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Eines Abends überkam es Per siedend heiß: jetzt wolle er zu Hinke-Andreas gehen. Merkwürdig, daß er nicht schon früher gegangen war; und ebenso merkwürdig, daß er sich jetzt auf dem Weg zu ihm befand, er war seit zwei Jahren nicht mehr vom Hof fort gewesen.
Er lauschte ringsum auf den Wind: eben hatte er ihn doch noch gespürt? Nein, jetzt kühlte kein Hauch mehr, es war bleiern still in der Luft; einzig und allein die Wolken bewegten sich, sie segelten nach Osten, wollten noch zur Nacht in die Berge. Per war nicht richtig angezogen, er hatte nur auf den Stallhügel hinaufgehen wollen, um sich dort eine Weile hinzusetzen, jetzt aber befand er sich, wie gesagt, auf dem Weg, schon ein gutes Stück weit. Er sah zu einer Sternschnuppe hinauf, die am südlichen Himmel dahinschoß: Dort fuhr eine Seele zum Himmel. Ja, diesen Weg sollte nun sie gehen. Er sollte nach Osten und den Hinke-Andreas verprügeln.
Verprügeln? Ja, oder wie es sich eben fügen würde. »Es wird schon kommen, wie es kommt«, sagte Per. Er sah den Lumpenkerl schon vor sich. »Nimm dich ein wenig in acht«, sagte er, »daß ich dich nicht noch einmal zu fassen kriege!« Oh er ging hart mit ihm um, schlimm – aber was sollte er tun? Denn der Andreas stand ja nur da und lachte, stand nur da und spritzte Bosheit aus und blies sich auf. – Per wurde ein wenig unsicher auf dem Weg. Denn was sollte er tun, wenn dieser Teufel ihn nicht wieder gesund machen wollte? Er ging langsamer und griff in Gedanken nach allem möglichen; ihm war fast, als sitze er vor dem Lumpenkerl und bettle. Nein, alles, was recht ist! Und jetzt war er ganz wie sein Vater, der alte Per Anders, wie er leibte und lebte – wie hilfst du dir jetzt, Per Anders? Meinst du, du könntest ohne Gesundheit leben?
»Der Teufel hol mich!« sagte Per wütend, drehte sich um und ging heim. »Glaubst du, ich bitte diese Armenlaus um Gnade?« Und er deutete mit dem Kopf in der Richtung, in der der Lappe wohnte: »Er kann ja gar nicht zaubern! Und auch nicht wiedergutmachen – er kann nichts als hinken!« Per ging heim. Er merkte, daß er fast eine Stunde Wegs gegangen war, ja wirklich – unheimlich, wie rasch die Zeit verstrich.
Gesund brauchte er nicht zu werden. Darum bettelte er bei niemand. Seit zwei Jahren schon war es mit ihm zu Ende und aus. Wenn er sich also bisher nicht gedemütigt hatte, so wollte er es auch jetzt nicht tun. Die Welt war grau wie der Abend und voller Gespenster und schwarzer Mächte, wollte man in ihr gut und ordentlich vorwärtskommen, so mußte man sehr behutsam vorgehen. Zwei Jahre lang hatte er dagesessen und war sich darüber klargeworden. Und trotzdem fürchtete er sich nicht – das konnte man unerschrocken nennen. So waren alle gewesen, die Juwikinger; man glaubte, was man glauben mußte, aber trotzdem bettelte man nicht um Gnade.
Per wurde sehr still. Dieses Kranksein ging ihm so nahe. Es war so schwer, die Gesundheit zu entbehren. Hätte man sie mit List wiedererlangen können, so wäre sie es wohl wert gewesen. Er aber gab sich nicht damit ab; mochten doch die sie haben, die sie besaßen. Ja freilich, die Leute sahen ihn deshalb an: Er war gezüchtigt worden. Dumme Menschen sind auch Menschen, aber Herrgott, wie wenig Verstand haben sie doch! Trotzdem aber stöhnte er, wenn er an sie dachte.
In der Herbstnacht ist es nicht still im Wald. Unter allen Bäumen rührt es sich und raschelt es; blind und ängstlich tastet es sich vorwärts, geht und geht und gelangt nirgends hin kleine, verirrte Armeleuteschritte; es ist eine klägliche Wanderung, die man da hört. Es ist das fallende Laub. Es ist der Winter, der sich heranschleicht.
Per blieb stehen und lauschte. Dann ging er wieder weiter. Vorsichtig und langsam – ein kranker Mann. So ging er jetzt seit zwei Jahren; – und das taugt nicht für unsereinen, sagte er. Jetzt mußte er sich heimschleppen und wieder krank sein. Einen Ausweg wußte er sich noch; das war der Friedhof. Der Friedhof mitten in der schwärzesten Nacht, der Knochen eines Toten oder was es eben war; darin lag Kraft! Und das war keine Schande; denn das war eine Kur für erwachsene Leute. Per aber wußte es nicht recht: er würde wohl kaum zu dieser Hilfe greifen. Sie waren lang gewesen, diese zwei Jahre, gar manch ein Tag war dahingegangen, nie aber hatte Per sich dazu aufraffen können. Es wäre ja wohl auch nicht anders gekommen als jetzt. Er wollte sich nicht wegen solch einer Kleinigkeit so erniedrigen!
