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XXIII.

In der im Oktober dieses Jahres stattfindenden Schwurgerichtsverhandlung wurden außer der Verhandlung gegen den Großverbrecher Nelson nur unbedeutende Betrugsfälle behandelt.

Veranlaßt durch die Zeitungsreferate, nannte man ihn allgemein den Großverbrecher. Man wußte nichts weiter von ihm, als daß er den Diebstahl bei dem Generalkonsul Spade und den Diebstahlsversuch bei Sir Cyrus Holmes zugegeben habe, die Allgemeinheit aber hielt ihn für den Großverbrecher, weil die auffallend genial ausgeführten Verbrechen mit seiner Verhaftung aufhörten.

Dieser Fall war nicht nur an und für sich von größtem Interesse, es kam noch hinzu, daß diese Affäre während dieser Gerichtsperiode die einzige von Bedeutung war. Man vermutete einen außergewöhnlichen Zudrang Neugieriger, aus welchem Grunde der Gerichtshof beschloß, für die Zuhörerplätze Karten auszugeben. In dieser Weise wurde der gewöhnliche Andrang von Müßiggängern und angehenden Verbrechern vermieden; dafür wurde aber einem Publikum Platz gemacht, dessen aufdringliche Neugier an das berühmte Pariser Publikum erinnerte, das bei Entscheidung irgendeiner sensationellen Gerichtsverhandlung die Zuhörerplätze stürmt. Besonders die Damen der Stadt, die sonst bei allen Premieren zugegen waren, hatten sich eingefunden. Ihr Instinkt mochte ihnen sagen, daß sich hier möglicherweise etwas abspielen möchte, was nicht zur großen Alltäglichkeit gehörte.

Ueber die erste Gerichtssitzung berichtete die »Abendzeitung«: »Man glaubte sich in einen Konzertsaal oder in ein Theater versetzt. Neu auftauchende Gerüchte wollten wissen, daß der Andrang zu den Vernehmungen enorm sein würde, und daß jegliche Zulassung mit großen Schwierigkeiten verbunden sei. Dieses genügte den Damen, die mit den sensationellen Begebenheiten der Stadt immer à jour sein müssen. Mit allen Mitteln suchten sie sich Einlaß zu verschaffen, gerade deswegen, weil Schwierigkeiten bereitet wurden. Der Angeklagte war ja ein Mann von kosmopolitischem Anstrich, ein internationaler Abenteurer, der vor seiner Entlarvung durch sein anziehendes Auftreten gerade die Damenwelt bezaubert hatte, die jetzt mit grimmigen Blicken der sonderbaren Gerichtsverhandlung beiwohnte. Gerichtsbeamte, Rechtsanwälte und Repräsentanten der Presse wissen sicherlich allerlei darüber zu erzählen, wie Freunde und Freundinnen der Freunde und wieder Freundinnen der Freundinnen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um sich Einlaßkarten zu verschaffen. Bei einer solchen Beteiligung ausschließlich Neugieriger, wie es sich bei dem gestrigen Gedränge offenbarte, liegt die Frage nahe, ob nicht die Würde der Gerichtsverhandlungen eine Einschränkung der Oeffentlichkeit erforderlich macht, da letztere unmöglich den Verhandlungen dienlich sein kann, sondern sie nur hemmen muß.«

Eine solche Bemerkung in einem norwegischen Blatt bezeichnet besser als alles andere die Wichtigkeit dieser Begebenheit. Als der Vorsitzende mit dem Befehl: »Man führe den Angeklagten herein!« diese aufsehenerregende Gerichtsverhandlung eingeleitet hatte, wurde es in dem großen Schwurgerichtssaal so still, daß man deutlich die Stimmen von der Straße her vernehmen konnte. In dem Augenblick jedoch, als sich die Tür öffnete und der Arrestant zwischen zwei Kriminalbeamten aufrechten Ganges eintrat, kam Bewegung in die Zuschauer. Durch den Saal rauschte das Gemurmel vieler Stimmen, gleich einem Brausen der Wellen längs des Strandes. Die Sensation machte sich so bemerkbar, daß der Vorsitzende die Glocke ergriff, der Versammlung mitteilte, daß die geringste Unruhe oder Kundgebung augenblicklich Ausschließung der Öffentlichkeit zur Folge haben würde.

