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Ein Vortrag vor Studenten (1931)
Die erzählende Dichtung ist das Haupteinfallstor, durch welches in unsern Tagen die spießigste Prosa in die Dichtung eingedrungen ist; diese herrscht nun in einem großen Bezirk der Dichtung, und herrscht in einem Maße, daß es oft scheint, als ob die Menschen überhaupt das Gefühl dafür verloren haben, was eigentlich Dichtung ist. Auch des Märchens haben sich die Philister ja bemächtigen wollen. Aber das ist ihnen nicht geglückt. Überall, wo sie den Versuch machten, Märchen zu dichten, stellte sich heraus, daß dichten eben nur der Dichter kann, daß die Schreiberei der Literaten mit der Dichtung gar nichts zu tun hat.
Das Märchen wurde geschützt durch sein Handwerk.
Das Handwerk bloß als Handwerk kann die Kunst nicht schützen. Man denke nur an das Schauspiel, das ja ein ausgebildetes und strenges Handwerk erfordert. In dichtungsfeindlichen Zeiten, wie die unsrigen sind, wird auch der Philister in den Stand gesetzt, dieses Handwerk zu erlernen und schreibt dann los: in der älteren Generation schrieb er Jambendramen, in denen er große Männer verherrlichte, die er im Schulunterricht gehabt hatte, und Vorfahren seines angestammten erhabenen Herrschergeschlechts; oder nachher Gesellschaftsdramen, in denen er erörterte, ob ein Mädchen aus gutbürgerlicher Familie zur Bühne gehen und da ein Kind kriegen darf, oder ob die Frau eines Rechtsanwalts, welche die Vorstellung hat, daß sie von ihrem Mann nicht verstanden wird, sich scheiden lassen soll; und in dem jüngsten Geschlecht heute den Unsinn, der denn nun schließlich selbst die Dummen aus dem Theater getrieben hat, nachdem die Leute von Verstand es schon längst nicht mehr besuchten. Das Handwerk des Märchens ist etwas ganz Besonderes von Handwerk, das nicht durch einen Ersatz nachgemacht werden kann, wie bei den Philisterstücken die dramatische und bei den Publikumsromanen die erzählende Form.
Wenn wir das Handwerk des Märchens verstehen wollen, dann müssen wir weit zurückgehen.
Wir müssen uns zunächst darüber klar sein: was wir so Wirklichkeit nennen, das spielt für einen schöpferischen Menschen keine besonders große Rolle. Wer philosophisch geschult ist, der weiß, daß unsere Wirklichkeit von uns geschaffen wird, daß sie nur unsere Vorstellungswelt ist. Von dieser Einsicht machen aber nur wenige Menschen Gebrauch; sogar nicht alle Philosophen haben für ihr Leben die nötigen Schlußfolgerungen aus ihr gezogen, die Philosophen, die doch alle geneigt sind, den Menschen zu bestimmen als das Lebewesen, welches philosophiert. Nur der Künstler richtet sich immer nach ihr, auch wenn er nicht bewußter Denker ist: denn ein Künstler ist eben ein Mensch, der neue Möglichkeiten schafft, welche dann später neue Wirklichkeiten werden können. Die Welt, welche uns umgibt, ist im Lauf der Jahrhunderttausende, oder wie hoch man nun das Alter des Menschengeschlechtes ansetzen mag, von den aufeinanderfolgenden Geschlechtern der Künstler geschaffen. Ich habe in einem meiner erdachten Gespräche das so ausgedrückt: «Vielleicht hast du recht, daß einmal ein vergessener Dichter über die Liebe gesprochen hat, wie Ronsard über den Frühling, und daß das, was ich erleben will, in der Wirklichkeit eine dilettantische Nachahmung dessen ist, das im Lande der Dichtung nicht erlebt wird, sondern gemacht.»
Was feststeht, das sind die allgemeinmenschlichen Bedürfnisse, die sich ergeben aus unseren Sinnen und den Fähigkeiten unseres Verstandes und unserer Vernunft. Nach diesen Bedürfnissen schafft der Künstler. Wir wollen hier gleich vom Dichter allein sprechen. Für ihn sind diese Bedürfnisse: das Tragische, das Komische und die Wunscherfüllung.
Das tragische Bedürfnis ist wohl einfach und leicht zu verstehen. Wir sind in dieses Leben gestellt mit einem unbändigen Glückshunger; dieser Glückshunger ist notwendig für die Gesundheit des Körpers und der Seele; und wenn wir ihn zerstören wollen, wie man das in manchen Religionen aus einer tieferen Einsicht in das Leben versucht hat, dann zerstören wir die Grundlage unseres Lebens. Aber dieser Glückshunger kann nie ganz gestillt werden, und zwar um so weniger, je höher der Mensch steht. Auf den untersten Stufen kann, wenn die Lebensverhältnisse der Zeit in Ordnung sind, was ja nun freilich selten im Lauf der Geschichte der Fall war, ein einfaches Glück in sittlich herkömmlicher Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse möglich sein; je höher der Mensch steht, desto seltener wird es geschehen, daß er erhält, was er braucht; das geht bis zur Verneinung seiner Lebensmöglichkeit; und wenn ein Sohn Gottes auf die Erde niedersteigt und Mensch wird, so kann ihm nur das geschehen, daß er ans Kreuz geschlagen wird; es ist nichts andres möglich, denn das Leben des Menschen ist ein tragischer Vorgang: der Mensch ist durch seinen Körper an die Erde gekettet, und durch seine Seele wird er von der Erde fortgezogen. Wäre ihm diese Verkettung von Anfang an klar, dann könnte er überhaupt nicht leben; erst, indem er lebt, gelangt er zu Klarheit über diese Verkettung.
Das tragische Gedicht stellt diese Verkettung nun in einer symbolischen Handlung dar, und durch diese Darstellung kann es auf den Menschen befreiend wirken: die Verzweiflung, die uns selber ergreifen müßte bei Betrachtung unseres Lebens, wird in schwächerer Weise erzeugt durch das Anhören der Dichtung; und durch dieses Anhören wird ein Stolz in uns erzeugt, der uns über die Verzweiflung hinwegfährt. Sie können an Mittel und Wirkungen der Ärzte denken, wenn Sie sich den Vorgang klarmachen wollen: es wird eine schwächere Form einer Krankheit eingeimpft, erzeugt das Gegengift im Körper, und das schützt nun den Körper gegen die eigentliche Krankheit.
Das komische Gedicht und das Wunscherfüllungsgedicht sind untereinander nicht so verschieden wie von dem tragischen Gedicht, sie gehen unter Umständen ineinander über. Hierüber wäre viel zu sagen, dazu aber mangelt mir die Zeit. Ich muß deshalb um Entschuldigung bitten, wenn ich mich hier gelegentlich überscharf und gelegentlich unbestimmt ausdrücke.
Ich will als Beispiel für das tragische Gedicht die Ilias, für das Wunscherfüllungsgedicht die Odyssee und für das komische Gedicht den Rasenden Roland nehmen, damit ich mich kürzer und anschaulicher ausdrücken kann.
Der Tragiker nimmt die Anforderung des Seelischen ernst und stellt sie auch so dar. Achilleus hat das Recht auf den höchsten Stolz. In diesem ist er gekränkt. Nun gehen die Ereignisse auf der Ebene des gewöhnlich täglichen Lebens weiter. Der Dichter hat keine Tragödie gedichtet; die Form der Tragödie wurde erst später gefunden, und nur in ihr kann das Tragische seine höchste Darstellung finden. Aber er hat ein tragisches Gedicht geschrieben, wie es etwa auch die isländischen Sagas sind. Das Geschehen, das auf der Ebene des täglichen Lebens verstreut vor sich geht, erhält seine Beleuchtung durch die Seele Achills.
Der Komiker nimmt die Anforderung des Seelischen zwar gleichfalls ernst, aber er stellt ihr das gewöhnlich sinnliche Leben in possenhafter Weise gegenüber, das er nun ohne jene Beleuchtung darstellt, ja, er kann sich so hoch aufgipfeln, wie in der wahnsinnigen Raserei des Roland, daß er den Träger der seelischen Bewegung selber in dieses gewöhnlich sinnliche Leben eintaucht, das er nun in tollster Weise übertreibt. Durch diese Übertreibung befreit er die Seele des Lesers in andrer Weise von der Verzweiflung; er reizt ihn zum Lachen, wie der Tragiker ihn zu Tränen rührt, und durch dieses Lachen wird der Verzweifelnde ebenso geheilt, wie durch die Tränen.
Die Komik ist noch viel schwerer zu verstehen als die Tragik. Ich halte den großen Ariost für den am wenigsten verstandenen Dichter. Nur wenige Menschen stehen nun auf der seelischen Ebene, daß sie des Verständnisses fähig sind; sie haben ja auch denn nicht die Verzweiflung erlebt, welche die Voraussetzung des Verständnisses ist. Vielleicht ist ein leichterer Zugang zu gewinnen, wenn man sich an Werke von der tiefsten seelischen Ebene hält, für die Tragödie etwa an Ibsen mit seinen Philisterschicksalen und für den Komiker etwa an Blumauer in seiner travestierten Äneis.
Wenn Tragiker und Komiker uns über die Verzweiflung fortheben, der eine durch die Darstellung des tragischen Geschehens, der andere durch die possenhafte Übersteigerung des sinnlich gewöhnlichen Lebens, dann hat der Wunscherfüller die anmutige Gaukelei, in der sich Tragisches und Komisches auslösen in Arabeske und bewußtes Spiel. Er hat etwas vom Tragiker, noch einiges mehr vom Komiker; oft schürzt er einen tragischen Knoten und löst ihn heiter. Wenn man eine Stufenleiter der Dichtung machen wollte nach der Art, wie sie den Menschen befreit, dann stände auf der untersten Stufe der Tragiker, dann käme der Komiker, und auf der höchsten Stufe stände der Wunscherfüller – der Wunscherfüller, welcher nun der Märchenerzähler ist.
Aber ehe wir weitergehen, müssen wir untersuchen: um Erfüllung welcher Wünsche handelt es sich?
Auch hier, wie überall in der Kunst, müssen wir auf die allgemeinmenschlichen Triebe stoßen. Das große Kunstwerk spricht zu jung und alt, zu vornehm und gering, zu arm und reich, zu gebildet und ungebildet, weil es sich an diejenigen Triebe wendet, die allen Menschen gemein sind. Der Wunscherfüller, wenn er eine Dichtung schaffen will, muß also allgemeinmenschliche Wünsche erfüllen.
«Allgemeinmenschlich» ist natürlich nicht so aufzufassen, daß das nun bloß Wünsche sind, die jeder hat; es müssen Wünsche sein, die zum mindesten jeder versteht. Der Knabe und junge Mann wünschen sich übermenschliche Stärke, die Frauen und Greise haben diesen Wunsch nicht, aber sie verstehen ihn sofort. Da kommt denn der Wunscherfüller und fabelt von einem Trank, der die Kräfte verzehnfacht; er steigert einfach die Wirkung des Weins ins Phantastische, oder er erzählt bloß von einem jungen Mann, der so stark ist, daß er gleich den Amboß in den Grund schlägt, wie er nur auf ihm ein Schwert schmieden will, oder der ein paar hundertjährige Fichtenstämme ausreißt und als Holzwellchen zum Heizen auf dem Rücken nach Hause trägt. Das sind Übertreibungen, die als solche in das Gebiet des rein Komischen fallen würden; aber es sind auch Wunscherfüllungen. Der seelische Vorgang des Hörers bei ihm ist anders, wie bei der bloßen Übertreibung. Der Hörer weiß natürlich ganz genau, daß die Geschichte gelogen ist, aber er denkt sich doch: Wie schön wäre es, wenn man so stark sein könnte! Man denke an die tiefsinnige Schnurre von dem Mann, der in einem Tümpel nach Forellen angelt. Ein anderer sagt ihm: «In einem Tümpel sind doch keine Forellen!» Er antwortet: «Das weiß ich auch. Aber ich sage mir: Es sind vielleicht doch welche drin.»
Dieser seelische Vorgang beim Hörer kann nun wieder komisch aufgefaßt werden. Man denke an den Schneider, der sieben Fliegen, die sich auf seine Mussemmel gesetzt haben, mit einem Schlag klatscht und dann sich einen Gürtel stickt mit der Inschrift «Sieben auf einen Schlag», auf Grund dessen er allerhand schneidermäßige Heldentaten begeht und schließlich die Königstochter heiratet.
Aber natürlich werden die meisten der erfüllten Wünsche von der Art sein, die jeder hat. Vor allem der Wunsch, daß das Gute belohnt und das Schlechte bestraft wird. Diesen Wunsch hat ja merkwürdigerweise auch der Schlechte. Da steckt ein schönes Lustspielmotiv, das noch niemand behandelt hat; es wird wohl sehr schwer zu behandeln sein. Der Wunsch ist ja so stark im Menschen, daß die meisten fest davon überzeugt sind, daß er im Leben erfüllt wird, trotzdem sie täglich das Gegenteil sehen; er ist so stark, daß er sogar in die Regionen der höchsten Philosophie hinaufklettert, indem Kant das Jenseits damit beweisen will, daß er sagt: irgendwo müsse er denn doch einmal erfüllt werden.
Der Wunsch, daß das Gute belohnt und das Schlechte bestraft wird, wird ja auch in der schlechten Literatur erfüllt, wo denn die Tugend sich zu Tisch setzt, wenn sich das Laster erbricht. Aber das ist nun eben der Unterschied der Dichtung von der schlechten Literatur: Die Dichtung weiß, daß ihre Erfüllung des Wunsches nur ein Gaukelspiel ist, ein gewollter Traum, und sie dichtet denn so, daß das dem Hörer immer bewußt bleibt, wie es auch dem Forellenangler in unserer Schnurre immer bewußt ist, daß im Tümpel keine Forellen sind; die schlechte Literatur aber hat ja nun eben die Absicht, dem Leben einen Spiegel vorzuhalten, wie sie sagt; sie glaubt selber an ihre Lügen und will sie den andern Leuten glaubhaft machen. Es ist mit dem Glauben ja so eine Sache. Man hat ihn auf jeden Fall, und wenn man nicht einen klugen Glauben hat, dann hat man einen dummen. Es kann auch geschehen, daß die Menschen auf der Basis der Dummheit gescheit werden. Dann sehen sie ein, daß die Tugend nie dazu kommt, sich an den Tisch zu setzen. Diese Einsicht ist dann die Grundlage der naturalistischen Dichtung.