Plötzlich begegnet er dem Hinke-Andreas, der im Halbdunkel den Weg von Lauvset her geschlichen kommt. Der Lappe grüßt laut und freimütig, bleibt stehen und läßt sich Zeit: »Nun, bist du auch unterwegs?«
Per wollte zuerst an ihm vorübergehen, dann aber trat er dicht an Andreas heran:
»Zum Teufel, wozu bist denn du unterwegs, he?«
Per schien es, als durchbohre der Lappe die Dunkelheit mit seinen Augen, die schwarz und blank waren, wie man sie sonst bei Menschen nicht sieht.
»Nimm dich in acht!« warnte Per, so leise und tief es ihm möglich war. Dann aber schlug er um, dies kam Per unerwarteter als dem Lappen: »Jetzt mußt du mir sagen, du es warst, der mir die Gesundheit genommen hat!«
»Red nicht so gottlos!« gab der Lappe zur Antwort.
Per schlugen die Zähne aufeinander, alles zitterte an ihm: er war schlaff und krank, vermochte kaum zu stehen.
»Ja, ja«, sagte er. »Halt's damit, wie du willst. Aber du würdest es nicht bereuen, wenn du mich wieder gesund machtest. Du brauchtest es nicht umsonst zu tun.«
Kaum hatte er diese Worte gesagt, so ging er wieder weiter, er konnte nicht mehr länger stehenbleiben, pfui, welch ein Gestank! Andreas aber kam ihm nach. Er winselte und redete, so süß er nur konnte, Per solle doch nicht glauben, daß er ein Zauberlappe sei, er könne nicht ein Wort von dieser Art und wage auch nicht so etwas zu gebrauchen, denn es sei eine unheimliche Arbeit, bei der man die Seele der Hölle verschreibe, Gott steh uns bei, nein, hierzuland gäbe es keine Zauberei mehr. Nein, aber Gespenster und Berggeister und Zwerge, habe man die gegen sich, dann müsse man sich hüten – oh, man sei ganz machtlos und wie ein Gewürm –
»Scher dich heim, du Lappenhund!« brach es aus Per heraus. Wie ein Riese ging er dahin. Wohl war er krank, aber doch immer noch gefährlich im Streit – »geh mir aus dem Licht!« sagte er, wie Per Anders zu sagen pflegte. Er wollte heim und sein Leben lang krank bleiben.
Es war fast, als erwache er. Er war schweißgebadet.
Der Wald und die Hänge hatten in einem so tiefen Schlaf gelegen. Jetzt lebten sie wieder auf, ringsum erwachte und murmelte es, murmelte und flüsterte und zwitscherte leise, dort hörte man diesen Berghang und dort den und jenen. Manchmal flüsterte es dicht an seinem Ohr, manchmal hallte und lachte es in weiter Ferne. Der Wind war in allem ringsum, und er fragte und antwortete sich selbst aus der Finsternis heraus. Nein! sagte Per und ließ alles in sich einströmen: es ist nicht nur der Wind. Es ist vielerlei. Hier gibt es mehr Lebendiges als Wetter und Wind. Mag es leben, was da leben will. Ein kranker Mann kann daran nichts ändern. Aber hier ist vielerlei, und wäre ich gesund –
Haaberg lag hoch und still vor ihm, mit schwarzen Häusern gegen gelbblauen Himmel, so saugend öde, wenn man von Osten kam. Und alles schlief, als wäre er nicht auf der Welt. Die Bergrücken auf der Nordseite trugen ihr Nachtantlitz, es war so kalt und einsam, es konnte einen ins Hau zurückjagen; und dahinter schien der Himmel wie Tod und Ewigkeit – es ging einem wohl am besten, solange man nicht dorthin gekommen war.
Aber draußen auf dem Stallhügel stand Anders. Er hat auf mich gewartet, dachte Per.
»Bist du fortgewesen?«
»Ja, ich bin ein Stück weit fortgegangen.«
Per trocknete sich den Schweiß. Anders stand da und blickte nach einer anderen Seite hin.
»Ich könnte den Hinke-Andreas gern einmal verprügeln, wenn ich ihn treffe.« Anders sagte dies, ohne sich umzuwenden, nur gleichsam, als spucke er aus oder gähne. Dann beugte er sich doch vor und war beschämt, wäre am liebsten davongelaufen.
»Den? Mit dem hab ich jetzt selber gesprochen, Kind. Übrigens – der kann auch nicht hexen, red mir keinen Unsinn!«
Per hatte eine andere Welt betreten, sobald er Anders erblickt hatte; er merkte es kaum, aber nun war es gar keine Sache mehr, hineinzugehen und sich schlafen zu legen. Er wunderte sich nur darüber, wie wenig er an Anders gedacht hatte, seit er krank geworden war; er hatte viel mehr an Valborg gedacht, und sie tat so, als sehe sie ihn nicht.
Am Tag darauf saß Per oben auf dem Stallhügel. Es war strahlendes Herbstwetter, und alles war gut unter Dach gekommen. Er saß gern tagsüber hier, bei so gutem Wetter wie heute. Ganz Haaberg lag da und sonnte sich, mit Büschen und großen Steinen und noch moosüberwuchertem Land, dazwischen aber lagen auch breite, umgebrochene Äcker und grüne Wiesenstreifen, dies alles begegnete der Herbstsonne mit solch einem saftigen Glanz, daß es einem förmlich bis ins Innerste wohl tat. Wenn er so Stück für Stück alles betrachtete, so konnte er sich ganz vergessen: dann war er wieder beim Steinbrechen, ehe er sich's versah, und arbeitete und schaffte für den ganzen Hof. Das ist meine Bestimmung, sagte er zu sich: der Jens muß zerstören, und ich muß alles drehen und wenden und wiederherstellen. Heute ärgerte ihn eine vermooste Wiese – dort tanzten gewiß wieder jede Nacht die, kleinen Geister. Aber bald würde der Acker sich umwenden und die Steine würden fortwandern müssen: aus dem Weg, Nachtgesindel, jetzt kommen wir! Er hörte schon den Pflug: rauschend wie die Welle über den Sandstrand kam er daher, ja, der konnte die Geister vertreiben.
