die da zum Hof kamen, und still wurden sie empfangen. Zwar nicht gerade traurig, aber doch feierlich. Ane Haaberg kam allein, und nach ihr dann ein Boot nach dem anderen, und jedesmal, wenn die Leute zum Hof hinaufschritten, stand Petter Lines in der Türe und bat sie, einzutreten, diesen Weg, und hier bitte, kommt her und laßt euch zu trinken geben. Petter Lines hatte es übernommen, den Wirt zu machen. Das tat er überall dort, wo es nach Schick und Brauch zugehen sollte. Er war ein großer Mann in seiner Gemeinde, und es hielt nicht so leicht, ihn für dieses Amt zu gewinnen; mit den Juwikleuten aber war er verwandt, so daß er aufs erste Wort hin zugesagt hatte. – Unter den Gästen, die schon am ersten Abend da waren, stand besonders Ola Engdalen in großem Ansehen. Nach ihm richteten sich alle anderen. Er war alt und reich und gehörte zu den Ersten in der Gemeinde, er stand auf einer Stufe mit Petter Lines.

Und heute hatte er ein kleines Lächeln. Er hielt die Hand bei der Begrüßung nur ein wenig länger fest als sonst. Als er sich nach dem Trunk räusperte, halten sie alle ohne Ausnahme das gleiche Lächeln; seine Worte kamen ihm wie gegossen über die Lippen.

»Daß ich es einmal sein sollte, der den Per Anders zu Grabe geleitet! Wer hätte so etwas vorausgesagt!« Und als sie noch nichts zu sagen vermochten, sondern nur wie auf ihren Stühlen festgewachsen dasaßen, stand er auf und wandte sich zu Ane: Wenn es ihnen nun allen recht wäre, so wollten sie jetzt hinübergehen und die Leiche ansehen.

Nun drängten sie sich alle zur Tür; sie räusperten sich und kamen herbei.

»Ja«, sagte Ola, als sie bei dem Toten standen. »Das hier ist wirklich einer, den man vermißt.«

Einer nach dem anderen sagte das gleiche, und von diesem Augenblick an kam das Gespräch in Gang; sie redeten von Per Anders. Und sie redeten von dem und jenem in der Gemeinde, mit trauriger Stimme noch, aber dazwischen doch ruhig und befriedigt. Gastgelage war eben doch Gastgelage, und dies hier schien eines der besten zu werden. – »Mein Gott, welch ein Sarg«, hörten sie eine Frau sagen. – »Ja, wenn man so einen Sarg bekommt!« antwortete eine andere. – »Nein, und wie schön sich das Wetter dazu anläßt, zu Wasser wie zu Lande.« – »Ja, ja, der Per Anders Juwika, der hatte ja meistens Glück.« – »Ja, wie auch jetzt wieder: daß sie auf Juwika in diesem Jahr Schnaps gebrannt haben; wo sie doch hier so selten Schnaps brennen.«

Und sie kosteten von dem, was gebrannt worden war, und sie fanden es gut. Keiner trank mehr als er vertrug, sie wußten, was sich gehörte, aber sie wurden redselig davon, daß es eine Freude war, und milde gestimmt und verträglich. Die Hausleute gingen aus und ein und sonnten sich in dieser Stimmung, so leicht hatte ihnen das Dasein schon lange nicht mehr geschienen.

Und so war es auch beim Begräbnis selbst: Alles ging ruhig und still vor sich, es war ein heller Tag, und die Menschen strömten tiefe Wärme aus. Vielen standen die Tränen in den Augen, und sie ließen sie von der Luft und von der Sonne trocknen. Es geschah nichts anderes, als was geschehen mußte. Einzig und allein Valborg schluchzte ein paarmal auf, so trocken und hart; es hatte den Anschein, als zerbräche ihr der Rücken. Aber sie richtete sich wieder gerade auf.

Per wunderte sich über die Leute. Es lag solch eine Feierlichkeit über ihnen, in jeder geringsten Kleinigkeit. Und besonders feierlich waren die Träger. Sie bewegten sich wie lauter Küster. Sie wußten, was Brauch und Sitte war. Er hatte sie vorher nicht gekannt, war ihnen nur im Alltag begegnet, und da waren sie struppig und ruppig gewesen und grau wie die Erde selbst; jetzt aber zeigten sie ihr Gesicht, und ihm schien es mächtig wie die Kirche und die Glocke.

Jens ging dahin und biß sich auf die Lippe. »Heiliges Kreuz, wie feiertäglich sie gekleidet sind«, flüsterte er einem anderen jungen Mann zu. Er hatte wohl bereits ein wenig zuviel getrunken. Auf einmal, als sie auf dem Hof platz den Sarg auf Böcke stellten, platzte er heraus und lachte: »He, he, he! Gibt's da noch mehr Zeremonien

Sie achteten nicht darauf, kein einziger von ihnen, und dadurch verlor er gleichsam den Mut. Per wurde flammend rot.

