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(1921)
Einige Jahre vor dem Kriege wurde Holbergs «Politischer Kannegießer» einmal in Berlin aufgeführt. Das heutige Publikum ist ja von seinem Theater nicht gerade verwöhnt: was ihm als Dichtung vorgesetzt wird, ist dumm, und was es als sogenannte Publikumskost erhält, das ist fast ebenso dumm. Es wußte nicht, daß Holberg ein großer Dichter ist und merkte es auch natürlich nicht, aber es vergnügte sich doch und ging fast so gern in die Aufführungen, als ob das Stück von Hauptmann oder Sudermann gewesen wäre.
Auch die Berliner Rezensenten wußten nichts von Holberg, oder wenn sie vielleicht jemals den Namen gehört hatten, so ging sie das doch nichts an: sie «verrissen» das Stück. Sie fanden, daß wir doch heute weiter sind, wie Holbergs «Zeit» – man war ja vor dem Krieg allgemein überzeugt, daß wir es herrlich weit gebracht haben – und daß die Komik, die darin besteht, daß ein Dummkopf von Dingen schwatzt, von denen er keine Ahnung hat, längst «überwunden» ist: sie fanden eben, daß der Kannegießer seine Politik verstand und daß Holberg das nur nicht gemerkt hatte.
Sie hatten wohl nicht recht, aber sie drückten den Instinkt ihrer Zeit aus: die Folgezeit hat die Kannegießer unter allgemeinem Beifall tatsächlich an der politischen Arbeit gesehen.
Holberg ist ein großer Dichter, das heißt, er gehört keiner Zeit an, seine «Zeit» hat es überhaupt nie gegeben. Daß die Herrscher damals klüger waren als die Männer, welche heute die Geschicke der Welt lenken, mag nicht ganz unumstößlich zu beweisen sein: aber das hat mit seinem dichterischen Weltbild nichts zu tun. Dieses dichterische Weltbild ist von jeder Zeit unabhängig.
Man sagt, daß die Dichter ihr Volk bilden. Holberg ist der Klassiker des dänischen Volkes. Noch heute führt man ihn allgemein auf, und es liest ihn nicht nur jeder, sondern viele Tausende in dem kleinen Lande hören ihn auch von der Bühne. Nach der herkömmlichen Formulierung ist Holberg ein aristokratischer Dichter, er fühlt die Gesellschaft nämlich als einen Organismus. Das dänische Volk aber ist in der Atomisierung der Gesellschaft wohl am weitesten von allen heutigen Völkern gegangen, indem es mit dem Liberalismus eine egoistisch-pietistische Religiosität verband, also die beiden auflösenden Elemente der Neuzeit vereinigte. Es lernte also nichts von seinen Klassikern.
Will man Holberg verstehen, so muß man selber ein organisch fühlender Mensch sein: und das ist freilich der Unterschied seiner Zeit von der unsrigen: damals gab es mehr Menschen als heute, welche organisch fühlten. Diese haben damals seinen Ruhm begründet; heute würde er nicht mehr zu Ansehen gelangen, er würde sich gar nicht entwickeln können.
Ein Trost für die Zukunft, daß nicht alle schöpferischen Kräfte ausgestorben sind, mag es sein, daß in Dänemark soeben ein Buch erschienen ist, das Holberg als Dichter versteht und darstellt. Harald Nielsen: Holberg i Nutidslulysning. Kopenhagen, Ascherong & Co.
Der Verfasser steht in seinem Vaterland freilich gänzlich allein. Aber der Alleinstehende ist der Lehrer des nächsten, spätestens des übernächsten Geschlechtes: er wird das Geschlecht erziehen, das aufbauen muß, nachdem die heutige Zerstörung an ihr natürliches Ende gekommen ist, daß nämlich nichts mehr zu zerstören übrigbleibt.
Die Schrift ist mehr soziologisch-politisch als ästhetisch. Mit Recht. Große Dichtung ist eine Wirklichkeit und soll als solche untersucht werden; so haben alle guten und starken Zeiten gefühlt; nur die Künstler selber mögen als Handwerker sich über Voraussetzungen und Mittel ihrer Kunst klarwerden: der Kritiker hat das Kunstwerk als solches anzunehmen, wie der Naturkundige einen Naturgegenstand annimmt; er soll mit dem diskursiven Verstand darlegen, was der Künstler anschaulich gestaltet hat: und soll so das Kunstwerk in unsere bürgerliche Welt einordnen.
Der Verfasser geht von dem Lustspiel Jeppe vom Berge aus. Dieses Stück hat denselben Stoff wie der Rahmen von der Widerspenstigen Zähmung: ein besoffener Bauer wird zum Spaß für einen vornehmen Herrn als Herr behandelt und entwickelt als Herr denn nun die Züge, welche vernünftigerweise zu erwarten sind, die paradigmatisch gelten können für alle Zustände, wo die untersten Schichten des Volkes die Führung an sich reißen. Nochmals sei es betont gegenüber dem oberflächlichen Geschwätz: ein wirklicher Dichter ist zeitlos. Er kämpft nicht für «Aristokratie» oder gegen «Demokratie», sondern er schafft eine Welt, in welcher alle Verhältnisse richtig sind. Das ist die Aufgabe der Kunst: in dieser Welt, in welcher alle Verhältnisse falsch sind, eine Welt zu schaffen, in der alle Verhältnisse richtig sind. So kann er jeder Zeit den Spiegel vorhalten. Die Welt des Dichters zu verstehen und auf begriffliche Weise den Menschen sein Verständnis mitzuteilen, das ist die Aufgabe des Kritikers.
Der Dichter ist der einzige Mensch, der nicht werten darf: er muß wie Gott seine Sonne scheinen lassen über Gerechte und Ungerechte. In der menschlichen Gesellschaft, welche die Dichtung Gottes ist, aufgeführt von den Menschen als Schauspielern, ist Gut und Böse vorhanden, Klug und Dumm, Auflösung und Aufbau, und alles ist nötig. Ist der Baron, welcher den betrunkenen Bauern in sein Bett legen läßt, viel mehr wert als dieser? Schwerlich. Nur: er ist in diesem Lustspiel die Nebenfigur, Jeppe ist die Hauptfigur, Jeppe ist deshalb vom Dichter mit Liebe dargestellt, und der Baron ist nur ein sprechender Statist. Die Welt Holbergs aber ist eine Welt, in der ein Baron sich nun eben einen Spaß mit einem besoffenen Bauern macht.
Holbergs Weltbild ist nicht das höchste dichterische Weltbild. Es entspricht den Möglichkeiten seines Volksstammes und dessen geistigem Stand. Die Aufgaben, welche in ihm den Menschen gestellt sind, bewegen sich wesentlich auf der Ebene verständiger bürgerlicher Tüchtigkeit, nüchternen Weltsinns und sittlicher Einordnung in das Gesellschaftsganze. Die Frage nach den Beziehungen zum Jenseits wird nie gestellt, es wird eine bürgerlich regelnde Religionsmacht angenommen. So mag er für einen soziologisch betrachtenden Kritiker sehr vorteilhaft sein: es fehlt ihm jede Spur von Unvernunft und Zerstörungstrieb, die aus dem Jenseitigen stets in das Diesseits kommen muß, wenn ein Dichter sich mit dem Jenseits verbunden fühlt. Man vergleiche den Aristophanes mit ihm: Aristophanes will bewußt das alte Athen mit seiner Ordentlichkeit und Tüchtigkeit gegen die Auflösung der Demokratie schützen; aber indem er den athenischen Philister als Gott Dionysos ins Jenseits wirft, zerstört er gewiß ebenso viel von den Grundlagen des athenischen Lebens wie Euripides. Die Dänen und die ihnen verwandten nachbarlichen norddeutschen Stämme hatten ein ruhiges, geordnetes bäuerliches Leben, das ganz im Diesseits aufging, das durch bemerkenswert scharfen gesunden Menschenverstand geleitet wurde. Dieser gesunde, tüchtige Menschenverstand ist die Muse von Holberg gewesen.
Holberg wäre heute nicht mehr möglich. Aber wenn heute wieder ein Dichter von seiner Bedeutung aufträte, so könnte er schon ein höheres Weltbild schaffen, wie Holberg schuf. Aus dem schönen Buch von Nielsen können wir den Schluß ziehen, daß die heutige Zersetzung, ja, Vernichtung der Menschheit die Keime einer bedeutenden Zukunft in sich trägt.
Zur Feier seines fünfzigsten Todestages (1925)
Wir alle haben in der Jugend die Märchen von Andersen gelesen, in jenem Alter, wo Eindrücke so bestimmend und bildend sind; man kann heute wohl ohne Übertreibung behaupten, daß ein großer Teil der Völker europäischer Kultur von Andersen wesentliche Eigenschaften und Fähigkeiten bekommen hat. Er hat eine viel größere Wirkung ausgeübt wie mancher Dichter, neben dem man ihn überhaupt nicht nennen könnte. Ein Seitenstück zu ihm ist etwa der Verfasser des Robinson, der mit all seinen Arbeiten längst vergessen wäre, wenn er nicht den einen Roman geschrieben hätte, der noch immer die Knaben fesselt, der auf Einzelschicksale wie auf Schicksale der Völker eine nicht zu schätzende Wirkung ausgeübt hat. Männer wie Andersen und Defoe haben in ihrem Einfluß Ähnlichkeit mit den Verfassern der Homerischen Gedichte oder der biblischen Bücher, nur daß sie nicht mehr auf die Erwachsenen bestimmend wirken. Aber so etwas wie die homerischen Dichter oder die biblischen Schriftsteller ist ja für den Menschen der heutigen Zivilisation überhaupt unmöglich.
Andersen wurde 1805 in Odense auf Fünen als Sohn eines armen Schuhmachers geboren und starb 1875 in Kopenhagen. In dem anmutigen «Märchen meines Lebens» hat er seine Schicksale selber erzählt: wie sich wohlhabende Leute für den begabten armen Jungen interessierten und ihm den Besuch der Lateinschule ermöglichten; wie er dann frühzeitig in ein künstlerisches Zigeunerleben geriet; das pflegt sonst die Menschen zu zermürben; aber Andersen war nun so ein Mensch, daß alles Unheil an ihm abglitt, welches aus solchem Dasein entstehen konnte, er war auch so ein Mensch, daß er immer Leute fand, die für ihn sorgten. Er hatte mit seinen vielen Schriften – Gedichten, Dramen, Romanen und Reisebeschreibungen – einen Literaturerfolg und auch einen Erfolg beim größeren Publikum, und so wurde ihm, dem Unverheirateten, dann eine behaglich kleine Existenz mit vielen Reisen möglich.
Sein Wesen wird aus der Selbstbiographie klar: er ist ein kindlicher Mann, den andere Männer wohl oft belächelt haben, der sich über sich selbst, sein Glück, seine Schriften und seinen Ruhm harmlos freut, der die eigentlichen Kämpfe des Lebens nie kennengelernt hat und deshalb wohl auch nicht verstanden haben mag, was größere Dichter bildeten, denen er sich naiv gleichstellte. Daß ein solcher Mann mit Dramen und Romanen für die Erwachsenen Erfolg haben konnte, war wohl nur möglich in den unschuldig kleinbürgerlichen Zeiten, in welche seine Hauptwirksamkeit fiel, wo ein Übereinkommen über die wesentlichen Dinge des Lebens allgemeine Gültigkeit gewonnen hatte, nach welchem alle Rätsel und Fragen sich einfach lösten, und vom Menschen nichts erfordert wurde als ein ruhiges Sichfügen in die gesellschaftlichen Gesetze, als ein unerschüttertes Glauben an ihre Selbstverständlichkeit.
Noch vor dem Kriege war diese Zeit nicht ganz vorüber: sie lebte noch in einzelnen Menschen und in gewissen, allgemein gesellschaftlichen Annahmen. Heute können wir sie schon geschichtlich betrachten: sie liegt hinter uns, vielleicht ebenso weit wie das Mittelalter oder das Altertum.
Dadurch aber können wir heute auch die Stellung Andersens als Märchendichter besser verstehen.
Das Märchen ist eine mehr oder weniger novellenmäßige Erzählung, in welcher das Wunderbare eine konstruktive Bedeutung hat. Eine besondere Abart ist das Volksmärchen, das gewöhnlich entweder nicht ganz vollendete Erzählung ist oder eine von einem Dichter geschaffene, ursprünglich vollendete Erzählung, die im Munde des Volkes einerseits eine besondere Innigkeit und Naivität bekam, andererseits Unklarheiten enthält und nicht folgerichtig zu sein pflegt. Seine Entstehung setzt eine gewisse Geistesverfassung der Gesellschaft voraus. Wenn diese nicht vorhanden ist, dann entstehen keine neuen Märchen mehr.
Die Märchen Andersens sind durchaus sogenannte Kunstmärchen. Mit Ausnahme derjenigen von ihm, welche nach alten Motiven gearbeitet sind, können sie auch nicht zu Volksmärchen umgebildet werden. Aber sie haben einen eigenen dichterischen Charakter, der sie von dem faden Zeug unterscheidet, das man damals als Kunstmärchen vorbrachte, sie sind in sich geschlossene Dichtung, wie etwa die Märchen von Tausendundeiner Nacht in ihrer Art es sind.
Sie sind aus der Zeit der kleinbürgerlichen Kultur die einzigen Märchen, die Bestand behalten haben, sie beweisen dadurch, daß diese Kultur im Stande war, Märchen zu schaffen, wie in ihrer andern Art die großstädtische arabische Kultur des Mittelalters Märchen schaffen konnte.
Voraussetzung für diese Fähigkeit ist, daß eine Kultur einen festen Grund hat, daß sie in sich selber ruht und deshalb eine phantastische Welt aus sich heraus bauen kann, natürlich mit den Baustoffen, die sie zur Verfügung hat; im Fall Andersens also mit den Verhältnissen und Charakteren der kleinbürgerlichen Gesellschaft. Was das in der Praxis bedeutet, das mag der Anfang der Autobiographie «Das Märchen meines Lebens» zeigen:
«Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und so glücklich. Wäre mir als Knaben, als ich arm und allein in die Welt hinausging, eine mächtige Fee begegnet und hätte zu mir gesagt: ‹Wähle deine Laufbahn und dein Ziel: dann beschütze und führe ich dich, je nach deiner Geistesentwicklung, und wie es, der Vernunft gemäß, in dieser Welt sein muß› – mein Schicksal hätte nicht glücklicher, klüger und besser gestaltet sein können. Meine Lebensgeschichte wird der Welt sagen, was sie mir sagt: Es gibt einen liebevollen Gott, der alles zum Besten leitet!»
In der Religion ruht jede Kultur; die Religion war die eigenartige nordische Fassung des Protestantismus, die Andersen hier so liebenswürdig darstellt. Der Glaube an einen liebevollen Gott, der alles zum Besten leitet, geht durch seine Märchen durch, er ist es vornehmlich, der ihnen den großen Wert für die Jugend gibt, die ja immer einen festen Halt, eine klare Stellung zu Welt und Menschen verlangt; es ist durchaus nicht nötig, daß das den Menschen nun immer als Gottesglaube bewußt wird, es kann sich auch anders verkleiden.
Die allgemeine Einstellung ist also optimistisch, und zwar, den Zeitanschauungen entsprechend, mit moralischem Untergrund: daß die bürgerlich Guten siegen. Starke Leidenschaften sind nicht möglich, denn die gehen aus einer nicht-optimistischen, tragischen Gemütsstimmung hervor; es bleiben nur die Leidenschaften, wie sie in der gemäßigten kleinbürgerlichen Gesellschaft möglich sind: Klatschsucht, Neid und dergleichen, und auch die immer in einer unschädlichen Form, so daß sie komisch wirken.
So schafft der Dichter eine ganze Welt, in welcher alles seine ihm angemessene Stelle hat: die Schnecke, welche gekocht und auf silberner Schüssel aufgetragen wird, und der standhafte Zinnsoldat, der sich in eine Tänzerin aus Papier verliebt. Das Kind, welches die Märchen liest, lebt sich in diese Welt hinein; und wenn es dann zu Jahren kommt, dann mag es noch immer wehmütig an die Zeit zurückdenken, da es mit Schornsteinfeger und Schäferin lebte, in dem alten Haus mit den schweinsledernen Tapeten herumging und die Schicksale der Stopfnadel mit Spannung verfolgte.
Die Kraft dieser Welt ist so stark, daß es gelingt, das Allerfremdartigste anzugleichen.
Es gibt ein indisches Märchen, das gewiß von einem bedeutenden Dichter stammt, aus einer Zeit der tiefsten Verzweiflung an allem Göttlichen, das in seiner inneren Freiheit kaum von irgendeinem andern Werk übertroffen wird. Es erinnert an Zeiten wie die, in welcher die homerische Liebesgeschichte von Ares und Aphrodite entstand. Ein Betrüger versteht zu fliegen, gibt sich bei der Königstochter, die einsam auf einem Turm lebt, für Krischna aus und wird vom König als Schwiegersohn angenommen. Der Feind greift das Land an, der göttliche Schwiegersohn wird aufgefordert, zu helfen; er muß losfliegen; und nun beraten sich die Götter: wenn sie den Spitzbuben untergehen lassen, dann bleibt das auf den Göttern sitzen, dann heißt es bei den Menschen, die Götter haben keine Macht. Was bleibt übrig? Sie müssen ihm helfen, und der echte Krischna verjagt die Feinde. Man kennt das anmutig schalkhafte Märchen, das Andersen aus dieser Dichtung, die er als Rohstoff benutzte, gemacht hat, er hat sich damit ein Werk angeeignet, das ursprünglich genau das Gegenteil als Gehalt hatte von dem, was in ihm selber lebte.
Gewiß ist Andersen empfindsam. Da, wo der Humor ihm nicht hilft, wo die Beobachtung und Darstellung des Kleinlebens nicht möglich ist, überwuchert leicht diese Empfindsamkeit. Man denke etwa an die kleine Seejungfrau. Wir sind heute sehr heikel in diesem Punkt – vielleicht bemerken wir nur nicht die moderne Art Empfindsamkeit und sind deshalb besonders aufmerksam auf die biedermeierliche – aber wir sollen nicht vergessen: die Empfindung ist bei Andersen immer persönlich wahr, was er schildert, das sind jedenfalls wirkliche Empfindungen einer bestimmten Menschenart in einer bestimmten Zeit.
Alles, was echt ist, bleibt in der ewig wechselnden Zeit bestehen. Andersens Muse ist nicht die bedeutendste aller Musen, aber sie ist jedenfalls echt und wahr; so sind seine Märchen denn bestehen geblieben, sie werden auch noch weiter bestehen bleiben und noch Millionen Kinderherzen erfreuen, wie sie bisher erfreut haben; und die Kinder, welche die Gefühle, die sie Andersen verdanken, in das spätere Leben hinüberretten, werden gewiß nicht die schlechtesten Männer oder Frauen sein.
Henrik Ibsen (1904)
Ibsen erlangte seinen Weltruf durch Werke seiner späteren Zeit, nachdem er durch frühere Schöpfungen im Vaterlande eine hohe Stellung erreicht hatte; heute, wo sein Lebenswerk vor uns liegt, können wir urteilen, daß nach diesem Vorgang seiner Laufbahn auch seine künftige Bedeutung die sein wird: durch seine Jugendwerke wird er immer eine hervorragende Erscheinung der norwegischen Literatur bleiben, durch seine späteren Arbeiten gehört er der Weltliteratur an. Gerade im Hinblick auf ihn müssen wir zwar das Wort «Weltliteratur» besonders bestimmen. Etwa Homer, Dante, Shakespeare, Goethe sind durch die gleichen Werke Dichter ihres Volkes wie der gesamten Menschheit; sie haben für ihre Nächsten gedichtet, aber ihre Dichtung ist so umfassend und steht auf solcher geistigen Höhe, daß sie in ihrer nationalen und kulturellen Bedingtheit doch zugleich von vielen andern Völkern und von vielen andern Zeiten empfunden werden kann. Um diese Art handelt es sich bei Ibsens Schriften seiner späteren Zeit nicht; was sie über eine bloß nationale Bedeutsamkeit nicht erhebt, sondern ihnen diese vielmehr nimmt, ist nicht das, was wir als Ewiges und Allgemeinmenschliches zu bezeichnen pflegen, sondern im Gegenteil, es ist gerade zeitlich: ein Geschöpf der modernen Zivilisation, die in allen ihr unterworfenen Ländern gleiche Allgemeinbedingungen des Lebens und damit gleiche Gedanken, Vorstellungen und Ideale schafft, mit einem Wort, das modern Europäische. So sehr sind sie modern europäisch, daß eine Beurteilung ihres Wertes und eine Betrachtung darüber, ob sie auch das sind, was wir für allgemeinmenschlich halten, nicht zu trennen scheint von einer Beurteilung dieser modernen Zivilisation.