Lohn der Guten und Strafe der Bösen sind der tiefste menschliche Wunsch. Ich bin überzeugt, daß auch in einem Theater für Zuchthäusler alle Stücke in diesem Sinne enden müßten, wenn sie anders den Beifall der Sträflinge finden sollen. Der wunscherfüllende Dichter muß ihn deshalb wohl unbedingt befriedigen. An zweiter Stelle kommen noch andere Wunschbilder: ein Geldbeutel etwa, der nie leer wird, das Wasser des ewigen Lebens, das den Tod fern hält, und ähnliches.
Es würde ja ein schönes Unglück geben, wenn uns in der Wirklichkeit unsere Wünsche erfüllt würden. Ein Wunsch, der so viel Geld hat, wie er will, der sich also nichts mehr wünschen kann von irdischen Gütern, weil er alle sofort haben kann, wäre der elendeste Mensch der Welt. Und wenn nun der Tod des Lebens Ziel ist, dann wäre das Leben ohne den Tod sinnlos. Aber der Mensch ist nun einmal kein vernünftiges Wesen, und seine Wünsche sind eine Hauptursache seiner Unvernunft; diese ist aber notwendig für das Leben; ohne sie wäre das Leben gar nicht möglich. Unsere notwendig unerfüllten Wünsche machen uns unglücklich. Aber das Leiden ist nun eben auch notwendig für das Leben. In dem Augenblick, wo es aufhörte, müßte auch das Leben aufhören. Und da hat nun die anmutige Gaukelei des Wunscherfüllers ihre Stelle: sie kann bewirken, daß einiges von der Unvernunft unschädlich in leichten Dunst aufgeht, und sie kann einiges von unserm Leiden in Lächeln auflösen.
Dornröschen wird getauft, und die böse Fee wird bei den Einladungen vergessen. Da wächst denn nun das Kind zur Jungfrau heran, und die Zeit kommt, wo die Rache der Beleidigten wirksam werden kann: Dornröschen versinkt in Schlaf und mit ihr Vater und Mutter und alle andern Menschen im Schloß bis herunter zum Küchenjungen und alle Tiere bis herunter zur Fliege, und eine Rosenhecke wächst um das Schloß und wächst – Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte – wer weiß? Aber dann kommt der Prinz, der durch die Hecke dringt und Dornröschen auf den Mund küßt: und da wacht Dornröschen auf und das Königspaar, der Küchenjunge und die Fliege, und das ganze Schloß lebt nun sein heiteres Märchenleben: der König sitzt auf seinem Thron, und der Prinz heiratet die Königstochter, der Koch richtet einen schönen Braten, und die Fliege sitzt und putzt sich. Ist unser tägliches Leben der tiefe Schlaf, und muß uns der Dichter durch einen Kuß erwecken? Das ist eine Frage, die schon manchen Dichter beschäftigt hat: Ist das Leben ein Traum, oder ist der Traum das Leben?
Das Thema meines Vortrags lautet: Das Handwerk des Märchens. Ich mußte erst die seelische Grundlage des Märchens aufzeigen, denn aus ihr ergibt sich dann das Handwerk. Ich muß nun zeigen, wie das, was wir Märchen nennen, sich ästhetisch herausentwickeln muß aus den geistigen Voraussetzungen, welche die ihnen angemessene Form finden, wie das Tragische schließlich in der Tragödie seine angemessene Form gefunden hat. Genau wie das Tragische sich in Werken darstellen kann wie die Ilias oder die isländischen Sagas, wo es noch nicht seine angemessene Form gefunden hat, so kann auch die dichterische Wunscherfüllung sich in dichterischen Werken darstellen, welche noch nicht die höchste Form für sie, nämlich das Märchen, sind.
Sie kann sich äußern in einer besondern Art von Lustspiel, in Novellen und in Romanen.
Es gibt nur eine Tragödie, aber es gibt mehrere Arten des Lustspiels. Diese Arten sind nicht reinlich voneinander zu trennen; es geschieht nicht selten, daß Komik und Wunscherfüllung sich zugleich in einem Lustspiel finden. Auch in der Novelle, noch mehr im Roman finden sich solche aus verschiedenen Grundbestandteilen gebildete Erscheinungen; ob man den Roman noch zur vollen Kunst rechnen darf, das kann man auch aus diesem Grunde vielleicht in Zweifel ziehen. Es ergibt sich diese Unsicherheit aus dem Umstand, daß bei Komik und Wunscherfüllung das Sinnliche die Hauptrolle spielt. Die Tragödie ist unsinnlich, sie will ja gerade herausarbeiten, daß das Seelische die Herrschaft hat gegenüber dem Sinnlichen, dieses ist also an die zweite Stelle gesetzt; nur bei Stilverwirrung, etwa bei Shakespeare, tritt es in der Tragödie in den Vordergrund; aber Lear und Othello, um die hervorstechendsten Beispiele zu nennen, sind auch nicht rechte Tragödien; ein Grieche mit seinem richtigen Stilgefühl würde die Vorwürfe dieser Werke zu Lustspielen ausgearbeitet haben. Um sich das klarzumachen, daß das Sinnliche in Komik und Wunscherfüllung an erster Stelle steht, muß man nur daran denken, daß ein häufiges Mittel des Komikers die einfache Veränderung der Größenverhältnisse ist, wo denn natürlich das Einzelne innerhalb dieser veränderten Verhältnisse von strengster Naturwahrheit sein muß; und daß der Wunscherfüller die sinnliche Wirklichkeit besonders genau darstellen muß, damit sie auch reizend wirkt. Man denke für das erste an den Don Quixote, wo die Größenverhältnisse so verändert sind, daß der Held als verrückt erscheint; wenn da Sancho Pansa nicht ganz irdisch ist oder der Wirt und die Nymphen in dem Kastell, wo er zum Ritter geschlagen wird, nicht mit Meisterschaft als das dargestellt werden, was sie sind, dann fällt die Gestalt des Ritters durch, wie die Maler sich ausdrücken. Und man denke für das zweite an Eichendorffs entzückenden Taugenichts: wenn da das Herrenleben, das er führt, nicht mit all dem sinnlichen Reiz, den es für den Helden hat, so dargestellt wird, daß der Reiz sich dem Leser mitteilt, dann ist der ganze Zauber des Büchleins hin.
Nur in einer Dichtungsart kommt die Wunscherfüllung ganz ungetrübt durch fremde Bestandteile: Naturwahrheit des einzelnen, starken sinnlichen Reiz und ähnliches, zum Ausdruck, nämlich im Märchen. Deshalb drückt sich die Wunscherfüllung im Märchen am reinsten aus, wie das Tragische sich in der Tragödie am reinsten ausdrückt. Ähnlich wie die Tragödie muß deshalb auch das Märchen eine abgezogene Kunstform sein.
Das geschieht dadurch, daß das Märchen mit einer Welt arbeitet, in welcher gewisse andere Gesetze gelten, als in unserer Welt, daß wir also von vornherein in einer Umgebung sind, in welcher wir nicht Lebenswahrheit im einzelnen und sinnlichen Reiz der Wirklichkeit verlangen. An deren Stelle muß dann natürlich etwas anderes treten. Das ist ein Aufbau der Erzählung, der durch Erwartung, Erfüllung, Suchen und Überraschung wirkt. Auch durch die Wichtigkeit des Aufbaus hat das Märchen wieder eine Ähnlichkeit mit der Tragödie. Es würde die Untersuchung durch ein dickes Buch erfordern, wenn ich das im einzelnen ausführen wollte. Ich will nur zweierlei hervorheben.
Erstens, das Märchen stellt nicht individuelle Charaktere dar, sondern Typen, Typen aber feststehender Art. Wenn es etwa sagt «Schuster», dann meint es den feststehenden Typus «Schuster». Wenn es etwa sagt «Schneider», dann meint es den feststehenden Typus «Schneider». In der sittlichen Welt kennt es nur die Gegensätze von gut und böse, in der geistigen nur die von klug und dumm, und so fort. Die Figuren des Märchens stehen wie Schachfiguren auf ihrem Brett. Der Dichter schiebt sie, wie er sie nach ihrem Gesetz schieben kann; und das Spiel des Märchens ist nicht etwa phantastische Willkür, wie schlechte Skribenten gemeint haben, die nun gedacht haben, so etwas können sie auch, und da gleichfalls Märchen geschrieben haben; sondern es ist sozusagen eine Lösung einer mathematischen Aufgabe nach den mathematischen Gesetzen, die unabhängig von der Willkür des Rechnenden sind.
Und zweitens, das Märchen sucht nach Möglichkeit die Verschlingungen zahlenmäßig zu bestimmen, und zwar durch solche Zahlen, welche allgemeinmenschlich am schnellsten eingehen; dies ist vor allem die Zahl Drei, dann weiterhin die Zahlen Fünf, Sieben, Neun und Zwölf. Daß diese Zahlen bevorzugt werden, hängt mit den biologischen menschlichen Fähigkeiten zusammen: die Drei kann als Einheit gefühlt werden, während etwa die Vier sinnlich erscheint als Zwei mal Zwei. Dasselbe gilt wohl in abgeschwächterem Maße von der Fünf und der Sieben. Wie die Bevorzugung der Neun und der Zwölf zu erklären ist, weiß ich nicht.
Die Zahlen kommen bei den verschiedensten Gelegenheiten vor. Neun und Zwölf gelten hauptsächlich für die Zahl der Gefolgsleute; man denke an die zwölf Jünger Jesu; aber auch für Taten, welche gezählt werden, wie die zwölf Taten des Herkules; oder für Kammern, welche durchschritten werden müssen, oder für Tage, welche eine Reise dauert. Bei der Dreizahl ist es oft so, daß zwei vergebliche Ansätze für die Lösung gemacht werden, und daß die Lösung beim dritten Male gelingt.
Was man heute, in dieser Zeit der völligen Verwilderung und auch Verflachung der Kunst nicht mehr weiß, das zeigt das Märchen für den Betrachter ganz auffällig: die der Form innewohnende Gesetzmäßigkeit, welche ohne Zutun der Dichter durch die Dichter wirkt. Wir haben Märchen aus allen Zeiten, von allen Völkern, von allen Kulturstufen. Überall wirkt dasselbe Gesetz. Noch mehr. Der größte Teil der Märchen sind sogenannte Volksmärchen; sie sind aus dem Mund des Volks ausgezeichnet. Wenn auch natürlich in jedem Fall bei der ersten Entstehung eines Märchens ein Dichter, mindestens eine dichtende Persönlichkeit angenommen werden muß, so wird das doch fast immer ein Dichter gewesen sein, der aus dem Gesetz der Form heraus, das er natürlich nicht bewußt kannte, das Märchen gedichtet hat; dieser erste Dichter mag auch oft nur eine ganz unzulängliche kurze Erzählung gegeben haben, die dann beim Weitererzählen durch andere Personen, die eben auch Dichter waren, im Geist der Form weitergebildet wurde. Es ist mir geglückt, einmal diesen letzteren Vorgang zu beobachten bei der Gestaltung einer Novelle im Volk durch Weitererzählen; ich habe das mitgeteilt in dem Aufsatz «Ein Novellenstoff», der in meinem «Weg zur Form» S. 278 gedruckt ist. Hier ist ein wissenschaftlicher Beweis gegeben, den jeder im wissenschaftlichen Handwerk Gebildete wird anerkennen müssen, daß das heute besonders bei den dummen Rezensenten übliche Geschwätz von der schöpferischen Persönlichkeit falsch ist, daß der Vorgang des Dichtens ganz anders ist, als man ihn sich heute gewöhnlich vorstellt – wenigstens wenn man zugibt, daß der natürlich nur selten zu beobachtende Vorgang als typisch zu bewerten ist und nicht ein einmalig zufälliges Geschehen darstellen kann.
Ich habe nun die Grundzüge der Märchentechnik mitgeteilt, die sich ergeben aus dem Umstand, daß das Märchen Vorgänge aus einer Welt erzählt, in welcher gewisse andere Gesetze gelten als in unserer Welt, und habe also die allgemeine Idee der Märchentechnik dargestellt.
Die Idee stellt sich geschichtlich dar in den wirklich vorhandenen Märchen. Das geschichtliche Sicherstellen dieser Idee wollen wir nun zum Schluß betrachten.
Ein Geschehnis wie die Herausbildung des Märchenstils kann natürlich nicht so vor sich gegangen sein, daß die Menschheit das Märchen bewußt wollte; denn dann hätte sie ja das Märchen schon vorher kennen müssen, dann hätte es schon auf der Welt sein müssen. Ich habe bei meinem Nachdenken zwei Ursprünge gefunden, die wohl die hauptsächlichsten sein werden: beim Übergang der urtümlichen Vorstellungen von der sogenannten Wirklichkeit zu neueren; und bei der eindrucksvollen Darstellung religiös-sittlicher Lehren. Ich habe in meinem «Weg zur Form» S. 98: «Die Entwicklung eines Novellen-Motivs» nähere Angaben über beides gemacht. Hier nur das allgemeinste.
Für die Darstellung des ersten Ursprungs muß ich weiter ausholen. Die Welt, in welcher wir leben, ist unsere Vorstellungswelt. Endgültig hat das Kant gelehrt. Aber die Lehre Kants bedarf einer Ergänzung. Die neuere Biologie untersucht unter anderem die Tiere auf ihre Sinne und ihre aus denen sich ergebenden Fähigkeiten des Verstandes und der Vernunft. Beides ist bei jedem Tier anders; zum mindesten müssen wir das auch dort annehmen, wo das noch nicht nachgewiesen ist. Jedes Tier lebt also in einer andern Vorstellungswelt, oder kurz ausgedrückt, in einer andern Welt. Diese neueren biologischen Einsichten können wir nun auch für die Betrachtung des Menschen nutzbar machen. Kant hielt den Menschen noch für eine gegebene Größe, die immer gleich ist. Er dachte, daß der Mensch immer das ist, was der Mensch des 18. Jahrhunderts war. Aber der Mensch hat sich im Lauf seiner geschichtlichen Entwicklung verändert. Vielleicht haben sich sogar seine Sinne umgebildet; ich habe oft den Eindruck; zum mindesten aber hat sich das Weltbild geändert, das durch die Sinneseindrücke mit Hilfe der Anschauungsformen und Vernunftkategorien zustande kommt; ich habe die Formen zweiten Ranges zu den von Kant aufgestellten Formen und Kategorien ersten Ranges hinzugefügt. Wie weit auch schon die Formen und Kategorien, welche Kant aufzählt, der Veränderung unterliegen, darüber möchte ich nicht sprechen; ich vermute etwa, daß die Menschen in früheren Zeiten ohne die Substantialität ausgekommen sind, und halte es für möglich, daß sie später die Substantialität wieder nicht mehr gebrauchen werden. Aber das geht uns hier nichts an. Jedenfalls ist die Sache so, daß notwendig aus älteren Zeiten Anschauungen und Gedanken in jüngere Zeiten hinüberkommen, welche ältere, vergessene Formen zur Voraussetzung haben, nunmehr also auffällig sind und erklärt werden müssen, und nun rationalistisch mit den neuen Formen erklärt werden.