Auf dem Weg zum Strand hinunter drängte er sich dicht an Jens und murmelte: »Du siehst aus, als hättest du auf einen Nagel gebissen.« – »Ja, ich sehe wohl aus wie die leibhaftige Schande«, lächelte Jens. »Wie die leibhaftige Schande, die man zum Trocknen herausgehängt hat.«

Per fuhr sich über die Augen. Es war so schmerzlich, das jetzt hören zu müssen.

Das gleiche tat er, als die Glocke zu läuten begann. Ein ums andere Mal zog er die Luft durch die Zähne ein, wie einer, dem man an eine Wunde rührt.

Ola Engdalen sieht es, seine Blicke weilen auf Per. Er beobachtet ihn auch auf dem Heimweg. – Später am Abend kommt er zu ihm hin. Leise und vorsichtig, mit Klang in der Stimme, sagt er: »Ja, ja, du hast schon recht. Es wird leer nach solch einem Mann. Es kann nicht anders sein.« – »Aber daß man über einem Juwiking mit den Glocken läutet?« sagt Per, er bekam solche Lust, irgend etwas zu sagen. Denn sie waren doch immer Heiden gewesen hier auf dem Hof, alle Bauern, ihr Leben lang – »der Weg von Juwika zur Kirche ist ja weit, nicht wahr?« Ola mißt Per mit den Augen. – »Eines jedenfalls ist wahr: du bist kein Juwiking.« – »Nein?« Es hört sich an, als sei Per froh. Ola ließ ihn stehen, und Per wiederholte es vor sich selbst: Eines jedenfalls ist wahr, ja. So diese Last bin ich nun los.

Er kam wiederum zu Ola, später, als die Nacht vorgeschritten war, es gab noch etwas, das er sagen mußte. Ola aber ist im Gespräch mit einem anderen und hört nicht auf ihn, nicht mehr, als sie heute auf Jens hörten.

Jetzt aber mußten sie dennoch auf Jens hören. Die Leute sind im Begriff schlafen zu gehen, draußen auf dem Hof stehen die meisten der Gäste beieinander, Junge und Alte, sehen die Sterne an und halten nach dem guten Wetter Ausschau, reden und fühlen sich wohl. Da kommt Jens und bleibt in der Türe stehen, er hat ein offenes Licht in der Hand, hebt es hoch und leuchtet damit über den Platz; er ist blaß und hat gläserne Augen.

»Wißt ihr, wo die Welt liegt?« ruft er. »Sie liegt im argen!«

Im selben Augenblick kam Aasel herzu, packte ihn und zog ihn rücklings ins Haus. Er wehrte sich, aber es half nichts, er war zu betrunken, und außerdem kam ihr Valborg zu Hilfe; drinnen schafften sie ihn in die Kammer und aufs Bett, und da schlief er ein.

Von Valborg sah man nicht viel bei diesem Leichenschmaus. Sie kam sich hier jetzt so wildfremd vor.

Erst spät am anderen Tag fuhren die Gäste heim. Lange gingen sie von einem zum anderen, drückten einander die Hände und nahmen immer wieder Abschied, ehe sie sich auf den Weg machten.

Ein jeder sagte, daß es eine schöne Leichenfeier gewesen sei. » Der kam schön in die Erde«, sagten sie. »Und die, die jetzt nach ihm kommen, sitzen nicht auf dem Trocknen und leiden nicht Not.«

3

Graue, halbblinde Tage. Der Winter halte nun ernstlich eingesetzt, und jetzt war kein Ende mehr abzusehen.

Nie ist es so leer und verlassen in einem Haus wie nach einem großen Gastgelage. Und in Juwika gingen sie ganz niedergedrückt umher, denn dieses Haus war stets von Leben erfüllt gewesen, nie war es in der Stube öde geworden. Jetzt hatte das aufgehört, Haus und Leute und alles miteinander hatte die Stimme verloren; jetzt konnte man alles Schlimme und Böse hören. – Nicht einmal einer von den Burschen nahm sich eine richtige Arbeit vor. Als sie das Getreide ausgedroschen hatten, trieben sie sich auf dem Hof herum, Per war von Zeit zu Zeit in der Schmiede, brachte aber nichts zuwege, und Jens verfertigte an den Abenden das eine oder andere Paar Schuhe für die Weiber, denn bei denen sei das Maßnehmen am lustigsten, sagte er, doch zu einer richtigen Arbeit kam es nicht.