Die Eigenschaft, Typen des modernen Europäertums von nur geringer nationaler Färbung zu schaffen, hat in gleich hervorragendem Maße wie Ibsen nur noch Balzac. Daß sich hier ein Franzose und ein Norweger treffen, ist kein Zufall; in beiden Ländern scheint seit langem Instinkt, was bei andern Völkern erst Erfolg neuerer Umwälzungen ist, und ein Dichter kann hier aus der Tiefe seines Gemütes schaffen, wenn er moderne, das heißt die aus der demokratischen Isolation des Menschen sich ergebenden Probleme behandeln will.
Denn was ist der letzte Grund unsrer Zivilisation? Die Gesellschaft stellt heute eine einzige große Maschinerie dar, in der ein Rad in das andere greift; ein jeder Mensch ist ein solches Rad, und jedes Rad ist nötig, keines kann herausgenommen werden, sonst stockt der Gang der Maschine. So ist der Einzelne zunächst und hauptsächlich eine Funktion der Gesellschaft, was er außerdem als Mensch noch ist, das wird immer mehr gleichgültig. Nehmen wir als Beispiel den Konsul Bernick: ein junger und lebenslustiger Mann hat eine ernste Liebe zu Lona, mit der er zu einer glücklichen Ehe kommen würde, eine Liebelei mit einer kleinen Schauspielerin und die Erbschaft eines großen Geschäftes, das heimlich ganz zerrüttet ist. In seiner Liebe wie in der Liebelei handelt er als Mensch; als Erbe des Geschäfts, das heißt durch die Notwendigkeit seiner materiellen Existenz, ist er Rad der großen Maschine und muß nach den Bedürfnissen dieser Maschine, nämlich der Gesellschaft, sich drehen: also seine Liebe aufgeben, einen harmlosen jungen Mann zum Opfer bringen, ein ihm verödet scheinendes Leben führen, allen ihm selbst töricht vorkommenden Schein aufrecht halten und so fort. Oder nehmen wir den wirtschaftlich unabhängigen Rosmer. Der soll durch seine Anschauungen, seinen Lebenswandel und vielleicht auch durch sein Wort die eine Partei in seinem Lande stützen; wie sich zeigt, daß er alle die verlangten Anschauungen nicht hat und deshalb öffentlich zur andern Partei übergehen will, da wird ihm gesagt, daß er auch hier nicht ein Mensch sein darf, sondern nur ein Rad, indem er nicht sagen soll, was er für richtig hält, sondern was der Partei nützt.
Versetzen wir uns nun in die Zeit, welche vor unserer Gegenwart liegt. Mit derselben Abstraktion wie vorhin können wir sagen: hier gibt es eine Unzahl kleinerer und größerer Maschinen mit wenigen Rädern; jede dieser Maschinen ist voneinander unabhängig.
Welchen Zweck hat aber jene einzige große Maschine? Man sagt, das allgemeine Wohl; das heißt, das Wohl jedes einzelnen Rades; charakteristisch für diesen Zustand ist das Wort Friedrichs II., er sei der erste Diener seines Staates. Die vielen größeren und kleineren Maschinen der früheren Zeit hatten einen Zweck über sich: sie waren für einen Einzelnen da, welcher sagen konnte: car tel est notre plaisir, welcher Satz freilich zu Ludwigs XlV. Zeit schon veraltet war. Die Dramatiker jener Zeiten hatten es bloß mit jenen Einzelnen zu tun, um die in die Maschinen eingebauten Rädermenschen bekümmerten sie sich nicht; die heutigen Dramatiker haben nichts zur Verfügung wie eben die Rädermenschen, denn andere Menschen gibt es nicht mehr, denn auch die Höchstgestellten sowohl wie die wirtschaftlich Unabhängigen sind ja an erster Stelle Räder.
Es ergibt sich: für das Drama der modernen Zivilisation muß im Vordergrund der Konflikt im Menschen zwischen seiner menschlichen Betätigung und seiner gesellschaftlichen Funktion stehen (wobei man natürlich nicht vergessen darf, daß alle solche Abstraktionen nie völlig richtig sind, denn auch in jenen früheren Zuständen ist dieser Konflikt möglich, weil jede Herrschaft doch ein Gegenseitigkeitsverhältnis ist: der Herr herrscht nur, weil ihm der Diener gehorcht, und diese Tatsache bewirkt einen Zwang auch im Herrscher). Dieser Konflikt muß im Vordergrund stehen, weil es bei voll entwickelter Zivilisation nicht eine einzige menschliche Betätigung gibt, die nicht auch gesellschaftliche Bedeutung hätte.
In seiner naivsten Gestalt haben wir diesen Konflikt im Brand. Die Gesellschaft hat natürlich an der Religion nur so weit Interesse, als diese wie eine Art Polizeiinstitution wirkt; deshalb begünstigt sie die Veräußerlichung derselben in der Kirche und wünscht ihre Verbindung mit der herrschenden Moral; das wahrhaft religiöse Individuum ist gesellschaftsfeindlich, bei uns Christen in der Form, daß es alle weltliche Lust wie Sorge verschmäht. Wie an einem Schulbeispiel können wir hier die ästhetische Schwäche des Konflikts beobachten. Indem Brand diese individuelle Religiosität durchsetzen und auch den Fischern auferlegen will, zerstört er die materielle Grundlage für aller Leben und damit auch die Möglichkeit seiner Art von Religion, handelt also als Narr; aus der Abstraktion in die Vorgänge des Dramas übersetzt: was will Brand mit den Leuten auf dem Berge?
Schon jetzt wird man einsehen, mit welcher Notwendigkeit bei Ibsen sich das Tragikomische und das Selbstbegrübeln seiner Helden einstellen mußte. Unsere Literarhistoriker wie die Kritiker suchen die Ursachen für viele Eigentümlichkeiten der Dichter oft im Psychologischen des Dichters, während man sie aus den Notwendigkeiten seiner Konflikte und Stoffe ableiten sollte: der spezifische Konflikt, welchen die moderne Zivilisation dem Dichter darbietet, läßt keine tragische Lösung und deshalb auch keine tragischen Helden zu, denn das, was der Held bekämpft, ist ja eine integrierende Voraussetzung seines Selbst, er will sich an seinen eigenen Haaren in die Höhe ziehen, wirkt also durch die offenkundige Aussichtslosigkeit seines Unternehmens als töricht; und zugleich, da er ja eben auch gegen eine Voraussetzung seiner eigenen Persönlichkeit ringt, erscheint er als ein Grübler.
Wir haben hier einen prinzipiellen Punkt gefunden, den wir festhalten müssen, deshalb möge ein klärendes Beispiel von einem andern Dichter beigebracht werden.
Schillers Wallenstein ist ein tragischer Held; weshalb? Der Kaiser hat kein Heer, Wallenstein ist der Herr des Heeres; der Kaiser hat ihn einerseits nötig, andererseits muß er Argwohn haben, daß der Kondottiere sich an seine Stelle setzen möchte; Wallenstein selbst muß entweder den naheliegenden Plan fassen oder muß als unbedingt sicher annehmen, daß der Kaiser den Plan bei ihm voraussetzt, und so muß er entweder, auch gegen seinen ursprünglichen Willen, Verräter werden oder, wenn er es nicht wird, auf seinen Tod gefaßt sein, sobald er nicht mehr unbedingt gebraucht wird. Das ist immer die allgemeine Situation zwischen Fürst (oder auch Republik) und Kondottiere. Diese Situation könnte komisch behandelt werden, wenn man ein Duodezländchen mit kleinlichen Interessen der beiden Hauptpersonen annähme, und ist, wie im Wallenstein, tragisch aufzufassen, wenn die beiden Personen jeder eine ehrwürdige Gewalt verkörpern, Wallenstein eine große Idee und der Kaiser die Legitimität.
Hier sehen wir: Wallensteins Situation ist von außen her gekommen, wenn er freilich auch innerlich für sie geschaffen ist und seine Geistesverfassung ihr entspricht, so daß im höchsten Sinne doch kein Zufall stattfindet. Brands Situation dagegen ist nur das allgemeine Leben in der Gesellschaft, in der solche Überzeugungen, welche das materielle Wohlbefinden der Gesellschaft schädigen, sich nicht durchsetzen können – es ist die Situation Don Quixotes, und Don Quixote wirkt vor allen Dingen komisch.
Auch hier wieder kommen wir an ein technisches Problem. Daß man im Relief gewisse Aufgaben nicht lösen kann, andere nicht in der Malerei, dritte nicht in der Rundskulptur, das ist augenscheinlich klar.
Das Drama, welches die höchste Kunstform ist, wird aber durch lauter Unmöglichkeiten umgeben. Der Mann, welcher den Don Quixote schrieb, hat den Idealismus des Überzeugungskämpfers verhöhnt – vielleicht war er selber ein Kämpfer für Überzeugungen? Ein anderer möchte diesen Idealismus verherrlichen und ein Drama schreiben, in welchem Don Quixote tragisch wirkt: Vergebliches Bemühen! Es kommt höchstens eine tragikomische Wirkung heraus.
Mit dem derben Ausdruck gesagt, rührt das daher, daß, in je höhere Sphären die Überzeugung gehoben ist, desto geringer die Möglichkeit des Gegenspielers wird. Wallenstein kämpft gegen den Kaiser, beziehungsweise gegen dessen Vertreter: gegen wen kämpft Brand? Im Volksfeind hat Ibsen eine niedrigere Sphäre gefunden, indem der abstrakte Kampf für die Wahrheit sich hier zu einem ganz konkreten verdichtet gegen sparsame Bürger, die keine neue Wasserleitung bauen wollen. Niedriger kann man nicht steigen, aber auch hier, im Gebiet der trivialsten Interessen, hat der Gegenspieler durch sich keine Aktivität, sondern ist nur reaktionäre Masse, die bloß durch das wirkt, was sie nicht tut.
Indem wir von den allgemeinen soziologischen Voraussetzungen unserer Zeit ausgingen und in dem Kampf des Menschen gegen das Soziale den Stoff fanden, welchen sie notwendig denen suggerieren muß, die sich nicht von ihr frei machen, fanden wir bis jetzt eine sehr ungünstige Prognose für einen Dramatiker, dessen Temperament auf das Tragische gerichtet ist.
Aber zum Glück sind die Gesellschaftsformen nie konsequent bis in das letzte durchgeführt, sie enthalten immer sowohl wichtige Überbleibsel früherer Zeiten wie Anfänge neuer Formen. In unserer heute bestehenden Gesellschaft ist ein solches Überbleibsel aus einer früheren Zeit, das heute anorganisch wirken müßte für den Soziologen, der nicht Historiker wäre, die Art unserer Ehe.
Die heutige Art der Ehe ist entstanden und hat sich bis jetzt erhalten als eine Wirtschaftsgemeinschaft von Mann und Frau, in welcher gewisse Arbeiten dem Mann und andere Arbeiten der Frau oblagen; und während alle sonstige Arbeitsgemeinschaft früherer Zeiten gesprengt wurde, indem die Individuen sich als selbständige Kontrahenten gegenübertraten und ihr Produkt Ware wurde, blieben Mann und Weib verbunden zu einer wirtschaftlichen Einheit. Dieser Zustand beginnt sich nun heute aufzulösen, indem das Tätigkeitsgebiet der Frau in der Wirtschaft immer enger wurde dadurch, daß immer mehr von ihrer Arbeitsleistung zur Arbeitsleistung Außenstehender sich entwickelte und objektiviert als Produkt in Warenform in den Haushalt kam. So wird die Arbeitskraft der Frau freigesetzt und drängt zur Betätigung außerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft der Familie in der allgemeinen Produktion der Gesellschaft neben dem Mann. Zuerst werden von diesem Zuge jene weiblichen Familienmitglieder ergriffen, wie unverheiratete Schwestern der Gatten und erwachsene Töchter, deren Arbeitskraft an erster Stelle freigesetzt wird, dann aber wird auch in immer steigendem Maße die Ehefrau aus dem Hause in das Erwerbsleben gedrängt. Inmitten dieser Entwicklung stehen wir heute.
In der alten Wirtschaftsgemeinschaft ist der Mann nach außen der natürliche Vormund der Frau; wenn diese Gemeinschaft sich auflöst, so erscheint die Stellung des Mannes als eine Ungerechtigkeit, und die wirtschaftliche Veränderung bekommt das Aussehen einer Befreiung des Weibes. Hieran knüpft sich nun der Idealismus des Kampfes: das Ringen nach Selbständigkeit wirft ein verklärendes Licht auf die Ringenden, und es entsteht die Möglichkeit einer sittlichen Begeisterung für die höchsten Ideale der Menschheit, wie sie am Ende des 18. Jahrhunderts die Tatsache verschönte, daß die Aristokratie vernichtet wurde, und heute die Tatsache, daß die Arbeiter zu kleinbürgerlichem Behagen aufsteigen.
Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich erstens das Tendenzstück von der Art wie Nora: die Frau verlangt ohne weiteres Gleichberechtigung. Dessen Wirkung für die Zeit ist sicher, der späteren Generation wird es aber komisch erscheinen, etwa wie uns heute Dramen, die für die Befreiung der Juden eintreten. Denn, indem im Drama der soziale Gegensatz als menschlicher genommen werden muß und Sympathien für den kämpfenden Teil erweckt werden müssen, muß der Dramatiker Licht und Schatten ungerecht verteilen und also unwahr werden.
Zweitens. Die Emanzipation der Frau ist in Wahrheit schon eingetreten in einem tüchtigen und ernsten Wesen, wie etwa Frau Albing der Gespenster, die äußeren Verhältnisse sind aber noch die alten, und zwar, da sie nicht nur alt, sondern in dem besonderen Fall auch veraltet sind, innerlich unsinnig und unsittlich: Frau Albings Mann fungiert rechtlich noch als Eheherr, dem die Frau bis in das letzte sich fügen muß, während er tatsächlich ein verächtlicher Mensch ist. Aus dieser Voraussetzung ergibt sich der Stoff für eine Tragödie; und die Gespenster sind, um das gleich hier zu sagen, in den Grenzen des Bürgerlichen eine große Tragödie; zwar mit einer wichtigen Schwäche, die aber nicht im Wesentlichen des Stoffes liegt, sondern in einem Fehler der Behandlung.
Drittens. Die Emanzipation der Frau ist derart verstanden, daß die Frau ein selbstherrliches Individuum geworden ist, die einem Mann gegenübersteht, der die Tatsache der neuen Gestaltung des Verhältnisses anerkennt. Nimmt man an, daß jedes seinen Typus des Geschlechtscharakters entwickelt hat, so entsteht daraus die Möglichkeit, den Kampf der Geschlechter an sich, losgelöst von den sozialen und historischen Umständen, darzustellen in tragischer, komischer, tragikomischer oder banaler Form.
Ob hier besonders glückliche Funde zu machen sind für den Dramatiker, mag zweifelhaft sein: Ibsen hat sie jedenfalls nicht gemacht; bei ihm ist der Grund, daß seine Männergestalten aus der obenerwähnten Ursache nicht über das Kraftmaß verfügen, welches zum Tragischen führt; denn nicht das Intellektuelle macht ja, wie wir wissen, in der Bühnenperspektive zum Helden, sondern das Ethische (wenn man dieses Wort im allerweitesten Sinn nehmen will, nämlich als das Goethesche Positive, wonach auch das Unmoralische dazugehört). Aber auch ein anderer wird hier schwerlich dankbare Stoffe finden, denn es drängt in diesem Kreise von Stoffmöglichkeiten alles zu sehr auf das Psychologische, das zwar als anmutiges Dekorationswerk einen dramatischen Bau schmücken mag, aber für das Konstruktive zu biegsam ist. Wir haben nun fast aus der Abstraktion uns einen Überblick über Ibsens Schaffen gewonnen; gehen wir jetzt an die Gestaltung des Einzelnen und Wirklichen.
Wenn man das Leben bedeutender Menschen betrachtet, so wird man fast immer finden, daß es erscheint wie zu seinem bestimmten Zweck geleitet, nämlich zur Erzeugung derjenigen Lage, in welcher dieser Mann das am besten leisten konnte, zu dem er berufen war; durch alle scheinbaren Zufälligkeiten des äußeren Lebens schafft doch am Ende unser heimlicher Wille unser Schicksal. In dieser Arbeit, deren Zweck nicht historischer, sondern ästhetischer Art ist, können natürlich nur die Hauptzüge des Lebensganges aufgezeichnet werden.
Henrik Ibsen wurde 1828 zu Skien in Norwegen als Sohn eines nach den Verhältnissen der Umgebung nicht unbegüterten Kaufmanns geboren. Die Stadt hat heute neuntausend Einwohner und ist durch zwei Wasserfälle und durch die Nähe der Waldungen und sonstige Lage für Industrie und Handel sehr geeignet. Wie Ibsen acht Jahre alt war, machte sein Vater Konkurs, und die Familie kam in bedrängte Umstände. So konnte sich schon bei dem Kinde das, was oben als europäische Zivilisation bezeichnet ist, als etwas Stimmungsmäßiges festsetzen: die Abhängigkeit des Einzelnen von der allgemeinen Gesellschaftsmaschinerie, besonders durchsichtig und deutlich durch die Kleinheit der Handelsstadt. Mit fünfzehn Jahren kam der Knabe in die Lehre zu einem Apotheker, nach siebenjähriger Tätigkeit wurde es ihm aber möglich, an das ärztliche Studium zu denken. Auch diese Zeit von seinem fünfzehnten bis zweiundzwanzigsten Jahre hat ihre große Wirkung für die Entwicklung seiner Art; man muß es doch aussprechen, daß Ibsen nur sehr selten die Dinge hat von oben betrachten können, meistens sieht er sie von einer subalternen Stelle aus, ähnlich wie die radikalen Führer seines Volkes Idealisten aus subalterner Lage sind, nämlich Volksschullehrer und Küster. Aber gerade das gehört mit zu seiner Bedeutung, denn diesem Gesichtspunkt verdankt er seinen Idealismus, und dem sein Europäertum; unsere Zeit ist nun eben ganz gewiß nicht eine Zeit aristokratischer Wertung, und wenn ein von Natur so skeptischer Mann wie Ibsen auch noch von Jugend an auf der Höhe gestanden hätte, so würde er gewiß kein Dichter geworden sein. Zu dem charakteristisch modernen Beruf des Mediziners und Naturwissenschaftlers kam die ebenso charakteristisch moderne Tätigkeit des Journalisten, die er, wieder wichtig genug, des armseligsten Broterwerbs wegen ausüben mußte. Dann kam das scheinbar ganz zufällige große Glück, daß er schon mit dreiundzwanzig Jahren als Regisseur und Theaterdichter an die Bühne kommt; noch nicht dreißig Jahre alt wird er dann Theaterdirektor in der Hauptstadt, und wie er durch die praktische Bühnentätigkeit genug gelernt hat von der sonst vielleicht nie zu erlernenden Technik des Dramas, stößt er durch sein erstes revolutionäres Stück das enge Kleinbürgertum seiner Heimat so vor den Kopf, daß er es vorzieht, in das Ausland zu gehen, gerade als es für seine weitere Entwicklung nötig war, den Norweger abzustreifen und Europäer zu werden. Damals war er sechsunddreißig Jahre alt; fast dreißig Jahre hat er dann außerhalb seines Vaterlandes gelebt, in Rom, Dresden und München, in lauter Fremdenstädten, in völliger Abstraktion, in Pensionen wohnend und essend und im Café Zeitungen lesend; aus München schrieb er 1885: «Ich fühle mich hier ganz wie zu Hause, weit mehr als in meiner eigentlichen sogenannten Heimat.» In diesen Zeiten schuf er dann seine Dramen der europäischen Zivilisation, die zwar in Norwegen spielen, aber ebensogut in Amerika, England oder Deutschland spielen könnten, denn sie drehen sich um die uns allen gemeinsamen Probleme; und wie die moderne Gesellschaft durch die Gleichheit ihrer Lebensbedingungen schon viele Besonderheiten der Menschen abgeschliffen hat, so sind auch seine Menschentypen im letzten Grunde Typen der internationalen Zivilisation, nicht nationale Typen.
Die letzten anderthalb Jahrzehnte, die er wieder in Christiania lebte, haben seinen dichterischen Charakter nicht mehr beeinflußt. Von Ibsens nationalen Stücken mögen die hervorragendsten, die Helden auf Helgeland und die Kronprätendenten, näher betrachtet werden.
