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Durch Mr. Nelsons Worte war Asbjörn Krag in eine sonderbare Gemütsverfassung geraten. Es lag eine ganz bestimmte Drohung in seinen Worten, eine Drohung, deren Zweck er nicht näher darlegen wollte. Indem er aber andeutete, daß Lady Holmes ihm unter vier Augen etwas mitzuteilen habe, machte er ihn darauf aufmerksam, daß die Drohung von anderer Seite vielleicht ohne Vorbehalt ausgesprochen würde.
In dieser Stimmung, in welcher er das Gefühl hatte, daß ihm eigenartige Enthüllungen bevorständen, verließ der Detektiv den Gefangenen, der nun abgeführt wurde. Krag nahm die Schlüssel zur Wohnung des sonderbaren Diebes am Parkweg zu sich; er beabsichtigte nämlich, noch an demselben Abend dort vorzugehen. Möglicherweise ließ sich doch etwas finden, oder jedenfalls etwas entdecken, das den beiden Kriminalbeamten nicht aufgefallen war.
Mittlerweile war es schon spät geworden. Im Wachtlokal schlug die Uhr zehn, als Cyrus Holmes anwecken ließ, der Detektiv, der schon einmal bei ihm gewesen sei, möge wiederkommen; die gnädige Frau befände sich jetzt so wohl, daß sie Auskunft erteilen könne. Gleichzeitig teilte Mr. Holmes mit, er würde seinen eigenen Wagen schicken, um den Detektiv abzuholen.
Der Kutscher, der mit dem Wagen kam, hatte ein echt englisches Aussehen – ein richtiger John Bull, wie man ihn aus den Karikaturen der Witzblätter kennt –, mit Backenbart, schönem rundlichen Bauch und einem vor Entgegenkommen und würdigem Anstand strahlenden Gesicht. – Als er dem Detektiv die Wagentür öffnete, blickte ihn dieser unverwandt an, um möglicherweise in seinem Gesicht diese oder jene Mitteilung, einen Wink oder dergleichen lesen zu können. Krag kannte diese englischen Diener, die der Herrschaft ergeben sind wie Bulldoggen und schweigsam sind wie ein Grab. Ohne auch nur mit den Augen zu blinzeln, öffnete ihm der Kutscher die Tür. Der Detektiv beobachtete auch genau das Innere des kleinen Wagens, um möglicherweise irgendeine Nachricht oder Mitteilung zu entdecken, fand jedoch nichts anderes vor, als einen Teppich und eine Blumenvase mit einigen Veilchen.
Krag wurde von Holmes im Arbeitszimmer des berühmten Forschers empfangen. Mr. Holmes war inzwischen viel ruhiger geworden, ja, als kaltblütiger Wissenschaftler – in diesem Rufe stand er – sah er die ganze Sache mit nachsichtigem Interesse an. Eine Diebstahlsangelegenheit, wenn sie auch außergewöhnlich war, konnte auf einen Mann, dessen seltsame und gefährliche Erlebnisse in den Polarregionen in den englischen Schulbüchern zum Gegenstand der Bewunderung gemacht wurden, keinen nachhaltigen Eindruck machen. Seine Erregung in dieser Angelegenheit hatte einen tieferen Grund.
»Ich bin nicht abgeneigt, den Menschen laufen zu lassen; ich bezweifle aber, daß die Polizei mit solcher Nachsicht einverstanden ist. Wie ich höre, steht er auch im Verdacht, andere Einbrüche begangen zu haben.«
»Ja,« antwortete Krag, »Mr. Nelson hat zugegeben, daß er der in der letzten Zeit so berüchtigte Gentlemandieb sei, der ganz Christiania in Erstaunen gesetzt hat.«
Lady Holmes hatte sich dem Zimmer ihres Mannes genähert und hinter den Portieren Krags Bemerkung gehört. Beim Näherkommen sagte sie ein wenig lächelnd, aber noch bleich und erschüttert von dem Ereignis:
»Das ist doch ganz eigenartig. Wer hätte so etwas von einem gebildeten und vornehmen jungen Mann erwarten sollen? Hat er wirklich alle diese Einbrüche eingestanden?«
»Ja, gnädige Frau, ganz unumwunden. Er verweigert jedoch, auf die Einzelheiten der verschiedenen Fälle näher einzugehen.«
»So–o, warum das?«
Krag blickte Lady Holmes forschend an, indem er sagte: »Möglicherweise kennt er die Einzelheiten selber nicht.«
Lady Holmes verzog jedoch keine Miene. Es ließ sich also nicht feststellen, ob sie diese Bemerkung mit irgend etwas, das ihr wichtig sein konnte, in Verbindung brachte.