Ich will ein Beispiel nehmen. In einem Geschlecht ist die Überlieferung lebendig, daß der Urvater eine Eiche gewesen ist; in einem andern, daß er ein Wolf war. Diese Überlieferungen werden fest geglaubt und werden auf keinen Fall in Zweifel gezogen. Sie stammen aus einer Zeit, da man anders dachte. Nun stellt sich die Aufgabe, daß man sich diese überlieferte Tatsache in Übereinstimmung bringt mit der neuen Welt und ihren andern Tatsachen.
Da gebraucht der Verstand ein Mittel, durch das er sich die Sache so notdürftig in Ordnung bringt. Er rationalisiert einfach. Was das bedeutet, das will ich an einem neueren Beispiel zeigen.
In der Bibel ist überliefert, daß der Prophet Elias eine Zeitlang in der Wüste lebte, und daß ihm da die Raben seine Nahrung brachten. Im 19. Jahrhundert mußte man rationalistische Erklärungen für diese geglaubte Tatsache finden; denn die Tatsache selber galt, da sie in der Bibel erzählt war, für unumstößlich richtig. So fand ein Theologe Paulus in Heidelberg heraus: die Raben brachten dem Propheten die Nahrung in der Weise, daß der Prophet sie in einem Netz fing und sie dann briet. Daß ein Rabe schwerlich in ein Netz gehen wird, das machte dem Gelehrten nichts aus. Die Erklärung wurde dadurch sehr berühmt, daß die Romantiker sich ihrer annahmen und den Professor Paulus weidlich verspotteten. Aber die von den Romantikern so hochgeschätzten Märchen sind genau aus dieselbe Weise entstanden. In unserm Fall sagten die Leute vom Geschlecht der Eiche: «Unser Vorfahr war natürlich kein Eichbaum, aber er hat in einem Eichbaum gewohnt.» Wie man das machen soll, das bedachten sie ebensowenig, wie Professor Paulus bedachte, daß die Raben nicht in ein Netz gehen. Die Leute vom Geschlecht der Wölfe sagten: «Unser Vorfahr war natürlich kein Wolf, aber er konnte sich in einen Wolf verwandeln.»
Wir haben hier schon zwei Märchenmotive, die sehr oft wiederkommen. Wenn man einen Überblick über die gesamte Märchendichtung hat, so wird man finden, daß die Motive gar nicht so zahlreich sind, daß sie nur immer neu geordnet werden; es ist, wie wenn man eine Nadel zwischen einen Winkelspiegel legt und da nun im Spiegel unzählige Nadeln sieht.
Als Beispiel für die Entwicklung eines Märchenmotivs aus der eindrucksvollen Darstellung religiös-sittlicher Lehren will ich die bekannte Erzählung von dem Reisenden nehmen, der an einen Kreuzweg kommt mit zwei Inschriften: «Wer hier geht, der wird zuerst glücklich sein und nachher Leid empfinden» und «Wer hier geht, der wird zuerst Leid empfinden und dann glücklich sein». Das erste ist der Weg der Welt, das zweite ist der religiös-sittliche Weg. Der rationalistischen Phantasie ist hier ein weiter Spielraum gelassen für Berichte, was nun dem Wanderer wirklich geschieht: er übernachtet etwa bei einem Schloßherrn, der ihn zuerst sehr gut aufnimmt und dann in ein Verlies wirft; dieses Werfen in das Verlies wird im weiteren Verlauf nicht mehr mit einer bloßen Laune des Schloßherrn begründet, sondern mit einer Probe des Gastes, und so fort.
Wenn die Phantasie erst einmal begonnen hat, Erklärungen für auffällige Berichte zu suchen, die für wahr gelten, dann geht das Fabulieren fast endlos weiter.
Auf Grundlage der nun für wahr gehaltenen Geschichte: ein Wanderer findet am Scheideweg die erwähnte Inschrift, wurde die Geschichte von dem Schloß mit dem Schloßherrn erfunden, der den Wanderer zunächst gut aufnimmt und dann quält. Man sucht für diesen auffallenden Vorgang eine Erklärung; wir kamen so weit, daß der Schloßherr den Besucher Proben unterwirft. Auch das ist eine Erklärung, die nicht gerade endgültig ist. Wie? Wenn nun ein Gespenst auf dem Schloß ist, das die Rolle des Schloßherrn vertritt? Hier kommen die Geschichten von den Schlössern, wo der Wanderer keinen Menschen sieht, aber eine vollbesetzte Tafel vorfindet, an die er sich setzen kann; wo dann in der Nacht entweder ein Gespenst erscheint, das ihn quält, oder, in der Richtung der wunscherfüllenden Phantasie weitergehend, ein wunderschönes Mädchen sich zu ihm ins Bett legt, das denn aber eine Fee ist und also bedenklich für sein Seelenheil, auch für sein Leben werden kann. Ist aber erst einmal das Gespenst erfabelt, so ist schon eine andere Erzählungsmasse bereit, von Gespenstern, die erlöst werden wollen, wo denn das Gewicht der Erzählung schon verschoben ist und nicht mehr auf dem entscheidenden Schritt am Scheidewege liegt.
Eine komische Auflösung dieser Märchenreihe ist die Geschichte von dem Gespenst, das von dem Gast bloß rasiert sein will, durch den unerschrockenen Gast wirklich rasiert und dadurch erlöst wird und dem nun eine ganze Kiste mit Gold zum Dank übergibt.
Der Gang von der Inschrift am Scheideweg bis zu dem Gespenst, das rasiert werden will, ist ja wohl ein wenig lang; vielleicht leuchtet er manchen nicht so recht ein. Ich weise hin auf einen Aufsatz in meinem «Weg zur Form», wo ich das Lustspielmotiv von Calderons «Dame Kobold» auf uralten Totemglauben zurückgeführt habe S. 110 .
Ich habe nur die zwei hauptsächlichsten Motivenbeete angegeben, aus denen Märchen herausgewachsen sind. Es gibt gewiß noch mehr; aber ich habe nicht genügend geforscht, um noch mehr zu finden. In jedem Fall muß es so sein, daß durch Vorgänge auf irgendeinem andern Gebiet, die mit Dichtung, Märchen, Novelle überhaupt nichts zu tun haben, Aufgaben für den erklärenden Verstand gestellt werden, die nun so unzulänglich gelöst werden, wie das eben notwendig sein muß; und daß diese Unzulänglichkeiten, die desto besser sind, je größer sie sind, die Phantasie weitertreiben, bis schließlich ein dichterischer Stoff entstanden ist, der nun sein Eigenleben hat. Ich möchte nochmals betonen: Nirgends in diesen Dingen gibt es Willkür, überall können wir Gesetze finden, die ja nun freilich nicht wissenschaftliche Gesetze sind, die auch niemandem beim Dichten helfen können, aber deren Kenntnis die Menschen heute von den falschen Vorstellungen abbringen können, die sie über die dichterische Tätigkeit haben; welche falschen Vorstellungen denn ja nun auch grundfalsche Bewertungen erzeugen.
Ich will schließen. Ich habe Ihnen aufgezeigt, daß das Märchen der höchste dichterische Ausdruck eines besonderen menschlichen Triebes ist, des Triebes auf Wunscherfüllung; daß ein besonderes Handwerk sich aus seinen Lebensbedingungen ergibt; und daß dieses als Stoff gewisse Motive gebraucht, welche aus andern, nicht dichterischen Quellen strömen. Es wäre sehr viel mehr zu sagen über das Thema, aber da könnte ich Ihnen ein ganzes Semester lang ein sechsstündiges Kolleg lesen. Ich möchte mit diesen kurzen Ausführungen nur eines bewirken: Sie sollen sehen, daß die Dichtung aus andern Quellen gespeist wird, als man heute gewöhnlich annimmt, und daß die kritische Bewertung der einzelnen Werke, welche wir gewohnt sind, von ganz falschen Voraussetzungen ausgeht.
Die falsche Beurteilung und Bewertung der Dichtung ist eines der wichtigsten Zeichen des geistigen Niedergangs; dieser aber hat unser heutiges politisches und wirtschaftliches Elend verschuldet. Es regt sich ja heute überall in der Jugend ein neues geistiges Leben, besonders in der akademischen Jugend. Ich möchte, daß es Ihnen ganz deutlich zum Bewußtsein käme, was heute vergessen ist: daß ein Volk durch seine Dichtung lebt, in welcher sich seine sittlichen und geistigen Kräfte geformt zeigen. Die Dichtung hat ewige Formen, welche von den Völkern erfüllt werden müssen. Solange sie erfüllt werden, lebt ein Volk. Werden sie ein leeres Geklapper, wie es in der Zeit unsrer epigonischen Literatur der Fall war, oder weiß man überhaupt nichts mehr von ihnen, wie das heute ist, so muß ein Volk sterben; denn wenn der Geist kein Gefäß mehr vorfindet, dann versickert er im Sande.
Ich habe nur einiges Wenige vom dichterischen Handwerk sagen können, welches die wichtigste formbildende und formerhaltende Macht ist, wenigstens wenn Gefühle und Gedanken der Menschen in Ordnung sind. Die Formen sind ewig, sie sind göttlichen Ursprungs. In ihnen offenbart sich auch der göttliche Geist, wenn der Dichter, von der Muse begeistert, sein Werk schafft. Ihre Aufgabe ist es, diesen Geist zu verstehen, damit er auf Sie seine Wirkungen ausüben kann. Aber in einer rohen Zeit, wie die unsrige ist, kann dieses Verständnis bei vielen nicht mehr unmittelbar kommen; es muß erarbeitet werden. Unsere Zeit, welche die Maschine erfunden hat, um den Menschen von der Arbeit zu befreien – befreien, wie sie sagt – möchte den Menschen auch die geistige Arbeit abnehmen. Aber Gott hat dem Menschen die Arbeit gegeben, damit er durch sie sich bildet. Τησ αρετησ ιδωτα θεοι προπαροιθεν εθηχαν Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt (Hesiod) singt ein alter Dichter, der vor mehr als zwei und einem halben Jahrtausend gelebt hat. Sein Wort gilt für Sie, welche die Besten Ihres Volkes werden wollen, wie es damals galt. Dichtung ist heute sehr schwer zu verstehen, sie ist heute schwerer zu verstehen als irgendein anderes Geistiges. Ich möchte, daß meine wenigen Worte Sie dahin führen konnten, wo das Verstehen seinen Anfang nehmen muß.
(1910)
Es gibt mehrere Geschichtensammlungen aus dem Mittelalter, welche teils direkt für Erbauungszwecke zusammengestellt waren, teils für Prediger den Stoff zu Erzählungen gaben, die in die Predigten verwebt wurden, um sie interessanter zu machen. Eine der berühmtesten dieser Sammlungen sind die sogenannten Gesta Romanorum, die nicht etwa, wie man annehmen sollte, Erzählungen aus der römischen Geschichte enthalten, sondern Märchen, Legenden, Novellen und Anekdoten aus der ganzen Welt. Am Schluß einer jeden der rund hundertachtzig kurzen Erzählungen steht eine « Moralisatio», die etwa so gehalten ist wie im Neuen Testament die Auslegungen der Gleichnisse des Herrn. Die Erzählungen sind aus vielen Quellen geflossen, und einige haben ihren letzten Ursprung in Indien; einige aber sind ganz original, das heißt, ungefähr der Zeit und den Kreisen entstammend, wo das Buch zusammengestellt wurde.
Diese Zeit muß nun, wenn auch in der denkbar größten Abschwächung, eine Ähnlichkeit mit jenen ersten buddhistischen Jahrhunderten gehabt haben, in denen im indischen Volk eine merkwürdige stofferfindende Phantasie geherrscht hat, und die erzählbegabten Kreise waren hier ähnliche wie dort. Es handelte sich um das Durchdringen einer ethischen Religiosität, durch welche andere und mehr Fähigkeiten der Menschen in Anspruch genommen wurden wie bei der älteren Frömmigkeit; und die Träger der Bewegung waren freiwillig arme, predigende Mönche.
Menschen, welche ganz in einem bestimmten Kreis von Vorstellungen und Empfindungen leben, ziehen ohne Absicht und unbewußt jede Erfahrung in diesen Kreis, soweit das immer geht: entweder direkt oder indem sie die Erfahrung als Bild dessen empfinden, was sie so ganz erfüllt. Wird von solchen Leuten ein Bild gebraucht, so muß man zunächst nicht annehmen, daß sie es bewußt gesucht haben, um etwa ihre Rede zu schmücken; ästhetische Absichten liegen ihnen ganz fern, und sie sind nicht weniger rationalistisch und für das eine, das sie beherrscht, zweckbedacht wie der banale Bürger. Für Menschen, welche beständig über der Beziehung von Geist und Körper brüten und annehmen, daß der Geist ein selbständiges Wesen sei, das den Körper für seine Zwecke beherrschen und leiten müsse, und daß der Körper gegen die Herrschaft mehr oder weniger revoltiere, bietet sich etwa das Bild von Reiter und Pferd sofort dar, wie das von Herr und Knecht. Aus der täglichen Erfahrung muß das Bild damals von jedem empfunden sein.
Das Bild wird in Worte gebracht und an seiner Stelle angewendet.
Nun kann aber der praktische Verstand darüber kommen, der – nicht etwa das Bild «poetisch ausführt», eine Darstellung gibt – sondern, um den zu belehrenden Leuten gegenüber recht eindrücklich zu werden, etwas, das man sonst nur als psychologischen Vorgang, ganz unsinnlich und deshalb wenig wirksam vortragen könnte, als einen wirklichen Vorgang darstellt, der dem Reiter mit dem Pferd geschieht. Durch die Sinnlichkeit und Anschaulichkeit wird dann ein viel größerer Eindruck erzielt.
Nach diesem Gesagten lese man folgende Erzählung – die fünfundachtzigste – aus den Gesta Romanorum.