Die Helden auf Helgeland enthalten den Stoff des Nibelungenliedes in einer Übertragung auf die geschichtlichen und nordischen Verhältnisse mit nur einer ganz charakteristischen Veränderung gegen das deutsche Epos.
Im Nibelungenstoff ist echte Tragik: ob die sich für ein Drama verwerten läßt, mag auch nach Hebbel noch zweifelhaft sein. Wie durch die Feindschaft der beiden Frauen das Geheimnis an den Tag kommt, entsteht eine Situation, die nur durch Siegfrieds Tod zu lösen ist; mit einem sittlichen und ästhetischen Takt, den man nie hoch genug bewundern kann, wird Siegfrieds Mörder nicht Gunther, nicht Brunhild, sondern Hagen, der treue Diener Gunthers, und so wird einerseits der Meuchelmord sittlich verklärt durch die unerschütterliche Vasallentreue, die auch vor dem Schrecklichsten, denn das war für die Helden damals der Meuchelmord, nicht zurückschrecken darf, und andererseits die Lösung aus dem Gebiet des Psychologischen in das Gebiet des Notwendigen gehoben: Gunther und Brunhild konnten sich rächen, konnten aber auch andern Impulsen folgen; Hagen muß den Mord begehen, denn die Vasallentreue geht über alles und ist als kategorischer Imperativ über das Spiel der sich bekämpfenden Motive, das ästhetisch immer als Willkür des Dichters erscheint, emporgehoben. Es ist deshalb auch nicht Zufall, sondern durch die Gesetze des Dramas bedingt, daß bei Hebbel Hagen stärker hervortritt wie im Epos.
Bei Ibsen ist die Gestalt Hagens gänzlich verschwunden. Nun hatte der Dichter die Wahl: Gunther oder Brunhild den Siegfried töten zu lassen; er entschied sich für Brunhild. Damit ist ein bestimmter Charakter für diese gegeben: sie muß etwas wild Walkürenhaftes haben, und Gunthers Charakter ist gegeben: er muß ein schwacher Mann sein. Daraus erfolgt schon vor der Enthüllung des Geheimnisses das Bild einer widerwärtigen Ehe, denn beider Charakter muß uns ja im Expositionsakt vorgeführt werden; also: Beginn des Stückes mit peinlich und banal wirkenden Auftritten.
Es ist schon von einem früheren Kritiker darauf hingewiesen, daß Gunthers Charakter sich in einem späteren Stück wiederfindet, nämlich als Jörgen Tesman in Hedda Gabler; aber ebenso findet sich auch der Charakter der Brunhild wieder, und zwar als Hedda. Was bedeutet das? Ibsen mußte eine Walküre schaffen, da er nun einmal den Stoff auf das Psychologische zugeschnitten hatte, aber es gelang ihm nur eine Hedda Gabler – wieweit der großen Aufgabe irgendein anderer Moderner gewachsen gewesen wäre, bleibe natürlich dahingestellt; überhaupt möge der Leser nicht vergessen, daß die scharfe Kritik dieser und ähnlicher Ausführungen an einem Manne geübt ist, dem der Kritiker doch immer mit der gebührenden Hochachtung gegenübersteht: er zeigt das, indem er den größten Maßstab anlegt.
Die Walküre mußte, nachdem nun schon einmal das Gebiet des Notwendigen verlassen und des Psychologischen betreten war, gegen Siegfried blinde Rache fühlen und ihn aus diesem Gefühl töten; aber Ibsen konnte nur eine Hedda bilden, und da wäre das große Rachegefühl unwahrscheinlich geworden, deshalb setzt er an dessen Stelle eine heroische Liebe; auch so würde er aber nicht vorwärts kommen mit seiner Handlung, wenn die einseitig bliebe, deshalb muß auch Siegfried sie lieben, welches er freilich um Kriemhildens willen immer verborgen hat. Und damit geriet auch die in der Vorgeschichte liegende Brautwerbung ins Psychologische: er hatte nicht geahnt, daß sie ihn liebe, so eroberte er sie für Gunther.
Man sieht, an die Stelle der einfachen, geschlossenen und notwendigen alten Vorgänge ist ein Gespinst von Möglichkeiten, Irrtümern, Wahrscheinlichkeiten, Hoffnungen, Befürchtungen und Stimmungen getreten, das in jedem einzelnen Knoten willkürlich ist, denn jede nicht aus der Situation, sondern nur aus dem Psychologischen erklärte Handlung kann so sein, wie sie ist, aber auch anders: daß sie gerade so ist, erscheint als Kombination des Könnens mit den subjektiven Schätzungen und Erfahrungen des Dichters; dabei ist es natürlich gleichgültig, inwieweit die alte nordische Version des Stoffes Ibsen vorgearbeitet haben mag.
Wenn man die Kronprätendenten liest, so ist man gleich nach den ersten Repliken in einer ganz andern Luft wie bei den Helden auf Helgeland; das Stück ist nicht nur von den älteren Stücken das bedeutendste; ich für meine Person zögere nicht, es überhaupt an die erste Stelle von allen Werken des Dichters zu stellen; es hat tragische Größe im höchsten Sinne des Wortes, nicht in dem geringeren Sinne, wie man das Wort bei den Gespenstern anwenden kann, wo im letzten Grund doch die gesellschaftliche Konvention die Tragik erzeugt; hier ist Ibsen bis an die letzte Grenze vorgedrungen, welche diesem klaren und kalten Blick sonst immer durch die subalternen Zeitinteressen verhüllt wurde. Wer aber weiß, wie wenig wirkliche Tragödien die Weltliteratur zählt, der kann nunmehr Ibsen einschätzen, auch wenn sich selbst eine grundlegende Schwäche in dem großen Werk zeigen sollte.
Der Thron Norwegens ist erledigt, Hakon ist zum König erwählt, aber sein Recht wird noch von mehreren Prätendenten angefochten, von denen hier Jarl Skule in Betracht kommt. Durch eine Kombination von Umständen, die wir zunächst nicht prüfen wollen, steht für den Jarl die Sache so, daß es ihm auf ewig ungewiß und für andere unbeweisbar ist, ob Hakon wirklich der echte Sohn oder ein im Säuglingsalter untergeschobenes Kind ist; ist Hakon unecht, dann stände die Krone am Jarl, ist er echt, so ist sein Recht unbestreitbar. Das äußere Geschick des Jarls, und das scheint mir das Genialste an dem Stück, ist nur eine Widerspiegelung seines Innern: er ist durch und für die Situation geschaffen, ein Grübler und Zweifler, welcher jedes Für und Wider überlegt. König Hakon dagegen ist nicht nur für sich unzweifelhaft im Recht, er hat auch eine Gemütsart, die kein Bedenken und Zweifeln kennt.
Offenbar befindet sich der Jarl in einer tragischen Situation, er muß Held des Stückes sein und der König nur sein Gegenspieler; es hat aber offenkundig seine Schwierigkeiten, einen im Bühnenbild doch immer auffallenden König, der zudem noch die energische und frische Natur ist, gegenüber dem bloßen Baron und zaudernden Grübler zu sehr zurücktreten zu lassen; so ergibt es sich, daß er in der Wirklichkeit doch eine bedeutsamere Rolle spielen muß, wie nach der ersten Abstraktion scheint: hier liegt eine, zwar geringe, Schwäche des Stoffes; denn die besten Stoffe sind natürlich die, wo die Anforderungen der Bühnenökonomie sich mit der letzten nackten Konstruktion decken. Eine zweite Schwäche, welche verhängnisvoll ist, hat der Dichter selbst verschuldet: jene Kombination von Umständen, durch welche der Jarl in Ungewißheit über sein Recht gehalten wird, liegt nämlich in der Hand eines Intriganten, wiewohl sie mit Leichtigkeit ans dem Gebiet der Intrige gelöst und einfach hätte hingestellt werden können. Dadurch erhält man im Knotenpunkt der Handlung einen Charakter statt eines Schicksals, noch dazu einen Theatercharakter, welcher, da er seine Eigenschaften ad hoc haben muß, immer verstimmend auf den Zuschauer wirkt. Wahrscheinlich war der Dichter, der ja eine verhängnisvolle Freude an der Psychologie hat, in die Figur verliebt, sonst wäre ihr Dasein unerklärlich. Endlich kommt noch ein dritter Fehler, der durch ein Versagen des dichterischen Könnens an einem gewissen Punkt erklärt wird. Hakon hat nämlich nicht nur alles mögliche andere Recht, er hat auch einen großen politischen Gedanken, er will die Norweger zu einem einheitlichen Volk machen. Diesen Gedanken hofft ihm der Jarl wegzunehmen, und es handelt sich also zu dem Kampf um das Recht gegenüber der Vergangenheit noch um einen Kampf um das Recht gegenüber der Zukunft. Ein solcher politischer Gedanke ist an sich dichterisch kahl, besonders im Drama, und die Kunst des Dichters, vornehmlich aber des Dramatikers ist es, ihn in menschliches Schicksal umzusetzen.
Es gibt wenige Dramen der Weltliteratur, in denen man nicht solche Fehler nachweisen könnte, von denen schlimmer Art doch nur der zweite ist. Sie können dem Stück seine Größe nicht rauben. Die alte bekannte Wahrheit von der übermäßigen Bedeutung der Stoffwahl bewährt sich auch bei diesem Werk: nirgends hat Ibsen so einfache und große Verhältnisse, so gerade und große Menschen, einen so gewaltigen Dialog wie in diesem Stück. Vielleicht nach langem, wenn seine späteren Werke veraltet sind, weil sich die Zeit geändert hat, in der sie leben, wird man einzig aus den Repliken der Kronprätendenten eine Ahnung von der Größe des Mannes haben. Und, merkwürdig, die seelische Vertiefung in dem Stück ist vielleicht größer wie in andern, wo sie durch das Element des Problematischen auch den Unaufmerksamem offenkundig wird; aber da sie, mit Ausnahme immer des Intriganten, nicht die Handlung tragen soll, sondern nur ihr zur «Gefälligkeit» auch die «Bedeutsamkeit» verleihen, so wirkt sie nie peinigend, wie später so oft, nicht herabziehend, sondern erhebend. Ibsen verfügt über kein großes Personal. Den Jarl trennt viel weniger von Rosmer, wie es den Schein hat, wie den wenig von dem Vater Eyolfs trennt, und den wenig von Hjalmar Ekdal; aber sein Schicksal erhebt uns, wie uns das Rosmers herabzieht und Hjalmars entwürdigt: der einzige Grund ist, daß er in einer dramatischen Situation steht, einen Boden unter den Füßen hat, auf welchem er mit König Hakon kämpft; Rosmer aber steht nicht in einer dramatischen Situation und spielt an allen Personen des Stückes vorbei, nicht gegen sie.
Zwischen den beiden besprochenen Stücken steht das erste in der Gegenwart spielende Werk Ibsens, die Komödie der Liebe, eine Art Lustspiel; es erscheint angemessener, dieses in der Betrachtung hinter die drei großen Arbeiten zu stellen, welche den Übergang von der nationalen zu der europäischen Periode des Dichters ausmachen. Diese drei Arbeiten sind Brand, Peer Gynt und Kaiser und Galiläer.
Wohl durch den Zwang seines Berufs war Ibsen von vornherein veranlaßt, Dramen für die Bühne zu schreiben, und wir haben gesehen, welchen Höhepunkt er da in den Kronprätendenten erreicht hat. Wie der Zwang wegfiel, mag er das Bedürfnis gefühlt haben, seine Anschauungen und Ideale, nicht seine Kunstzwecke, in einer Weise zu äußern, die durch ihre größere Freiheit vom Kunstzwang scheinbar größere seelische und sonstige Vertiefung ermöglicht. Mag man auch den Vergleich mit Goethes Faustdichtung in gewisser Hinsicht durchaus ablehnen, sicher war sie die Veranlassung für die drei Werke, welche nun folgen.
Noch am ersten kann man dramatische Form in Brand und in Kaiser und Galiläer finden; wenn auch keine dramatische Situation, so enthalten sie doch wenigstens eine Art Konflikt; Peer Gynt hat am meisten Ähnlichkeit mit Faust insofern, als er bloß die Entwicklung eines Manschen schildert, in deren einzelnen Folgen wohl einmal entfernt die Möglichkeit eines dramatischen Konfliktes auftaucht, schnell aber wieder verschwindet, da das Interesse des Dichters eben der Wesensentwicklung seines Helden im Stil des Romans gilt; der Romanstil verlangt nämlich eine im wesentlichen passive Auffassung und Darstellung des Menschen: an dem Helden muß eine möglichst farbige Welt vorüberziehen, welche ihn bildet, in welche er aber nur höchstens mit scheinbarer Aktivität eingreifen darf; so gewinnt man im Roman, im Faust wie im Peer Gynt, den Eindruck, daß der Held sich nicht für uns zeigt, sondern sich für sich selbst bildet aus seinem vorigen unfertigen Wesen zu einem neuen fertigen. Im Drama darf sich der Held nicht für sich selbst bilden, da muß er gänzlich fertig sein, aber diesen an sich bereits fertigen Charakter entwickelt er vor dem Zuschauer durch den Verlauf des Stückes, in welchem er daher immer aktiv sein muß. Wohl gemerkt: das ist aus der Perspektive des Interesses am Charakter geschrieben, welche, wenigstens für den Dichter, immer die unrichtige ist; den darf nur die Situation interessieren, aus der muß er alles dichten.
Die Kunstformen sind nicht zufällig, sondern enthalten eine innere Vernunft, welche im wesentlichen aus der Psychologie des idealen Genießenden hervorgeht. Aber in Zeiten wie die heutigen, wo viel Talent zum Schaffen freigeworden ist und wenig Widerhall für wahre Kunst bei den Genießenden sich findet, verkehrt sich leicht das Verhältnis, und es wird nicht solche Kunst gemacht, welche die Triebe des Zuschauers befriedigt und damit im letzten Grunde die tiefsten Triebe des Menschen, sondern solche, in der sich die subjektiven Triebe, Erfahrungen und Gedanken des Künstlers äußern; das Geringe, das die Zuschauer oder Leser für ihre müden Stunden verlangen, wird von der verächtlichen Gesellschaft der Unterhaltungsschriftsteller befriedigt, wie dem Liebesbedürfnis der jungen Leute, welche zur Liebe keine Kraft haben, durch die Prostituierten genügt wird. So entstehen dann die Ideendichtungen und ähnliche Werke von Dichtern, welche innerhalb der Form, die ja erst alles adelt und groß macht, Großes schaffen würden, so aber höchstens geistreiche und sinnvolle Gebilde zustande bekommen, denen keine Dauer innewohnt, weil jeder Geist und jeder Sinn doch immer nur subjektiven Wert haben kann.
In der allgemeinen Übersicht über Ibsens Probleme ist Brand schon als Beispiel angezogen wegen der großen Klarheit, in welcher dieses Werk den einen Hauptfehler Ibsens erkennen läßt, denn in späteren Stücken wirkt die außerordentliche Theaterkunstfertigkeit zu verwirrend, die der Dichter neben seinem dramatischen Können hat. Sehen wir vom Technischen ab und betrachten wir jetzt nur das Dichterische.
Unter den vielen schönen und tiefen Worten des Werkes ist mir ein sehr kluges aufgefallen, das, wenn man es richtig ausdeutet, wohl auch tief ist; Brand sagt einmal:
Wer das nicht sein kann, was er soll,
Der sei nur ernstlich, was er kann.
Der zweite Vers enthält ein verständiges und kluges Männerideal: wer ernstlich ist, was er sein kann, dem wächst die Kraft, und er erhöht sein Können, daß er endlich über sich hinauswächst; und dadurch wird er auch glücklich und verzehrt sich nicht, denn er sieht nicht allzuweit, sondern bis an seine Grenze; aber da er in seinem Glück hart ist gegen sich selbst, so rückt er die Grenze immer weiter hinaus. Aber der erste Vers ist das unkluge Ideal eines Mannes, der im letzten Grunde feminin ist: Woher kommt ihm das Soll? Wer die Menschen dieses Verses im Leben beobachtet hat, der wird finden, daß es ihnen aus der Grausamkeit gegen sich selbst kommt, und ihr Ende ist gewöhnlich ein geistiger Tod, indem sie Schwätzer, Schwächlinge oder Betrüger werden, denn die Grausamkeit gegen sich selbst ist die größte Schlechtigkeit. Da bei Brand kaum einmal eine Handlung aus der Situation kommt, sondern fast immer nur aus seinem Wesen, so ergibt sich als Summe der Vorgänge des Werkes die Äußerung dieser Grausamkeit.
Brands Grausamkeit gegen sich ist eine psychologische Tatsache, die sich aus technischen Bedingungen des Vorgangs ergibt. Aber auch hier muß man immer fragen, wie bei allen bedeutsamen Erscheinungen: Liegt nicht vielleicht eine Wechselwirkung vor? Hat der Vorgang des Werkes den Dichter gezwungen, den Charakter grausam zu gestalten, oder hat die Grausamkeit des Charakters von Brand diesen Vorgang erzwungen? Auf solche Fragen gibt es keine Antwort: bei dem wahren Dramatiker erscheinen in der Phantasie Handlung und Charakter zugleich und untrennbar verbunden, nur der nachspürende Kritiker kann trennen, wenn er technische Untersuchungen anstellt. Möge an dieser Stelle auf diese Tatsache hingewiesen sein als auf ein Gegengewicht gegen die Darstellung im ersten Teil dieser Schrift, wo wegen des Zweckes derselben alles aus dem Technischen erklärt wird; ohnehin ist heute, wo allgemein nicht mehr ästhetisch bewertet, sondern historisch und, wenn es hoch kommt, psychologisch erklärt wird, die umgekehrte Darstellung ja die gewöhnliche, daß der Kritiker sich von dem an sich doch ganz uninteressanten Dichter ein naturgemäß wahrscheinlich falsches Bild macht, von welchem aus er dann die Werke des Mannes erklärt.
Brand kämpft gegen sich selbst; auch der Gegner des Kaisers Julian ist unsichtbar, aber wenigstens liegt er außer ihm, es ist der Galiläer. Der dramatische Erfolg muß derselbe sein wie bei Brand, nämlich eine Negation alles Dramatischen; aber beim Julian kommt noch eine besondere Nuance hinzu, die bei Brand nur für den Beurteiler erschien, nicht für den naiven Zuschauer. Im Grunde ist Brand eine tragikomische Natur: Julian ist eine tragikomische Natur auch in der Erscheinung; die Grausamkeit, die Brand noch gegen sich selbst wendete, wendet hier der Dichter gegen seinen Helden.
Der Kritiker (Paul Schlenther), welcher in der großen deutschen Ausgabe das Vorwort zu dem Werk verfaßt hat, schreibt hier einige sehr merkwürdige Sätze:
«Du hast gesiegt, Galiläer! Es ist eines der weltgeschichtlichen Worte, die geflügelt durch die Zeiten gehen. Kaiser Julianus Apostata soll es in seiner Sterbestunde gesagt haben. Schon in diesem Wort liegt die Tragik eines Menschenlebens. Eine Welt liegt in diesem Wort. Es erzählt von Kampf und Niederlage, von Hoffnung und Enttäuschung, von Wollen und Ohnmacht, von Haß und Reue, von Trotz und Zerknirschung, von Heldentum und Untergang. Kaiser Julian, der Herr der bewohnten Erde, empört sich gegen Christus, den Herrn des Himmels. Ein wahrhaft tragisches Schicksal! Ein wahrhaft tragischer Held! Man begreift, daß Schiller eine Zeit hatte, da er diesem Stoff zugetan war. Ein Vorwurf, wieviel gewaltiger als Wallenstein, der gegen den deutschen Kaiser aufsteht, als Macbeth, der seinen König mordet, weil er nicht zweiter sein will im Reich. Der sterbliche Mensch, der sich an einem Gottesgedanken zu Tode ringt – es ist nicht mehr die Tragödie seiner selbst, sondern die Tragödie der Menschheit, der Menschlichkeit. In diesem weiten und großen Sinne hat Ibsen den Gegensatz von Kaiser und Galiläer erfaßt. Nicht oft in der Weltliteratur ist von einem Dichter ein so kühnes Wagnis unternommen worden.»
