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Siebenzigstes Capitel.
Das Wiedersehen.


Am vierzehnten April befand sich Romola wiederum in den Mauern der Stadt Florenz. Unvermögend in Pistoja zu bleiben, wo widersprechende Gerüchte über die Feuerprobe ihr zu Ohren kamen, war sie bis nach Prato gegangen, und begann zu glauben, daß sie trotz ihrer Angst nach Florenz getrieben werden würde, als sie den Mönch von San Spirito traf, der der Beichtiger ihres Pathen gewesen war. Von ihm erfuhr sie ausführlich das Nähere über die Verhaftung Savonarola's und den Tod ihres Gatten. Dieser Augustinermönch war unter der Volksmasse gewesen, welche den Wagen mit seiner traurigen Ladung nach der Piazza begleitet hatte, und er konnte ihr erzählen, was in Florenz allgemein bekannt war, daß nämlich Tito einem ihn anfallenden Pöbelhaufen durch einen Sprung in den Arno entgangen, daß er aber am Ufer von einem alten Mann, der schon längst einen Haß gegen ihn gehegt hatte, ermordet worden war. Romola aber sah in diesem tragischen Ausgang so klar wie Niemand sonst. Was Savonarola betraf, so erzählte ihr der Mönch in dem Tone unfreundlichen Vorurteils, welches der schwarzen Brüderschaft gegen den Bruder, der ein weißes Gewand unter dem schwarzen trug, eigen war, daß derselbe sich selbst als einen Volksverführer bekannt hatte.

Romola zauderte nicht länger. Am selben Abend war sie in Florenz, in fiebrischem Schweigen bei den Ausrufungen von Freude und Wehklagen mit übermäßigem Geschwätz vermischt, die Monna Brigida vor ihren Ohren ausschüttete – Monna Brigida, welche während Romola's Abwesenheit auf's Neue zu falschem Haar gegriffen hatte, es jetzt aber wieder ablegte und erklärte, daß sie sich nichts daraus machen werde, grau zu erscheinen, wenn ihr liebes Kind nur bei ihr bleiben wolle.

Romola war von den Hauptereignissen, die sie erfahren hatte, ehe sie nach Florenz kam, zu tief ergriffen, als daß das unzuverlässige Geschwätz der Monna Brigida in ihren näheren Mittheilungen einen Eindruck auf sie hätte machen können. Das tragische Ende ihres Gatten, und das erschütternde Trauerspiel des Bekenntnisses seiner Falschheit, welches Fra Girolamo unter dem Zwange der Tortur abgelegt hatte, ließen ihr kaum die Fähigkeit Nebenumstände zu begreifen. Alle Geistesthätigkeit, die ihr unter dieser Bürde von schauderndem Kummer blieb, wurde von zwei Vorsätzen, von denen einer den andern aufheben mußte, gänzlich in Anspruch genommen, nämlich von dem Vorsatze: eine Unterredung mit Savonarola zu erlangen, und dann: zu erfahren, was aus Tessa und ihren Kindern geworden war.

»Sagt mir, Muhme,« fiel sie plötzlich ein, als Monna Brigida's Zunge von allen Wirren auf Pläne hinsichtlich eines künftigen Zusammenlebens mit Romola übergesprungen war, »ist seit Tito's Tode etwas von einer jungen Frau mit zwei kleinen Kindern gesehen oder gesprochen worden?«

Brigida fuhr auf, rollte die Augen und rief, indem sie die Hände in die Höhe streckte:

»Christus, nein! wie? war er wirklich so schlecht, mein armes Kind? Ah, darum also gingst Du fort und ließest mir sagen, daß dies aus freien Stücken geschehe. Gut, gut! wenn ich das gewußt hätte, so würde ich Dich nicht für so seltsam und phantastisch gehalten haben. Ich sagte nämlich bei mir selbst, ohne aber gegen sonst Jemanden ein Wort darüber fallen zu lassen: ›was braucht sie von ihrem Mann fortzugehen und ihn im Unglück sitzen zu lassen, nur weil sie dem armen Bernardo den Kopf abgeschlagen haben? Sie hat den Charakter ihres Vaters,‹ sagte ich, ›daher kommt es.‹ Nun, nun, Du brauchst darüber nicht mit mir zu hadern, mein Kind; denn das kannst Du nicht läugnen, daß Bardo sehr heftig war. Wenn Du mir aber die Wahrheit gesagt hättest, daß eine junge Dirne und Kinder da waren, so würde ich ja Alles gleich begriffen haben. Ob ich etwas von ihr gesehen, oder über sie gehört habe? Nein, und je weniger dies der Fall ist, desto besser. Die Leute sagen ihm, auch ohne das, schon Böses genug nach. Da dieses aber die Ursache war, weshalb Du fortgingst –«

»Nein, liebe Muhme,« unterbrach Romola sie ernst, »ich bitte Euch, sprecht nicht so! Ich wünsche vor allen Dingen das junge Weib und ihre Kinder zu finden und für sie zu sorgen; denn sie sind ganz hülflos. Wendet mir nichts dagegen ein; das ist das Erste, was mir zu thun obliegt.«

»Nun gut,« sagte Monna Brigida, die Achseln zuckend und ihre Stimme mit einer Miene, als ob sie gänzlich aus dem Felde geschlagen wäre, sinken lassend, »wenn das ein Piagnone sein heißt, so habe ich Erbsen für Paternoster gehalten. Aber Fra Girolamo sagte ja etwas davon, daß Wittwen nicht wieder heirathen sollten. Kommt man zur Thür herein, so ist das, wie es scheint, eine Sünde; fliegt aber den Kamin herab, und Ihr seid willkommen. Zwei Kinder! Heiliger Gott!«

»Muhme, das arme Wesen hat nicht wissentlich gesündigt; sie weiß von gar nichts. Ich werde Euch das Alles erzählen, aber nicht jetzt.«

Schon in der Frühe des nächsten Morgens richtete Romola ihre Schritte nach dem Hause hinter San Ambrogio, wo sie einstmals Tessa gefunden hatte; aber es war wie sie gefürchtet hatte: Tessa war fort. Romola vermuthete, daß Tito sie an einen Ort, wo er sie treffen wollte, vorausgeschickt hätte, denn sie glaubte nicht, daß er sich absichtlich von jenen Kindern losmachen wollte. Es war dies für sie eine peinliche Vermuthung, denn wenn Tessa einmal außerhalb der Stadt war, so hatte sie kaum eine Aussicht, sie wieder zu finden, und Romola dachte sich dieses kindliche Geschöpf an irgend einem vom Wege abgelegenen Ort in hülflosem Jammer wartend. Die Nachbarn konnten ihr auch weiter nichts sagen, als daß die alte taube Lisa vor einer Woche mit ihrer ganzen Habe fortgezogen war, wohin aber Tessa gegangen war, wußte Niemand. Romola sah kein Mittel vor sich, wirksame Nachforschungen anzustellen, denn sie hatte keinen Anhaltepunkt dafür, und nicht nur ihre angeborene Zurückhaltung, sondern auch ein edleres Gefühl verboten ihr, einen Edelmuth vor Anderen zu entfalten, indem sie Tessa's Verhältniß zu Tito und ihren eigenen Wunsch, sie aufzufinden bekannt machte. So vergingen viele Tage in angstvoller Unthätigkeit. Selbst unter den mächtigen Eindrücken anderer Gedanken fühlte Romola ihr Herz höher schlagen, wenn sie ein Paar runder brauner Beinchen, oder ein kleines Weib im Bauernanzug erblickte.