Aber Per erinnerte sich bald daran, wie alles stand. Es war zu Ende. So weit war er gekommen, hier aber hieß es unerbittlich nein. Wie es sich aber auch verhielt, ihm war es gleichgültig. Und jetzt waren bald zwei Jahre vergangen, seit die Frau die Zügel an sich gerissen hatte. Es ging auch; unglaublich. Valborg ließ sich nicht unterkriegen. Und sie sah ihn nicht, und er sah sie nicht, sie umkreisten einander, als seien sie geschmiert. Aber es war nun auch so eine Sache, die ertragen werden mußte, ein Weib zu haben, das sich nicht züchtigen ließ!
Am schlimmsten war es, wenn er mit anderen Leuten zusammenkam. Es war doch eine Schmach: Ein junger Mensch in den besten Jahren, und noch dazu ein Juwiking, der sich krank und unfähig herumtrieb! Für die ganze Gemeinde war er gezeichnet – er war zu kurz geraten. Darum entzog er sich den Blicken der Leute. Darum auch war er gestern abend nach Osten zu gegangen, jetzt wußte er es.
Auf einmal riß er einen Moosbüschel aus und schleuderte ihn von sich, die Schmerzen wurden unerträglich, mit starrem Gesicht stierte er in die Luft hinaus: »Wie ein Türk hab ich's getrieben, und wie ein Türk hat's der Herrgott getrieben, anders kann ich es nicht sagen!«
Dann blieb er still sitzen und schüttelte den Kopf. – »Wenn es nur so einfach wäre!« sagte er. »Aber es gibt tausenderlei um uns, die Welt ist von so vielem erfüllt; mir wirbelt es im Kopf. Tausend Dinge gegen einen, und nicht eines läßt sich alten. Und irgendwo festhalten muß ich es können. Könnte ich doch das Teufelszeug irgendwo zu fassen kriegen, dann wollte ich schon allein zurechtkommen!«
Es war ein trauriger Anblick, wie er so dasaß. Zusammengefallen, nur noch ein Schatten seiner selbst, blaßgelb und mager, so daß keiner ihn erkannt hätte, die Lippen blau wie bei einem Toten. Am schlimmsten aber waren die Augen, eingesunken und rötlich, dennoch war ihr Blick wie eine brennende Drohung gegen alles und jedes.
Aber was war denn da unten los? Hatte sich der große Stier freigemacht? Ja, natürlich, sie hatten ihn mit dem anderen Vieh hinausgelassen, die ganze Herde ging dort unten auf der Weide. Und jetzt setzte der Stier brüllend dahin, daß einem das Blut zum Herzen zurückströmte; er sieht wohl irgendein Frauenzimmer. Auf die ist er so erpicht, he – ja, das war begreiflich, he, he, jetzt rennt er, daß die Erde zittert, jetzt können die Weiber ihre Röcke nehmen und sich davonmachen. Per schleppte sich weiter auf den Hügel hinaus: Richtig, da kommen zwei Frauen, eine erwachsene und ein Mädchen, die ältere hatte den Rock geschürzt, so daß der Unterrock zum Vorschein kam, und der war rot! Schlimmeres konnte sie Gustiborg, dem Stier, nicht antun, sie konnten ihn ohnedies rasend genug machen, die Weiber. Das war nicht mehr zum Lachen, denn die eine hinkte, und die Kleine zog und zerrte die ältere nach Leibeskräften hinter sich her. und sie kamen doch nicht vom Fleck, und der Stier war bald bei ihnen – jetzt sah Per auch, wer es war, die Ane-Marget Lines und die Massi. Per sprang hinunter, stark und leichtfüßig wie ein Junger, hob einen Stein auf und wollte den Hang hinunterlaufen. Umbringen wird er mich ja wohl, sagte er, aber geh s wie's will; – einen so großen und bösen Stier hatte man in der ganzen Gemeinde nicht. Da aber konnte Per nicht mehr, er krümmte sich zusammen, taumelte schwankend hin und her, die Füße trugen ihn nicht mehr. In Jesu Namen, was sollte er jetzt tun?