Aus solchen Worten kann man ersehen, wie verderblich Irrtümer begabter Menschen auf ihre Bewunderer wirken können. Der nüchterne Beurteiler weiß, wie wenig das scheinbar oder wirklich Große, das im historischen Rohmaterial liegt, in der Dichtung nützt, wenn es nicht vom Dichter dargestellt werden kann. Die Größe eines tragischen Stoffes bemißt sich noch nach vielen anderen Dingen wie nach der Bedeutsamkeit der handelnden Personen: vor allem nach dem Kraftmaß, welches der Held in seinem Kampf in allmählicher Steigerung aufwenden kann. Dieses erhöht sich aber durchaus nicht unbedingt mit der Bedeutsamkeit seines Gegenspielers oder mit der absoluten Größe seiner Handlung; so ist Wallenstein ein besserer Stoff wie Macbeth; Julian aber ist gar kein tragischer Stoff, denn der Galiläer steht so hoch über dem Helden, daß er ihn gar nicht erreichen kann und in derselben Weise an ihm vorbei handelt, wie wir das öfters als Eigenart Ibsens sehen werden. Schiller hat wohl gewußt, weshalb er den Stoff nicht gewählt hat. Von einem römischen Kaiser wird erzählt, er habe Pfeile in die Luft schießen lassen, um mit Zeus zu kriegen: dieser Mann wird auf jeden tragikomisch wirken – nicht rein komisch; denn der Narr ist ja der Kaiser, wäre er etwa ein Philosoph, so wirkte er rein komisch. Anders ist Julian für die Kunst auch nicht aufzufassen – in der Geschichte kann seine Figur ganz anders aussehen. Sagen wir es nur gerade heraus: hier läge etwa ein Problem für einen Grabbe, aber nicht für einen ernsten Künstler.
Auch das entlegenste Gedankendrama ist doch immer ein Geschöpf seiner Zeit. In Wahrheit ist in dem Stück «der sterbliche Mensch, der sich an einem Gottesgedanken zu Tode ringt» nichts wie der Romantiker, der vergeblich seine Persönlichkeit gegen die Gesellschaft durchzusetzen sucht; wir haben das typische Problem des späteren Ibsen; und da die Gesellschaft hier, wo es sich um eine ganz geistige Angelegenheit handelt, natürlich noch weniger Aktivität entfaltet wie sonst, sondern lediglich durch den passiven Widerstand wirkt, so wird der Kampf noch komischer wie in anderen Stücken. Und auch das zweite typische Element der Ibsenschen Stücke erscheint: der Kampf mit dem Weibe.
fanden in den einleitenden Untersuchungen, daß Ibsen durch seine Stellung als Interessierter an der Entwicklung moderner Zivilisation zur Darstellung des Konfliktes zwischen Mann und Weib gedrängt werden mußte, und da der Konflikt von den hier überhaupt in Frage stehenden immerhin noch der dankbarste war, so konnte man schon annehmen, daß er in dieser Dichtung einen großen Raum einnehmen werde. Vielleicht hat auch eine psychologische Verfassung des Dichters, etwas, das man als eine Art geistigen Masochismus bezeichnen möchte, hier mitgewirkt, und die Tatsache, daß aus sozialen Gründen wie durch einen gewissen Rasseinstinkt in Norwegen das, was man Frauenfrage nennt, eine besonders große Bedeutung gewann.
Was der Konflikt bei Ibsen bedeutet, werden wir sehen, wenn wir an ein altes Stück denken, wo ein Konflikt zwischen Mann und Weib dargestellt wird; in der Antigone des Sophokles steht die auf reine Weiblichkeit hin geschaffene Antigone dem in reiner Männlichkeit gebildeten Kreon gegenüber; die Situation erfordert die geschlechtliche Differenzierung; um dieselbe kurz, wenn auch nicht durchaus treffend zu bezeichnen, kann man sagen, es handelt sich um den Gegensatz zwischen Politik und Schaffen auf der einen, Familie und Erhalten auf der andern Seite. Aber bei der tiefsten Gegensätzlichkeit haben beide Figuren doch einen gemeinsamen Boden, auf dem sie sich bekämpfen: es haftet ihren Motiven nichts von trüber Naturnotwendigkeit urtümlicher Instinkte an, sondern alles erklärt sich in reiner und klarer Vernünftigkeit aus allgemeinverständlichen sittlichen Motiven.
Anders bei Ibsen. Bei ihm werden die Geschlechter so differenziert, daß der Mann die Intellektualität vertritt, das Weib den irrationalen Naturtrieb. Auch hier finden wir wieder, wie wir sofort sehen, daß die beiden aneinander vorbei handeln müssen, weil sie nicht auf gemeinsamem Boden stehen; es kann sich also kein dramatisch verwertbarer Vorgang in diesem Kampf zeigen. Zweitens ist sofort offenkundig, daß der Mann stets der Schwächere sein wird, denn die Intellektualität wirkt nicht in der Bühnenperspektive, sondern nur der Wille, auch wenn er nur unklarer Ausdruck eines dunklen Triebes ist. Unzweifelhaft hat der Dichter Gelegenheit, psychologische Kunst zu zeigen, denn er steht der Natur näher wie ältere Dichter, die aus den Anforderungen der Kunst heraus schufen: aber wie immer, wenn ein auf das Psychologische gewandter Künstler nicht durch strenge Gesetze gezügelt wird, liegt dafür auch die Gefahr des Verlierens ins Krankhafte und Anormale nahe. Wie das herunterziehend wirkt, mag man später in der Wildente sehen, wo das heldenmütige Opfer eines jungen Mädchens erklärt werden muß aus den krankhaften Neigungen der werdenden Jungfrau, also aus dem Physiologischen. Kaum ein schlimmeres Beispiel ist möglich für die verderblichen Folgen eines zu weit getriebenen Wahrheitsfanatismus: der zu hohe sittliche Idealismus des Dichters zerstört hier nicht nur das Ästhetische, sondern in der Folge auch das Sittliche selber.
In anderem Sinne beleidigend wirkt das Weibliche bei Julian. Die Gemahlin des Kaisers schwankt zwischen einem robusten menschlichen Liebhaber und dem Seelenbräutigam Christus, bis sie im Wahn beide verwechselt. Solche Figuren darf nur ein Dichter verwerten, der die Form ganz beherrscht und jeden Eindruckes sicher ist, den er erzielt; außer Shakespeare hat niemand Erfolg mit solcher Kühnheit gehabt. Bei Ibsen wirkt die Figur nicht als notwendig, sondern als zufällig, und damit verliert sie jede Berechtigung.
Das Werk ist gänzlich verfehlt, und doch zeugt es von einem großen Dichter. Möge noch einmal ein Zitat aus der Einleitung gestattet sein, um die Gefahr solchen Irrtums zu zeigen:
«Was Aristoteles vom tragischen Helden verlangt, erfüllt dieser Ibsensche Kaiser vollauf: er erregt Furcht und Mitleid. Aber mitten in seinen gräßlichen Christenverfolgungen, mitten in seiner schweren Selbstpein, das Unmögliche zu wollen, erregt er neben Furcht und Mitleid noch ein drittes Gefühl, und dadurch unterscheidet sich dieser Held von allen andern tragischen Helden: er erregt auch Spott. Er will ein Gott werden, und in ihm wird Gott zum Spott. Es liegt eine wahrhaft teuflische Kraft darin, wie Ibsen mit demselben Gegenstand, in den er das gewaltigste Wollen und ein großes Können legt, zugleich spielt wie die Katze mit der Maus. So erhaben und lächerlich zugleich ist Julian. So erhaben und lächerlich zugleich, wie nach Ibsen alles Menschliche. Es ist eine klägliche Welt von Kriechern und Schmarotzern und Feiglingen, die den Kaiser umgibt, die er durchaus ernst nimmt, von der er sich gängeln läßt. Es spielen sich dabei die possierlichsten Komödien ab.»
Soviel Behauptungen, soviel Irrtümer. Ein Mann, der Spott erregt, soll zugleich Furcht erregen? Das ist im Leben möglich, wie auf der Bühne. Er soll Mitleid erregen? Das ist im Roman möglich, im Leben sehr selten, auf der Bühne ganz unmöglich. Der Dichter, der mit seinem Gegenstand spielt, soll Kraft zeigen? Er zeigt Schwäche, denn hätte er den Punkt zu finden verstanden, von dem aus alles notwendig wird, so hätte er nicht spielen können, und es wäre eingetreten, was bei einem wirklichen Kunstwerk eintreten muß: das Werk steht hoch über dem Dichter. Nur in einem hat der Kritiker recht: etwas Teuflisches liegt hier.
Etwas Teuflisches liegt in jedem großen Lustspieldichter. Nur selten stimmen bei einem solchen Begabung und Wille überein; bei einem Künstler, der auf einem andern Gebiete Großes geleistet hat, scheint diese Übereinstimmung im Innerlichsten vorhanden gewesen zu sein, bei Aubrey Beardsley. Ibsen hat das Talent, «eine Welt von Kriechern, Schmarotzern und Feiglingen» zu schaffen, aber nur Auge und Hand wird auf diese Welt eingestellt, sein ideales Wollen treibt ihn zur Tragödie. Diese Meinung über des Dichters Wesen könnte man wenigstens aus seinen Werken gewinnen.
Zwei seiner Werke hat Ibsen als Lustspiele gebaut: die Komödie der Liebe und den Bund der Jugend.
Von diesen muß man die Komödie der Liebe zu den verfehlten rechnen. Alle Vorgänge sind derartig ins Intellektualistische verschoben, daß das Ganze eigentlich nur eine Art Feuilletonarbeit ist. Vieles ist recht geistreich und hübsch gesagt und könnte, wie so Geistreichigkeiten sind, auch umgekehrt werden und klänge dann auch hübsch, aber ein eigentliches Interesse kann man noch nicht einmal an den Gedanken gewinnen, noch weniger an den Personen, und gar nicht an der Handlung. Aus diesem Stück sieht man so recht, wie vergänglich alles ist, was auf dem Flugsand der Zeitmeinung aufgebaut ist, denn seinerzeit hatte das Werk den stärksten Erfolg, zu dem es heute eine Dichtung bringen kann: es erweckte die tiefste Entrüstung der gebildeten Kreise.
Der Bund der Jugend ist ein Meisterwerk und gehört zu des Dichters vorzüglichsten Stücken. Andere seiner Dramen, wie etwa das Puppenheim, haben eine weit größere Wirkung ausgeübt, weil sie aus den Wünschen der Zeit heraus geschrieben waren; der Bund der Jugend wird aber ein längeres Leben haben, denn er fesselt wahrscheinlich immer mehr, je mehr die Zeitbeziehungen verblassen werden.
Es gibt kaum ein glücklicheres Lustspielmotiv wie das Erlebnis des Helden; dem Intriganten glückt zunächst alles, mit einer märchenhaften Schnelligkeit steigt er bis zur vorletzten Stufe der Höhe, welche er sich vorgenommen hat zu erklimmen, da aber kommt er zu Fall. Ein bloßer Intrigant ist nicht komisch, komisch wird er erst durch die Dummheit; und unser Held ist dumm; aber ein bloß dummer und berechnender Mensch wirkt abstoßend; einige Züge muß der Mann haben, daß er uns eine gewisse Sympathie abgewinnt, nur dürfen diese Züge nicht so bedeutsam sein, daß unsere Sympathie das zu lässige Maß überschreitet, welches gegeben ist durch die Notwendigkeit des Vergnügens über seinen Sturz. Mit dem feinsten Takt hat Ibsen da gewählt: der Held ist jung, naiv, optimistisch, voller Selbsttäuschungen, kein abgebrühter Schuft, sondern ein Mann, der zwar immer nur an sich denkt, aber das in so kindlicher Weise, daß er damit niemanden täuscht und dem Zuschauer ein Lächeln ablockt; der zwar um jeden Preis in die Höhe kommen will, aber dann nicht eigentlich bösartig sein wird, sondern eben wegen seiner offenherzigen Selbstsucht kaum je einen eigentlichen Schaden anrichten kann; kurz, er ist ein Mann, von dem sich der vergnügte Zuschauer sagt: ein sehr begabter Mensch, aber mich würde er doch nicht hinter das Licht führen; um dieses letzteren Triumphes willen liebt ihn der Zuschauer bis zu jenem eben bestimmten Grad. Natürlich ergibt sich aus dieser Notwendigkeit, daß die Hereingelegten im Stück nicht die höchsten Geistesgaben aufweisen dürfen.
Eine bestimmte Art von Lustspiel, zu welcher der Bund der Jugend gehört, hat ihren Angelpunkt im Charakter des Helden; von dem muß man also in der Kritik ausgehen, im Gegensatz zu dem Vorgang bei der Untersuchung der Tragödie. Das hat seinen Grund darin, daß das Lustspiel nicht durch Notwendigkeit und Zwang der gesamten Handlung wirkt, sondern durch die Heiterkeit und Fülle der augenblicklichen Situation, so daß für den Aufbau nur eine Steigerung des Heiterkeitseffekts dieser aufeinanderfolgenden Situationen zu erzielen ist, sonst kann das Gefüge ganz locker sein.
Es ist klar, daß die Figuren des Lustspiels, da sie in noch höherem Maße einem Bedürfnis des Zuschauers entsprechen müssen wie in der Tragödie, eine entsprechend stärkere Tendenz auf Typisierung haben werden; wo der tragische Dichter mit Vorteil sein Werk in eine entfernte Zeit versetzt, um alle Erinnerungen nach Möglichkeit zu vermeiden, welche die hochgespannten Gefühle der Zuschauer abspannen könnten, wird der Lustspieldichter am vorteilhaftesten sein Stück in der Gegenwart spielen lassen, weil er hier komische Wirkungen mit geringerem Kraftaufwand erreichen kann durch die tausend Beziehungen zur Gemeinheit des täglichen Lebens; so kann hier ein scheinbarer Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie entstehen. So vermag man auch die übrigen Figuren des Bundes der Jugend auf die herkömmlichen Lustspieltypen zurückzuführen: das ist kein Fehler, sondern ein Vorzug des Stückes. Es fallen lediglich ein paar Nebenfiguren aus diesem Rahmen; auch hier, wo Ibsen so sehr in der reinen Kunst lebt, daß er nur auf das Komische achtet und alles, was er an Gesinnungen, Überzeugungen und politischen oder sozialen Absichten sonst haben mag, einmal vergißt, muß er doch wenigstens in Nebenfiguren Weltanschauliches geben. Schon der eigentliche Gegenspieler gegen den Helden, der alte Abgeordnete Lundtstad, ist mit solchem Ingrimm gezeichnet, daß er gewiß einen unbehaglichen Ton in das fröhliche Stück bringen würde, wenn er mehr hervorträte; zum Glück ist er nach der allgemeinen Anlage des Stückes nicht allzuwichtig, da des Helden Seifenblasen von selber platzen. Noch viel mehr Ibsengedanken stecken in dem Vertrauten, die meisten im Räsoneur, und völlig zu einer Gestalt kristallisiert stellt sie eine Nebenfigur, der Buchdrucker Aslaksen, dar.
Schon daraus, daß selbst in diesem Stück Ibsen seinen ethischen Idealismus nicht zurückhalten konnte, kann man ersehen, weshalb er nicht wieder ein Lustspiel schreiben mochte: er vermochte nicht die heitere Weisheit zu erringen, die dazu nötig gewesen wäre; dessen Ursache ist wohl eine Inkongruenz zwischen dem Maß seiner Intellektualität und seines Willens – auf jeden Fall hat er gegen den Trieb seines Talentes gedichtet: sowohl durch jene Inkongruenz wie durch dieses Arbeiten gegen sich selbst ist er ein typischer Vertreter des modernen Menschen, wie er sich unter den Bedingungen der Zivilisation oder Demokratie herausgestellt hat.
Schon in den einleitenden Bemerkungen ist einiges über die Stützen der Gesellschaft gesagt.
Offenbar vermag die polizierte Gesellschaft nicht ohne die Heuchelei auszukommen. Die Triebe der Individuen fallen nicht durchaus mit den Ansprüchen der Gesellschaft zusammen; einen der wichtigsten Teils dieses inkongruenten Gebiets behandelt das Stück. Das Verhältnis der oberen zu den unteren Klassen kann heute nicht mehr wie früher durch die bloße Gewalt festgesetzt werden, da in unserer heutigen Gesellschaftsform der gute Wille und ein gewisses Freiheitsbewußtsein der unteren Klassen erforderlich ist; an die Stelle der physischen Gewalt treten seelische Mächte, ein Suggerieren des gesellschaftlich Nützlichen, durch die oberen Klassen an den unteren ausgeübt; die bloßen Worte haben aber heute nicht mehr genügend Suggestionskraft, denn die unteren Klassen haben heute auch ihre Sprecher gefunden und wissen genügend Entgegnungen auf die Worte der höheren; deshalb erscheint die Notwendigkeit, durch die Lebensführung zu wirken, den unteren Klassen zu zeigen, daß auch oben nur gearbeitet werde und keine beneidenswerte Lebensfreude herrsche. So kommt es, daß einerseits zwar wirklich der Lebensgenuß in den höheren Gesellschaftsschichten abnimmt, was sich naturgemäß, das sei am Rande bemerkt, zunächst in allgemeiner Verrohung äußert, denn es sind die geistigen Genüsse, die zunächst verschwinden; andererseits aber wird der Rest von Freude, der doch noch verbleibt, sorgfältig unter dem Mantel der Heuchelei verborgen, wodurch er natürlich für die eigentlichen Ziele der Menschheit auch nicht wertvoller wird.
Ergibt sich nun schon so aus der abstrakten Betrachtung der Gesellschaftsordnung, in welche Ibsen seine Werke stellt, daß der Kampf gegen die Heuchelei unmöglich ist, weil er einfach ein Kampf gegen die Lebensbedingungen der Individuen ist, die ja eben nur in der Gesellschaft existieren können, so werden wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn Ibsens Einzelfälle diese Unmöglichkeit nur beweisen; man kann dann nach der Vorstellung eines Stückes sagen: Der Dichter ist ein Skeptiker; man müßte aber richtiger urteilen: Er hat sich eine unlösbare Aufgabe gestellt: ein Künstler darf nicht Skeptiker sein. Konsul Bernick ist unzweifelhaft ein Lügner und Heuchler. Wäre er ein Idealist gewesen, wie ihn Lona Hessel wünscht, so hätte er sein Leben zwar nicht auf einer Lüge aufgebaut, aber die große Unternehmung, die er nur durch diese Lüge gehalten hat, wäre zusammengebrochen. Freilich, wenn alle Menschen Idealisten wären, so könnte jeder die Wahrheit sagen, und die menschliche Gesellschaft vermöchte doch zu bestehen; so etwa pflegen die Anarchisten zu denken, denen aber auch niemand glauben wird, daß sie imstande sind, eine Gesellschaft zu bilden; und so pflegen ideal gesinnte Frauen zu denken, welche nicht im sozialen Kampf stehen und daher nicht wissen, daß das Unsittliche genau so notwendig für das Leben ist wie das Sittliche und daß besonders Staat und Gesellschaft wahrscheinlich mehr durch die üblen Triebe der Menschen zusammengehalten werden wie durch die guten. Was im Leben närrisch ist, kann durch die Kunst nicht erhaben gemacht werden; selbst wenn ein Dichter viel tiefer ginge wie Ibsen, so könnte er aus der Handlung, wie sie vorliegt, nie etwas Tragisches schaffen; das Höchste, was möglich war, hat Ibsen schon aus ihr gemacht – ein Schauspiel. Aber doch liegt in dem Konflikt an sich die Möglichkeit einer Tragödie, und zwar einer, welche die tiefste Wirkung haben müßte. Verallgemeinern wir, so haben wir den Gegensatz: Sittliches Individuum – notwendiger Anspruch der Gesellschaft auf unsittliches Handeln dieses Individuums. Kleiden wir den Gegensatz nicht in das triviale Gewand von Exportgeschäften und Eisenbahnbauten, wo ihm durch die Geringfügigkeit der Objekte des Streites seine Bedeutsamkeit genommen wird: denn wenn durch die Sittlichkeit des Helden die Firma bankrott geht, so handelt es sich für die Bühne nur um eine Firma; der Umstand, daß in Wahrheit das bedrohte Leben der Gesellschaft gegen die Idealisten kämpft, kann nicht in eindrucksvoller Weise veranschaulicht werden. Also kleiden wir ihn in das für diesen Fall prächtigste und eindrücklichste Gewand: der Idealist ist ein junger König, der entweder eine unsittliche Handlung begehen muß, oder sein Land zugrunde richtet. Er begeht die Handlung und wird nun immer weiter verstrickt im Unsittlichen, bis er gänzlich vernichtet ist. Vielleicht denkt man an Macbeth und bewundert die Klugheit Shakespeares, die Staatsräson verschwinden zu lassen und den Mord Duncans nicht aus diesem Relativen, sondern aus einem Absoluten hervorgehen zu machen, aus einem Willen zur Herrschaft, der dann, weil auch er noch zu unfaßlich schien, in einer Figur verkörpert wird, in der Lady Macbeth. Man wird zugeben, daß das ein großes, tragisches Motiv ist, man wird aber auch finden, daß es für die Behandlung eine ungeheure Schwierigkeit hat; die liegt in der Darstellung des Helden: seine Sittlichkeit muß nämlich immer als Stärke erscheinen und darf nie an Schwäche erinnern, etwa an Unerfahrenheit, Feigheit oder Doktrinarismus.