«Ein gewisser König zog einst aus einer Stadt in eine andere und kam zu einem Kreuz, welches auf allen Seiten beschrieben war. Auf der einen Seite war auf ihm geschrieben: O König, wenn du diesen Weg reitest, so wirst du für deinen Körper eine gute Herberge finden, aber dein Pferd wird übel bedient werden. Auf der anderen Seite des Kreuzes war geschrieben: Wenn du diesen Weg reitest, so wirst du eine Herberge finden, wo es deinem Pferde sehr gut gehen wird, du aber wirst übel bedient werden. Auf der dritten Seite war geschrieben: Wenn du auf diesem Wege gehest, so wirst du und dein Pferd zur Genüge haben, aber ehe du ankommst, wirst du heftig geprügelt werden. Auf der vierten Seite war geschrieben: Wenn du auf diesem Wege gehest, so wirst du wohl bedient werden, aber du mußt dein Pferd dort lassen und dann zu Fuße gehen. Wie der König das alles gelesen hatte, verwunderte er sich sehr und dachte bei sich, welchen Weg er reiten wolle. Er sprach bei sich: Den ersten Weg will ich wählen, weil es mir wohlgehen wird und dem Pferd schlecht; die eine Nacht wird schnell vorübergehen. Er stieß das Pferd mit den Sporen bis zu einer Straße, wo er eine Burg fand. In dieser war ein Ritter, der ihn gütig aufnahm und ihn wohl bediente, das Pferd aber hatte wenig oder gar nichts. Am andern Morgen aber stand er auf, ritt nach seinem Schloß, erzählte alle Geschichten, welche er gesehen hatte.»
Die Moralisatio erklärt: Der König ist der Christ, der das Heil seiner Seele sucht. Das Pferd ist sein Körper (hinzugefügt ist, offenbar von späterer Hand: «der aus den vier Elementen zusammengesetzt ist»; so unsinnig die Beziehung auf die vier «Seiten» des Kreuzes ist, so würde doch, falls die Geschichte nicht schriftlich festgelegt, sondern weiter erzählt wäre, aus dieser Beziehung sich irgendein märchenhaftes Motiv ergeben haben, gerade weil sie unsinnig ist). Das Kreuz ist dein Gewissen, welches wie ein Kreuz ausgebreitet ist, dessen einer Teil ruft dich zum Guten auf, der andere warnt dich, tapfer gegen das Böse zu kämpfen. Wenn du nun auf dem Wege wandelst, wo es dir gut und dem Pferde schlecht geht, so tust du sehr wohl. Meine Lieben, jener Weg ist der Weg der Buße, die Herberge ist die heilige Mutter Kirche, wo es dir in der Seele wohl gehen wird, indem das Pferd, das ist der Körper, Buße tut ... Es geht dann weiter, daß der zweite Weg der der Weltlüstigen ist, der dritte derjenigen, welche zu wenig gute Werke tun und deshalb erst ins Fegefeuer kommen, und der vierte der der wahrhaft Frommen, welche auf alle irdische Lust verzichten.
Besonders geschickt ist weder die Erzählung noch die Erklärung des Gleichnisses. Indessen kommt es darauf hier nicht an. Denken wir uns, daß die Geschichte einem frohen Gemüt bekannt wird, welches nicht an ihren Zweck denkt und die Deutung oder Nutzanwendung unbeachtet läßt, sondern nur durch die pittoreske Situation getroffen wird: ein König, der ausreitet, kommt an einen Kreuzweg und liest die merkwürdigen Inschriften. Hier ist der Phantasie eine Aufgabe gestellt: Weshalb reitet der König aus? Was bedeuten die vier Sätze? Wer schrieb sie an? Etwa die vier Ritter, welche die Burgen in den verschiedenen Richtungen bewohnen? Weshalb behandelt der eine die Fremden so, der andere so?
Die intellektuelle Tätigkeit, welche hier geleistet wird, ist sehr ähnlich der Tätigkeit der modernen Wissenschaften: es wird eine Erklärung für eine gegebene Tatsache gesucht, eine Theorie. Nur, daß erstens heute andere gegebene Tatsachen angenommen werden, und daß man sich zweitens nicht mit der bloßen Theorie begnügt, sondern in den Naturwissenschaften experimentelle, in der Geschichte Induktionsbeweise dazu verlangt. An einer solchen Geschichte, wie die eben erzählte, arbeitet die Verstandesphantasie heute nicht mehr, denn der erste Gedanke des Hörers ist heute: Kann die Geschichte überhaupt wahr sein? Wer erzählt sie? Welchen Zweck kann der Erzähler haben? – Kurz, heute wird sofort die Kritik wachgerufen, und die Gutgläubigkeit der alten Zeit fehlt.
Daß unsere Geschichte weitergebildet ist zu einem wirklichen Märchen oder zu einer Novelle, ist nicht nachzuweisen. Es ist möglich, daß sie in der unvollkommeneren Form stehengeblieben ist aus irgendwelchen Gründen. Immerhin kommen Anklänge an die Geschichte sehr häufig in der ritterlichen Dichtung bis auf die Prosaromane und Ariost vor.
Ich habe die Geschichte aus den Gesta gewählt, weil ihre Unbehilflichkeit ganz klar zeigt, daß wir es bei ihr mit einer auf Grundlage eines natürlich sich darbietenden Bildes aufgebauten Erfindung zu tun haben, welche lediglich praktisch-pastorale Zwecke verfolgt. Als Gegenstück will ich nun eine Geschichte aus einer alten indischen Sammlung erzählen, welche bereits künstlerisch so abgerundet ist, daß der Zweck der Erfindung nicht sofort klar wird. Es ist Pantschatantra Buch 2, Erzählung 4, nach Benfeys Übersetzung: «Was ein einziger Spruch wert ist».
Der Zweck des Erfinders war: deutlich zu Gemüt zu führen, was wir Fatalismus nennen; in der Sprache des Erzählers: «Was ihm bestimmt, wird auch zuteil dem Menschen; ein Gott sogar vermag das nicht zu hindern; drum klag' ich nicht, staune darum auch nimmer; denn das, was uns höret, gehöret nicht andern».
Aufgabe des Erfinders wird sein, durch seine Erzählung zu zeigen: Der Mensch denkt, das Fatum lenkt; in der wirksameren, zugespitzten Form: gerade die auf einen ganz andern Zweck gerichteten Veranstaltungen von Menschen werden vom Fatum für seine Absichten benutzt.
Zunächst hat der Erfinder aber eine Einleitung gedichtet, um den hohen Wert seines Satzes ganz anschaulich zu machen. Der Sohn eines Kaufmanns kauft ein Buch für hundert Rupien, das nur jenen einen Satz allein enthält. Also so wertvoll ist der Satz. Der Vater wird deshalb zum Kaufmann gemacht, damit man einen Mann von weltlicher Gemütsstimmung hat. Er verstößt seinen Sohn, weil dieser gezeigt habe, daß er nie Geld verdienen könne, wenn er so dumm sei, für einen einzigen solchen Satz hundert Rupien zu bezahlen. Dieser Vater wird also durch den Verlauf der Geschichte widerlegt werden müssen. Der Sohn geht in eine andere Stadt. Zweites Moment, den Wert des Satzes hervorzuheben: Er antwortet auf jede Frage nichts wie diesen Satz, so daß er den Namen bekommt Was-ihm-bestimmt. Eine offenbar dichterisch ungeschickte Erfindung, die aber geeignet ist, den Satz dem Zuhörer recht einzuprägen.
Hier ist die Einleitung zu Ende. Die Erzählung enthält in dreifacher, leicht abgewandelter Wiederholung, gleichfalls um den Satz des Fatalismus recht einzuprägen, wie ein Mädchen eine Zusammenkunft mit ihrem Geliebten verabredet, durch einen Zufall statt des Erwarteten der Held kommt und an die Stelle des Geliebten tritt. Erst hat die Königstochter für ihren Liebhaber einen Strick aus ihrem Fenster gehängt. Der zufällig vorbeigehende Was-ihm-bestimmt klettert an ihm hoch, wird in der Dunkelheit in das Bett der Prinzessin aufgenommen; nachher fragt ihn die Geliebte, weshalb er nicht spreche, und er sagt seinen Spruch: «Was ihm bestimmt, wird auch zuteil dem Menschen.» An der Sprache erkennt sie, daß er ein Fremder ist, und er klettert wieder zurück. Ermüdet legt er sich in einem Tempel schlafen; ein Mann, der hier ein Stelldichein hat, trifft ihn hier, und um den Störenden zu entfernen, bietet er ihm an, in seinem Hause zu nächtigen. Er geht dahin, verfehlt aber das Zimmer und kommt zu der Tochter des Mannes, die gleichfalls einen Liebhaber erwartete und ihn für den Ersehnten hält. Nachher dieselbe Frage, dieselbe Antwort wie vorhin. Inzwischen wird es Tag, er geht auf die Hauptstraße, schließt sich einem Hochzeitszug an, kommt zufällig neben die Braut zu stehen, ein wütender Elefant jagt die Gesellschaft in Schrecken, so daß alle entfliehen, er beruhigt den Elefanten, und die Braut erklärt den Zurückgekehrten, nie werde sie einen andern heiraten als ihren Retter. Die Sache verursacht einen großen Auflauf, und die Königstochter und das andere Mädchen befinden sich unter den Zuschauern. Der König erscheint und befiehlt dem Helden, seine Geschichte zu erzählen. Dieser sagt seinen Satz:
«Was ihm bestimmt, wird auch zuteil dem Menschen.»
Die Königstochter erkennt ihn und sagt den zweiten Vers:
«Ein Gott sogar vermag das nicht zu hindern.»
Das andere Mädchen fügt den dritten Vers hinzu:
«Drum klag' ich nicht, staune darum auch nimmer»,
und die Braut schließt:
«Denn das, was uns höret, gehöret nicht andern.»
Hierauf erhält denn Was-ihm-bestimmt die Königstochter und die beiden andern Mädchen als Frauen nebst der entsprechenden Mitgift.
Der erbauliche Zweck der Erfindung ist ebenso klar wie bei der ersten Geschichte; aber weil sie abgerundet ist, wirkt sie schon als wirkliche Geschichte, und der zu erhärtende Satz ist so anmutig hervorgehoben und durch die Erzählung verschlungen, daß das schon allein ein ästhetisches Vergnügen bereitet. Von der Wirkung auf fromme Gemüter mögen sich die Leser eine Vorstellung machen, wenn sie an die Predigten unseres Abraham a Santa Clara denken.
Wer einige Kenntnis der Märchen und Novellen hat, wird eine zahlreiche Nachkommenschaft dieser Geschichte kennen. Einer der reizendsten Abkömmlinge ist die Novelle II, 2 beim Boccaccio. Der Italiener ist nichts weniger als Fatalist, für ihn handelt es sich also lediglich um lustige Zufälle. Deren novellistischer Reiz würde durch die Häufung gleichförmiger Erlebnisse schwinden, deshalb hat er bloß ein einziges, und indem er dieses schalkhaft an die Verehrung eines Heiligen knüpft, gibt er ihm noch den besonderen Reiz, den viele seiner Novellen haben, für seine Zeit noch stärker hatten. Ein Kaufmann hat die Gewohnheit, auf seinen Reisen jeden Morgen zum heiligen Julian zu beten, daß der ihm ein gutes Nachtlager verschaffe; Räuber überfallen ihn und ziehen ihn, bei winterlicher Kälte, nackt aus; aber er kommt an ein Kastell und wird hier von einer liebenswürdigen Dame so freundlich aufgenommen wie sein indischer Vorgänger, und so zeigt sich denn der heilige Julian für die treue Verehrung dankbar.
Ein recht abenteuerliches Element in der indischen Erzählung ist das beständige Wiederholen des Spruches durch den Helden. An solche auffälligen Dinge knüpfen sich Weiterbildungen durch die Phantasie. Es stößt jemandem auf, wie ein solcher Mann ganz hilflos sein müßte, wenn er in eine gefährliche Situation kommen sollte, und nun erfindet er eine solche Situation. Da der Grund für das beständige Wiederholen des Satzes mit dessen Bedeutsamkeit bei andersgearteten Völkern verschwindet, so muß auch eine neue Ursache gefunden werden. Hier gibt es nun manche Märchen, die mehr oder weniger geschickt eine solche Ursache, einen solchen Satz und eine schwierige Situation kombinieren; das bei uns bekannteste ist das bei Grimm von den drei Handwerksburschen (Nr. 120). Es möge zum Schluß kurz erzählt werden: Der Teufel verlangt von den dreien, daß sie immer nur sagen sollen: der erste: «wir alle drei», der zweite: «um Geld», der dritte: «und das war recht», dann würde er ihnen so viel Geld geben, wie sie haben wollten. Ein Wirt ermordet einen reichen Kaufmann und verdächtigt die drei, die vor Gericht, indem sie nach der Reihe ihren Spruch sagen, einzugestehen scheinen. Wie sie hingerichtet werden sollen, kommt der Teufel verkleidet und erlaubt ihnen, daß sie die Wahrheit, die sie gesehen haben, erzählen; da entdecken sie die Schandtat des Wirtes, der nun hingerichtet wird und dem Teufel verfallen ist.
Auch diese Erzählung ist nicht besonders geschickt, zeigt aber gerade dadurch ihren Ursprung aus den Kombinationen über das gegebene Thema: Ein Mann spricht immer denselben Satz.
Je einleuchtender eine Erzählung ist, desto weniger gibt sie zu solchen Kombinationen und Erklärungen Anlaß, die ihrerseits wieder neue Ausgangspunkte für Geschichten werden. So erklärt sich zum Teil die merkwürdig erfinderische Phantasie jener oben geschilderten Zeiten. Heute werden Erfindungen von Geschichten nur noch von Dichtern gemacht, denen daran liegen muß, daß ihre Geschichten recht einleuchtend sind; und zugleich sind sie, der künstlerischen Absicht wegen, geschlossen. Regen sie stark an, so können sie deshalb nur Nachahmungen erzeugen, nicht Weiterbildungen und neue Kombinationen. Damals wurden die Geschichten erfunden von Moralisten für erbauliche Zwecke: nicht mit dem Ziel, einen Anschein der Wahrheit zu erwecken, sondern um einen moralischen Satz recht eindringlich zu machen, durch Übertreibungen, Unmöglichkeiten, Wiederholungen usf. Diese Geschichten wurden dann späterhin gutgläubig als wahr angenommen, und indem man Erklärungen, Motive und Konsequenzen ausdachte, wurde bei durchaus rationalistischer Absicht, die im Grunde nicht von der Absicht der modernen Wissenschaften verschieden ist, ein Werk der Phantasie geschaffen.