Da erklang vom Sommerstall her eine hohe und klare Stimme, ein Kriegsruf: »Gustiborg!« rief es, und der Stier hielt einen Augenblick inne und begann dann schnaubend die Erde aufzureißen – es war Anders, der in großen Sätzen daherkam, er hob einen Stein nach dem andern auf, ohne aber im Lauf innezuhalten, nie hatte Per ein zweibeiniges Geschöpf schneller laufen sehen. Die Frauen standen wie angenagelt und ebenso Per. Jetzt ging der Stier auf sie los, Per saugte den Atem förmlich ein, als habe er eine gräßliche Wunde gesehen; aber im selben Augenblick war auch Anders dort. Der erste Stein traf den Stier an der Kinnlade, der zweite beim Ohr, endlich dröhnte es an den Hörnern, aber jetzt hatte Anders keine Steine mehr, und jetzt senkte das Untier den Kopf zur Erde und richtete die Hörner auf Ane-Marget. Anders rannte hinzu und packte ihn beim Schwanz; es wurde ein Tanz wie ein Wirbelwind im Schneetreiben. Per begriff, daß es jetzt für Anders ums Leben ging, und dabei vermochte er sich nicht von der Stelle zu rühren. Er ruft den Frauen zu, sie sollten davonlaufen, und endlich haben sie soviel Verstand, Ane-Marget hinkt den Hang hinauf und ins Haus. Massi aber wendet sich um, bleibt stehen und will sehen, wie es endet. »Lauf doch hin und hilf ihm!« ruft sie Per zu, sie ist schneeweiß im Gesicht, und ihre Zähne klappern, »er bringt ihn um!«
Anders hat den Schwanz losgelassen und rennt zur Wiese hinunter, der Stier hinter ihm her wie ein roter Streifen, da erreicht Anders den Steinhaufen und ist geborgen – diesen verhexten Steinhaufen, den die Knechte nie hatten wegfahren wollen, soviel Per auch gescholten hatte. Jetzt hageln die Steine dicht nacheinander, der Stier bleibt stehen und legt den Kopf auf die Seite, er kann die Augen nicht öffnen, endlich singt es wieder in den Hörnern, Per konnte es bis zu seinem Platz hören. Der Stier dreht sich einen Augenblick weg, bekommt noch einen Stein, dort, wo es noch mehr schmerzt, und springt seitwärts davon wie ein geprügelter Hund. Anders setzt ihm nach, hebt einen Stecken auf, und dann geht's dahin, er schlägt zu, daß es eine Lust ist, ja, Per fühlt es durch seinen ganzen Körper, daß Anders dem Stier jetzt die Bosheit herausprügeln will, er sitzt da und fühlt das gleiche Zittern in sich: jetzt ist Anders der Herr und jetzt will er es sein; – der Stier bleibt immer und immer wieder stehen, aber kaum hebt Anders den Stecken, so schreckt er zusammen und setzt sich in Trab.
Jetzt kommt Anders den Hang herauf. Per sitzt da und zittert wie ein nasser Hund. Die Kleine schluchzt noch, ohne zu wissen. Als Anders sie ansieht, dreht sie sich weg und geht ins Haus. Sie hatte weißes Haar und hellblaue Augen die zu blinzeln vergaßen; ein schönes blaues Kleid und rote Strümpfe.
Anders setzte sich neben dem Vater hin. Er war jetzt etwa vierzehn Jahre alt und so groß wie mancher erwachsene Mann Er lächelte und lachte ein wenig, während er sich zugleich den Schweiß von der Stirn wischte: »Ich glaube, der hat fürs erste genug.« – Aber seine Augen waren streitbar, es leuchtete ein so scharfes Blau in ihnen, sie blickten suchend über die Äcker hatten gleichsam noch nicht das gefunden, womit sie es im Ernst aufnehmen wollten. Per betrachtete sie lange und auch das Gesicht und den ganzen Jungen.
Genau so sah auch er einmal aus, das fühlte er, so lang und geschmeidig war er und breitschultrig und mit den gleichen schmalen Füßen, oh, es war eine Freude, wenn man so hoch springen konnte, wie man selbst war – wenn man niemals einem anderen ausweichen mußte! Aber solch freimütige Augen hatte er gewiß nicht gehabt, so hatte es nicht sein sollen.
Und jetzt war der Anders so gut wie Herr hier auf dem Hof. Per merkte, wie es ihn durchwärmte, so neu und unerwartet, nun trug es den Anders empor, nun war der an der Reihe. Der Anders. Der Anders-Bub. Denn das war er selbst, auf seine Art, wie man es auch drehte und wendete – sag keiner etwas anderes! Jetzt ging es bald wieder von vorn an. Jetzt konnten die Leute ins Haus kommen und sich umschauen; wenn hier auf Haaberg alles fertig und instand war. »Jetzt könnt ihr bis unters Dach hinaufschauen, Juwikinger, seht, ob ihr alles wiedererkennt!« sagte er. »Hier sollt ihr etwas Hartes zu beißen bekommen.« Er fühlte Lust, dem Jungen mit dem Stock auf den Kopf zu klopfen, um zu hören, wie herzhaft es klingen würde.
Danach wurde er weich und gerührt. Jetzt konnte er hinein gehen und sich schlafen legen. Es kribbelte in ihm sickerte nun aus ihm heraus, das Leben, wie sie es nannten, ja, ja, aber trotzdem tat es gut, hier noch eine Weile zu sitze Und konnte er auch nicht mehr selbst sich hineinschleppen, es tat das auch nichts; vorläufig sollten die Frauen noch keine Mühe mit ihm haben.
Die Berge blauten vor ihm, so schön sie nur konnten, wie zum Abschied, konnte man fast denken. Und das Herbstwetter blinkte und lockte, wohin man sah, die Sonne vergoldete die Laubhänge und Wiesen, und die Wolken standen am Himmel und spiegelten sich den ganzen Tag im Fjord; sie hatten ein so weißes Antlitz, es war Gottes Frieden in ihnen. Haaberg war ein gutes Heim.