»Es mag schon sein,« sagte sie, »daß es ihm schwer fällt, sich an Einzelheiten zu erinnern, wenn er so viele Einbrüche auf dem Kerbholz hat. Er wird wohl nicht einmal angeben können, wieviel er an den verschiedenen Stellen gestohlen hat.«
»Er macht überhaupt keine Angaben, Lady Holmes. Er verlangt nur, daß man ihn verurteile. – Verurteilen Sie mich, sagte er, ich habe mich schuldig bekannt; worauf warten Sie denn noch?«
Bei diesen Worten rückte Lady Holmes wie zufällig zur Seite, so daß das Licht mehr direkt auf ihr Gesicht fiel.
»Welche Auskunft wünschen Sie denn nun von mir?« fragte sie nach einiger Zeit.
Krag gab an, was für ihn von Interesse sei: nämlich die Einzelheiten beim Ueberfall in ihrem Boudoir. – Lady Holmes gab daraufhin eine vollkommen glaubwürdige Darstellung des Geschehenen. Sie hätte sich von ihren Pflichten als Gastgeberin für einen Augenblick in ihr Zimmer zurückgezogen; als sie aus ihrem kurzen Schlummer erwacht sei, hätte sie den Dieb im Zimmer bemerkt. Durch das chloroformierte Tuch wäre sie machtlos geworden: der Dieb sei jedoch im letzten Augenblick ergriffen worden, als die herbeigeeilten Gäste mit ihrem Manne an der Spitze die Tür eingedrückt hatten und ins Zimmer gedrungen waren. Diese Angaben wurden von Lady Holmes in geschäftsmäßigem Tone gemacht, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal gestockt oder sich widersprochen hätte. Während Krag die Hauptsachen dieser Erklärung zu Protokoll nahm, bewunderte er im geheimen ihre Sicherheit. Dann aber kam ihm der Gedanke, daß man ja von ihr erzählte, sie sei vor ihrer Verheiratung Schauspielerin am Drury Lane gewesen. Hatte sie sich die Rolle durch den Kopf gehen lassen und schauspielerte nun im Vertrauen auf ihr Talent?
Während Krag seine Aufzeichnungen zusammenfaltete, stellte Lady Holmes einige ganz allgemeine Fragen an ihn in einem Ton, der interessiert klingen sollte. Unter anderem fragte sie auch:
»Diese Sache wird Ihnen wohl ziemlich viel zu schaffen machen, Herr Krag?«
»Das nehme ich an; ich freue mich aber über jede interessante Sache.«
»Finden Sie diese Angelegenheit wirklich so interessant?«
»Ich würde sie um vieles nicht aus meinen Händen geben.«
»Dann ist es ja in einer Weise ärgerlich, daß er alles eingestanden hat. Hätte er kein Geständnis abgelegt, dann wäre die Sache doch noch interessanter gewesen.«
»Gewiß, gnädige Frau, das wäre sie.«
Mr. Holmes lachte mit der Sorglosigkeit des Gatten und Lady Holmes lächelte ihrem Herrn und Gebieter freundlich zu.
»Vorläufig besteht Ihre Arbeit wohl darin,« wandte sie sich an Krag, »die gestohlenen Gegenstände wieder herbeizuschaffen.«
»Nun ja, das ist ein Teil meiner Arbeit.«
»Hat man schon etwas gefunden?«
»Noch nicht, gnädige Frau, obgleich man seine Wohnung am Parkweg gründlich durchsucht hat. Da ich jedoch die Sache zu bearbeiten habe, werde ich mich noch heute abend dahin begeben, um noch einmal genau nachzusehen.«
»Heute abend noch,« bemerkte Mr. Holmes. »Sie lieben wohl schnelles Vorgehen?«
»Und außerdem arbeite ich gern des Nachts,« entgegnete Krag. »Da hat man die nötige Ruhe. In der Nacht hört man vieles, was sonst auch dem Aufmerksamsten entgeht.«
Während dieser letzten Aeußerung hatte Lady Holmes gedankenvoll dagestanden; plötzlich sagte sie: »Gentlemandieb ist eigentlich eine besondere Bezeichnung.«
»Inwiefern?« fragte Krag. »Ich finde, der Ausdruck paßt ganz gut zu der Art und Weise, in welcher er arbeitet.«
»Wir Engländer,« sagte sie, »können uns nur schwer dazu verstehen, zwei derartige Wörter miteinander zu verbinden. Wir verbinden gar zu viel mit einem Gentleman; es ist eine sehr anspruchsvolle Bezeichnung.«
»Werden die Ansprüche denn auch wirklich immer erfüllt?«
»Ja, das kommt vor,« sagte sie freundlich lächelnd und reichte ihm die Hand zum Abschied. Er verspürte einen Druck und ein Zittern, ein Signal, das von ihm nicht unbeachtet blieb. Er bemerkte zum ersten Male, daß in ihren Worten doppelter Sinn lag. Dann verließ er das Haus.
Um zwölf Uhr begann er in der menschenleeren Wohnung Mr. Nelsons eine systematische Untersuchung; um drei Uhr jedoch begegnete ihm hier etwas ganz Außergewöhnliches.