Noch größer wie in diesem angemessenen Gewände des Konflikts ist jene Schwierigkeit in dem unangemessenen bei Ibsen. Hätte Ibsen den eigentlichen Vorgang dargestellt, um den es sich handelt, nämlich als vor langen Jahren Konsul Bernick das Geschäft übernahm, seine Liebe aufgab, ein Opfer annahm, das er nicht hätte annehmen dürfen, den Freund verleumdete und so das Geschäft rettete, so hätte er, wenn es hoch kam, rührselige Wirkungen erzielt; wegen der relativen Geringfügigkeit und des nur intellektuell abschätzbaren Wertes des Kampfobjekts – das Geschäft – hätte er keine genügend starke Verkörperung des Gegenspiels gefunden: etwa hätte der Vater noch leben müssen und ihm die Folgen seiner Ehrlichkeit vorstellen, die Firma als sein Lebenswerk bezeichnen, an seine kindliche Liebe appellieren müssen – aber der Zuschauer würde sagen, daß Bernick solchen Gründen nicht nachgeben darf; etwa ein Räsoneur hätte ihm nach Art von Shaw erklären können, daß die gesamte bürgerliche Gesellschaft auf der Lüge ruhe, daß ein Wahrheitsfanatiker revolutionär wirke und die Stützen von Thron und Altar untergrabe – aber der Zuschauer würde über einen solchen Zyniker seine Entrüstung äußern und erst recht verlangen, daß Bernick wahr sei, wenn der Held aber doch nachgab, wie der junge König unseres Beispiels, ihn durchaus nicht als tragisch empfinden.
Ibsen half sich, und hier stoßen wir wieder auf eine Besonderheit seiner Technik, indem er alles in die Exposition brachte und es uns mit geschickter Spannung nach und nach enthüllte.
Eine der größten Tragödien, welche wir haben, ist in dieser Weise gebaut, nämlich der König Ödipus des Sophokles. Auch hier war der Grund, daß der Dichter keinen Gegenspieler hatte, denn die Handlung stellt nur die blinde Erfüllung eines Orakelspruchs dar; um die nötige, bei dem ungeheuren Stoff notwendig geringe dramatische Bewegung in das Spiel zu bringen, brauchte der Dichter die Erregung des Ödipus gegen Kreon und Teiresias. Wohlgemerkt: ein ungeheurer Stoff und eine geringe dramatische Bewegung. Denn offenbar kann man keine starke dramatische Bewegung erzielen durch Entwicklung einer Exposition, und es muß also die Exposition einen so ungeheuren Stoff enthalten, daß das Stück trotzdem Schwere genug erhält.
Offenbar erfüllt die Geschichte des Konsuls Bernick diese Bedingung nicht. Deshalb war zu der Enthüllung und der durch sie meisterhaft erzeugten Spannung noch weiteres nötig: einerseits eine Weiterführung der Schuld, indem Bernick den gefährlichen Zeugen auf einem gebrechlichen Schiffe möchte untergehen lassen, andererseits eine Weiterführung des Kampfes, den er vor Jahren einmal gekämpft zwischen Lüge und Wahrheit, durch die Angst um das Leben des einzigen Kindes und die Forderungen der Lona Hessel. Man kann die technische Weisheit Ibsens auch in diesem schwachen Stück nicht genug bewundern, wie er das alles zu kombinieren verstanden hat. Freilich, ein Fehler, der im Stoff liegt, ist nie zu verwinden: jeder Zuschauer, wenn er auch nicht weiß, welches die letzten Zusammenhänge sind, die sie erklären, hat durchaus das Recht zu der Empfindung: das Sündenbekenntnis Bernicks ist einesteils ohne Zweck, wie Brand seine Gemeinde ohne Zweck in die Eisberge mitnimmt, und es ist nur Resultat augenblicklicher Eindrücke ... sagen wir: es ist Theater.
Mit dem Puppenheim beginnt die Reihe der Stücke, welche den Kampf zwischen Mann und Weib als Hauptkonflikt behandeln, nachdem schon seit langem eine eigentümliche Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter eine bedeutsame Rolle in dem Werke des Dichters gespielt hat.
Im Puppenheim haben wir noch völlig ein Werk des doktrinären Idealismus, wie in den Stützen der Gesellschaft: dort drehte sich der Kampf um die Wahrheit, hier um die Gerechtigkeit. Der Mann behandelt sein Weib als eine Puppe, sie will aber Selbständigkeit und freie Verantwortlichkeit gleich ihm; in dem Ringen, welches sie dabei mit ihrem Gatten hat, erkennt sie ihn als unwürdig, und in großer Kraft verläßt sie ihn und bringt sogar die Mutterinstinkte zum Schweigen, welche sie in ihrer alten Lage zurückhalten möchten. Diese Frau Nora ist eine wahrhafte Heldin, und das Stück hat wahrhafte Größe; hier hatte der Dichter ein Motiv gefunden, das ihn nicht in das Soziale hinabdrückte, sondern in das Gebiet des freien und allgemeinen Menschlichen erhob: ein Mensch, welcher durch sein Wesen ausweist, daß er Recht auf Freiheit hat und nun um seine Freiheit kämpft, wird immer eine große Aufgabe für den Theaterdichter bieten.
Aber diesem Stück fehlt eins: der Konflikt hat nicht das passende Gewand gefunden. Das nächste Werk, die Gespenster, behandelt denselben Konflikt, aber tragisch; es ist deshalb wohl angebracht, beide Werke zusammen zu behandeln und die Fehler des einen an den Vorzügen des anderen klarzumachen.
Die dramatische Führung, immer bewundernswürdig bei Ibsen, ist hier geradezu genial zu nennen. Was sich vor uns abspielt, ist das Martyrium der Mutter, welche den einzigen und über alles geliebten Sohn, den sie in heroischer Entsagung um seiner selbst willen in langen Jahren von sich entfernt aufwachsen ließ, nun endlich in ihr Haus bekommt, und allmählich erfährt sie, daß er dem furchtbarsten Siechtum verfallen ist, das denn auch am Schluß des Stückes beginnt; mit diesem Vorgange, der sich abspielt, bekommen wir gleichzeitig die Enthüllung ihrer Vergangenheit als eines unsagbaren Kampfes gegen einen ganz unwürdigen Mann, um des Kindes und ihrer selbst willen den Schein zu retten, und noch weiter zurück des vergeblichen Versuchens, aus ihrem Elend sich zu helfen, welches daran scheitert, daß der Mann, den sie liebte, ihre Lage nicht verstehen oder fühlen konnte. Der Vorgang und die Enthüllung entwickeln sich gleichlaufend aus einem zunächst frohen Anfang: der Vorbereitung des Festes zu Ehren des verstorbenen Gatten und der Heimkehr des Sohnes, zu dem Schluß, daß der Zuschauer den Brand des frommen Heims und die Stiftung eines unfrommen zu Ehren des Verstorbenen erfährt und den Verfall des Sohnes vorgeführt erhält mit der Endaufgabe für die Mutter, daß sie ihr Kind nun töten soll, um es vor Schrecklicherem zu bewahren. Um es gleich hier zu bemerken: ein dramatischer Fehler ist es, daß das tragische Interesse von der Mutter bis zu einem gewissen Grade durch den Sohn abgelenkt wird. Der Sohn hat hier die Bedeutung, wie etwa bei Alfieri ein Ring oder ein Schwert, durch das ein Zusammenhang erkannt wird, er ist ästhetisch nur ein Objekt, an dem das tragische Schicksal der Frau sich entwickelt, theatralisch ein Requisit; aber da er als ein handelnder Mensch mit einem sehr ergreifenden Geschick auf der Bühne erscheint und körperliches Leiden, weil sichtbar, stets mehr Eindruck macht wie seelisches (noch dazu kommt praktisch, daß jeder Episodenspieler auf der Bühne sich die größte Mühe gibt, seine Mitspieler in den Hintergrund zu drängen), so knüpft sich an ihn ein zu starkes menschliches Gefühl des Zuschauers, durch das die tragische Stimmung, welche die Mutter hervorrufen soll, geschädigt wird. Dieser Vorwurf ist aber auch der einzige, den man dem Werk machen darf, außer dem prinzipiellen, welcher sich gegen die bürgerliche Tragödie überhaupt richtet.
Wie kommt es nun, daß derselbe Konflikt bei Nora nur zu der flachen Wirkung des Schauspiels, hier zu der tiefsten tragischen Wirkung führt?
Die Fabel der Nora ist novellistisch, die der Frau Alving ist tragisch. Ein Novellenstoff muß in seinem Mittelpunkt ein irrationales Element enthalten, eine Überraschung, die sich bis zum Märchenhaften steigern kann, wie ja die Grenze zwischen der echten Novelle und dem Märchen fließend ist; ein tragischer Stoff muß von Anfang bis zu Ende rational sein, von eherner Notwendigkeit, eine Art mathematischen Exempels.
Der Rechtsanwalt Helmer ist ein Mann wie viele andere Männer, weder irgendwie minderwertig, noch irgendwie hervorragend; in einer entscheidenden Situation benimmt er sich roh gegen seine Frau, wie er nämlich hört, daß die ihm zuliebe eine Fälschung begangen hat, und nachher wird er sogar gemein; aber der vernünftige Zuschauer muß ihn entschuldigen, denn einen mittelmäßigen und bürgerlichen Mann, der nicht die Beweglichkeit hat, sich in die anders wertende weibliche Seele zu versetzen, muß eine Fälschung allerdings auf das höchste erregen; nach einigen Tagen, wenn es ihm gelungen ist, irgendwie die Sache ins Gleiche zu bringen, wird er seine Erregung überwunden haben und zu seiner kleinen Frau sagen: ich war damals in begreiflicher Hitze, jetzt erst empfinde ich deinen guten Willen und bedaure meine Worte, aber solche Dinge dürfen kleine Frauen nicht wieder tun. Aber Nora entwickelt sich inzwischen (wenigstens sollen wir das glauben) aus der kleinen Frau zu einem gleichberechtigten Wesen mit Ansprüchen auf Freiheit und Selbstbestimmung; und nun? Die Novelle sagt: sie verläßt Mann und Kind und zieht in die Fremde; das sagt sie deshalb, weil im Leben das sehr selten geschehen wird, da stumpft sich einfach der Gegensatz ab durch Nachgeben und Kleinlichkeit; so hat die Novelle die Überraschung und das irrationale Element in einer Schlußpointe; für den Dramatiker aber stellt es sich heraus, daß die Fabel undankbar für ihn ist.
In der Fabel der Gespenster ist alles Notwendigkeit: die Frau ist von ihrer Familie gezwungen, von ihrem Geliebten nicht verstanden, hat keinen Ausweg und muß ihre Last bis ans Ende tragen; dann, wie der Mann gestorben ist, zeigen sich die Folgen seines Lebens an dem Sohn. Hier ist nirgends eine novellistische Überraschung möglich – wohlgemerkt, eine novellistische, also ästhetische; im Leben, wo nicht bestimmte Sympathien für Geschehnisse und Charaktere nötig sind, selbst im Roman, wo man durch Buntheit des Lebens Widerwärtiges erträglich machen kann, liegt die Sache natürlich anders.
Die Probe auf das Exempel ist die Tatsache, daß in den ersten Zeiten, als Ibsen noch umstritten war, die Bühnenroutiniers einen versöhnlichen Schluß der Nora spielten; das Stück wird dadurch platt, aber es wird nicht unmöglich: den Schluß der Gespenster könnte man auf keine Weise ändern. Und bezeichnend ist, daß in dem versöhnlichen Schluß die Kinder Noras eine Rolle spielen. Die Art von Abstraktion, welche Stil der Novelle ist, kann von der Bedeutsamkeit der Kinder in unserm Konflikt absehen, denn für sie ist es ja gerade wichtig, nicht typische Menschen zu verwerten; im Drama aber muß jeder Konflikt so tief gefaßt werden, daß alles Typische in die Fabel hineingeht; nun hängt aber in dem Kampf um die Selbständigkeit des Weibes alles vom Kind ab: daß die Tragik der Frau Alving sich in ihrem Kind vollendet und daß bei Nora die Kinder nur eine nebensächliche Bedeutung haben, indem ihr Zurücklassen die Energie der Heldin zeigen soll, das gibt den besten Gradmesser für die Bedeutsamkeit der beiden Fabeln ab.
So kommt es, daß das Puppenheim nur ein Tendenzstück ist, die Gespenster eine große Tragödie, und es ist nur angemessen, daß zu ihrer Zeit Nora eine größere Wirkung auf die Leute ausübte wie die Gespenster: die künstlerischen und dichterischen Eigenschaften sind es ja nicht, die heute einen Mann berühmt machen.
Nach den Gespenstern hat sich Ibsen immer mehr verfeinert, aber er hat nie wieder tragische Größe erreicht. Oft kommt mit unheimlicher Gewalt das Teuflische zum Vorschein, das der Komiker haben muß, aber auch das wird nicht zur Größe entwickelt; es ist, als ob die Fähigkeiten und die Tendenzen des Dichters sich immer mehr gegenseitig lähmten.
Offenbar ist unsere Zeit sehr geeignet, die Leute skeptisch zu stimmen hinsichtlich der menschlichen Größe: es ist alles berechenbar geworden. So kann ein Dichter, welcher durchaus ein Kind seiner Zeit ist, sehr leicht zu solcher Skepsis gelangen; und mögen seine Verehrer gerade diese als besonders bedeutsam bei ihm empfinden: spätere Zeiten, in denen andere Umstände wirken, werden anders urteilen und nur das schätzen, was sich aus den ewigen Bedingungen der Kunst ergibt; der Zweifel an der menschlichen Größe ist aber den Bedingungen der dramatischen Kunst geradezu entgegengesetzt. Durch diese Bemerkung wird nicht hinfällig, was weiter oben über die Tendenz der Wahl von Problem, Stoff und Fabel auf tragikomische Ergebnisse gesagt ist, es findet hier wie in allen wichtigen Dingen Wechselwirkung statt.
In der Einleitung Schlenthers zum Volksfeind heißt es: «Zur Tragikomödie gehört es, daß der Held von seinem ethischen Standpunkt aus die Welt richtig ansieht und nur dadurch mit ihr in Konflikt gerät, daß sein Standpunkt nicht der allgemeine Standpunkt ist.» Das ist keine Definition des Tragikomischen, sondern eine Erzählung des Ibsenschen Grundproblems, die auf unsere Formel hinauskommt: Kampf des Menschlichen gegen das Soziale. Völlig deutlich ist der Kampf und sein tragikomisches Resultat im Volksfeind dargestellt: ein braver und tüchtiger Mann, der Badearzt ist, entdeckt, daß die Heilquelle giftig ist und nicht gesund; er verlangt eine andere Wasserleitung, aber die Leute, welche das Geld dazu hergeben müßten, wollen natürlich nicht, und die Bürger möchten ihn zum Schweigen bringen. Der Zuschauer wird sich sagen: gut, das ist verständlich von den Leuten, aber sie werden nicht durchdringen, denn natürlich kommt die Giftigkeit der Heilquelle doch heraus, die Fremden bleiben fort, und dann wird die Reaktion schon eintreten, sie werden einsehen, daß ihr Doktor recht hatte, und wenn der dann die Situation verständig ausnützt, so kann er der Wahrheit zum Recht verhelfen und seine eigene Lage verbessern. Zum Unglück ist der Mann aber zu heißblütig und will mit dem Kopf durch die Wand, das verbittert die Leute. Schlenther findet in dem Stück vielleicht mit Recht eine Absicht, welche dem Tiefsinn eines freireligiösen Predigers Ehre machen würde. «Die Erziehung und Erzielung einfacher Menschen, die sich nicht anders geben, als sie sind, die sich selber ausbauen aus den eigenen Empfindungen und Gedanken, bei denen Natur und Sittlichkeit eins werden.» In Wahrheit handelt es sich nur um den Kampf eines Hitzkopfes gegen die konservativ gesinnte Menge: ein durchaus steriles Motiv.
Eine ganz andere Bedeutung hat die Wildente. Da haben wir ein Stück, das zwar gleichfalls im Charakter seinen Angelpunkt hat, nicht in der Situation, und so seine starke Verwandtschaft mit der Komödie beweist; aber während im Volksfeind nur eine einzige Eigenschaft eines sonst vernünftigen Mannes, nämlich die Hitzköpfigkeit, die verhängnisvolle Bedeutung hatte, hat sie hier das gesamte Wesen des Helden Hjalmar Ekdal; und zwar ist dieses Wesen so, daß seine Grundlage, nämlich die Notwendigkeit der Lebenslüge, ein Gemeingut aller Menschen ist, nur nicht bei allen so ungehemmt wirkt und eine so günstige Situation trifft und schafft; so ist der Charakter und sein Erlebnis durch den bittern Dichter ein tiefer symbolischer Ausdruck von Allgemeinmenschlichem geworden.
Noch einmal sei es betont: dem tiefsten Wesen der dramatischen Kunst ist diese Art Dichtung entgegengesetzt – glücklichere Zeiten können vielleicht sagen, dem tiefsten Wesen der Kunst überhaupt; denn die Absicht der Kunst ist nicht das Erzeugen von Depressionsgefühlen, und daß wir die heute in der Kunst suchen, ist in seiner Art ein ähnliches Zeichen des Niedergangs, wie wenn etwa im Jesuitenstil Stoffvorhänge mit Troddeln und Quasten durch bunten Marmor vorgetäuscht werden und so das Kunstziel eine verdrießliche oder auch vergnügte Überraschung wird. Ein Dichter soll nicht zu tief denken über das Menschliche, das er ja darstellen will, und nicht untersuchen, sonst stößt er auf den Widerspruch, und vielleicht, wenn er den durchgedacht hat, wird ihm auch der Widerspruch von neuem widersprochen: er kann einen Weisen darstellen, aber er soll nicht als ein Weiser schaffen; der Narr im Lear – er ist a bitter fool, der Mann – hat die Relativität alles Seins eingesehen, aber sein Dichter Shakespeare weiß nichts von diesem Wissen, wenn er mit Lear, der ein König ist, an das Absolute glauben muß.
Der alte Ekdal ist durch seinen Geschäftsfreund Werle zugrunde gerichtet und wohnt nun bei seinem Sohn Hjalmar, der durch seine Frau erhalten wird, die einstige Geliebte des alten Werle. Der Vater lebt in seiner Stumpfheit durch eine Lebenslüge, welche als anschauliches Symbol wirkt, indem er auf dem Hausboden unter alten vertrockneten Weihnachtsbäumen mit einer Flinte ohne Schloß auf die Jagd zu gehen glaubt; eine Wildente, die Werle lahmgeschossen hat, wird von der ganzen Familie auf diesem Boden gepflegt; der Sohn erhält sich am Leben, indem er sich einredet, er sei im Begriff, eine große Erfindung zu machen, und indem er seine Trägheit für Nachdenken um die höchsten Menschheitsziele ausgibt. Die Frau ist ordentlich und vernünftig, und allein durch ihren Fleiß geht die Wirtschaft; in ihrer gewöhnlichen Nüchternheit ist sie die Angenehmste von den dreien. Die kleine Tochter, welche eigentlich des alten Werle Kind ist, verkörpert alles Edle und Hochstrebende – wie schon in der Einleitung erwähnt, weil sie in den Entwicklungsjahren ist. In diese Welt kommt der Sohn des alten Werle, welcher im Hochgebirge ein idealistischer Narr geworden ist und überall Wahrheit schaffen will, weil nur in ihr ein gedeihliches Leben möglich ist. So klärt er denn Hjalmar über alles auf, was der natürlich gewußt, aber sich nie eingestanden hat, und erreicht dadurch, daß das Kind aus Liebe und Hochherzigkeit sich tötet, während die andern drei weiterleben, wie sie gelebt haben.
Was theatralische Kunst betrifft, so überbietet das Werk noch alles andere, was Ibsen gearbeitet hat; wir bleiben in beständiger Spannung; jede Replik ist so ausgearbeitet, daß sie gleichzeitig weiterführt, eine Person charakterisiert und oft genug noch einen symbolischen Sinn für die Handlung und eine absolute Bedeutsamkeit hat, die letztere freilich oft über den Rahmen hinaus. Es gibt wohl kaum einen Dichter, der mit solcher Konzentration arbeitete, außer den ganz Großen, und zu denen muß man durch diesen Teil seiner Eigenschaften Ibsen rechnen. Aber der Grund, auf dem das alles aufgebaut wird, ist so trügerisch, daß eine Analyse der Handlung vom technischen Standpunkt gar nicht möglich ist.