»Nicht wahr, Anders?«
»Ja, freilich. Was hast du gesagt?«
»Haaberg. Daß sich's hier aushalten läßt?«
Anders sah den Vater an, ließ den Blick ruhig und fest auf ihm ruhen; dann sah er in die Luft:
»Das will ich meinen.«
Es lag Kraft in diesen Worten. Sie konnten Berge versetzen. »Das will ich meinen!« Per wiederholte sie immer wieder im stillen.
Per stand auf, er wollte jetzt ins Haus hinein. Aber er vermochte sich nicht aufzurichten, er sank wieder zurück, blieb zitternd liegen, und nun kam wieder das Erbrechen! Es war lauter schwarzes Magenblut.
»Das tut nichts, Anders. Es ist jetzt bald an der Zeit – daß man unter die Erde kommt, zu den anderen.«
»Sag das nicht, Vater!«
»Soll ich denn wie irgendein anderer Krüppel herumlaufen? Nein. Denn jetzt braucht's das nicht mehr.«
Anders half ihm ins Haus. Er trug den Vater fast. Per kroch sofort ins Bett. – »Es ist gut, auf dem Rücken zu liegen«, sagte er. Das Bett stand in der Stube, und da waren die beiden Fremden, die Ane-Marget und die Kleine, und dann die Valborg. Per lag da und sah sie an. Er hörte nicht viel von dem, was sie sagten, denn er litt innerlich große Schmerzen. – Anders hatte sich ihm gegenüber an die andere and gesetzt, saß dort und war Herr im Hause. Ein ganz ein wenig beschämt war er, konnte gleichsam nicht dorthin blicken, wo er wollte. Per lag da und sah ihn an. Oh, Stiere und solche Sachen, Anders, damit kann man zurechtkommen, aber so ein kleines junges Weiberding mit weißem Haar, das ist etwas anderes. Sie ließ die Augen nach allen Seiten wandern vergaß zu blinzeln und betrachtete Anders von oben bis unten; jetzt begegneten sich ihre Augen, da aber eilten die Blicke weiter, als hätten sie sich verbrannt. Ja, gewiß, Anders hatte jetzt stark im Sinn hinauszugehen, irgendwohin hinter die Häuser und für sich allein zu sein – geh du nur, du kommst nicht weit. Du sitzt, wo du sitzt und blickst auf deine Hände und auf den Boden hinunter. Ja, ja, du wirst hier einen neuen Boden legen lassen, und die dort, die scheuert ihn und scheuert ihn aus bestem Herzen, bis er abgenützt ist und auf einen neuen wartet. Diese beiden, ja. Man wird sie ihm nicht im Boot mit heimbringen, nein, wahrlich – eines Herbstabends werden sie beide hinter den Kornhocken im Mondenschein und klarem Wetter stehen, sie kommt nicht vom Fleck, und er tritt hinzu und packt sie beim Arm, ha? – und sie verliert die Macht über sich fürs ganze Leben. Ja. Sie sträubt nicht die Haare gegen ihn, das ist gewiß. Dann füllt sich die Stube auf Haaberg mit lauter weißen Köpfen. – Per, in seinem Bett, stößt einen glücklichen kleinen Seufzer aus. – Und der Petter – jetzt sieht er auch das vor sich. Wenn nur die Valborg ihn ein wenig strenger hält, dann wird auch aus ihm ein Mann. Na, daran fehlt's nicht. Die Valborg, die läßt den Griff nicht los. Per wurde immer froher und froher, wie er so dalag und an sie dachte, denn sie hatte ein so gutes Gesicht, sie hätte für sie alle, für ihn wie für die anderen, Mutter sein können: darum eigentlich war sie hierhergekommen.
Per lag mit einem Lächeln um die Augen da; aber der Mund zog sich allmählich immer mehr zusammen, und auf der Stirn entstand eine Falte um die andere, wie im Sand auf dem Ebbestrand. Wenn er zu große Schmerzen litt, stemmte er den Fuß gegen das Bettende und verkrampfte die Hände in die Decke, so daß die Finger knackten. Da bekam Anders den gleichen Zug, und auch auf seiner Stirne wollten die gleichen Furchen entstehen.
Per stand nicht wieder auf, und dies erwartete auch niemand von ihm. Er lag da und hatte es erträglich, fand er.
Valborg ging aus und ein wie immer. Sie versorgte ihn, so gut sie konnte, aber sie sah ihn nicht an. Per beobachtete sie und dachte bei sich: Dieses verteufelte Frauenzimmer, das sich nicht züchtigen ließ.
Schließlich war es ja gleichgültig. Denn es war doch recht seltsam, so dazuliegen, so wie er. Alles sah anders aus. Besonders jetzt, seit er den Anders entdeckt hatte. »Sie glaubt uns zu führen, sie«, sagte er zu sich, »und in Wirklichkeit sind wir es, die sie und alles miteinander führen. Wir beide!« sagte er und schlug mit der Hand auf die Bettkante – die Hand war jetzt dünn und zart und schlug nur noch wie eine Kinderhand auf. »Aber wartet nur, wartet nur, bis der Anders zu schlagen anfängt!«
Ihm wurde jetzt eine merkwürdige Gnadengabe zuteil. Er sah die Dinge vor sich in der hellen Luft, sah alles, was geschehen war und was geschehen würde, so war nun dieses, und so war jenes; und immer sah er den Anders vor sich, er wurde selbst zum Anders, durch und durch, lebte mit ihm Jahr für Jahr in die Zukunft hinein.
Ja, diese verflixten Kinder! Sie zu haben, war wie das schiere Silber. Was sie auch den ganzen Tag lang trieben, er wußte es und war in Gedanken bei ihnen; dies vermochte eine Wunde zu heilen.