(1910)
Wer ohne vorgefaßte Meinungen die neuere Dichtung mit der mittelalterlichen vergleicht, der wird unter vielen Unterschieden besonders einen merkwürdig finden: je näher wir zur Gegenwart kommen, desto geringer wird die Zahl der Sujets und Motive – wir wollen sagen: Stoffe –, ja es scheint, als ob neue Stoffe gar nicht mehr gefunden würden und nur ein immer enger werdender Kreis von alten Stoffen neu behandelt werden könnte.
Mindestens wird man sehr lange nachdenken müssen, ehe man bei einem neueren Dichter einen Stoff findet, der ganz unserer Zeit angehört. Vielleicht könnte man sich sagen: das Finden oder vielmehr Erfinden neuer Stoffe war immer eine Seltenheit; im Lauf vieler Jahrtausende aber haben sich die Stoffe nun gehäuft; und was wollen die rund vierhundert Jahre der Neuzeit gegen diese langen Zeiten vorher bedeuten? Aber mit diesem Einwand ist jedenfalls die Verringerung des Stoffkreises nicht erklärt. An eine Menge Stoffe wagen sich heutige Künstler nicht mehr, weil man allgemein annimmt, sie halten vor der Kritik aus der Wirklichkeit nicht stand. Man kann förmliche Ablagerungen der Einwände gegen gewisse Arten von Stoffen beobachten. Periodisch kommen literarische Bestrebungen zur Macht, die sich als Rückkehr zur Natur vorstellen; eine jede solche Periode räumt unter anderem auch mit einer bestimmten Art von Stoffen auf, die man dann in den nachfolgenden Zeiten der sogenannten Stilkunst nicht wieder einzuführen wagt.
Der weitaus überwiegende Teil der noch heute verwendbaren Motive und Sujets stammt ganz bestimmt nicht aus der Wirklichkeit. Er ist oft uraltes Gut der Völker, auf rätselhafte und immer noch nicht genügend erklärte Weise bei den entferntesten und verschiedensten Völkern auftretend: entstanden durch Wandlungen der Sprache, indem eine spätere Zeit die Sprachlogik der Vergangenheit nicht mehr verstand und durch Erfindungen deutete; durch Wandlungen der Anschauungen über den Weltzusammenhang, über den Tod, die Seele, das Jenseits, Gott usw., indem man unverstandene Reste des früheren Glaubens rationalistisch deutete; durch Wandern der Stoffe zu anderen Völkern, durch Weitererzählen bei veränderten Zuständen des Volkes und mit Anpassen an das Neue. Der Vorgang ist im wesentlichen immer der: ein durch die Wirklichkeitserfahrung unlösbares Problem wird durch eine erfundene rationalisierende Geschichte gelöst. Im Fortgang der Zeiten stellen sich in dieser Geschichte wieder unlösbare Probleme heraus, und eine neue Erdichtung kommt wieder wirklichkeitsnäher; in der folgenden Zeit wird die Wirklichkeitskritik wieder schärfer, und eine neue Rationalisierung kommt: bis man zuletzt das Ganze als belanglos oder töricht überhaupt fallen läßt.
Etwa von alten Zeiten her ist eine Vorstellung, die für unerschütterlich gilt, daß Menschen Raben sind. Man sieht das heute nicht mehr, also war das nur früher. Was früher oft geschah, erscheint den Menschen in einer bestimmten Entwicklungsperiode als einmal geschehen. Es wurden einmal Menschen in Raben verwandelt und wurden dann wieder Menschen. Wie kam eine solche Verwandlung? Das ist auf verschiedene Weise möglich; unter anderem so: Ein Mensch, der die Macht hatte, wurde gereizt und sprach das Zauberwort aus. Hier, wo nun die Dichtung beginnt, macht sich das größere oder geringere Geschick des Dichters bemerkbar durch bessere oder schlechtere Motivierung. So heißt es in dem Grimmschen Märchen von den sieben Raben recht schwach, daß der Vater ungeduldig wird, weil die sieben Söhne nicht schnell genug von der Quelle zurückkommen. Wie kann die Entzauberung stattfinden? Da kommt fast immer in der Deutung etwas tief Geheimnisvolles heraus: durch Liebe und unerschrockene Güte eines Menschen. Hier sind offenbar nur Empfindungszusammenhänge, keine logische Erklärung; vielleicht wie Liebe, Aufopferung, Treue, Güte die anderen Manschen veredelt, auf die sie sich richtet, so kann sie auch aus dem Tier entzaubern – man verzeihe die unzutreffende Ausdrucksweise, es läßt sich nicht anders sagen. Solche Verwendung von Empfindungszusammenhängen als Erklärungen finden wir bei der weiteren Entwicklung immer seltener, auf ihnen ruht aber sehr viel, vielleicht das meiste, von dem poetischen Reiz alter Stoffe. Aber weiter. Eine spätere Zeit findet den Vorgang unglaubhaft, kann sich aber vorstellen, daß ein Mensch gezwungen ist, in dem Kleide eines Raben zu leben; er wird befreit, wenn man das Kleid ins Feuer wirft, sowie er es einmal ausgezogen hat. Auch das bildet sich weiter. Man erklärt: Nicht so war es, daß der betreffende Mensch ein Vogel war; er kam aus einem fernen Lande, niemand kannte seinen Ursprung, und er wurde von einem Vogel geführt, wie Lohengrin. Und endlich mag dann der Vogel nur noch sein Wappentier sein, und er ist etwa unehelichen Herkommens, wie so viele Helden der alten Ritterromane.
Man sieht, das Verschwinden derjenigen Stoffe, welche einen mythischen – das Wort ganz weit genommen – Ursprung haben, ist ein durchaus natürlicher Vorgang, der nicht erst in der Gegenwart vor sich geht. Nur: es entstehen aus mythischen Ursprüngen keine neuen Stoffe mehr. Nicht, daß den Menschen die Fähigkeit abhanden gekommen wäre; aber früher waren Dichtung, Wissenschaft und Religion eins, heute sind sie getrennt; und die entsprechende Kraft der Menschen äußert sich heute in der Wissenschaft als Theorie: eine grandiose Mythologie ist etwa die Darwinsche Theorie; eine immerhin interessante kommt bei den Rassetheorikern heraus; die verschiedenen Geschichtsauffassungen, ja die politischen Überzeugungen der Menschen sind solche Dichtungen von heute, welche der Literatur freilich verloren gehen.
Das ist nun die eine Seite der Sache. Aber man kann auch von einer anderen Stelle aus untersuchen. Jene Stoffe sind an sich nur Gedankenzusammenhänge und Vereinigungen von Vorstellungen und geben nur einen Teil des Rohmaterials für die Dichter her.
Unsere Volksmärchen sind derjenige Teil unserer älteren Dichtwerke, welcher von der gesamten Nation angenommen wurde, ihr also offenbar wesensgemäß war. Sie sind in jeder Hinsicht außerordentlich verschieden voneinander; außer den rein ästhetischen Eigenschaften, die sich aus der Technik der Erzählung ergeben, haben sie nur eins gemeinsam: den unerschütterlichen Glauben an eine sittliche Weltordnung. Ob in der «Wirklichkeit» eine sittliche Weltordnung herrscht, darüber sind bekanntlich seit Jahrtausenden die Meinungen geteilt: reichten unsere Quellen weiter, so würden wir den Gegensatz noch weiter zurück verfolgen können. Für die Dichtung ist dieser Streit der Weltbetrachter gleichgültig. Es gibt keinen törichteren Einwand als den, daß etwa die poetische Gerechtigkeit im Leben nicht vorkomme; eben weil sie jenseits des Lebens steht, heißt sie poetisch. Ich meine, eine vertiefte Einsicht in das gesellschaftliche Leben und die Zusammenhänge der Menschen und ein Vergessen des beschränkten Persönlichkeitsstandpunktes mit den Vorstellungen von der irdischen Gerechtigkeit her, diesem Widerspruch in sich, wird auch im Leben die göttliche Gerechtigkeit sehen; aber da man diese Einsicht nicht von allen Menschen verlangen kann, so genügt es, wenn man sich klarmacht: nicht auf die Darstellung dessen, was den Menschen umgibt, geht die Kunst als auf ihren Zweck, das ist ihr nur Mittel, sondern dessen, was der Mensch ersehnt; und am tiefsten ersehnt selbst der Unsittliche die sittliche Weltordnung.
Nun hat es Zeiten gegeben, wo man aus der Betrachtung der ethischen Probleme Stoffe schuf: entweder, indem man sich die ethischen Mächte und ihre Beziehungen symbolisierte, weil man noch nicht begrifflich dachte – so ist etwa Hiob entstanden – oder, was das häufigere war, indem man für ethische Probleme, mehr noch naturgemäß für untergeordnete moralische Lehren und Vorschriften Lehrbeispiele für Predigten ersann. Das bedeutendste Beispiel dieser Art sind die Geschichten, welche die Inder in den beiden ersten Jahrhunderten des Buddhismus erfunden haben; die Theorie, welche so ziemlich jeden Stoff auf diese Arbeiten zurückführt, ist ja gewiß nicht richtig; aber doch sehr viel von dem noch heute lebendigen Stoffschatz der Kulturvölker ist sicher damals geschaffen.
Wie sich alles differenziert, so verzichten schon lange auch Prediger und Seelsorger auf die halbpoetische Wirkung durch Geschichten und Erzählungen, besonders durch den Einfluß des Protestantismus. Noch in den Gesta Romanorum, die eine Art Geschichtensammlung für Prediger waren, kann man den Bildungsvorgang neuer Stoffe beobachten. Noch Abraham a Santa Clara wendete solche Geschichten an, wenn auch seine Zeit längst keine mehr erfand; aber in unseren Tagen ist seit langer Zeit wieder bewußt derartiges neu geschaffen, und zwar von einem Dichter: Leo Tolstoi.
Man mißversteht diesen großen Mann und großen Dichter bei uns vollständig, indem man ihn auffaßt wie einen Literaten, der vorzügliche Romane und Erzählungen geschrieben habe und merkwürdigerweise leider auch sehr törichte Ansichten über Politik, Gesellschaftsleben und Kunst äußere. Tolstoi ist ein schöpferischer Geist, der sich eine neue Welt nach seinem Ideal schafft, einem ethischen Ideal. Sobald das ethische Ideal mit der Wirklichkeit zusammenstößt, erscheint es stets als Torheit. Wenn der alte buddhistische König Asoka an den Grenzen seines Reiches Inschriften anbringen ließ, in denen er sich gegen den Krieg ausspricht, so ist das gewiß töricht, denn der Krieg gehört zum Wesen des Staates, denn das Wesen des Staates ist Macht. Aber in höherem Sinne ist es das Größte, was geschehen konnte, daß ein König, in dem der Staat sich verkörpert, den Krieg verneint: das heißt, daß unser irdisches Leben nur ein verächtliches Kompromiß ist. Tolstoi ist Ethiker, und als Ethiker ist er Dichter. In seiner früheren Periode, vor seiner «Bekehrung», suchte er seine ethischen Empfindungen aus der Detaildarstellung der genau beobachteten Wirklichkeit heraus zu bilden und machte sich über den Stoff, das Motiv und Sujet nicht mehr Gedanken als andere neue Romandichter und Erzähler. In einer Vorrede zu einer Sammlung von ihm neu erfundener Legenden spricht er aber dann darüber, wie er eingesehen habe, daß die heutigen Dichter immer nur die alten Stoffe wieder neu bearbeiten, ohne sich klar darüber zu sein, daß in einem bestimmten Stoffe schon ein großer Teil, unter Umständen der größte Teil der dichterischen Arbeit von den alten, längst verstorbenen Dichtern geleistet ist. Er gebraucht sehr harte Worte: hätte er schon die allerneueste deutsche Literatur gekannt, welche sich nicht scheut, die vollkommensten Meisterwerke der Weltliteratur als Rohstoff zu verwenden, so hätte er wohl noch härter gesprochen. Jedenfalls hat in diesen Legenden seit Jahrhunderten ein Dichter zum erstenmal bewußt neue Stoffe geschaffen, bewußt aus seinem auf gewisse Empfindungen gerichteten Willen. Diese Geschichten gehören zu den schönsten Werken des menschlichen Geistes und können Jahrtausende leben, nicht nur als Stoffe, sondern auch in der Form, welche ihnen Tolstoi gegeben hat. Ich will einen Inhalt erzählen, um klar zu machen, was ich meine. Ein gewisser Festtag wird von den Bauern sehr hoch gehalten; sie zünden ein Licht in ihrer Stube an und singen fromme Lieder. Ein hartherziger Verwalter zwingt die Bauern, an diesem Tage zu pflügen. Ein frommer Mann folgt dem Befehl ohne Murren; wie der Verwalter nach den Leuten sieht, findet er, daß der Mann eine Kerze auf den Pflug gesetzt hat und pflügend seine Lieder singt. Dem Verwalter gehen plötzlich seine Missetaten auf das Gewissen, und er stirbt. Der Griseldis-Stoff ist uns in der Fassung Boccaccios überliefert, trotz aller dichterischen Genialität des alten Novellisten bei weitem nicht so eindringlich und schön gestaltet wie diese Geschichte; dennoch gehört er zum dauernden Bestand der Dichtung; er ist – lange vor Boccaccio – als Ausdruck derselben ethischen Vorstellung gedichtet: von der unüberwindlichen Macht der Demut.
Hat man sein Auge geschärft für den Stoff, so sieht man, daß unbewußt neue Stoffe auch andere Dichter geschaffen haben, welche das Höchste der Dichtung erstreben: die Darstellung der sittlichen Welt, welche ein Kampf und ein Prozeß ist, durch die sinnlichen Mittel. So ist Dostojewskijs «Raskolnikow» ein neuer Stoff, den ein Dichter schuf, der den Kampf des menschlichen Stolzes mit dem göttlichen Gesetz darstellen wollte. Wie die Griechen in ihrem tragischen Zeitalter, wie die Juden zur Zeit des Hiobsdichters ringen wir heute um eine neue Ethik und eine neue Religion; so wird der Raskolnikow-Stoff, wenn wieder bedeutende Dichter kommen, wieder neu verwendet und neu dargestellt werden, vor allem von einem Tragiker. Die Stufenfolge der Geister kann man erkennen, wenn man an Ibsen denkt. Auch Ibsen hat sein Dichten so aufgefaßt wie Dostojewskij und Tolstoi; aber er kam nie zu der Höhe wie jene beiden; das Licht bei Tolstoi und das Beil bei Dostojewskij ist Wirklichkeit, und so haben die beiden einen neuen Stoff geschaffen; bei Ibsen geht die Wirklichkeit und die ethische Bedeutung der Wirklichkeit nebeneinander unverbunden her, so daß die Bedeutung sich oft zu einem selbständig lebenden Symbol entwickelt, das doch wieder der Wirklichkeitshandlung zu seiner Erklärung bedarf: er ist nur Moralist. Im tiefsten Grunde: er war Skeptiker und Analytiker, nicht Gläubiger und Schöpfer; Zuschauer und Darsteller, nicht Erleber.