Ähnlich zu beurteilen wie die Wildente sind Rosmersholm und die Frau vom Meere; auch diese Werke sind aus der tiefsten Skepsis geboren und dadurch im letzten Grunde unfruchtbar und weisen zugleich eine außerordentliche Kraft auf. Rosmersholm: Rosmer hat sich auf intellektuellem Wege ganz freigemacht, und indem er einen angeborenen adeligen Sinn besitzt, meint er, alle Manschen durch intellektuelle Befreiung zu Adelsmenschen machen zu können. Eine kräftige aber rohe weibliche Natur hat er in der Tat veredelt: aber als Ende, weil ein Ende sein muß, nimmt Ibsen an, daß sie nun beide unmöglich weiterleben können. Wendet sich hier die Skepsis gegen die sichtbaren Ideale, weil die lebensunfähig machen, so in der Fran vom Meere gegen jenes unbestimmte Streben nach Hohem und Schönem, das man als romantisch bezeichnet: die Heldin wird zu dem Romantischen gezogen, solange sie unverantwortlich ist; wie sie Freiheit und Verantwortlichkeit bekommt, zieht sie das spießbürgerliche Dasein vor.
Wir würden nur Gesagtes wiederholen durch nähere Betrachtung. Nur eins möge immer wieder hervorgehoben werden: Schlenther sagt: «Wären die Menschen, wie sie sein sollten, wären sie Bürger des dritten Reiches, so ...» Durch diese sehr richtige Darstellung von des Dichters Meinung gibt er, ohne es zu wissen, die schärfste Kritik. Ibsens Irrtum ist, daß er glaubt, er müsse für sein Drama die Menschen des Lebens, speziell des heutigen Lebens, verwenden: aber der Dichter muß das triviale Leben vergessen und damit den törichten Gegensatz, welcher nur unfähige Moralprediger fesseln kann, wie die Menschen sind und wie sie sein sollten; er muß neue Menschen schaffen nach dem technischen Bedürfnis seiner Form, und nicht auf das Leben hat er zu sehen, aus dem er vielleicht einiges geringe Rohmaterial für das Erschaffen dieser neuen Menschen nimmt, sondern auf das Leben, welches er durch sein Werk wirken will: nicht das Modell geht ihn an, sondern der Zuschauer.
Es ist an Ibsen hoch zu rühmen, daß er die Entwicklung, welche sein Geist gehen mußte, nicht irgendwie abgebogen hat; mit großer Kraft schreitet er bis ans Ende vor. Dieses muß ihn zur Darstellung der tiefsten Verzweiflung an allem führen. Den bedeutsamsten Ausdruck hat dieses Ende in Hedda Gabler gefunden.
Wieder ein Kampf zwischen Mann und Weib: aber der Mann ist ein trivialer Philister und das Weib eine hysterische Närrin im sechsten Monat, welche sich in Ohnmacht nach Größe sehnt, nach der Größe, wie sie Ibsen für Frauen angemessen hält, nämlich einem Mann den Willen zum Hohen geben; der dritte, der vielleicht Größe hat – man kann und wahrscheinlich soll man das bezweifeln – endet lächerlich in sittlicher Haltlosigkeit, nachdem eine Weile ihn eine bescheidene Frau durch ihre Liebe gehalten hatte, und deren Macht nun durch die größere Gewalt der Heldin gebrochen war. Bei den Helden auf Helgeland wurde schon auf die Ähnlichkeit zwischen Hedda und Brunhild, ihrem Mann und Gunther hingewiesen: jetzt kann auch auf die Ähnlichkeit zwischen Eilert Lövborg, dem genialen Schwächling, und Siegfried, und der ihn liebenden Frau Elvsted und Chriemhild hingewiesen werden: durch die Übertragung aus dem Heroischen ins Historische, aus dem Historischen ins Bürgerliche markiert sich ein beständiges Sinken des Stoffes vom Tragischen zum Teuflisch-Komischen, zugleich mit dem schrittweisen Wandeln der Situation in Charakteristik; das bürgerliche Stück enthält gar keine Situation mehr außer der Kombination von Charakteren; der alte Stoff im Nibelungenlied hat die Notwendigkeit der Ermordung Siegfrieds durch den treuen Untertanen Hagen; die Helden auf Helgeland haben die heimliche Brautwerbung Siegfrieds für Gunther schon als eine Art Darwinsches Überbleibsel, Brunhilds Handlung könne schon bloß aus ihrem Psychologischen hervorgehen; bei Hedda Gabler ist dann das Überbleibsel ganz verschwunden, und das Psychologische hat seine konsequente Entwicklung zum Pathologischen genommen, die es notwendig nehmen muß, wenn es allein die Handlung halten soll. Baumeister Solneß: Von neuem ein Kämpfen zwischen einem schwachen Mann und einem durch sein Triebhaftes starken Weib. Solneß ist wieder der bekannte Ibsensche Typus, der Mann, welcher im Intellektuellen das Höchste erreicht haben soll, aber im Willen nicht die entsprechende Kraft besitzt; hier ist das Verhältnis symbolisiert, indem der Mann Baumeister ist, der wohl hoch zu bauen vermag, aber er kann nicht die höchste Spitze seines Bauwerks erklettern, um den Kranz auf ihm zu befestigen, denn er wird in der Höhe von Schwindel befallen.
Ein kleines Mädchen, das einst Solneß als Baumeister eines Kirchturms bewunderte, ist inzwischen herangewachsen und besucht ihn, um von ihm zu verlangen, daß er ihr Ideal erfüllen solle: sie will ihn als Ibsensche Heldin in die Höhe treiben, vielleicht schon mit dem grausamen Hintergedanken an seinen Sturz. Indem das Stück im Symbol bleiben muß, kann sich das nur so äußern, daß sie von ihm verlangt, er soll die Spitze eines von ihm neuerbauten Turmes ersteigen; er tut es durch ihren Willen, und ihr Jubel, dessen Gefährlichkeit sie kennt, stürzt ihn in die Tiefe. Der ganze Vorgang wird durchaus nur als symbolisch behandelt, wir sollen hinter ihm die eigentliche Bedeutsamkeit des Stückes suchen. Man muß doch zugeben, daß Ibsen schon früher zur absoluten Negation des Dramatischen vorgeschritten ist: hier ist er auch zur Negation des Künstlerischen gekommen. Die Kunst kann uns nur immer einen Schein von Dingen als von wirklichen Dingen geben, Ibsen gibt ihn uns als von unwirklichen. In Otto Ludwigs Erzählung «Zwischen Himmel und Erde» wird uns ein Sturz vom Turme geschildert; das ergreift und rührt uns als der Knotenpunkt menschlicher Leidenschaften, mit welchen wir fühlen; die Leidenschaften sind in Handwerkern verkörpert, die uns als Handwerker geschildert werden, mit epischer Genauigkeit und Treue, die eben wesentlich für die Erzeugung der beabsichtigten ästhetischen Gefühle ist. Bei Ibsen ersehen wir: der Sturz ist nur ein Symbol, alles, was die Menschen tun und reden, hat nicht den Zweck, den ästhetischen Schein einer Wirklichkeit zu geben, nein, es soll uns eine moralphilosophische oder psychologische Einsicht verkörpern, die noch dazu nicht einmal den Vorzug der Banalität hat. Die Fabeldichter des 18. Jahrhunderts stehen heute in einer tiefen Verachtung, weil sie dieselbe Prozedur vorgenommen haben: nicht die schöne Erzählung eines Vorganges war ihnen der Zweck, sondern die Mitteilung eines Weisheitsspruches. Aber viel schärfer wie den Mann, der für diesen kleinen Zweck doch nur das kleine Mittel einer gereimten Erzählung anwendet, muß man den verurteilen, der für einen noch geringeren, nämlich die Mitteilung einer sehr fragwürdigen psychologischen Theorie die ungeheuren Mittel eines Dramas mißbraucht. Diese harten Worte gelten nur da, wo das Symbolische diese große Bedeutung hat; daß die gesamte Handlung sich zum Symbol verflüchtigt, das ist nur im Solneß der Fall. Der Weg, der den Dichter geführt hat, ist klar: Skepsis und Relativitätsglaube sind keine Gedanken für Dichter, die rauben ihm die Freude an der Oberfläche, den Dingen, dem Leben; ein Künstler muß vor allem recht verliebt in diese schöne Welt sein, das gilt für den Erzähler, und muß die ideale Welt verehren, welche er sich schafft, das gilt für den Tragiker; wer sie haßt und verachtet, der erfährt das Ende jeden übertriebenen Idealismus, er wird unfruchtbar, und dann können ihm wohl leere und zufällige Theorien als das einzig Bedeutsame erscheinen und die Welt nur dazu gut, diese auszudrücken wie durch gleichgültige Zeichen und Zahlen.
Die drei letzten Werke: Klein Eyolf, John Gabriel Borkmann und Wenn wir Toten erwachen bieten ästhetisch nichts, das nicht schon gelegentlich der früheren Werke besprochen wäre, ein Eingehen auf sie würde also nur zu Wiederholungen führen.
In Wenn wir Toten erwachen hat der alte Dichter sich noch einmal mit aller wilden Kraft gegen sich selbst gewendet, gegen sich selbst und gegen sein ganzes Schaffen und Leben, das Werk ist eine Bekenntnisdichtung.
Nur an seine Kunst dachte der Mann, und dadurch ging ihm das Glück verloren und zerrann ihm sein Leben; nun ist ihm auch seine Kunst nur deshalb wertvoll, weil er seinen Haß gegen die Menschen in ihr äußern kann, denn wenn er einen porträtiert, so holt er das Tier heraus, das in ihm heimlich lebt, und stellt es im Marmor dar. Da erwacht die Tote, aber sie erwacht nur zu einem Scheinleben, das stößt nun mit seinem Scheinleben zusammen zum zweiten endgültigen Tod; und inzwischen mögen die gewöhnlichen Menschen sich ein Glück gründen und sich des Lebens freuen.
Das ist der Epilog eines Dichters, und eines Dichters, welcher der größte Dramatiker unserer heutigen Gesellschaft ist, und das Drama ist die höchste Form der Dichtung.
Aber wäre das wirklich der letzte Schluß unserer heutigen Welt? Noch nie hat eine Gesellschaftsform so viel Kraft freigemacht wie die heutige, noch nie die eine unbedingt notwendige Bedingung geschaffen, uns diese Kraft fruchtbar zu machen, nämlich, daß ein Schaffender sich gänzlich von ihr loslösen kann und auf einer Insel leben. Wenn jemand die Kraft hätte, sich von ihren Vorurteilen zu erlösen mit Hilfe des historischen Verständnisses, das sie erst geschaffen, und so auf alles im letzten Grunde doch verächtliche Wirken verzichtete, das er heute haben könnte, so würde er aus den reinen technischen Bedingungen der Kunst heraus sehr Großes zu schaffen vermögen und, wenn seine Begabung ausreicht, Größeres wie je vorher von Einzelnen geschaffen wurde; denn etwa die antike Tragödie und bis zu gewissem Grade auch das Shakespearesche Theater ist ja eigentlich doch als eine Art Kollektivarbeit anzusehen. Als der erste ist diesen Weg Hebbel gegangen; möge er bald einen Nachfolger finden!
Man stelle sich vor, daß eine Gesellschaft aus zwei verschiedenen Schichten besteht, von denen jede ihre besondere Sittlichkeit besitzt. Diese Sittlichkeit ist bei den Einzelnen ererbt und anerzogen und hängt völlig mit allen anderen geistigen und bis zum gewissen Grade auch nicht geistigen Eigenschaften der Menschen zusammen. Durch irgendeinen Umstand soll nun die bis dahin sich gleichgebliebene Gesellschaft in eine solche Umwälzung geraten, daß ein großer Teil der Mitglieder der unteren Schichten in die höheren Schichten kommt und umgekehrt ein Teil der Mitglieder der höheren Schicht in die untere. Die Personen, welche auf diese Weise ihre soziale Stellung verändert haben, sind noch im Besitze der ererbten und anerzogenen Sittlichkeit und empfinden sehr stark, daß diese Sittlichkeit nicht für die Situation paßt, in welche sie heute gesetzt sind. Aus solchen Verhältnissen können dann Kämpfe entstehen, welche dem Dichter außerordentlich wertvolle Motive bringen; ganz abgesehen davon, daß für alle übrigen geistigen Betätigungen des Menschen aus diesen Konflikten etwas außerordentlich Fruchtbares entstehen muß: indem Zweifel geweckt werden, welche zu neuen Ansichten führen oder zu neuer Begründung der alten, welche die nicht haltbaren Anschauungen hinwegfegen, welche neue Ideale erzeugen und so fort.
Die moderne Gesellschaft befindet sich in einer solchen Situation, und zwar in verschiedenen Abstufungen nach den verschiedenen Ländern. Die soziale Durchrüttlung ist am stärksten in den Vereinigten Staaten, an zweiter Stelle kommen Deutschland und Norwegen.
Vielleicht ist es Ibsen nicht zum Bewußtsein gekommen, daß das Motiv für Rosmersholm hier liegt. Sonst hätte er den Konflikt wohl typischer gestaltet. Man hat den Eindruck, daß ihn mehr ein zufälliges Erlebnis beeinflußt hat als der Wunsch, aus den letzten Ursachen unserer Zivilisation etwas Tragisches herzustellen. Aber wenn auch, jedenfalls hat er mit richtigem Instinkt ein ungemein dankbares und wertvolles Motiv ergriffen.
Rosmer und Fräulein West leben in zwei Welten. Rosmer ist der Nachkomme vornehmer und hochgestellter Leute, welche durch Generationen Selbstzucht geübt und eine vornehme Sittlichkeit in sich begründet haben. Fräulein West stammt aus den unteren Schichten der Gesellschaft, wo die skrupellose Tendenz auf Sichdurchsetzen herrscht. (Am Rande sei bemerkt, daß obere und untere Schichten nicht mechanisch aufgefaßt werden dürfen; auch in den unteren Schichten der Gesellschaft gibt es eine Aristokratie, nämlich da, wo Geschlechter hindurch ehrbare und geordnete Verhältnisse bestanden haben, welche dem Einzelnen äußere und innere Sicherheit verleihen. Diese Aristokratie ist heute jedoch noch weit mehr in der Vernichtung begriffen als die gewöhnlich so genannte, da in den unteren Schichten der Gesellschaft die Lebensbedingungen sich noch viel stärker verändert haben wie in den höheren. Etwa eine Familie, wie sie uns Jung-Stilling in seiner «Jugend» schildert, ist heute ganz unmöglich.) Es soll hier nicht eine Wertung der beiden Sittlichkeiten oder Lebensauffassungen stattfinden. Wir wollen nicht moralisch, sondern ästhetisch diese Dinge betrachten. Ästhetisch steht die Sache so, daß, da jeder Mensch die ihm innewohnende Sittlichkeit als die allein berechtigte betrachtet, ein Kampf stattfinden wird von Personen, von denen jede in ihrem Rechte zu sein glaubt und genötigt ist, dieses Recht durchzusetzen, weil sie dann ihre Existenzbedingungen durchsetzt. Hier liegt das fruchtbarste Gebiet für tragische Konflikte vor uns. Machen wir uns zunächst die Weltauffassung Rosmers klar. Wir müssen da recht vorsichtig vorgehen, damit wir uns nicht von modernen Vorurteilen in unserem Urteil bestechen lassen. Der Dichter gibt uns wenig Greifbares über seine überkommenen Anschauungen; wir erfahren nur im großen, daß es adlige Anschauungen seien; manche der Modernen sind leicht geneigt, hier Dekadenz zu wittern, und Ibsen scheint ihnen da nicht ganz unrecht zu geben, wenn in einem Ausspruch von Rebekka, der wohl nicht bloß Rebekkas Meinung allein, sondern auch Ibsens Meinung enthält, gesagt wird, diese Anschauungen adeln die Menschen, aber sie töten das Glück, und wenn ein anderes Mal erwähnt wird, daß in Rosmersholm nicht gelacht werde. Indessen, man braucht diese Aussprüche doch nur an die Gestalten großer sittlicher Männer zu legen, die wir aus der Geschichte kennen, um ihren nur relativen Wert einzusehen. Von Christus oder Buddha hätte eine Rebekka genau dasselbe sagen können, und doch wird niemand behaupten, daß die sittliche Kraft dieser Männer aus einer Schwäche entstanden sei. Rebekka wirft Rosmer vor, er werde nicht mit ihr in den Mühlbach gehen. Sie nimmt also an, trotzdem sie sich von ihm geadelt fühlt, daß in ihm Schwäche vorhanden sei. Und auch bei diesem Einwurf hat man durchaus das Gefühl, daß Ibsen ganz auf der Seite der Rebekka steht. Mag es seine Absicht gewesen sein, oder mag in diesem Fall seine Gestaltungskraft erlahmt sein, was denn doch im letzten Grunde gleichfalls auf Versagen im Persönlichen zurückgeht, er selbst hat Rosmer nicht so gezeichnet, daß wir den Eindruck haben, seine vornehme Sittlichkeit gehe aus Stärke hervor.
Ich möchte gleich bemerken, daß in diesem Punkte einer der grundlegenden Fehler der Dichtung vorhanden ist. Man hat sehr viel von Ibsens Aristokratismus gesprochen. Ich für meine Person habe einen solchen nie in ihm entdecken können, denn er hat nie verstanden, eine reine, edle und starke Figur zu schaffen. Seine starken Figuren sind mit niedrigen Instinkten ausgestattet, die edlen Instinkte finden wir bei mehr oder weniger schwächlich gezeichneten und ironisch behandelten Personen.
Rebekka ist die rücksichtslos energische Person aus jener Art von problematischen Verhältnissen, wo die Schwachen zugrunde gehen und nur die Starken sich erhalten. Ihre Tat ist ein Verbrechen, aber sie würde ruhig über dies Verbrechen hinwegkommen und glücklich leben, wenn nicht durch das Zusammensein mit Rosmer ihr der Sinn jener höheren Sittlichkeit aufgegangen wäre, der, sagen wir mit einem Worte, Vornehmheit. Hätte sie vor ihrer Tat diese Sittlichkeit bereits gehabt, so würde sie die Tat nie begangen haben. Hier, wie in so vielen Fällen, ist also die Kraft eines Wesens der unteren Schichten nichts als der Mangel an Hemmungen, welche durch eine höhere Gesinnung im Menschen erzeugt werden, sie ist nichts Positives, sondern ein Minus. Wir wollen ein banales Beispiel anwenden: Ein anständiger Mensch soll mit einem gemeinen irgendein kleines Geschäft abmachen; er merkt durchaus, daß er von dem anderen betrogen wird, aber der Ekel an diesen Dingen schließt ihm den Mund, er sagt nichts, und der andere geht froh mit der Vorstellung fort, er sei der Klügere von beiden. In Wirklichkeit aber war der Betrüger nicht nur schlechter, sondern auch dümmer und schwächer wie der Betrogene. Lösen wir die Geschichte der Rebekka aus dem ganzen Zusammenhange heraus, so haben wir ein Geschick von der erschütterndsten Tragik; eine Person mit niedrigen Trieben und starkem Wunsch nach Glück, wie ihn ja solche Menschen haben, schafft durch ein Verbrechen sich die Lage, in das gewünschte Glück hineinzukommen; während sie das Verbrechen vollführt, wird aber ihr Sinn geadelt, und sie sieht nun die Unmöglichkeit ein, die Früchte des Verbrechens zu genießen. Im Gegenteil, sie wird durch ihre Schuld niedergedrückt werden, die sie früher noch nicht einmal empfunden hätte; also, was das Höchste ist, was dem Menschen geschehen kann, eine Erhebung seines Wesens zu höherer Sittlichkeit, wird ihr zum Verhängnis. Wenn wir das Erlebnis Rosmers herausschälen, so finden wir gleichfalls eine erschütternde Tragik. Die Seele des Mannes ist durch jahrhundertelange Tradition zu Hohem gebildet; in der Zeit, in welcher er lebt, haben sich aber alle Verhältnisse derartig gewandelt, daß alle Normen, welche früher diesem seelischen Bedürfnis entsprachen, nicht mehr genügen. Die Kirche, die Gesellschaft, der Staat, sie sind veraltete Institutionen, die einer Erneuerung dringend bedürfen. Die in die Höhe strebenden und in die Höhe gekommenen unteren Schichten maskieren sich selbst und anderen ihren Klassenegoismus dadurch, daß sie die notwendigen Änderungen aller gesellschaftlichen Institutionen auf ihr Panier schreiben, in einem so herrlichen Sinn, daß jeder Unbefangene annehmen muß, wenn diese Leute zur Herrschaft kommen würden, so würden die vornehmen Triebe, die er in sich spürt, im ganzen Leben die Oberhand gewinnen. Oder, um es mit Rosmer auszudrücken, wenn in Norwegen die Radikalen siegen, so werden lauter Adelsmenschen entstehen. Auf Grund dieser Anschauung verbündet sich Rosmer mit den aufstrebenden Elementen, die vortrefflich dargestellt sind durch Peter Mortensgard, welcher von dem naiven Idealismus Brendels aus der vorigen Generation gerade noch die Schlagworte übrigbehalten hat, mit denen er angelt, während er als Sinn diesen Worten die gemeinste Klassenselbstsucht zugrunde legt. Beim ersten Schritt schon muß Rosmer dann empfinden, wie er sich geirrt hat, geirrt nicht persönlich, sondern welthistorisch, wie das, was nun heraufkommt, sehr viel gemeiner ist als das gichtbrüchige Alte, das er meinte bekämpfen zu müssen.