Wie gut er sich eines bestimmten Tages entsann, als sie noch klein waren. Der Pfarrer war unterwegs und wollte einen kranken Häusler besuchen. Als er wieder zurückkehrte, kam er nach Haaberg herauf, da standen die Jungen auf dem Hofplatz, geladen vor lauter Lachen und Dummheiten. Der Pfarrer fragte, wie sie hießen. Peter, sagte Petter. Paul, sagte Anders. «So, so, so, so! Peter und Paul, so, wirklich!« sagte der Pfarrer. Petter sah zum Meer hinunter, riß die Augen auf: »Der Teufel mich, wenn die Vögel da unten nicht über einem Heringsschwarm her sind.« » Was sagst du!« »Der Teufel hol mich, Sag ich!« Der Pfarrer ging ins Haus zu Per, er war vollkommen erschüttert, Per aber lachte geradeheraus. Später nahm er sich die Burschen vor. »Das hat der Anders ausgeheckt«, log Petter und sah den Vater dabei offen an. Anders blickte störrisch zu Boden. Da bekam er die Prügel, Prügel, daß er hinkend davonsprang. Die beiden versteckten sich hinter der Stallwand und Per hörte, wie sie lachten. – »Du wirst noch öfter den Stoß auffangen müssen, Anders«, sagte Per vor sich hin, als er so dalag und daran dachte.
Und so trieben sie es weiter. Eines Nachts hörte man ein Rumpeln und einen verzweifelten Schrei aus dem Dachraum. Was war das? Es war der Steffen Groß-Schuh. Er stieg manchmal hinauf, um die Magd zu besuchen; sie schlief dort oben, und auch die beiden Jungen lagen dort – Steffen schlief im Pferdestall. Jetzt stand er im Dunkeln drinnen im Dachraum und war in ein Gewirr von Dornenreisern, Angelleinen und Angelhaken und allem möglichen Gerümpel geraten, ein alter Bottich war ihm auf den Kopf gefallen, so daß er glaubte, das Haus stürze ein. Er schrie aus Leibeskräften nach der Magd, denn das hier war Zauberei und Teufelswerk:
»Ele–o– Ele–o–nora, komm und hilf mir!«
Eines Abends, zur Weihnachtszeit, kam ein Bettlerlappe auf den Hof; er bat um Essen. Die Mägde waren fort, und Valborg befand sich im Stall. Die Jungen versprachen ihm Grütze, wenn er warten wolle. Per schlummerte ein wenig, und als er die Augen wieder aufschlug, sah er den Lappen dasitzen und Gerstengrütze essen. Als Valborg aus dem Stall kam, lag der Lappe auf dem Boden und wälzte sich. Er hatte eine Schüssel voll halbroher Grütze hinuntergeschlungen. Valborg legte los und schalt, aber der Mann bat so herzlich für die Burschen: »Sie wollten mir nur etwas Gutes tun!« – Im übrigen kam er noch mit dem Leben davon.
Per machte dies alles Freude. Darin war doch Leben, und Leben, das war etwas Seltsames!
Ane kam bisweilen von Paalsnese herüber, und Aasel von Juwika. Aasel sagte nicht viel darüber, daß es um Per so schlecht stand. Ane redete vom ersten bis zum letzten Augen blick nur von sich und dem Ihren. – »Von der Ane ist nur noch der Nasentropfen übrig«, sagte Per. »Ja, aber der ist so schön blank«, meinte Anders. – »Und dauerhaft«, sagte Petter.
Das letzte, was Per zustande brachte, war ein Vergleich zwischen ihr und den Erben ihres Mannes. Er bat diese zu sich und sprach mit ihnen. »Ich komme, wenn ihr nicht Frieden haltet, ich komme noch vom Kirchhof zu euch!« sagte er und sah sie so an, daß sie nachgaben: so und so sollte es gemacht werden.
Dann ließ er eines Abends die Häuslerbauern holen und sagte ihnen, sie hätten es jetzt in Zukunft mit dem Anders zu tun. Und der Anders sei so: wenn sie Verstand zeigten, dann zeigte der Anders ihn auch.
Er sah Anders an, als er dies gesagt hatte. Es war nach und nach so weit gekommen, daß Anders immer in der Nähe sein mußte, aber jetzt war er auch so offen und verlässig wie noch nie. Zuletzt mußte Anders Tag und Nacht bei ihm sein. So wollten sie es alle beide.
Die Nächte wurden Per lang, denn er konnte nicht mehr schlafen. Ein merkwürdiges Ding – so war noch keiner dagelegen. Lange Stunden lag er oft und lauschte. – Die Nacht wurde so lebendig. In der Dunkelheit draußen bekam alles einen Klang, und er hörte alles und unterschied es. Da war vor allem der Wind, der alte Wind, der um die Wände strich und herein wollte. Per vermißte ihn, wenn er einmal ausblieb. Da standen die Häuser und redeten miteinander. Und da waren die Berge, und da war das Meer. Die Erde lag auf dem Rücken und sang. Und der vergessene Wasserfall redete unverdrossen, redete mit der Nacht und mit sich selber. – Bisweilen sah Per die Sterne. Da hingen die beiden; der eine gerade unter dem andern. Und so alle über den ganzen Himmel hin; sie schrieben und sie deuteten, dahin und dorthin. »Oh, Anders, es ist eine Kunst und eine Bürde, zu leben – wo bist du, Anders?« Dann war wieder nur die Dunkelheit um ihn. Sie stand geduldig da und wartete – kam er denn nicht bald?