Der Weg der Menschen geht zu immer größerer Klarheit, zu immer bewußterem Handeln, Denken und Empfinden. Eine Weile mag es scheinen, als ob das ein Weg zur seelischen Verarmung sei; aber wenn wir nur recht arbeiten, dann wird unser Geist das tausendfach geben, was früher die Natur gab: so geht es nicht nur im materiellen Leben, sondern auch im seelischen.
(1909)
Ein älterer Märchensammler, G. v. Hahn, dem wir die reizenden griechischen Volksmärchen verdanken, weist einmal auf die große Bedeutung hin, welche der Umstand, daß die Märchen in der Regel unter den Frauen und von Frauen an die Kinder erzählt werden, auf die Ausbildung des Märchens gehabt haben müsse. Der Gedanke ist meines Wissens von niemand weiterverfolgt; aber eine Untersuchung würde gewiß Interessantes ergeben; denn einerseits die ganze Weltanschauung des Märchens und seine Darstellungsweise im besonderen, andererseits die treue Überlieferung der vielhundertjährigen Geschichten erklärt sich am besten aus der weiblichen Seele. In Zeiten, wo man aus irgendwelchen Gründen ein gegenüber dem Bisherigen neues Interesse an diesen Erzählungen fand, haben sich dann auch Männer oder im Geist der Männer schreibende Frauen ihrer bemächtigt, um sie literarisch zu bearbeiten. Ihnen verdanken wir den größten Teil der sogenannten Kunstmärchen. Die Hauptvertreter dieser Erzählungsart sind einige deutsche Romantiker, unter denen Brentano als der Vorzüglichste erscheint, einige Franzosen des 17. Jahrhunderts, vor allem Perrault, dann aber auch die Gräfin d'Aulnois; und einige Italiener des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Macchiavelli hat in seiner klassischen Prosa das Märchen des verheirateten Teufels erzählt, Luigi Alamanni das von der gedemütigten Hochmütigen, andere Märchenstoffe finden sich bei vielen anderen Novellisten ins Novellenmäßige gewendet; eine größere Anzahl von ihnen hat Straparola in seinen Piacevole notte gegeben, und der Neapolitaner Basile hat in seiner heimatlichen Mundart eine Sammlung von fünfzig Märchen hinterlassen. Diese Pentamerone genannte Sammlung ist unzweifelhaft das bedeutendste Stück dieser Art; man muß es unter die vorzüglichsten Bücher der Weltliteratur rechnen. Über der zarten Empfindungspoesie der alten, aus dem gütigsten und liebevollsten weiblichen Gemüt geschaffenen Geschichten erhebt sich eine zweite männliche Poesie des tollsten Witzes und der übermütigsten Ironie; nicht so wie bei unseren Romantikern, besonders bei Tieck, daß dadurch die poetische Substanz in Nichts aufgelöst wird, sondern es wird etwas ganz Neues, in sich Geschlossenes und Abgerundetes geschaffen; ich möchte sagen: während bei dem echten Volksmärchen die märchenhafte Welt gelebt wird, wird sie hier gespielt, und an die Stelle der Poesie des Waldes und Feldes ist die Poesie der Kulisse und Versenkung getreten. Die irischen Volksmärchen, die ja auch zum großen Teil von Männern erzählt sein sollen, haben einen ähnlichen Charakter.
Ein Nachwort (1911)
Die Sammlung Tausendundeine Nacht besteht aus einer Rahmenerzählung, in welche eine Anzahl Geschichten eingefügt sind. Da diese Geschichten ein selbständiges Leben haben, so ergibt sich, daß Inhalt und Umfang des Buches im Lauf der Zeiten sich sehr verändern mußten. Die Rahmenerzählung selber ist ursprünglich indisch, ursprünglich indisch sind auch einige Geschichten. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß ein indisches Werk, welches die Geschichte von Schahriar und Schahrazad als Rahmen und die eine oder andere Geschichte indischen Ursprungs des jetzigen Bestandes enthielt, vielleicht auch Geschichten, die seitdem verschollen sind, in das Persische übersetzt wurde. Diese alten Übersetzungen waren Bearbeitungen, durch welche das fremde Werk nach Möglichkeit nationalisiert wurde. Vielleicht sind damals schon Erzählungen eingefügt worden, deren persischer Ursprung noch heute zu erkennen ist. Von dieser persischen Bearbeitung wissen wir aber ebensowenig wie von dem indischen Original.
Aus der Mitte und dem Ende des 10. Jahrhunderts sind uns zwei Nachrichten erhalten, die eine Übersetzung des Buches ins Arabische bezeugen. Welche Geschichten es damals enthielt, wissen wir gleichfalls nicht, da wir nur den Titel und die Rahmenerzählung erfahren. Das älteste Manuskript stammt aus dem 14. Jahrhundert. Es ist zufällig das, welches Galland benutzte, der als erster die Märchen in eine europäische Sprache übersetzte, nämlich ins Französische, von 1704 an. Das Manuskript enthielt damals vier Bände, deren letzter leider seitdem verloren gegangen ist. Durch Vergleich mit der Abschrift eines anderen Manuskriptes, das zwar jung ist, aber dieselbe Überlieferung zu haben scheint wie das Manuskript Gallands, hat man den Bestand des Werkes im 14. Jahrhundert festgestellt. In ihnen finden wir nun schon arabisches und vor allem ägyptisches Gut. Nehmen wir dazu, daß auch die Griechen haben beisteuern müssen, so finden wir recht verschiedenartige Ursprünge der Geschichten zusammen.
Unsere heutige Sammlung ruht auf einem ägyptischen Druck, der die poetische Darstellung etwa des 18. Jahrhunderts festhält; sie umfaßt außer dem alten Gut eine bunte Menge der verschiedensten Geschichten: gute, alte Erzählungen, Überarbeitungen von solchen und Neuzusammenstellungen von alten Motiven, Legenden, Liebesanekdoten, Diebsgeschichten, Schiffererzählungen und so fort.
Schon im alten Bestand ist auffällig, daß die Erzählungen auf den verschiedensten Stufen der Entwicklung stehen. Eine merkwürdige äußere Einheitlichkeit des Stils, vermutlich durch die Tatsache des mündlichen Vortrags verursacht, geht selbst durch die heutige Sammlung noch durch; aber die innere künstlerische Ausbildung der Erzählung, schon im alten Text so verschieden, ist bei den neu hinzugefügten Sachen noch verschiedener.
Man kann drei Stufen in der novellistischen Gestaltung unterscheiden. Erstens, das Motiv wird einfach erzählt, ohne daß der Erzähler an die Möglichkeiten denkt, es auszuschöpfen; etwa: ein Mensch verzaubert einen anderen Menschen in ein Tier. Zweitens, der Erzähler macht sich klar, was in dem Motiv steckt und holt nun das eine oder andere heraus; etwa: Ursache, weshalb der eine den andern verzaubert, Zustand des Verzauberten, Ursache der Entzauberung. Wenn der Erzähler alles herausholt, in klare, naturgemäße und einfache Verbindung bringt und dann das Ganze angemessen darstellt, so haben wir die Höhe der Kunst erreicht. Drittens, die Einfachheit genügt nicht mehr; die Darstellung wird überladen, die Ursachen gekünstelt; es findet die barocke Entartung statt. Am Ende kann man noch eine vierte Stufe annehmen, wenn nämlich das Bildungsniveau der Erzähler sinkt und sie die Zusammenhänge nicht mehr verstehen, dafür irgendeine Einzelheit besonders stark empfinden; es entstehen dann die Häufungen von Abenteuern, Wiederholungen und einzelnen Übertreibungen.
Wie hat man sich nun die Entstehung der Erzählungen zu denken?
Die Motive sind gegeben: entweder sind sie aus den fremden Literaturen herübergenommen oder aus alten Volksvorstellungen geschöpft, die sich überall finden, oder endlich – besonders bei den Liebesgeschichten und den Erzählungen von Taten der Großmacht – sie sind unbewußt idealisierende Anekdoten, die im Volk umlaufen. Wenn es nach dem Vorhergehenden scheint, daß eigentlich die Araber nicht viel an dem Werk getan haben, so muß man bedenken, daß das Erfinden von Motiven und das Dichten einer Erzählung aus einem vorhandenen Motiv zwei ganz verschiedene Dinge sind. Im ersten sind die Araber freilich nicht stark gewesen, dafür aber um so bedeutender im zweiten. Das erste aber ist durchaus keine an sich poetische Tätigkeit; Motive für Dichter entstehen und sind entstanden auf die verschiedenste Weise und fast stets ohne poetische Absicht; der Dichter und der Künstler treten erst in Tätigkeit, wenn ein Mann ein Motiv in sein Gemüt aufnimmt, es durchempfindet und durchdenkt, so daß aus dem trockenen Vorgang eine lebendige Geschichte wird; sich klarmacht, was nötig ist, um die Geschichte in sich abzurunden und durch sie das Motiv ganz auszuschöpfen; die handelnden Personen und die Lokalität sich so lebhaft vorstellt, bis er alles mit seinem geistigen Auge sieht und mit dem Kunstverstand sich überlegt, welche Züge er für seine Darstellung auswählt, um sie anschaulich und doch nicht mit Detail überladen zu machen; und endlich den Punkt ausdenkt, von dem aus die Erzählung begonnen werden muß, um zu interessieren. Geht man ohne Vorurteil für irgendwelche zufällige Modernisierung der Literatur an die Erzählungen von Tausendundeiner Nacht, so findet man, daß eine große Menge zu den vorzüglichsten Meisterwerken der Erzählungskunst gehört. Vom Standpunkt der reinen Kunst aus betrachtet, kann man von den modernen Literaturen ihnen nichts an die Seite stellen; das letzte, was ihnen ebenbürtig sein konnte, waren etwa die vorzüglichsten der alten italienischen Novellen.
Ausbildung einer guten Erzählungskunst hat den mündlichen Vortrag des Erzählers zur Voraussetzung. Ebenso wie das Drama entartet, wenn es von der Bühne ferngehalten wird und zum ästhetisch unberechtigten Buchdrama wird, so entartet die Erzählung durch Schrift und Druck. Durch das Vorhandensein des Theaters, das heute immerhin ausnahmsweise einmal ein Dichtwerk veranschaulicht, wird im Drama die Entartung immer wieder zurückgehalten; in der Erzählung aber sind wir schon längst so weit, daß die eigentliche Kunst der Erzählung gar nicht ohne weiteres verstanden wird und sicher nicht die Schätzung genießt, die sie verdient, ja, daß man aus unserem Wildwuchs die Maßstäbe für die eigentliche Erzählungskunst nimmt.
Wie der Schauspieler und Redner steht der Erzähler in einer ganz festen Beziehung zu den Zuhörern; es spinnt sich ein Band zwischen ihm und ihnen, das er ganz deutlich empfindet, vermittels dessen er die seelischen Bewegungen der Zuhörer leitet. Aus dieser Notwendigkeit des Bandes ergeben sich zuletzt alle künstlerischen Gesetze der Erzählung wie des Dramas, natürlich unter der Voraussetzung der dichterischen Begabung des Erzählers.
Man beachte etwa die fast typische Art, wie bei den guten Erzählungen unseres Buches eingeleitet wird: es wird eine sonderbare Tatsache oder Handlungsweise mitgeteilt, welche die Neugier erregt; deren Erklärung ist dann die Geschichte. Etwa ganz einfach und noch altertümlich: der Lastträger Sindbad erstaunt über den Reichtum des Seefahrers Sindbad, und dieser erzählt ihm nun, wie er durch seine Reisen zu dem Reichtum gekommen ist. Oder auf dem Höhepunkt klassischer Erzählungskunst: der Fischer Khalifah zieht in seinem Netz die traurigsten Dinge herauf statt der Fische, bis er die Affen fängt und durch sie die Erklärung seines bisherigen Mißgeschicks zugleich mit dem Anfang seines späteren Glücks erhält. Oder endlich schon etwas barock auf Effekt berechnet und locker gefügt: Harun al-Raschid lernt einen Jüngling kennen, der als Kalif verkleidet nachts auf dem Flusse fährt und ihm dann seine Geschichte erzählt, die freilich seine nächtlichen Fahrten nur mangelhaft erklärt. Wie ein Motiv ausgeschöpft wird, ist an der wunderschönen Geschichte von Aziz und Azizah zu studieren. Das Motiv ist: eine Liebende ist so hochherzig, dem Geliebten zu verhelfen, daß er eine andere, die er liebt, erlangt; es ist das wohl ein Motiv arabischen Ursprunges; es muß einmal eine dichterische Schule oder eine dichterisch geneigte Gesellschaft im alten Arabien gegeben haben, welche Probleme stellte und löste, ähnlich denen unserer mittelalterlichen Liebeshöfe; auf ein solches, zunächst wahrscheinlich recht spitzfindiges Problem geht vielleicht unser Motiv zurück. Was hat aber der Dichter daraus gemacht! Der Jüngling darf nicht unsympathisch wirken, er muß also ganz ahnungslos geschildert werden; er muß aber eine Strafe erhalten, deshalb wird noch ein drittes Weib eingeführt; die drei Frauen sind wundervoll gegeneinander abgesetzt: die erste rein und entsagend liebend, von solchem Edelmut, daß sie sogar ein gutes Wort hat, als er sie blutig schlägt; die zweite leidenschaftlich und stolz, voll tiefer Empfindung für die edle Liebe der ersten; die dritte gemein sinnlich; noch als sie schon längst tot ist, rettet die erste ihm das Leben; seine Bestrafung aber ist seinem Vergehen durchaus angemessen. Von welcher Poesie und Wahrheit ist die Art, wie die Liebende ihm hilft; wie schön ist es, daß er nach seiner Bestrafung erst zum Bewußtsein jener Liebe kommt! Da, wo die Verbindung der Geschichten noch in der guten Zeit erfolgt ist, zeigt auch sie oft die höchste Feinheit, wie hier, wo der unglückliche Held in die Geschichte von Tadsch al-Muluk hineinkommt, der durch seine bloße Erzählung sich in Dunja verliebt und sie gewinnt, indem er die Fabel, welche sie geträumt hat, weiterdichtet: hier ist der reine Vorgang in leichteste Poesie gewendet, und kontrastiert ähnlich anmutig, wie die Empfindung mit der Empfindung der andern Geschichte kontrastiert.