Als der Angeklagte den Lärm hörte, wandte er das Gesicht nach dem Zuschauerraum. Er lächelte nicht; aber in seinem Blick lag etwas Neugieriges und Forschendes, als suchte er etwas. Er trug denselben Anzug, den er nach dem Fluchtversuch anhatte: er war durchaus tadellos und sauber, was verwunderlich schien, da er doch einen Monat im Gefängnis gesessen hatte. Keiner der Zuhörer ahnte, daß die Sorgfalt, die dieser unverbesserliche Dandy während der ganzen Dauer seiner Untersuchungshaft seiner äußeren Erscheinung widmete, immer dieselbe geblieben war. Das erste Schneideretablissement Christianias hatte in diesem Monat in ihm einen neuen Kunden bekommen; ihm war die Aufsicht über seine Garderobe übertragen worden. Von den wenigen Goldstücken, die man bei ihm gefunden hatte, und die er behalten durfte, beglich Nelson seine Rechnung.

Der Vorsitzende, die Richter und die Geschworenen waren noch mit dem Ordnen ihrer Akten beschäftigt. Diese wenigen Minuten gaben dem Publikum Gelegenheit zur Betrachtung der Hauptperson dieses Dramas.

Der Vorsitzende war der wegen seiner Rechtlichkeit und Humanität bekannte Dr. jur. Blink, von dem man behauptete, es sei nur eine Frage der Zeit, daß er Leiter des höchsten norwegischen Gerichtshofes werden würde. Die Geschworenen setzten sich wie gewöhnlich aus Bürgern Christianias zusammen, Kaufleuten, Handwerkern, einigen akademisch gebildeten Beamten, die alle neugierig, aber ohne Feindseligkeit dieses fremde und seltsame Exemplar der Verbrecherwelt anblickten, über dessen Schicksal sie entscheiden sollten.

Der Verteidiger war ein bekannter Rechtsanwalt, einer der ältesten und angesehensten der Stadt. Er durchblätterte zögernd seine Akten; einem aufmerksamen Beobachter mußte eine gewisse Ratlosigkeit in seinem Gesichte auffallen. Das Ganze machte – mit dem interessierten und sensationshungrigen Publikum im Hintergrund – ganz den Eindruck eines dramatischen und äußerst spannenden Schauspiels. Die wenigst sympathische Figur spielte der Staatsanwalt, der ja in fast allen großen Gerichtsverhandlungen die unsympathischste Rolle spielt. Während dieser Sitzung lag das Amt in Händen eines noch jungen Staatsanwaltes, eines kleinen lebhaften Herrn, dem man sofort den modernen, smarten Juristen ansah.

Als der Staatsanwalt Platz genommen hatte, musterte er sein Opfer mit überlegener Sicherheit. Mr. Nelson hielt seinem Blick stand, der Engländer schien sich nicht für ihn zu interessieren. Allem Anschein nach hatte der Angeklagte für den ganzen Apparat, der seinetwegen in Bewegung gesetzt worden war, nicht das mindeste Interesse. Wenn der Vorsitzende ihn in diesem Augenblicke gefragt hätte, ob er einen besonderen Wunsch hege, würde er sicher geantwortet haben: »Wenn erlaubt, bitte eine Zigarette.«

Ein Herr von mittleren Jahren hatte ganz rechts auf der Bank Platz genommen, die für besonders Geladene reserviert war. Nur wenige der hier Versammelten kannten ihn; diese wenigen machten sich jedoch gegenseitig auf ihn aufmerksam.

Er saß mit gekreuzten Armen. Obgleich sein Kopf eine ziemliche Glatze aufwies, war doch das Haar an den Ohren schon graumeliert, was darauf deuten konnte, daß er älter sein mußte, als man seiner Haltung und seinem jungen, energischen Gesicht nach glauben sollte. Er saß so, daß das Publikum sein charaktervolles und scharfgeschnittenes Gesicht mit den tiefliegenden Augen sah. Dieser Herr war Asbjörn Krag.


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