Aber wartet nur auf den Sommer, sagten sie. Und daran hielten sich auch die Frauen. Denn der Winter würde doch wohl nicht bis Pfingsten dauern? Auch dieser Winter nicht.

Ja, wer den Sommer erleben könnte, meinte Ane. Oft saß sie in der Stube und las einen Psalm, und Beret war gleich nach dem Tod des Vaters zu ihr in die Kammer gezogen. – »Aber nicht, weil ich an die Geschichte mit dem Leichenstroh glaube«, sagte Ane. »Der Per Anders hat nie an so etwas geglaubt – und der Rauch hat ja auch nur einen Augenblick zum Hof herübergeschlagen.«

»Nein, der Per Anders glaubte niemals an so etwas«, sagten die andern.

Ane sprach immer häufiger davon. Und das mit der Leichenstarre – er ist doch rasch genug steif geworden? Und die Graukrähe? Lauter alter Aberglaube, hätte Per Anders gesagt.

Beret schwieg. Eines Tages hatte Valborg Anders, den ältesten Jungen, geschlagen. Beret klopfte ihr auf die Schulter: »Du hast es gut, du hast jemand, den du prügeln kannst. Wer doch wenigstens einen Hund hätte!« Valborg schauderte zusammen; das tat sie immer, wenn diese Finger sie anrührten. Aber sie lächelte und verstand Beret.

Eines Abends jedoch, sie saßen gerade alle beim Essen, sprang Beret vom Tisch auf:

»Still! Hat nicht jemand nach mir gerufen?«

Jens grinste und mit ihm die anderen. Wartete vielleicht draußen einer auf sie?

Sie setzte sich wieder an das Tischende, nahm den Breilöffel und begann zu essen, jedoch mit abwesendem Blick. Die Stallmagd, die neben ihr saß, konnte nicht unterlassen, sie anzusehen, sie war nicht wiederzuerkennen. Nun ließ sie ihre hellwachen Augen rings um den Tisch schweifen: Hörten sie denn jetzt auch nichts? – Sie hatten nichts gehört.

»Warte, bis es zum drittenmal ruft – dann mußt du dich in acht nehmen«, ermahnte Jens.

Kaum hatte er dies gesagt, als es draußen rief, jetzt war kein Irrtum möglich: es rief Beret, und sie eilte hinaus. »Wenn nur niemand in den Brunnen gefallen ist!« sagte sie noch. Ein Teil der Zurückbleibenden glaubte den Ruf auch gehört zu haben, andere meinten, es habe eine Katze draußen beim Hauseck geschrien.

»Ja, wenn nur nicht jemand in den Brunnen gefallen ist«, sagte nun auch Valborg, stand auf und wollte hinausgehen. – »Ja, und wo bleibt denn die Beret?« sagte Per, der hinter ihr nachkam. Denn der Brunnen war jetzt im Winter ein gefährliches Loch, vollkommen von Eis umgeben, so daß man sich ihm kaum nähern konnte, er lag mitten im Hof und war ganz unheimlich tief. Nie schlugen die Burschen das Eis weg, Valborg hatte es ihnen oft genug gesagt, meinte sie.

Die hinausgegangen waren, kamen nicht mehr herein, da legten auch die übrigen ihre Löffel weg, sie mußten nachsehen.

Draußen lag noch Dämmerlicht, ein weißgrauer Abend mit schwarzen Hügeln; im Norden war der Himmel sturmrot.

Per und Valborg standen über den Brunnen gebeugt. Beret war hineingestürzt, die beiden zogen sie gerade heraus. Sie war bereits tot. Per und Valborg trugen sie ins Haus und legten sie aufs Bett, Jens folgte ihnen, um zu helfen, aber niemand konnte ihn gebrauchen – er trug einen ihrer Schuhe nach.

» Sie ist wohl starr genug«, sagte er, als sie sich bemühten, Beret wieder zum Leben zurückzurufen.

»Ach ja, ach ja«, seufzte Ane, als sie endlich wieder etwas sagen konnte. »Daß aber gerade sie zuerst fort mußte!«

Jens wandte sich um, griff hinter die Wanduhr und drehte ihnen ein häßlich grinsendes Gesicht zu, gleichsam als habe er dort etwas Merkwürdiges gefunden:

»Ja, man darf froh sein, daß – –«

Ane wischte sich die Nase, sie verstand ihn nicht ganz. Per wurde hart und finster.

– – – Sie legten Beret in der Alt-Stube aufs Stroh, und dann galt es, zum zweitenmal einen Leichenschmaus auszurichten. Sie sprachen untereinander darüber, daß Beret mit einem Lächeln daliege, gleichsam als wollte sie sagen, nun sei sie doch aus dem Wege.