Man achte auch auf die große Kunst, mit der überall nur das Nötige gegeben ist. Die Geschichten sind wirkliche Geschichten, das heißt, sie enthalten im bloßen Vorgang schon die Erklärung, so daß etwa psychologische oder sonstige Erklärungen nie nötig sind und immer nur die großen menschlichen Typen dargestellt werden müssen. Was moderne Erzähler als ihre größere Differenziertheit preisen, ist im Grunde nur künstlerische Schwäche: es ist ihnen nicht gelungen, alles bereits in den Vorgang zu bringen, das heißt, bloß darzustellen, statt zu erklären und zu berichten. Da nun so bei den Figuren kein allzu charakterisierendes Detail nötig ist, welches sie in eine zu große Nähe zu dem Leser bringen würde, so kann der Dichter auch beim Schildern der Räumlichkeiten und Dinge idealisierend verfahren. Das Verschönern, das genau so sich bei Homer findet, ist ein dichterisches Kunstmittel; die naiven europäischen Leser pflegen ihre Vorstellungen von orientalischer Pracht aus diesen Schilderungen zu schöpfen: genau so wie die eingestreuten Verse dienen sie nur dazu, das Ganze im Reich des Poetischen zu halten.
Es gab bereits Prosaerzähler in den Zeiten vor Mohammed; in unserer Sammlung sind noch Spuren von ihren Werken zu finden; eine Vorstellung von der Art möge die Geschichte der Liebenden vom Stamme Usrah geben; sie entspricht dem, was oben die erste Stufe der Erzählung genannt ist. Durch die Eroberungen kamen die Araber mit einem Schlage in ganz neue Verhältnisse, aus der Armut der Wüste als Herren in den Reichtum und die Pracht der großen Städte und Reiche. Unter diesen neuen Verhältnissen, wo das Volk mit merkwürdiger Begabung sich die alten Kulturen aneignete und weiterbildete, wurde auch die Prosaerzählung weitergepflegt, zunächst in Damaskus unter den Omaijaden, dann in Bagdad unter den Abbasiden. Man kann sich vorstellen, daß dem Sprung aus dem Zelt des Beduinenhäuptlings an den Hof des Herrschers eines Weltreichs auch eine Veränderung in der Erzählungsart entsprach. In diesen Zeiten mag die klassische Erzählungskunst ausgebildet worden sein; man kann glauben, daß es damals so war, wie oft in Tausendundeiner Nacht erzählt wird: Harun al-Raschid, auf den sich im Laufe der Zeiten das meiste vereinigt hat, liegt schlaflos und fragt: «Welcher Dichter wartet draußen vor der Tür?» Der Dichter tritt ein und fragt: «Willst du eine Geschichte hören, die ich selbst erlebt habe oder die mir nur erzählt worden ist?» Natürlich gab es gewiß Erzähler auch an den Höfen der Unterfürsten. Bedeutend für unsere Sammlung wurde der Hof der Mameluckenfürsten in Kairo.
Die alten Erzähler, welche damals einzelnen Geschichten ihre Form gaben, erzählten also den gebildetsten und vornehmsten Personen ihrer Zeit; aus deren geistigem Bedürfnis ist unsere Sammlung zu erklären: sie enthält reine Kunstpoesie, bewußte dichterische Schöpfungen. Das schließt nicht aus, daß nicht auch das übrige Volk sich an diesen Geschichten erfreut hat und daß es schon damals öffentliche Geschichtenerzähler gab.
Dadurch, daß die schöpferischen Geister mit dem allgemeinen Sinken der Kultur abnahmen und das Anhören der Geschichten mehr auf das Volk überging, hat sich natürlich die Ausdrucksweise im Lauf der Zeit stark verändert. Zunächst wurde noch erzählt, später nur noch vorgelesen, erst aus Handschriften, nachher aus Drucken. Wie gesagt, ist unsere Tausendundeine Nacht das moderne ägyptische Buch, das den Bedürfnissen der Zuhörer in den Kaffeehäusern entspricht. Selbst in der Übersetzung wird man einen merkwürdigen Gegensatz zwischen vulgärer und poetischer Ausdrucksweise spüren; und wenn in manchen Geschichten gewöhnliche Ausdrücke auch durch die komische Absicht, den Wunsch, zu charakterisieren oder ein schlagendes Bild zu erhalten, der Gegensätze wegen und aus noch anderen Gründen nötig sind, so ist das doch nicht in dem Maße der Fall, wie wir es in unseren Geschichten sehen. Manche plumpen Worte, die oft an den Haaren herbeigezogene Ausmalung grobsinnlicher Momente waren sicher nicht in den alten Texten, sondern sind durch die Rücksichten auf das niedrigere Publikum hineingekommen. Die Orientalen haben ja andere Schicklichkeitsbegriffe wie wir, und für prüde Leute sind die Märchen sicher keine Lektüre; aber auch bei ihnen gibt es guten und schlechten Ton und Geschmack. Wenn einmal Ausgaben nach den alten Handschriften des 14. Jahrhunderts vorliegen, wird gewiß manches viel graziöser erscheinen, wie es heute ist.
Die entlegensten Völker sind von Forschern besucht, beobachtet und beschrieben, bis zu der untersten Stufe der Zivilisation, welche überhaupt möglich erscheint; unter Fremdartigem, Lächerlichem, Grausigem und Albernem ist dann immer das Allgemeinmenschliche zum Vorschein gekommen, die Leidenschaften und die Sittlichkeit. Wenn man aber viele Reisebeschreibungen und ethnologische Werke gelesen hat, dann erscheinen von allen Menschenarten immer die Neger als die allerfremdartigsten, als die dem eigentlich Menschlichen am wenigsten verwandten. Jemand hat einmal eine Theorie aufgestellt, daß alle übrigen Menschen zusammen einen gemeinsamen Ursprung haben und daß die Neger für sich allein entstanden sind, daß sie also keine direkte Verwandtschaft mit den andern Menschen haben; und an diese Theorie, die ja an sich nicht mehr und nicht weniger Wert haben mag wie andere Theorien, muß man denken, wenn man liest, wie eigentümlich die Negervölker in den Schilderungen von den übrigen Völkern verschieden erscheinen.
Eines der größten Verdienste von Leo Frobenius scheint mir zu sein, daß er es verstanden hat, uns die Negerseele verständlich zu machen, daß wir nun einsehen: auch die Negervölker sind ebensolche Menschen wie wir.
Es sind hier nicht abstrakte Gleichheitsideen gemeint, die in törichten Reichstagsreden bei Kolonialdebatten und in einfältigen Leitartikeln ausgedrückt werden; die Rassen und Völker sind verschieden, und die weltgeschichtliche Lage von heute, die nicht von Einzelnen und willkürlich geschaffen ist, sondern ein uns noch unverständliches Schicksal bedeutet, zwingt die europäischen Nationen zu einer Ausbreitung, welche zunächst offenbar auf Kosten niedrigerer Völker geht. Wir fügen diesen Völkern Unrecht zu, oft sogar dann, wenn wir ihnen wohltun wollen. Aber wenn wir das tun, dann gerade sollen wir uns klarmachen, daß auch diese niedrigeren Völker ebensolche Menschen sind wie wir selber, daß die Ungleichheit nur in den unwichtigen Dingen besteht, daß sie im Nichtigen uns gleich sind.
Frobenius scheint nicht als bloß zünftiger Gelehrter auf seine Reisen gegangen zu sein; vielleicht werden seine Schriften bei den eigentlichen Gelehrten sogar Bedenken erregen, wie das so oft bei selbständigen Leistungen vorkommt; er hat offenbar jenen Instinkt, der einen Teil der künstlerischen Natur ausmacht. So hat er denn den Punkt gefunden, von dem aus die bis dahin für uns stumme Negerseele sich uns mitteilen kann; er hat Dichtungen der Neger gesammelt.
Man hat bis jetzt von der Negerdichtung wenig gewußt; mir selber waren nur Tiermärchen bekannt, die bloß über Verstand und Phantasie etwas aussagten; nun erzählt aber Frobenius Geschichten nach, welche ein so hoch und so sein entwickeltes Empfindungsleben beweisen, wie es nur je Menschen gehabt haben. Es ist dabei gleichgültig, ob die Geschichten sämtlich unter diesen Völkern entstanden sind: jedenfalls leben sie unter ihnen, und zwar durch Weitererzählen, also müssen doch diese Empfindungen verstanden werden.
Eine solche Geschichte lautet: Ein Mann hat zwei legitime und einen illegitimen Sohn, die er in die Fremde schickt. Die Mutter der beiden älteren Söhne sagt ihnen zum Abschied: «Einer von euch wird später der Erbe eures Vaters; streitet euch nicht darum, sondern lernt euch frühzeitig vertragen. Kommt mit schönen Mädchen aus den andern Ländern zurück, damit die Leute euch gleich als die Söhne angesehener Eltern erkennen.» Die Mutter des illegitimen Sohnes sagt: «Die Söhne der Beischläferin sollen klüger sein als die der Ehefrau. Sei du aber nicht nur klug, sondern handle vor allen Dingen ehrenhaft. Es ist besser, ehrenhaft zu unterliegen, als aus Klugheit der Schande gegenüber blind zu sein. Geh, mein Sohn, und denke stets an die Liebe deiner Eltern.» Die älteren Brüder kommen in eine Stadt, wo ein Mädchen mit Namen Fatma wohnt; diese spielt mit allen Männern ein Brettspiel und setzt ihren ganzen Besitz gegen den ganzen Besitz der Männer, und immer verlieren die Männer. Die beiden Brüder spielen auch; sie fragt jeden vorher: «Spielst du meinetwegen oder des Geldes wegen?» Jeder Bruder antwortet: ‹Deinetwegen›, und dann verlieren sie gleichfalls; sie sind gezwungen, niedere Dienste in der Stadt für ihren Unterhalt zu tun. Der jüngere Bruder hat inzwischen sein Geld verständig vermehrt, kommt gleichfalls in die Stadt, spielt gleichfalls mit Fatma, nachdem er eine Vorsichtsmaßregel ergriffen hat; als sie ihn fragt, erwidert er: «Du hast selbst deinen Besitz gegen meinen Besitz gesetzt, wir spielen also um Geld.» Er gewinnt, und sie fordert ihn auf, noch einmal zu spielen, indem sie sich selber einsetzt; er antwortet: «Erst habe ich um Geld gespielt, wollen wir nun um uns selbst spielen?» Da wirft sie sich in seine Arme und ruft: «Nein, wir wollen nicht um uns spielen, nimm mich als deine Gattin.» Es folgt dann die bekannte Geschichte von den undankbaren Brüdern, welche den guten und klugen Jüngsten, der ihnen geholfen, ins Unglück stoßen, ihm das Mädchen abnehmen, bis endlich auf märchenhafte Weise der Jüngste doch wieder zu allem kommt, was sie ihm geraubt haben; Fatma sagt: «Klugheit und Güte haben ihm zu seinem Glück geholfen, das seine Brüder von Anfang an verspielten.»
Von allen Fassungen der bekannten Geschichte, die mir vorgekommen sind, ist diese die schönste und edelste; und eine solche Noblesse der Empfindung zeigt sich in einer Geschichte, die sich Neger erzählen: in nur wie kleinen Kreisen der heutigen Kulturvölker würde man die Geschichte in dieser Fassung berichten; man denke an die heute einflußreiche Dichtung und frage sich, wie tief eigentlich deren Empfindung unter dieser Empfindung steht! Der Vergleich ist ja überall da sehr leicht zu machen, wo moderne Dichter Stoffe behandelt haben, die schon von alten Dichtern behandelt sind.
Wenn eine so hochstehende Dichtung unter diesen Völkern heimisch ist, so wäre schon von vornherein anzunehmen, daß die Ansicht von Frobenius sich bewahrheiten müßte, daß diese Völker nicht, wie man gewöhnlich annimmt, geschichtslos gelebt haben. Nun hat Frobenius auch wirklich Zeugnisse für eine merkwürdige Geschichte dieser Völker entdeckt.
Hier muß man bei Frobenius wie bei jedem solcher Entdecker natürlich unterscheiden zwischen den objektiven Tatsachen, welche er zu unserer Kenntnis bringt, und seinen wissenschaftlichen Deutungsversuchen dieser Tatsachen. Daß die letzteren bestreitbar sein werden, ist wohl selbstverständlich; wer Neues entdeckt, ist ein Mann von besonderer Kraft der Phantasie, von Energie, Selbständigkeit, Aufopferungskraft und ähnlichen Eigenschaften; eine sehr große kritische Begabung aber braucht er nicht, ja, kann er nicht brauchen. Man soll nicht die verschiedenen menschlichen Typen verwechseln. Wer erinnert sich nicht des Hohns, mit welchem seiner Zeit Schliemann von den Gelehrten überschüttet wurde, weil er Homer für einen historischen Quellenschriftsteller hielt: und doch war der Dilettant Schliemann genial, die Gelehrten sagten nur, was eben jeder Gelehrte sagen kann, und der Arbeit des Dilettanten Schliemann verdanken wir heute eine Kenntnis der griechischen Geschichte, von der sich vorher kein Gelehrter etwas träumen ließ. Der ganze Irrtum Schliemanns hatte darin bestanden, daß Homer nicht eine Quelle für Tatsachen sein kann, sondern, was viel wichtiger ist, für eine Kulturperiode; daß Homer eine vor der damals bekannten Zeit liegende Zeit voraussetzte, hatte Schliemann eben gemerkt und die Gelehrten nicht. Man muß die Entdeckungen von Frobenius ähnlich betrachten wie die Schliemanns: ob seine Erklärungen richtig sind oder nicht, das zu erkunden wird Sache der weiteren gelehrten Nachforschung sein; sollten sie sich, was niemand jetzt wissen kann, als unrichtig erweisen, so hüte man sich, in den gewöhnlichen Fehler zu verfallen und zu vergessen, daß das Entdecken doch immerhin das erste sein muß, und daß die Entdeckungen von Frobenius doch jedenfalls gemacht sind ...