Wir haben zwei tragische Schicksale vor uns. Jedes genügt für ein Drama. Ibsen hat es vorgezogen, aus beiden zusammen ein Stück zu gestalten. Mir scheint, daß er hierin sehr unglücklich gehandelt hat. Die Folge der Zusammenstellung ist, daß keines der Schicksale mit einer solchen Wucht deutlich gemacht wird, daß wir eine unmittelbare Erschütterung verspüren. Unsere Empfindung bei dem Werke geht durch den Verstand. Wir müssen uns erst die Zusammenhänge überlegen, ehe sie auf uns wirken. Noch ein zweites kommt dazu, diese Fehler zu bewirken. Auch in diesem Werk, wie in vielen anderen, hat Ibsen die Technik angewendet, das Geschehen in die Exposition zu verlegen, um den Ablauf des Stückes mehr ein Enthüllen der Vergangenheit werden zu lassen, als Darstellung eines Geschehens. Diese Technik ist hier aber nicht angebracht. Denn wenn wir die Tragik empfinden, nicht bloß verstandesmäßig verstehen wollen, so müssen wir beide Zustände vor uns sehen: den bei Rebekka in ihrer ersten, unbekümmerten, niedrig gearteten Lebensenergie und in dem zweiten, sittlich geadelten Wesen; und bei Rosmer den kindlichen Glauben an die Reinheit der radikalen Ideale und die Enttäuschung. Da liegen innere Entwicklungen vor, die sich nicht in jener Weise konzentrieren lassen. Im Fall des König Ödipus ist jene Technik angebracht: Am Anfang sehen wir den Herrscher auf der Höhe seines Glückes, am Schluß den verjagten Blinden. Hier läßt die tragische Entwicklung sich konzentrieren; denn der Umschwung erfolgt, durch das Erfahren eines Geheimnisses, in einer Sekunde, der Umschwung Rebekkas in langen Monaten durch eine seelische Entwicklung. Wenn man ihre Tragik darstellen will, so muß man zwischen den dritten Akt (der den Tod der Frau enthalten würde) und den vierten (welcher Rosmers offenkundige Wendung zu den Radikalen darstellen müßte) mindestens ein halbes Jahr Zwischenraum legen.
Bleiben wir nun zunächst bei dem Schicksal der Rebekka. Auch so, wie Ibsen sein Stück angeordnet hat, weist es in diesem Punkt schwere Fehler auf. Er mußte doch bereits im ersten Akt so viel von ihr zeigen, daß der Zuschauer überhaupt weiß, worauf es bei ihr ankommt, daß der Zuschauer sie nicht für eine Nebenfigur hält, die etwa bloß durch das Ungeschick des Dichters über den Rahmen hinausgewachsen ist, welcher ihr durch die Ökonomie des Stückes zukommt. Aber bei Ibsen erfahren wir nichts weiter, als daß sie die Ansichten Rosmers beeinflußt hat. Wohl viele naive Zuschauer werden die große Szene mit Kroll als eine Überraschung empfinden, und der naive Zuschauer hat stets recht. Die Überraschung steigt dann, als sie Rosmer das Geständnis ihres Verbrechens macht, und die Empfindung, welche der Zuschauer am Schluß ihr gegenüber hat, ist die, daß er sich von der Person hat betrügen lassen, daß er sie zuerst für ganz harmlos genommen hat, während sie im Grunde eine dämonische Figur ist. Dieses Gefühl verläßt ihn nie. Deshalb übt es auch keine Wirkung auf ihn aus, wenn der tragische Moment bei ihr kommt, wo sie sagt, daß sie das Glück, welches Rosmer ihr nun bietet, das sie erstrebt hat, nicht annehmen kann. Hier müßte eine gewaltige Erschütterung im Zuschauer stattfinden. So oft ich aber das Stück gesehen habe, verspürte ich immer nur Erstaunen.
In gleicher Weise wurde die tragische Entwicklung von Rosmers Schicksal benachteiligt. Zwar steht uns Rosmer gleich zu Anfang in einer dramatischen Situation gegenüber, welche sein Wiesen und seinen künftigen Konflikt uns sofort klarmacht. Aber die Situation ist nicht derartig, daß wir eine starke Sympathie für ihn gewinnen, und die Schilderung seines Wesens ist nicht energisch genug, um zu bewirken, daß wir mit ihm gehen. Es kommt dazu, daß der Konflikt, in welchen er hineingestürzt wird, in allzu kleinlicher Weise von Ibsen dargestellt ist. Wenn Rosmer in einem Blatt einen hämischen Angriff auf sich findet, so ist das kein Vorfall, von dem man verlangen kann, daß er auf den Zuschauer einen starken Eindruck macht. Er wird im Leben einen vornehm empfindenden Menschen ja sehr stark kränken, auf der Bühne aber bleiben solche Dinge wirkungslos. Den dramatisch stärksten Eindruck macht Brendel. Hier gelang es dem Dichter, durch dramatische Mittel zu wirken, welche bei den anderen Figuren ihm versagten. Diese dramatischen Mittel sind höchst einfacher Natur, und wenn wir sie bei Brendel betrachten, so werden wir sofort sehen, was an Positivem bei Rosmer und Rebekka fehlt. In Brendel ist alles antithetisch gestellt. Wie er auftritt, ist er der reiche Mann an Geist, der um abgelegte Kleidungsstücke bettelt, der Stolze, welcher sich demütigt, der Vornehme, welcher sich gemein macht, der Mann mit den ungeheuren Plänen, von dem wir doch ganz genau wissen, daß er in der Gosse enden wird. Dazu ist in dem Mann eine ganze Zeit symbolisiert, das Schicksal einer ganzen Menschheit. Wir sehen in ihm die herrlichen freiheitlichen Ideale, die, als Ideale betrachtet, vielleicht das Höchste und Vornehmste sind, das die Menschheit je hervorgebracht hat, und wir sehen, zu welchem Ende diese Ideale führen, nämlich vielleicht zu dem Niedrigsten, zu dem die Menschheit überhaupt kommen kann. Was Ibsen nicht gelang in der Konstruktion seiner Handlung, nicht in der Gestaltung der beiden Hauptfiguren, das gelang ihm in der Figur des Brendel. Welche dramatische Möglichkeit in dem Schicksal der Rebekka West liegt, das können wir uns vergegenwärtigen, wenn wir an Hebbels Judith denken. So verschieden alles bei den beiden ist, der Aufbau ihres tragischen Schicksals ist derselbe. Für die heroische Judith, diese Frau, die noch Jungfrau, ist das höchste Glück, welchem sie unbewußt zustrebt, von einem Helden umarmt zu werden. Indem sie dieses Glück genießt, muß sie es vernichten, indem sie den Helden tötet. Vergleichen wir damit, daß Rebekka, als ihr Rosmer die ersehnte Ehe vorschlägt, ihm ihr Verbrechen eingestehen muß. Unzweifelhaft ist Hebbels Judith dramatisch völlig verfehlt. Dennoch, wie gewaltig wirkt die Szene im Zelt, wie wenig wirkt die entsprechende Szene in Rosmersholm! Und Ibsen hätte es sehr viel leichter gehabt, bis zu dieser Szene eine Steigerung herbeizuführen, in welcher sie vorbereitet würde. Bei Hebbel liegt alle Vorbereitung nur im Psychologischen. Ibsen hatte genug äußere Handlung und Notwendigkeit der Verhältnisse.
Von den heutigen Dramatikern ist Ibsen sicherlich weitaus der bedeutendste. Was in den vorstehenden Zeilen Hartes über einen solchen Mann gesagt ist, möge deshalb immer aufgefaßt werden als aus der selbstverständlichen Ehrfurcht herauskommend, die man einem solchen Mann schuldig ist. Der Grundfehler des Werkes liegt wohl im letzten Grunde nicht in ihm, sondern in seiner Zeit – in unserer Zeit.
Mancher wird sich in diesen Tagen gefragt haben: Ist die Bedeutung Ibsens für die Menschen seit seinem Tode größer geworden oder geringer? Und gewiß wird mancher geantwortet haben, daß sie geringer geworden ist.
Die Ursache ist, daß Ibsen nicht zu den zeitlich unbedingten Dichtern gehörte, wie man zu seinen Lebzeiten meinte, sondern zu den zeitlich bedingten. Seine Werke sind Ereignisse der Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft gewesen. Da diese seit seinem Tode in raschem Zeitmaß weitergegangen ist, so erscheinen sie uns zum Teil schon heute veraltet.
Nur die eigentliche Dichtung kann ja nicht veralten, die es mit dem Ewig-Menschlichen zu tun hat. Freilich lebt ein jeder Dichter in irgendeiner Zeit. Da der Dichter der lebendigste Mensch ist, so wird er natürlich von seiner Zeit viel stärker bewegt als die andern. So hat Dante seine Komödie doch als etwas geschrieben, das wir heute etwa als eine journalistische Tendenzschrift auffassen könnten. Aber da findet denn eine Wechselbeziehung statt. Nicht nur war Dante ein großer Dichter, bei dem alles zeitlich Bedingte sofort allgemeinmenschlich wurde; sondern es war seine Zeit auch so, daß ihre Kämpfe allgemeinmenschliche Bedeutung hatten.
Die Zeit der Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft aber ist dichterisch nicht ernst zu nehmen. Wer sie ernst nimmt, der beweist dadurch, daß ihm das Wesentliche des Dichters fehlt, und so wird er natürlich auf seine – recht minderwertige – Zeit einen großen Eindruck machen; aber er wird schnell veralten und bald in Gefahr geraten, komisch zu wirken. Und Ibsen wurde denn auch bald abgelöst in der allgemeinen Hochschätzung durch eine Reihe immer wertloserer Erscheinungen: es kam Strindberg, dann Wedekind und dann eine kaum mehr in die Erinnerung zurückzurufende Folge von heute wohl schon wieder Namenlosen.
Wir können heute, wo die Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft so sehr viel weiter fortgeschritten ist, ungefähr sehen, welche Stellung in ihr die Ibsenschen Werke einnehmen.
Die Selbstzerstörung hat heute bereits als Ergebnis, daß eine neue Gesellschaftsform – ihr Wert und ihre Dauerhaftigkeit sollen nicht betrachtet werden – sich herausbildet, die man wohl als die proletarische bezeichnen kann. Wesentlich für sie ist, daß sie den Menschen nur als Einzelwesen betrachtet, nicht als Glied der Gesellschaft, daß sie zwar viel von Gesellschaft spricht, aber immer nur in dem Sinn, daß an die «Gesellschaft» Forderungen gestellt werden, nicht, daß die Einzelnen ihr gegenüber Pflichten haben. Die Grundlage dieser Auffassung ist der sittliche Materialismus. Man kann von Ibsen zu dieser neuen Gesellschaftsform eine Linie ziehen, aber bei Ibsen war noch nicht etwas positiv Neues vorhanden, sondern nur Kritik, und ging diese Kritik nicht vom ethischen Materialismus aus, sondern von jener eigentümlichen Art von schwärmerisch-säuerlichem Kleinbürgeridealismus, wie ihn Sören Kierkegaard darstellt.
Man stelle sich eine vernünftige, organische Auffassung von der Gesellschaft vor, wie sie, unbewußt meistens, in gesunden Zeiten herrscht: man weiß, daß die Menschen seelisch, geistig und körperlich sehr verschieden sind, und daß man nach Möglichkeit die verschiedenen Arten Menschen an die ihnen angemessenen Stellen zu bringen hat. Dort wirkt dann jeder, wie er kann und muß, und so lebt die Gesellschaft. Etwa: die höchsten Werte der Menschheit, die Religion, die Kunst, sind nur für sehr wenige Menschen verständlich. Es ist aber nötig, daß sie der gesamten Gesellschaft so nahegebracht werden, daß jeder, nach seinen Fähigkeiten, das von ihnen nehmen kann, was ihm angemessen ist, was ihn am Leben erhält.
So muß man denn eine Stufenleiter von Menschen haben, wo einer dem andern das geistige Gut übergibt, bis es so weit unten angekommen ist, daß auch der letzte sein Teil bekommt. Von den Männern, welche auf dieser Leiter stehen, kann man nun nicht verlangen, daß sie das Höchste besitzen: besäßen sie es, so wären sie ja für ihre Stelle unbrauchbar. Wenn man an sie den Maßstab legt, den man an die Vertreter des Höchsten legt, so begeht man offenbar einen Fehler. Man braucht nur die verletzenden Ausführungen Kierkegaards über die protestantische Geistlichkeit zu lesen, um einzusehen, wie gesellschaftsstörend ein solcher «Idealismus» wirken muß.
Es ist dieser selbe Idealismus, der den demokratischen Illusionen zugrunde liegt, der dann zu der Forderung kommt, daß der Anspruch, den der Sohn Gottes an sich stellte: keinen Ort zu haben, dahin er sein Haupt legen konnte, nun erscheint als der Anspruch Brands an die armen Fischer, die vom Heringfang leben, daß sie die Fische ziehen lassen sollen, um ein Gesalbader anzuhören. Es ist die Aufforderung an alle, geistig ebenso über ihre Verhältnisse zu leben, wie in Zeiten der Zerstörung die Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich über ihre Verhältnisse leben.
Ibsen, der nicht die eigentliche Dichterbegabung hatte, auch nicht genügend scharf denken konnte, um den Mangel an organischem Fühlen durch den Verstand zu ersetzen, nahm den demokratischen Philisteridealismus auf und führte ihn weiter, und kam denn so auf Probleme, wie: ein Rechtsanwalt, der so ein Mann ist wie andere Rechtsanwälte auch, und der eine Frau hat, die so eine Frau ist wie andere Frauen auch, ist in seiner Ehe ganz zufrieden, aber die Frau findet, daß sie bloß eine Puppe ist, und geht von ihm fort – es wird nicht gesagt: zu welchem Zweck; aber es kann doch verständigerweise nichts anderes herauskommen, als daß sie nun Telephonistin wird oder Schreibmaschine schreibt. Sie behauptet, eine «Persönlichkeit» zu sein. Die Lächerlichkeit solcher Probleme mußte ihm schließlich klar werden. Aber kein Mensch kann über seinen Schatten springen. Er konnte nicht einsehen, daß er da Probleme gesucht hatte, wo gar keine liegen, daß man die Miserabilität des Spießerdaseins nicht aufheben kann, wenn man es als das allgemeinmenschliche Dasein hinnimmt, sondern nur, wenn man es in seiner Bedingtheit versteht, wo es sich denn sofort richtig einordnet und die Miserabilität von selber verliert. Und so mußte er denn endlich zu Menschenverachtung kommen; und wenn man die Menschen von unten herauf verachtet und nicht von oben herunter, so wird ja denn wohl schließlich bloß Verzweiflung möglich sein.
Sein letztes Werk «Wenn wir Toten erwachen» drückt die Verzweiflung aus – nun, ein Mann, der am Schluß seines Lebens verzweifelt, seines Lebens, das noch dazu von jedem äußeren Erfolg gekrönt war, der war überhaupt kein Dichter. Denn dem Dichter, je älter er wird, geht immer mehr die wunderbare Schönheit dieser gottgeschaffenen Welt auf, die schon allein zu verstehen, Glück und Gottesdienst ist.
Stockholm, Ende September 1921
Die schwedische Großmacht wurde durch Gustav Adolf begründet. Tilly hatte die protestantischen Christen besiegt, der Katholizismus ging daran, die ketzerische Richtung gänzlich auszurotten. Wir haben hier nicht zu bewerten, wir haben zu verstehen: es war in Deutschland ein Geisteskampf, der, wie jeder wahre Geisteskampf, zuletzt mit dem Schwert ausgefochten wurde. In diesen Kampf, bei der verzweifelten Lage des einen Teils, griff der König von Schweden ein: nicht für sich, seine Macht und sein Reich, sondern für Gott, für seinen Gott. Als das schwedische Heer in Pommern zuerst deutschen Boden betrat, da kniete der König nieder und betete, und seine Krieger knieten hinter ihm und sprachen sein Gebet nach.
Durch Karl XII. ging die schwedische Großmacht zu Ende. Sie war in den damaligen Verhältnissen eine Unmöglichkeit gewesen. Sie ging zu Ende durch einen heldenhaften Jüngling, der weder ein Feldherr war noch ein Staatsmann, noch nicht einmal ein Soldat: aber er war ein jugendlicher König, in dessen schwärmerischem Sinn sich der hochfliegende Geist eines edlen Volkes ausdrückte.
Seitdem konnte sich das schwedische Volk nur im eigenen Land ausdehnen. Es hat das getan. Seit 1800 hat es seine Bevölkerung verdoppelt. Aber wenn ein Volk keine selbständige Außenpolitik mehr treiben kann, dann ändert es seinen Charakter. Die ungestümen, vorwärtsstrebenden Naturen verschwinden, damit Begeisterung, tragischer Sinn, Heiterkeit und Lebensfreude. Bei einem edlen Volk wird nicht Geschäftsgeist, Kleinlichkeit und Neid an die Stelle treten: aber die Schweden sind ein Volk von Lyrikern geworden, das den Empfindungen mehr Macht einräumt als dem Gefühl, dem Verstand und der Ziele setzenden Vernunft; sie sind passiv geworden; noch sind sie ganz männlich, aber ihr Stolz geht nach innen; sie sind, was man im höchsten Sinne «fein» nennen kann. Wir Deutschen wirken ihnen gegenüber in unseren Manieren geräuschvoll, vielleicht muß man sagen, oft taktlos. Aber die Schweden wissen selber, daß diese Vorzüge teuer erkauft sind – sie sind bis jetzt das einzige Volk, das ich gefunden habe, welches unsere gesellschaftlichen Untugenden versteht und verzeiht als notwendige Ergänzung zu unseren Vorzügen. Heute wäre für Schweden wieder die Möglichkeit einer großen auswärtigen Politik. Nicht sofort, aber sie muß heute vorbereitet werden, denn morgen vielleicht muß man eingreifen können. Wir sind augenblicklich ohnmächtig. Aber Schweden sollte sich bereithalten, wieder wie einst in der Zeit der Goten und Vandalen, der Balten und der Waräger einen heiligen Frühling seiner Jugend auszuschicken.
Ich sprach darüber mit einem Forscher, einem der hervorragendsten Kenner seines Volkes, den auch in Deutschland jeder kennt. Er sagte nur: «Sie haben recht; ein Volk, das nicht nach außen sieht, verliert seine Männlichkeit. Aber unsere Politiker sind anderer Ansicht.» Ich sprach darüber mit einem der bedeutendsten schwedischen Dichter, den man bei uns wohl nicht in so großem Kreise kennt, aber unter den geistig Führenden liebt und verehrt. Er sagte: «Die psychologischen Voraussetzungen dafür sind bei den politischen Führern nicht da. Man will das nicht.»
Wer sind denn die Führer eines Volkes? Ich stoße hier auf dieselbe Frage, die ich immer zu lösen suche, wenn ich an Deutschland denke. Als Strindberg auftrat, lehnte ihn das schwedische Volk ab. Es hatte einen richtigen Instinkt: es verspürte in ihm den Plebejer mit Ressentiment, den Unglücklichen, der sich selber verstoßen muß, weil er nicht an die Stelle gehört, auf die sein Talent und sein Geist ihn gehoben haben. In unserem heute gänzlich instinktlosen Deutschland wurde Strindberg aufgenommen wie ein großer Dichter, und die Menschen lauschten den wirren Worten des Mannes, wie sie einem Evangelium hätten lauschen sollen, das sie zu Natur, Wahrheit, Vernunft, Heiterkeit und Schönheit führen sollte. Die Schweden sind ein Volk von nur fünf Millionen; ein so kleines Volk kann sich der übermächtigen Einwirkung der großen Nachbarvölker nicht entziehen, und so ist nun denn heute Strindberg auch in Schweden «durchgedrungen».