Ane lebte merkwürdig auf nach diesem Ereignis. Sie war geradezu wie neugeboren. Immer wieder wollte sie Valborg die Macht aus den Händen nehmen; aber sie war nicht böse, wenn ihr das nicht gelang.

Aus Valborg wurden sie im übrigen nicht klug. Valborg sprach so wenig. Wenn sie etwas redete, so war es meist über Per Anders, den Großvater, wie sie ihn nannte. Er war es, der sie hierhergebracht, zur Frau auf Juwika gemacht hatte, und er war es, dem sie sich anvertraut hatte; jetzt stand sie allein, aber man ließ sich deswegen nicht vor die Türe setzen. Sie arbeitete für zwei, wo sie anfaßte, und außerdem hatte sie; die beiden Buben, die reinsten Wölfe, und das dritte unter der Schürze, so schien es den anderen.

Beim Leichenschmaus für Beret geschah etwas Arges. Ane betrank sich. Sie mischte sich unter die Leute, drängte sich an sie heran und war aufgeräumt. Zum Schluß ging sie zum Wirt und wollte ihm mit einem Krug Bier zutrinken. – Es hätte noch viel schlimmer ausgehen können, sagte sie. Es hätte noch viel schlimmer gehen können. Denn mit der Beret sei ja doch nicht viel los gewesen. »Nein, seht ihr, als wir das Stroh von Per Anders verbrannten, hat es den Rauch hierhergetrieben: das mußte ja auf einen zweiten Toten deuten.«

Aasel versuchte, sie zu Bett zu schaffen, aber es gelang ihr nicht. – »Leg doch du dich, wenn du müde bist«, gab Ane zur Antwort. – »Die arme Beret lief hinaus und stocherte im Feuer herum, aber schau – – – Nein, Kinder, wenn's einen nicht treffen soll, dann soll's einen nicht treffen; ich werde erst im Sommer siebzig. Da schien mir's noch zu früh für mich. – – Nein, die Beret: es stand so ein großer Stern mitten über uns, an dem Abend, als wir sie ins Haus trugen – – die wurde nicht auf dem Weg nach oben aufgehalten. Wir ließen nicht einmal die Glocke über sie läuten.«

Ane hatte nasse Augen; die Leute hatten diese Augen früher nie gesehen, sie waren klein und rund und konnten einen nicht anschauen. Sie wischte sich die Nase und lachte:

»Und es sind ja auch immer noch vier um die Erbschaft da; das ist mehr als genug.«

– – – Drei Wochen später verbrannten sie auch Anes Leichenstroh. Der Sturm ging landauswärts, bei dem Rauch gab es keinen Zweifel; er mußte vom Haus weg.

Sie fiel auf dem ebenen Küchenboden hin und blieb jammernd liegen. Man trug sie zu Bett, und dort lag sie, seufzend und ächzend, bis es mit ihr vorbei war. Wahrscheinlich war die Hüfte ausgerenkt, am ärgsten aber schmerzte der Leib, er war zu Schaden gekommen, und das wurde ihr Tod.

Es war ein unheimliches Sterben. Sie hatte solche Furcht. Immer wieder fuhr sie auf: Draußen habe jemand nach ihr gerufen, ob sie es nicht hörten? Geklopft habe es, hörten sie es nicht? Warum gingen sie denn nicht hinaus und jagten die bösen Mächte fort! Die Augen blickten wild und erschreckt, sie wagte nicht eine Minute allein zu sein. Bisweilen verlor sie das Bewußtsein, wenn sie aber dann wieder zu sich kam, so war es immer das gleiche Entsetzen.

Aasel war bei ihr und versorgte sie. Nur einmal ging sie fort und sah bei sich daheim nach dem Rechten, dann kam sie wieder und blieb bei der Mutter, bis es vorbei war. Ihre beiden Kleinsten hatte sie mitgebracht.

Wenn sie sich über das Bett beugte und mit der Mutter über ihr Seelenheil sprach, beruhigte Ane sie meistens.

»Jetzt müßt Ihr still sein, Mutter, und Euch schlafen legen!« sagte Aasel endlich eines Nachts. »Es ist ja nur der Vater, der auf Euch wartet.«

Da lächelte sie wie ein Kind, ganz fremd; so war sie wohl einmal als Kind gewesen oder damals, als Per Anders kam und sie holte, das Gesicht löste sich in ein winziges Kinderlächeln auf:

»Ja–ha–ha! Ja, ich glaub's wirklich, du!«

Und als der Kampf zu Ende ging, gegen den Morgen dieser gleichen Nacht, und Aasel allein über sie gebeugt stand, da streckte sie die Hand aus und tastete in die Luft: »Wo bist du denn jetzt, Per Anders? Warte doch ein wenig, du hast's so eilig, du!«


 << zurück weiter >>