In einer Sammlung von Geschichten heißt es einmal: «Verfallt nicht in den schlimmen Fehler der Dummen, daß sie die Klugen hassen und unterdrücken wollen.» An einer andern Stelle singt eine Mutter, der man gesagt hat, ihr Sohn sei gestorben: «Mein Sohn wird kommen, ich weiß es. Mein Sohn ist nicht gestorben, ich weiß es. Es wird viel gesprochen zwischen Himmel und Erde, eine Mutter aber hört die Stimme ihres Kindes über die Wüste und durch die Nacht.» Einmal wird von einem Helden erzählt, der einen Riesen besiegt hat. Der Riese sagt: «Mein Held, ich war ein schlechter Mann, weil ich als Sklave geboren war, aber keinen fand, der stärker war, als ich bin. Nun du mich überwunden hast, bitte ich dich um mein Leben und bitte dich, mich in deinem Dienst zu verwenden. Du kannst mir glauben, daß du keinen Mann finden kannst, der treuer an dir hängt als ich.»
Diese drei Züge, die hier berichtet sind, sind Dichtungen entnommen, welche ursprünglich von großen Dichtern herrühren müssen, von Dichtern, welche die Herzen der Menschen kannten und mit Weisheit urteilten, die auch nicht in einem rohen Volk gelebt haben können, denn nur in Zeiten höchster Kultur kann ein Satz gefunden werden wie der erste, kann sich Natur ausdrücken wie im zweiten Satz, kann ein Dichter eine sittliche Aufgabe stellen wie im dritten. Die drei Sätze könnten aus der Zeit des homerischen Epos stammen oder aus der Zeit von Alkman und Sappho, oder aus der Zeit des Äschylus und Sophokles, wenn man ihre dichterische Bedeutung betrachtet; will man geschichtlich einordnen, so müßte man wohl an die homerische Zeit denken, an ein Mittelalter eines hochgesinnten und dichterisch wunderbar begabten Volkes.
Die Geschichten, denen die Sätze entnommen sind, wurden dem Forschungsreisenden Leo Frobenius in Kordofan erzählt von nackten Negern. Sie stimmen zum Teil inhaltlich mit bekannten orientalischen Märchen überein, wie sie uns in der Fassung von schreibenden Dichtern in Tausendundeiner Nacht erhalten sind, zum Teil sind sie inhaltlich neu. Die Geschichten von Tausendundeiner Nacht sind in arabischer Sprache und mit arabischer Darstellungskunst erzählt. Aber sie sind nicht von Arabern zuerst erdacht, sondern stammen aus aller Welt. Zu den bekannten Quellen hat Frobenius eine neue entdeckt: in den dichterischen Überlieferungen von Nubiervölkern. Gewiß haben die Araber manche Geschichte auch den Nubiern gebracht, aber wenn man aufmerksam lauscht, so wird man bei einer Reihe von Geschichten eine Gemeinsamkeit des letzten Erlebens finden, durch welches sie sich von den andern sondern; nach dem, was Frobenius von den alten Zuständen der Nubier erzählt, müssen sie in diesem Volk ursprünglich gedichtet sein: und wenn wir durch unendliche Überlieferung eine solche Geschichte erhalten, dann ist sie dichterisch tiefer und wahrer als die spielenden, geistreichen arabischen Fassungen; wir spüren das leidenschaftliche Erleben, das bei dem fremden Volk denn als wunderliche, sonderbare, merkwürdige Begebenheit erscheint, wie ein Gegenstand der Anbetung, ein Götterbild in einem europäischen Museum.
Vor einigen Jahren wurde die Negerplastik Mode. Es lief da viel Lächerlichkeit mit unter; aber der Mode lag doch ein richtiges Gefühl zugrunde: daß diese Plastik eben wirkliche Plastik war. Im 18. Jahrhundert hatte man die Anschauung, daß die Menschen von einer früheren Kulturhöhe herabgeglitten seien. Dieser Anschauung begegnet man heute nicht mehr; sie ist aber unbedingt richtig für manche Gebiete, so für das nubische, und es wäre wohl zu denken, daß der Stoff, den die Negerkünstler verwenden, keine lange Haltbarkeit ihrer Werke ermöglicht, daß sie deshalb immer neu wieder geschnitzt werden müssen mit den ständig sinkenden Fähigkeiten, daß aber trotzdem sich der allgemeine Geist der Kunst, welcher von der Fähigkeit der Bildner unabhängig ist, erhalten hat, wie das bei uns in der sogenannten Volkskunst auch der Fall zu sein pflegt. So müßte man diese Geschichten auch auffassen. Nur hat man hier den Vorteil, daß bei der wunderbaren Gedächtnistreue solcher Völker tausendjährige Erzählungen sich ohne Entstellung gehalten haben können.
Die europäischen Völker unterliegen heute einer rasch fortschreitenden Barbarisierung, die sich im Verfall der Sprachen, im Verfall des Denkens (Assoziation eintretend für den logischen Schluß, emotionale Elemente an Stelle von Begründungen), im Verfall des künstlerischen Formgefühls und in zunehmender Irreligiosität zeigt. Die Erscheinung eines Volkes, das einmal eine sehr hohe Kulturstufe eingenommen haben muß und heute völlig leer ist, dürfte uns zu denken geben und einmal die Frage stellen lassen: was kann denn von unserer Kultur für spätere Zeiten übrigbleiben?
Das Buch ist für den, der es zu lesen versteht, ein ganz wunderbares Werk. Ich weiß, daß Frobenius von Seiten der Fachgelehrten vielen Anfechtungen ausgesetzt ist, und ich nehme an, daß die Fachgelehrten im Recht sind. Aber Frobenius ist noch mehr im Recht, auch wenn alle seine Behauptungen sich als falsch erweisen sollten; er hat eine geschichtliche Welt zum Vorschein gebracht, von der früher niemand etwas ahnte.
Es ist längst bei den Völkerkundigen ein Brauch von sogenannten primitiven Völkern bekannt, daß der König gewählt wird, eine bestimmte Reihe von Jahren herrscht und dann geopfert wird, um im Jenseits für Regen und Fruchtbarkeit des Landes zu sorgen. Wir haben aus dem Altertum sagenhafte Berichte von solchen Völkern, und heutige Reisende haben diese Berichte als wahr bezeugt. Wie, wenn ein Volk mit Vorstellungen solcher Art zu einer Kulturblüte kommt? Wir müssen uns klarmachen, was das bedeuten kann: Etwas, das dem mittelalterlichen Christentum ähnlich ist, nur viel stärker dadurch, daß der Messias nicht vor langer Zeit einmal gestorben ist, sondern noch heute lebt und morgen sterben wird, daß nicht ein Glauben an ein Ereignis in geschichtlicher Vergangenheit verlangt wird, sondern ein regelmäßiger Vorgang angeschaut werden kann, der durch die Verbundenheit der Beteiligten mit dem gesamten Volksleben den tiefsten Eindruck auf das ganze Volk und die Form seines Daseins machen muß. Kultur ist immer Ergebnis der Religion, wie innerlich muß eine Kultur sein, welche den Opfertod des Königs als ständige Einrichtung hat, welche nicht durch Symbol und Mythus wirkt, sondern durch die Wirklichkeit!
Wir müssen uns nur von der Verknüpfung unserer Vorstellungen von Kultur mit den zivilisatorischen Errungenschaften freimachen. Auch Barbaren können die Elektrizität gebrauchen und in der Luft schiffen; aber nur der Gebildete hat tiefe Gefühle und hohe Gedanken. Auch die Wissenschaft steht heute unter dem Bann der wirtschaftlichen Auffassung. Aber nicht der Mann der Wirtschaft hat zu entscheiden, ob ein Volk Kultur hat oder nicht, sondern der Dichter und Priester.
Frobenius gibt eine Rahmenerzählung zu seinen Märchen, die ein großes dichterisches Bild aufrollt vom Untergang dieser Kultur. Der Erzähler ist ein alter Kupferschmied aus Dar-fur. Vielleicht ist seine Überlieferung nicht ganz zuverlässig; vielleicht hat Frobenius hier und da stückeln und ergänzen müssen oder, noch wahrscheinlicher, haben die ursprünglichen Worte eine andere Bedeutung gehabt als die, welche der Erzähler und gar der deutsche Aufzeichner ausdrücken konnten. Dadurch kommt etwas Modernes in die Geschichte, daß es aussehen könnte, als ob ein Mann, welcher die dichterische Ausdrucksweise dieser Menschen beherrscht, nun aus heutigem Gefühl die Geschichte zusammensetzt. Ich habe aber den bestimmten Eindruck, daß das eine Täuschung ist. Man kann in solchen Fällen nie die wissenschaftliche Genauigkeit verlangen, die man bei schriftlicher Überlieferung beansprucht, und selbst absichtliche Täuschungen von Märchenerzählern können doch echte Überlieferung ergeben, da der Täuschende ja eben im Bann seiner Überlieferung steht.
Der König wird gewählt und regiert eine bestimmte Reihe von Jahren bis zu seinem Opfertod, die Priester beobachten jeden Abend die Sterne und bringen Opfer, sonst wissen sie nicht, wann nach der Vorschrift der König getötet werden muß. Ein König Akaf wird gewählt. Er hat eine Schwester Sali, welche als Priesterin ein Feuer hütet, keusch bleiben muß und gleichfalls geopfert werden muß. Akaf wählt als Freund für sein Leben und Genossen seines Todes einen Märchenerzähler Far-li-mas. Far-li-mas erzählt so wunderbar, daß die Gäste alles vergessen und wie von einer Ohnmacht umfangen werden. Auch Sali hört ihn, die beiden entbrennen in Liebe zueinander und sind die einzig Wachen, indessen die andern durch die Kunst des Erzählers in Schlaf versenkt sind. Sali bestimmt die Priester, zu hören. Auch sie werden bezaubert und vergessen ihre Sterne zu beobachten; nun können sie nicht mehr die Zeit des Opfers angeben. Sie verlangen, daß Far-li-mas getötet wird, weil er die Ordnung zerreißt. Gott soll darüber vor allem Volk entscheiden. Das Volk versammelt sich, Far-li-mas erzählt die ganze Nacht durch, und am Morgen sieht das Volk die Priester tot am Boden liegen. Nun wurde das alte Gesetz abgeschafft und kein König mehr getötet. Das Reich erhob sich unter Akaf und Far-li-mas, der ihm folgte, zu seinem höchsten Glück; aber dann kamen die Feinde und vernichteten es.
Es ist nur ein dürftiger Bericht, den ich geben kann, alles Dichterische der Ausführung fehlt. Aber schon aus dem Bericht geht die hohe dichterische Auffassung hervor; die Zerstörung der alten Befangenheit und frommen Ordnung durch den Lebenswillen der Einzelnen und die berauschende Wirkung der Dichtung; die Freiheit und Blüte, welche folgt, und die Vernichtung, welche die notwendige Folge von Freiheit und äußerem Glück ist; der große geschichtliche Vorgang ist in eine ewige Form gefaßt, daß ein Kind ihn aufnehmen kann.
Wir stehen in einer Wende der Welt. Solche Weltwenden kündigen sich im Bewußtsein der Menschen viel früher an, als die Wirklichkeit eintritt. Es ist sehr merkwürdig, wie in den letzten Jahrzehnten in unserm Bewußtsein Europa seinen früheren Charakter als Mittelpunkt der Kultur und der Geschichte verloren hat; vor allem zeigt sich das in der Kunstbetrachtung; wie lange ist es noch her, daß selbst die ägyptische Kunst nur als bloße Wunderlichkeit galt! Heute sind wir schon so weit, daß wir selbst chinesische Malerei mit tiefem Eindruck auffassen können, die doch auf ganz andern Voraussetzungen ruht wie die unserige. Es wird auch noch geschehen, daß wir indische oder chinesische Musik in uns aufnehmen. Sollte das eine Vorbereitung sein auf eine neue Ordnung in der Welt, in welcher nun nicht mehr der Europäer der Herr wäre, sondern alle Völker mit gleichem Recht nebeneinander stehen?
(1912)
Die historische oder quasi-historische Persönlichkeit Hodscha Nasreddin Die Eulenspiegelfigur der Türken (Anm. des Herausgebers) , auf deren Namen Schwänke und Schnurren gesammelt sind, soll eine Art Spaßmacher des Eroberers Tamerlan gewesen sein. Diez schrieb seinerzeit über ihn an Goethe, er sei «nicht sowohl ein witziger Kopf, als ein ziemlich platter und unsauberer Schwänkemacher gewesen», und drückt damit wohl das allgemeine Urteil des durchschnittlichen Gebildeten aus, der nicht seine zufälligen persönlichen Vorstellungen verlassen kann. Der nachdenklichere Goethe antwortete: «Die Stellung solcher Lustigmacher an Höfen bleibt immer dieselbe, nur das Jahrhundert und die Landschaft machen Abstufungen und Schattierungen, und so ist denn dieser sehr merkwürdig, weil er den ungeheuren Mann begleitet, der in der Welt so viel Unheil angerichtet hat, und den man hier in seinem engen und vertrautesten Zirkel sieht.» Mag es sich mit dem Historischen verhalten, wie es will: das ist jedenfalls höchst merkwürdig, daß doch die Vorstellung herrscht, der Welteroberer habe sich an dem kindlichen und ganz volkstümlichen Spaßmacher vergnügt – ein Welteroberer, der für sich selber und seine Werkzeuge die bedeutendsten Qualitäten gehabt haben muß; man sieht da einen ganz engen geistigen Zusammenhang der Höchsten einer Nation mit den Niedrigsten, den die meisten Menschen von heute in unserer Differenzierung sich gar nicht mehr vorstellen können. Ich selber habe meine Jugend noch in einer Gegend erlebt, wo ein altes Volkstum lebendig war, und habe dort sogar einige der Schwänke gehört (derartige Erzählungen sind ja immer international), und ich kann mir jenen Zusammenhang doch wenigstens in der Phantasie klarmachen: aber das ist Ergebnis eines bloßen Zufalls. In dieser Differenzierung wird wohl die tiefste Schwäche unserer Kultur und der eigentliche Grund ihrer Unfruchtbarkeit liegen. – Die Schwänke und Schnurren sind in der primitiven Gestalt, in welcher sie vorliegen, scheinbar nicht besonders hervorragende Leistungen des Menschenwitzes; sieht man aber genauer zu, so findet man fast in jedem einen glücklichen Griff, Natur und die Möglichkeit zu einem bedeutsamen künstlerischen Gebilde; nur wenige Einfälle haben irgendwo jemand gefunden, der ein solches aus ihnen gemacht hat; aber das gehört denn auch zu dem Besten, was wir in der Art besitzen.