Sie sagte sich nie, daß es ein Heroismus oder erhabene Barmherzigkeit war, daß sie diese Wesen aufsuchte; sie bedurfte eines Etwas, für das sie zu sorgen die besondere Verpflichtung fühlte; sie sehnte sich danach, die Kinder an sich zu drücken und ihnen Liebe zu ihr einzuflößen. Dieses würde dann wenigstens ein tröstendes Ergebniß alles ihres früheren Kummers sein, sowohl für sie selbst als für Andere. Es schien, als ob Tito vieles Eigenthum besessen hatte, worauf ihr gerechte Ansprüche zustanden, aber sie mißtraute der Redlichkeit des Erwerbes jenes Vermögens, und war entschlossen, Alles dem Staate zu übergeben und nur so viel zu behalten, als ungefähr der Werth der Bibliothek ihres Vaters betrug. Dieses würde dann genügen, Tessa und die Kinder anständig aber bescheiden zu unterhalten. Monna Brigida aber verwarf diesen Plan durchaus, indem sie lärmend darauf bestand, daß Romola bei ihr wohnen und sie nicht eher verlassen sollte, als bis sie sie wohlbehalten im Paradies angelangt wußte; denn wozu hatte sie sie sonst überredet, eine Piagnone zu werden? und wenn Romola anderer Leute Kinder ausziehen wollte, nun gut, so mußte sie, Monna Brigida, auch das Ihrige dazu thun, dieselben aufzuziehen. Nur mußten sie vor allen Dingen erst aufgefunden werden.

Romola fühlte die ganze Wahrheit dieser Andeutung, aber starke, nicht befriedigte Gefühle haben ihren Aberglauben, sei es der der Hoffnung oder des Verzweifelns. Romola hatte den Aberglauben der Hoffnung: sie müßte irgendwie Mutter und Kinder finden. Endlich zeigte sich ihr auch eine Richtung, in welcher sie ihre Nachforschung erfolgreich fortzusetzen hoffen durfte. Sie erfuhr, daß Tito Pferde und Maulthiere besorgt hatte, die ihn in San Gallo erwarten sollten, er hatte also Florenz aus dem Thore von San Gallo verlassen wollen, und sie beschloß, wenn auch ohne sonderliches Vertrauen auf das Resultat ihrer Nachfrage, sich bei den Thorwärtern zu erkundigen, ob sie vielleicht irgend Jemanden, dessen Persönlichkeit auf die Beschreibung, die sie von Tessa mit ihren Kindern machte, am neunten April vor Morgensanbruch aus dem Thore hatten gehen sehen. Indem sie die Via San Gallo entlang ging, und durch ihren langen Wittwenschleier sorgfältig umherspähte, damit ihr nichts entgehe, was ihr zu ihrem Zweck behülflich sein könne, gewahrte sie Bratti, der eben mit einem seiner Kunden handelte. Dieser stets umherstreifende Mann konnte ihr, meinte sie, nützen, und sie wollte nicht anstehen mit ihm von Tessa zu sprechen. Als sie eben ihren Schleier zurückschlug und quer über die Straße auf ihn zuging, sah sie etwas aus der einen Ecke seines Korbes hängen, was ihr Herz in vermehrter Hoffnung schlagen machte.

»Freund Bratti,« redete sie ihn ohne Weiteres an, »woher habt Ihr dies Halsband?«

»Euer Diener, Madonna,« antwortete Bratti, sich sehr ruhig nach ihr umwendend, da er dem Erstaunen eben nicht sehr zugänglich war, »es ist ein Halsband von Werth, aber ich werde wenig daran verdienen, denn mein Herz ist zu weich für einen Handelsmann. Ich habe versprochen, es als Pfand zu behalten.«

»Ich bitte Euch, sagt mir, woher Ihr es habt. Nicht wahr, von einem kleinen Weibchen, Tessa mit Namen?«

»Ach so,« rief Bratti, »wenn Ihr sie kennt, und wollt das Pfand mit einem kleinen Verdienst für mich auslösen, und es ihr dann wiedergeben, so werdet Ihr ein christliches Werk thun, denn sie weinte, als sie sich davon trennte, als wollte sie sich in einen Bach auflösen. Ihr sollt es für einen Gulden haben, denn ich mag nicht gern hartherzig sein.«

»Wo ist sie?« fragte Romola, ihm das Geld gebend und das Halsband in freudiger Aufregung vom Korbe losmachend.