Doch ja; lange würde es nicht mehr dauern.
Endlich ging es zu Ende. Es war eine Mondnacht wie damals, als der Vater starb. Aasel war schon früh am Abend herübergekommen, gleichsam als habe sie gefühlt, wie es stand.
Per begann gegen Abend zu jammern und zu ächzen, wie oft in letzter Zeit: »Kannst du nicht meine Wiege schaukeln, Anders? Du siehst doch, ich liege hier wie ein kleines Kind. Kannst du mich nicht in die Sonne hinaustragen, ich liege hier im schwarzen Keller.« Dann aber ermannte er sich wieder und war bei vollem Bewußtsein. – »Meinst du, Anders, die anderen haben auch so dagelegen und gewußt, daß es mit ihnen zu Ende geht?« – Nein, Anders wußte das nicht. »Nein«, lächelte Per. »Keiner von den Juwikingern hat das hier ausgekostet. Und jetzt, Anders, jetzt liege ich da und denke. Was? Wenn's mit dem Leib zu Ende geht, siehst du, dann fangen die Gedanken an. Und die sind stark. Die gehen durch harte Berge hindurch. Ich sehe alles miteinander. Ich sehe dich wie einen großen Baum vor mir, Anders. Wir haben nichts zu fürchten. Du und ich, siehst du!«
Kaum aber war Anders ihm aus den Augen, so drang die Angst in ihn: »Es ruft so kalt da draußen, was ist das? Wo bist du, Anders? Ich liege hier mutterseelenallein, auf dem Rücken, kann mich nicht umdrehen. Alle, alle – sind ihrer Wege gegangen.«
Anders beugte sich über ihn und redete ihm zu:
»So, so ist es besser, wirst du sehen.«
Und Per jammerte mit heller Kinderstimme:
»Ja, haha! Jetzt hab ich's wieder gut! Aber wie wird's wohl der Jens haben, was meinst du?«
Aasel setzte sich zu ihm aufs Bett. Sie war bleich und fremd, und Per erkannte sie nicht sofort. – »Sollen wir den Pfarrer holen, Per?«
»Den Pfarrer? Ja, ja, das kann wohl niemals schaden.
Ja, denn dann könnte er ihm gestehen, wie es sich verhielt. mit Morten Aune und alledem, was auf ihm lastete, meinte sie.
Auf ihm lastete? Er sah zu Anders hinüber, fing dessen Blick ein: »Es gibt nichts, das auf mir lastet – o nein!« Er raffte alle Kraft in sich zusammen, die noch in ihm war, und richtete sich auf den Ellbogen auf: »Nein, Aasel, ich will dir etwas sagen. Es war die Hand des Herrn, Kind, die sich auf mich legte. Die gewaltige Hand des Herrn. Der konnte ich wohl nicht widerstehen, hätte ich das etwa gekonnt, Anders? Ich sehe es in den Sternen und in allem anderen – der Anders und ich.« Damit wandte er sich von ihr ab. – »Nein, Anders, ich lieg hier in Ehren. Die kleinen Geister und der Lappenzauber und das alles hat seine Kraft, und wir haben die unsere, wenn wir aber ihm begegnen, dann werden wir klein. Und jetzt will ich den Stab nehmen und gehen. Denn jetzt sehe ich nichts anderes mehr vor mir als dich. Du gleichst einem großen Strauch, Anders, mit Blüten und Beeren zugleich – jetzt wollen wir von neuem anfassen, Anders!«
Aber Aasel konnte noch nicht nachgeben. Sie rundete den Rücken, war dem Weinen nahe: »Aber wenn du doch ein klein wenig zu unserm Herrgott beten würdest, Per? Daß er dir alles verzeihen soll!«
Er sah sie an und blickte von ihr wieder zu Anders, wurde immer unruhiger, bis Anders seinen Augen begegnete und ihn mit seinem Blick erwärmte. – »Ja, das wäre ja wohl keine Schande«, sagte er. Aasel wurde froh, sie griff nach seiner Hand. Er aber zog sie wieder an sich. Man konnte sehen, daß in ihm etwas arbeitete.
»Nein. Ich will nicht. Ich will lieber – – meine Strafe leiden. Wir gehören nicht zu dieser Art. Nicht wahr, Anders – ich will unter unsern Alten bleiben. Und Recht soll Recht Weihen. Ich will in Ehren sterben, Anders! Sie wollen es so!«
Es wurde still in der Stube. Aasel stand vom Bett auf und setzte sich auf einen Hocker. Valborg saß beim Herd. Sie zitterte und bebte, aber nicht vor Entsetzen; sie nahm es Aasel übel, daß sie hergekommen war und so auf Per eindrang, und jetzt lächelte sie ihr kaltbleich zu: Da hatte sie es gehört, er ist kein kleiner Mann! Sie hatte gesehen, wie klein er war, und das war ihr Glück; die anderen reichten ihm doch nicht bis unter die Achseln.
Aasel ging in den Dachraum hinauf und legte sich schlafen.
an sollte sie wecken, wenn es notwendig wäre. Valborg legte sich auf ihr Bett. So verrann Stunde auf Stunde. – »Bist du da, Anders?« fragte Per von Zeit zu Zeit.