Das ist ein Symptom. Wenn ich in den schwedischen Städten durch die Straßen gehe, dann fällt mir auf, daß die Mädchen hier den Blick, den Ausdruck, Gang und Bewegungen haben, die wir als jungfräulich bezeichnen: eine reine, blumenhafte Ruhe, kindliche Heiterkeit und Harmlosigkeit, ein Nichtwissen von den schweren Aufgaben, welche Gott den Menschen aufgelegt hat, aber eine freudige Bereitwilligkeit, sie auf die Schultern zu nehmen – das klingt nicht logisch, es kommt aus der Anschauung und muß so verstanden werden. Ich kann mir diese Mädchen denken, wie sie dem Mann, der sie erwählt, in Liebe, Geduld und Heiterkeit anhangen, wie sie glückliche und gesunde Kinder erziehen und ein Haus haben, in dem Arbeit und Frohsinn herrschen.
Drückt denn ein Strindberg die Instinkte eines Volkes aus, das solche Mädchen hervorbringt?
Wenn man das alte Bild anwendet, das aus der Kinderzeit der soziologischen Wissenschaft stammt, der Gleichsetzung der Gesellschaft mit einem Körper: haben dann die heutigen Völker ihren richtigen Kopf? Steckt nicht irgendwo ein Fehler, durch den es kommt, daß nicht die Männer ihre Führer sind, welche von Gott durch Charakter, Geist, Wissen und Phantasie dazu bestimmt sind, sondern irgendwelche elenden Tröpfe? Liegt hier vielleicht ein großer Teil der Ursachen des heutigen Unglücks der Völker?
Es gibt natürlich in jedem Volk immer Führernaturen. Aber die Völker müssen ein Organ in sich ausbilden, sie zu erkennen. Solange eine gesunde Monarchie besteht, ist entweder der Fürst selber der politische Führer seines Volkes, oder er sucht den Führer aus. Friedrich Wilhelm IV. war gewiß als Staatsmann unfähig, aber er hat Bismarck zu einem Staatsmann erzogen und ihn an eine Stelle gebracht, von der aus er sich weiterhelfen konnte. Kaiser Wilhelm I. war gewiß in keiner Hinsicht bedeutend, aber er hatte mit tiefer Sittlichkeit die Aufgabe des Fürsten erfaßt, den richtigen Staatsmann für das Volk an seiner Stelle zu halten. Schon unter und mit Bismarck begann die Erkrankung unseres Volkes, die natürlich mit einer Erkrankung der Monarchie Hand in Hand ging. Es wäre töricht, von Schuld zu sprechen, die großen Geschicke des Volkes sind nicht nach moralischen Kleinbürgergesichtspunkten zu bewerten. Aber Wilhelm II. erfüllte die Aufgabe des Monarchen nicht mehr.
Es ist hier eine müßige Frage, ob noch andere Organe für das Erkennen und Wählen des Staatsmannes möglich sind als die Monarchie; ich glaube es; jedenfalls erfüllte die Monarchie ihre Aufgabe nicht mehr.
In einem solchen Fall tritt von selber der Ersatz ein, denn das Leben geht eben seinen Gang. Der Ersatz ist der Beamte.
Die Bürokratie ist eine Maschine, durch welche man aus der Mittelmäßigkeit die höchstmögliche Leistung hervorholt. Wenn man, wie heute allgemein, die Leistung für die höchste menschliche Betätigung hält, so ist nichts gegen sie zu sagen. Aber jedem Vernünftigen ist wohl klar, daß aus ihr kein Staatsmann hervorgehen kann.
Ein Staatsmann, das ist ein Mann, der ein Ideal in seinem Herzen trägt, an dem er leidenschaftlich arbeitet, der sein Volk kennt und die Welt, der die Menschen kennt und die Verhältnisse, der Willen hat und Verstand, der Kraft hat und Gefühl, kurz, der eine schöpferische Natur ist.
Das politische Leben der Völker ist ein Formproblem. Formprobleme aber sind nur von schöpferischen Naturen zu lösen, nicht von Bürokraten des Staates oder der Partei. Gustav Adolf war ein König und Karl XII. war es: zwischen beiden rollt sich die Tragödie des schwedischen Volkes ab. Heute hat der Philister das Wort, und zwar in seiner scheußlichsten Abart als revolutionärer Philister. Der will von Tragödie nichts hören, der will seinen Frieden haben.
Stockholm, im Oktober
... Ich sehe in Schweden auch die sinnlichen Nachwirkungen der vorbürgerlichen Zeiten; die bürgerliche Gesellschaft ist hier ja viel jünger als bei uns. In Upsala wohnte ich der Antrittsvorlesung eines neuen Professors bei; noch war ein letzter Hauch von der alten Freiheit und Würde des Universitätswesens in der Feier vorhanden; bei uns ist in bürgerlicher, nun proletarisch gewordener Gleichmacherei dergleichen längst verschwunden. Vielleicht könnten solche Feiern dem Volk sinnlich zu Gemüte führen, was der Geist bedeutet. Meine Freunde zeigten mir den Codex argenteus; das Pergament ist morsch geworden in den fast anderthalb Jahrtausenden, die goldenen Buchstaben, regelmäßig und tief eingedrückt wie mit Stempeln, vielleicht indem das geniale Volk die Buchdruckerkunst in einem ersten Schritt vorahnte, sind verblaßt. Nun ist da nur noch das ungeheure Grab des Theoderich in Ravenna, ein Bildwerk in Verona, welches darstellt, wie der alte König durch die Walküre entführt wird, in christlicher Deutung durch den Teufel – das ist alles, was von dem edlen Volk übriggeblieben ist, welches einst von diesem Land auszog. Vor langen Jahren sah ich das Grabmal und das Bildnis, so schließt sich mir nun die Vorstellung. Wir fahren nach dem Ort des alten Upsala hinaus. Hier ist der geschichtliche Boden der alten Schweden, von hier ging die Einigung vor sich. Wo der alte Tempelhain stand, da wurde im 13. Jahrhundert eine Kirche gebaut; ein Kunstgelehrter würde sagen: in dörflichem Stil. Sie richtet sich trotzig und gewaltig auf bei bescheidenen Ausmaßen, ähnlich dem Griechentempel in Paestum; damals war im ganzen Volk geistiges Leben, und wenn eine Kirche gebaut wurde, dann drückte sich der Sinn des Volkes von selber künstlerisch aus. Wenn ich mich später erinnern werde, so wird diese nordische Kirche – die alte Kreuzform ist nicht mehr erhalten, es sind fast nur einfache Granitmauern – neben dem herrlichen Griechentempel stehen. Der alte Thingplatz war da. Vielleicht konnten eng gedrängt anderthalb hundert Männer da stehen: es waren nicht viele Menschen damals, die Geschichte machten; heute, wo Millionen und Abermillionen sind, die nicht Geschichte machen können, stellen wir uns einen solchen Zustand nur schwer vor, wir nennen ihn «aristokratisch» Und endlich erhoben sich die Gräber alter heidnischer Sagenkönige: Erdhügel, aufgeschüttet über ihren Grabkammern. Die Regelmäßigkeit ist am Fuß der Hügel zerstört, nur die Spitze zeigt noch, daß Menschen hier am Werk waren und nicht die Natur. Ein solcher Hügel ist gewiß das künstlerischste Denkmal, das man sich vorstellen kann, es ist heute ein Stück Natur geworden; aber ist es so, daß die alte Gesinnung sich magisch ausdrückt in diesen Werken, welche mit Aufopferung eines ganzen Volkes errichtet wurden, oder falle ich den geschichtlichen Erinnerungen zur Beute – diese Hügel, von deren Spitze man einen weiten, runden Blick hat über das alte Land, machen mir einen Eindruck wie Kunstwerke, in denen ein überlegener schöpferischer Geist sich mitteilt, ein Geist, dessen Gehalt ist – nun, es gibt kein anderes Wort als wieder: aristokratisch.
Auf der Heimreise. Ende Oktober 1921
Die Dichtung stellt immer den seelischen Gehalt einer Gesellschaft, eines Volkes am treuesten dar. Als in Europa der Bruch mit dem Mittelalter stattfand und die neue Zeit, die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft, sich entwickelte, da mußte auch die Dichtung sich ändern. In Spanien suchte sie den mittelalterlichen Gefühlsgehalt zu retten, indem sie sich eng an Kirche und Königtum anschloß und beiden eine tiefere, sittlich-religiöse Bedeutung verlieh, als sie vielleicht in der Wirklichkeit hatten. Ob ein Dichter wie Calderon sich bewußt war, was er tat, ist schwer zu sagen; aber so oder so kam durch diese Art eine eigentümliche romantische Schwermut über seine Dichtung, die ihren Zauber für uns nur noch erhöht: er ist der ritterliche Dichter in der bürgerlichen Zeit der absoluten Monarchie, der künstlichen Wiederaufrichtung der Kirche und des Staatsbankrotts. Cervantes sah mit kaltem Blick die Lage: der Ritter ist ein Narr, das Schloß eine Wirtschaft für Fuhrknechte, und die Ritterfräulein sind gefällige Dirnen. Der große englische Dichter sah nicht so scharf, aber er fühlte: seine Helden, die gläubig sind, vertrauend, kindlich und einfach, passen nicht mehr in diese Welt; sie erscheinen vielleicht nicht als Narren, aber sie erscheinen als dumm. Die Franzosen haben von Corneille bis Racine entschlossen den Schritt gemacht: Corneille stellt noch den vornehmen Mann dar, Racines Helden sind Lakaien, und die dichterische Form ist nicht mehr Ergebnis des unmittelbaren Fühlens, sondern sie kommt aus zweiter Hand, sie ist epigonisch in des Wortes schlimmster Bedeutung. Als die Deutschen ihre große Dichtung hatten, da versuchten sie, die neue Gesellschaft als vornehme Gesellschaft darzustellen, als bürgerlich vornehme Gesellschaft natürlich, und versuchten auch eine neue Form für ihre Dichtung zu schaffen. Beides ist mißglückt, mußte mißglücken; aber wenn wir heute Goethe lesen, dann spüren wir doch, was Vornehmheit ist, was die göttliche Aufgabe des Menschen ist.
Mit der französischen Romantik begann dichterisch die Neuzeit, die Zeit, in welcher die Menschen heute leben: Schönheit, Natur, Gesittung, Vornehmheit und Glaube verschwinden, und das Krankhafte, ja Perverse, die Unnatur, die Roheit und Gemeinheit, die Häßlichkeit und die Zersetzung werden dichterische Ideale. Vielleicht darf man Strindberg als den letzten selbständigen Vertreter dieser Richtung bezeichnen, seit ihm ist sie zur Unterhaltungsliteratur hinuntergesunken.
Schweden war am wenigsten weit in der Entwicklung zur ausgebildeten bürgerlichen Gesellschaft gekommen; damit war es auch am wenigsten der Zersetzung unterlegen gewesen. Es war gewiß nicht mittelalterlich geblieben, aber man kann sagen, altertümlich; und so war es möglich, daß in den neunziger Jahren hier ein Dichtergeschlecht auftrat, das von der europäischen Zersetzung unberührt war und aus dem eigenen Volksleben wie aus der wirklichen Kultur Europas heraus Gehalt und Form einer Dichtung fand, welche von der der sonstigen europäischen Dichtung, der «Moderne», ganz verschieden war. Selbst die bedeutendste Erscheinung dieser «Moderne», die große russische Dichtung, die aus dem Plebejertum und der Auflösung durch religiöse Umdeutung Neues schaffen wollte, hatte hier nicht gewirkt. Eine scheinbare Ähnlichkeit ist mit der idealistischen Dichtung Englands vorhanden, für welche man die Namen Browning und Swinburne nennen mag; aber diese englische Dichtung hatte im Volk, in den Verhältnissen keinerlei Wurzel, sie konnte noch nicht einmal in die Zukunft weisen, und so blieb sie innerlich unfruchtbar und äußerlich ohne Wirkung, war, fachlich gesprochen, akademisch.
Diese Dichter der neunziger Jahre in Schweden sind zwei Lyriker: Fröding (der schon gestorben ist) und Karlfeldt; ein Lyriker und Erzähler Heidenstam; ein Erzähler und Dramatiker Hallström und eine Erzählerin Selma Lagerlöf.
Die Lagerlöf ist bei einer außerordentlichen Phantasiebegabung doch in die Grenzen ihres Geschlechtes eingeschlossen; ihr Gefühl ist nur weiblich, es ist nicht umfassend und stark genug, um auszufüllen, was ihr männlicher Geist bildet; sie ist eine willkommene Ergänzung einer großen dichterischen Zeit, ihr Geist hat vielleicht den größten Umfang unter ihren Mitstrebenden, aber ihre Werke können doch nicht das Letzte geben, was in dem Dichtergeschlecht lag. Die beiden Lyriker würden eine gesonderte Betrachtung eines Mannes erfordern, der mit der Sprache völlig vertraut wäre; so will ich mich auf Heidenstam und Hallström beschränken.
Hallström ging in seinen jungen Jahren als Ingenieur nach Amerika; er kam aus dem alten, vornehmen, einheitlichen Schweden in das Gebiet der ärgsten materialistischen Auflösung von heute. Er blieb nicht lange, nach kurzer Zeit war er wieder in Schweden; aber er muß damals die tiefsten Eindrücke der feindlichen Macht erhalten haben. Hallströms Erlebnis ist sicher das seiner Mitstrebenden gewesen: irgendwie sind sie heftig auf die neue Welt gestoßen, und als sie nun an ihre Dichtung gingen, da dichteten sie nicht mehr bloß aus der Seele ihres Volkes heraus, das fast unberührt geblieben war, sondern auch in, wohl unbewußter, Gegenwirkung. Ich selber, der ich gleichaltrig mit diesen Männern bin und in Deutschland durch eine eigentümliche Fügung Ähnliches erlebte, kann verstehen, wie diese Reaktion bei reinen Dichternaturen das Streben nach vollkommener Form erzeugen mußte. Nur durch die ganz vollkommene Form ist es möglich für den Dichter, sich wie in einem kristallenen Gehäuse vor der Feindseligkeit der undichterischen Mächte zu schützen. Ich kenne bei weitem nicht alle Werke der beiden Männer, aber in dem, was ich kenne, finde ich die höchste Erfüllung der Form.
Ich habe mich oft gefragt, ob eine solche Reaktionserscheinung nicht dichterisch bedenklich ist. Die Antwort kann nur die Nation geben, welche die Dichtung annimmt oder ablehnt. Nun, diese Dichter der neunziger Jahre sind von ihrer Nation mit Dankbarkeit und Verehrung angenommen. So wird denn auch wohl das Urteil der späteren Zeiten lauten, daß ihre Werke lebendig und dauernd sind.
Der natürliche Zustand wird getrübt durch den Einfluß Strindbergs. Strindberg ist eine europäische Erscheinung, nicht eine schwedische; er ist für Schweden der Vermittler der europäischen Zersetzungsgefühle gewesen. Aus der schwedischen Art versteht man, daß er abgelehnt wurde; hätte man ihn angenommen, so hätte man die anderen nicht annehmen können. Nun kam der große Erfolg Strindbergs in Deutschland. Zwar ist das geistige Leben Schwedens gesünder als das geistige Leben Deutschlands, aber die Macht eines zahlenmäßig großen Volkes wirkte auf das kleinere Volk: nun begann auch Schweden Strindberg zu schätzen; und in dem Maße, wie dies geschah, ging der Einfluß der anderen Dichter zurück.
Das kann nur auf kurze Zeit sein. Man weiß in Schweden noch nicht, in wie hohem Grade solche Erscheinungen wie die Strindberg-Begeisterung bei uns Modesache sind, wie hilflos wir den Suggestionen unterliegen; bei uns beginnt allmählich der bis dahin dem literarischen Leben gegenüber gleichgültige Teil der Nation – es ist der bessere – sich zu besinnen: damit werden auch diese konservativen, volkstümlichen und geistigen Dichter in Schweden wieder ihren alten Einfluß bekommen.
Es ist schwer für ein Volk, das nur fünf Millionen Menschen hat, innerhalb der großen Völker von heute sich selber zu finden, und, wenn es sich gefunden, wie in jenen Dichtern, sich zu behaupten. Man sieht es merkwürdig in der Malerei.
Als ich nach Dänemark kam, wurde mir klar, daß die bedeutende nationale dänische Malerei sich notwendig und leicht aus der dänischen Landschaft bilden konnte. Die dänische Landschaft ist aber für uns übrige Europäer farbig leicht zugänglich. Die schwedische Landschaft ist etwas, das es sonst in Europa nicht gibt; deshalb ist sie für das Volk selber künstlerisch sehr schwer zu verstehen. Nirgends habe ich so die ungebrochenen Farben nebeneinander stehen sehen wie hier. In den Bauerntrachten hat das Volk diese Farben ausgezeichnet verwendet; ich habe Trachten von einer unbeschreiblichen farbigen Schönheit gesehen. Aber wenn die schwedischen Maler lernen, dann gehen sie nach den übrigen Ländern, früher nach Deutschland, jetzt nach Paris. Was kann einem Schweden das silbrige, perlmuttrige Licht der französischen Maler bedeuten? Zorn gilt für einen der ersten Maler, und er ist es; in Stockholm hängt ein Bild von ihm, eine badende Mutter mit Kind, wahrscheinlich in einem normannischen Seebad; die Süßigkeit der einschmeichelnden Luft, die zarte Sinnlichkeit des hellen Lichts sind kaum von den besten Franzosen so gut gemalt. Aber als er nach Schweden zurückkam, da muß ihm klargeworden sein, daß hier andere Aufgaben lagen; er hat sich mutig an sie gemacht in seinen schwedischen Bildern; aber er hat sie nur gesehen, er hat sie nicht gelöst. Die Aufgabe wäre: ungebrochene, starke Farben ohne Ton nebeneinander zu setzen, so wie Holbein es tonig gemacht hat.
Aber da kommen wir auf die große Aufgabe, die sich in allem zeigt: in noch höherem Maße als wir Deutschen unterliegen die Schweden den fremden Einflüssen; und ebenso wie bei uns ergeben sich daraus Arbeiten und Anstrengungen, die eigentlich nicht nötig wären. Die Revolution, welche jetzt durch die Welt geht, ist notwendig; es bereitet sich eine Neuordnung der Menschheit vor. Aber sie ist verquickt mit Anschauungen, Lehren und Gefühlen, welche für viele der betroffenen Länder fremd sind. So ist es sinnlos, daß die schwedischen Arbeiter Sozialdemokraten sind.
Als ich nach Dänemark kam, da fiel mir auf, wie ganz anders hier die Arbeiter aussahen. In Schweden war kaum ein Unterschied zwischen ihnen und dem anderen Volk; in Dänemark machten sie einen rohen, sinnlichen und materialistischen Eindruck. Auch hier hatte die Kriegszeit unerhörte Gewinne für die Kapitalisten gebracht; der scheinbare Reichtum ist längst verflogen; aber die übermäßig hohen Löhne, durch welche die Arbeiter sich an dem Wohlleben beteiligten, sind noch geblieben, dank einer verschwenderischen Arbeitslosenunterstützung.
Die Stadt ist durch diese schon am Ende ihrer Leistungsfähigkeit, nun sollen die Bauern zahlen; es entwickelt sich der Kampf zwischen Besitz und Lohn.
Auf deutschem Boden: welch andern Ausdruck haben die deutschen Arbeiter! Nach Dänemark fällt es besonders auf, alle Menschen fast sind hier unterernährt. Die Arbeiter haben einen enttäuschten, traurigen Gesichtsausdruck; man sieht Spuren des Nachsinnens in ernsten, schwermütigen Gesichtern. Noch ist ja die eigentliche Not nicht an die deutschen Arbeiter herangetreten, aber sie spüren doch schon ihr Nahen; sie spüren, daß ihre Führer ihnen nicht helfen können. Wer kann helfen? Es wird noch viel Unglück geschehen, ehe es wieder besser wird auf der Welt. Eine neue Gesellschaft läßt sich nicht aufbauen nach einem Plan, der vorher entworfen ist, sie wird in krampfhaften Zuckungen und Todesjammern.
Aber wenn wenigstens das eine gelänge, dann würde manches leichter sein: wenn die fremden Theorien und Formen verschwänden, welche unnütze Kämpfe kosten, dann würde aus unseren eigenen Verhältnissen und aus unserem Volkscharakter die neue Zeit sich schneller bilden können.