»Draußen aus dem Thor, an dem andern Ende des Borgo, bei der alten Sibilla Manetti; der Erste Beste wird Euch das Haus zeigen.«

Romola eilte geflügelten Schrittes von dannen, den Zufall segnend, der sie während des Carnevals das Aussehen dieses Halsbandes kennen gelernt hatte. Bald stand sie vor dem Hause, das sie suchte. »Die junge Frau wäre mit den Kindern im Zimmer, sie sollte dort vor länger als vierzehn Tagen abgeholt werden; sie hätte kein Geld, nur ihre Kleider, um eine arme Wittwe für Wohnung und Essen zu bezahlen; da aber Madonna sie kenne –« Romola wartete das Ende des Berichts nicht ab, sondern öffnete die Thüre.

Tessa saß auf dem niedrigen Bette; ihr Weinen war in zährenlose Seufzer übergegangen; sie starrte mit traurigen, seelenlosen Blicken auf die beiden Kinder, die in der Ecke gegenüber spielten – Lillo, den Kopf mit dem Zipfel seines Röckchens bedeckend, und Ninna anschreiend, um sie zu schrecken und dann wieder hervorguckend, um zu sehen, welchen Eindruck es auf sie gemacht hätte. Die Thür war etwas rückwärts von Tessa und sie wendete sich nicht um, denn sie glaubte, es sei ihre alte Wirthin – die Hoffnung war für sie todt. Romola hatte den Schleier zurückgeschlagen und blieb einen Augenblick stehen, das Halsband vor sich hinhaltend. Dann rief sie mit jener hellen Stimme, die sonst ihren Vater so oft aufgeheitert hatte:

»Tessa!«

Tessa sprang empor und sah sich um.

»Schau her,« rief Romola, die Perlen um Tessa's Hals schlingend, »Gott hat mich wieder zu Dir gesendet.«

Das arme Geschöpf schrie und weinte und hielt die Arme, die ihr das Halsband umlegten, fest umklammert. Sie vermochte nicht zu sprechen. Die beiden Kinder kamen aus ihrer Ecke hervor, erfaßten das Kleid der Mutter und sahen Romola mit weit geöffneten Augen an.

Noch am nämlichen Tage gingen sie Alle nach Monna Brigida's Hause in dem Borgo degli Albizzi. Romola hatte Tessa nach und nach mitgetheilt, daß Naldo nie wieder zu ihr kommen würde, nicht etwa, weil er grausam, sondern weil er todt war.

»Tröste Dich aber, meine gute Tessa,« fuhr Romola fort, »ich bin gekommen, um immerdar für Dich zu sorgen, und wir haben ja auch Lillo und Ninna.«

Monna Brigida's Lippen zuckten in dem Kampf zwischen ihrer Scheu vor Romola und dem Wunsche, zu unrechter Zeit zu sprechen.

»Ich will es,« dachte sie bei sich, »für jetzt dabei bewenden lassen, aber ich kann die Zeit nicht erwarten, dieser kleinen Bäuerin, die nicht einmal zu wissen scheint, wie viele Finger sie an der Hand hat, zu sagen wer Romola eigentlich ist. Ich werde es ihr auch nächstens sagen, sonst wird sie nie ihre Stellung kennen lernen. Es ist Alles recht schön und gut für Romola, Niemand wird ihnen sagen, wer sie sind, wenn sie dabei ist; wenn diese Dirne mit dem Kätzchengesicht aber in meinem Hause bleiben soll, so muß sie hübsch demüthig gegen mich sein.«

Indessen wollte Monna Brigida den Kindern immer zu viele Näschereien zum Abendbrot geben, und erklärte ihrer Muhme beim Zubettegehen, daß es eine Schande sein würde, sich der kleinen Engel nicht anzunehmen.

»Aber,« bemerkte sie, »Du mußt es mir überlassen, Romola, für ihr Essen und dergleichen zu sorgen; denn Du hast nie ein Kind gehabt und ich hatte Zwillinge, nur daß sie gleich bei ihrer Geburt starben.«



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