Und dann flüsterte er rasch und ängstlich:
»Jetzt mußt du mich festhalten, Anders, jetzt geht es dahin! Den Berg hinunter, über den Hang hinaus – kannst du mich nicht ein klein wenig festhalten?«
Röchelnd und keuchend lag er da, eine Stunde und zwei Stunden, es war eine Ewigkeit. Auf einmal lachte er leise:
»Der Morten steht draußen an der Wand. Gib acht, du, daß nicht der Anders zu dir hinauskommt! – – Da klopfen sie an die Wand, sie klopfen mir, hast du's gehört, Anders?«
»Das warst du ja selber; so hast du's gemacht.«
»Ja, wirklich?«
Er flackerte auf, so merkwürdig, daß Anders kaum wußte, was er glauben sollte.
»Aber was ist denn, Vater, willst du an meiner Hand saugen?«
»Hm, nein, das – – das war es ja auch nicht.«
Anders stand wie versengt da. Der Vater hatte ihm den Handrücken geküßt.
»Aber halt mich jetzt fest – – glaubst du, wir werden hinübergelangen, Anders? Ich bin all mein Lebtag unten im Wellental gewesen – jetzt geht es aufwärts – wo bist du denn? Es war das Geschlecht, das mich hierher versetzt hat, Anders!«
Das war das letzte, was er sagte. Anders hielt ihm das Licht vor den Mund und wartete, bis es nicht mehr flackerte. Dann drückte er ihm das Kinn hoch und legte die Finger auf die Augenlider.
Valborg schlief drüben im andern Bett; sie hatte seit vielen Nächten nicht mehr richtig geschlafen. Jetzt erwachte sie und richtete sich auf. Sie sah nur den Anders an und murmelte etwas wie ein Ja.
Valborg saß im Bett, er auf der Bank. – Nein, draußen war es still. Eine stille und helle Nacht. Ein leiser Windzug raschelte im Walde und entschwebte. Kein Hund bellte. Kein Tierkralle scharrte an der Wand. Die Hand des Herrn war hier gewesen. Und sie bringt die Luft zum Schweigen. Valborg vergaß, daß Anders in der Stube war.
So ist nun das alles geworden«, sagte sie. »Alles das, worüber ich so nachdachte, als ich von daheim wegzog. – – Aber der Herrgott weiß, warum er gefällt werden mußte.«
Auch bei diesem Leichenschmaus machte Lines den Wirt. Breiter denn je stand er in der Türe und nahm die Gäste in Empfang, und nie hatte er so gutherzig über jedes Glas Schnaps gebrummt, und nie hatte er gewissenhafter jedem einzelnen zugetrunken. Er erfüllte seine Pflicht, so daß ihm heiß dabei wurde, aber trotzdem konnte er die Leute nicht aufmuntern. Sie wußten nicht, wie sie sich geben sollten. »Nein, Leute«, sagte er, »jetzt müssen wir hinuntergehen und den Per anschauen; wer mitkommen will, kommt mit; hier gibt es keinen Zwang, wer nicht will, der muß.« Still und zögernd kamen sie hinter ihm her, und ebenso still kehrten sie wieder zurück. Und sie aßen und tranken, und die Leiche wurde hinausgesungen, und die Glocke läutete darüber, sie kehrten wieder zurück, und sie saßen abermals am Tisch, und alle waren so, wie sie sein sollten, so daß es schließlich doch in der Stube von ihren Stimmen summte. »Aber es ist kein Klang in den Leuten«, sagte Lines, »es ist wie eine Glocke ohne Schwengel.« Es war aber auch so eine Sache, wenn doch die Leute noch nicht recht an den Tod dessen glauben konnten, dessen Leichenschmaus sie hielten. Sie machten sich keine Gedanken darüber, wo der Per jetzt war, obwohl er vor seiner Zeit gestorben war, er war wohl dort, wo er sein sollte; aber was sollten sie sagen?
Am nächsten Tag, als sie zum letztenmal bei Tisch saßen, wurde es leichter für sie. Da setzte Anders sich an das oberste Tischende und nahm seinen Platz ein, wie es damals der Brauch war. Er war jetzt Herr im Haus.
»Willkommen an meinem Tisch, Leute!« sagte er. »Und Dank euch allen, die den Vater auf seinem letzten Weg begleitet haben. Er hätte einen schöneren Leichenschmaus haben sollen, aber wir brachten es nicht anders zuwege.«
Anders sagte dies wie ein voll erwachsener Mann. Zuerst sahen die Gäste ihn mit langen Gesichtern an, und die Mutter blickte befangen zur Seite. Aber wie sie einer nach dem anderen seinen Blicken begegnet waren, kamen sie zur Ruhe. Anders lächelte nicht, er wurde nicht einmal rot, er hielt das Messerheft auf die Tischplatte gestützt und blickte mit starken Augen um sich: sie saßen doch wohl nicht da und waren verlegen? Damit griff er in die Schüssel, und desgleichen taten die anderen. Es war, als säßen sie in einer neuen Stube.
Später stand Anders vor der Türe und reichte ihnen allen die Hand, der Reihe nach, wie sie den Hof verließen.
Über Anders auf Haaberg entstand ein Wort in der Gemeinde: Das war ein ganzer Mann von einem Jungen, wahrhaftig. Der nahm seinen Platz ein, und er füllte ihn aus. Das und das hat er heim Leichenschmaus nach seinem Vater gesagt; es wurde eine lange Geschichte mit guten Worten, je mehr sie von Mann zu Mann wanderte. An Per erinnerte sich bald keiner mehr.