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(1914)
Als die heute bei uns herrschende Literaturmode sich entwickelte (man sollte vielleicht Naturalismus, Symbolismus, Neuromantik und die anderen verschiedenen Bezeichnungen für eine im Grunde gleiche Sache lieber mit einem gemeinsamen Namen belegen), kamen auch die Werke der großen russischen Dichter, die man damals Realisten nannte, zu einigem Einfluß. Nicht zu großem; und besonders nicht zu Einfluß auf die eigentlichen Träger und Förderer der Bewegung; auf sie wirkte viel stärker die französische Literatur. Heute erhalten wir für die damals allein vorhandenen gekürzten und oft elenden Übersetzungen treue, gute und vollständige Ausgaben; von Tolstoi, Dostojewskij und Gogol.
Scheinbar zufällig sind Erlebnisse und Anregungen der jungen Leute und scheinbar rein persönlich ihre ersten Leistungen und spätere Entwickelung. Aber hinter dem Zufälligen und Persönlichen steht eine führende Macht. Trotz der Gleichgültigkeit der großen Menge nicht nur, sondern auch der meisten Führenden gegen die Dichtung, die unter Umständen zur völligen Isolierung des einzelnen Dichters führen kann und zu dem Anschein, als stehe er seiner Zeit feindlich gegenüber, wirkt doch in der literarischen Entwickelung (das heißt: in dem Schaffen der paar Dichter, die Selbständiges und Lebendiges leisten im Gegensatz zu den von der Mode oder dem bloßen Massenerfolg Gehobenen) das Leben des gesamten Volkes; und die alte Meinung hat recht, die in der Dichtung den letzten Ausdruck des nationalen Lebens findet, trotz dem scheinbaren Widerspruch, daß die Dichtungen, auf die es hier ankommt, lange Zeit fast oder ganz unbekannt bleiben.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die heute anerkannte und herrschende Literatur zusammengebrochen ist. Man möchte sagen, daß die Dichter, die heute in der Blüte des Mannesalters stehen und ihre reifsten Werke schaffen müßten, nicht älter geworden sind, als sie zur Zeit ihrer Anfänge waren: nur nahm man damals das Versprechen gläubig und dankbar hin, in der Erwartung, daß es eingelöst werde. Bei der Jugend konnte man sich mit dem Talent oder mit der Hoffnung des künftigen Talentes begnügen. Nun, da die Reife und ihre Früchte ausgeblieben sind, darf man mit gutem Recht sich fragen: Liegen nicht die Ursachen des Zusammenbruches schon in den ersten Werken erkennbar vor? Hat man sie nicht überschätzt? War nicht schon ein Mangel in den Grundlagen?
Es ist ja nicht die Dichtung allein, die uns enttäuscht hat, unser gesamtes Kulturleben ist es. Noch mögen manche sich an dem ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung berauschen und gewollt gläubig annehmen, er sei Folge und Zeichen von Kraft: wer das Geschehen untersucht und seine Folgen betrachtet, der sieht den unsicheren Grund des Gebäudes und die Zerstörung im Besten unseres nationalen Wesens. Kommt einst der Zusammenbruch, so werden wir ärmer sein, als wir zuvor waren.
Die Lektüre der neuen Übersetzung von Gogols «Toten Seelen» hat diese trüben Betrachtungen hervorgerufen.
Ich sagte, die großen Russen galten damals als Realisten und wurden mit den Franzosen gleichgesetzt, von denen auf die weiteren Kreise Zola, auf die Schaffenden Flaubert wirkten und in der Folge dann Baudelaire und die symbolistischen und romantischen Artisten. Man machte einen ähnlichen Fehler wie in der vorigen Generation, wo man den Stoff mit dem Empfindungsgehalt verwechselte: man verwechselte jetzt den Empfindungsgehalt mit der Darstellung. Es war natürlich in Tagen des Kampfes, wo man ein neues dichterisches Können suchte gegenüber einer leeren Routine, daß man nur an das Können dachte, und zwar, da sich ja die künstlerischen Produktionen immer nur auf gewisse Teile des künstlerischen Könnens erstrecken, nur an die Kraft des charakteristischen Darstellens, die man im Erfassen des Momentanen fand; daß man den Empfindungsgehalt ganz vergaß; wie auch heute in den Kämpfen der bildenden Künstler gegen das «Literarische» das rein Malerische einseitig hervorgehoben wird. Aber es war ein Unglück, daß in der Literatur keine bedeutende Persönlichkeit auftrat, die mit dem Können einen wertvollen Empfindungsgehalt auszudrücken vermochte. So kam statt der Weiterentwickelung nur ein Modenwechsel; hatte der Naturalismus das Momentane in der Außenwelt dargestellt, so stellte die Neuromantik nun das Momentane im Seelischen dar; da die Natur nicht im Momentanen liegt, sondern im Stetigen, so war der Naturalismus schon in seinen Anfängen Unnatur; und noch mehr die Neuromantik. Nur das Banale kann man im Momentanen fassen. Und so kamen wir denn endlich dahin, daß unsere Literaturwerke haltlos zwischen der Banalität und der Gespreiztheit hin und her schwanken: eine herrliche Gelegenheit für die Harlekinnaturen, als gestaltungsgewaltige Skeptiker zu erscheinen.
Der Realismus der großen russischen Dichter dient dem Ausdruck von ethischen Empfindungen. Rein technisch betrachtet tritt daher die Darstellung des Momentanen in den Hintergrund; es wird nur benutzt, um die Erzählung zu beleben. In den «Toten Seelen» ist ganz bewußt, ja, vom Dichter offen ausgesprochen, die Absicht, Typen darzustellen, also das Stetige, das hinter dem Momentanen ruht. Das kann der Dichter mit seinen Mitteln nicht anders als dadurch, daß er die herrschende Leidenschaft des Menschen erfaßt, also gleich, bevor er noch Umrisse seiner Gestalt festlegt, schon eine Abstraktion vornimmt: womit er denn das Gegenteil von dem tut, was nach der bei uns heute herrschenden Auffassung der Realist tun soll. Und hier, im Anfang des dichterischen Gestaltungsprozesses, wirkt die ethische Kraft. Ich will einen Absatz aus den «Toten Seelen» hier hersetzen, der zeigt, wie bewußt Gogol vorging.
«Dreimal weise ist, wer überhaupt keinen Charakter verabscheut, sondern prüfend seinen Blick auf ihn heftet und ihn begreifen lernt in seinen innersten Triebfedern; wie schnell wandelt sich alles im Menschen: ehe man sich's versieht, hat sich im Innern ein furchtbarer Wurm eingenistet, der wächst und wächst und alle Lebenskräfte herrisch in sich aufsaugt. Und mehr als einmal schon geschah es, daß in einem Menschen, der zu Höherem geboren war, nicht nur eine übermächtige Leidenschaft gewaltig emporwuchs und erstarkte, nein, oft schon ließ ein armseliger minderwertiger Trieb ihn all seine hohen und heiligen Pflichten vergessen und in elenden Nichtigkeiten etwas Großes und Verehrungswürdiges sehen. Unendlich wie der Sand am Meer sind des Menschen Leidenschaften; und keine gleicht der anderen. Alle sind dem Menschen im Anfang gefügig und gehorsam, die hohen wie die niedrigen, und erst später werden sie zu furchtbaren Despoten. Selig ist der zu preisen, der sich unter allen die herrlichste Leidenschaft erwählte: er wächst und mehrt sich täglich und stündlich sein grenzenloses Glück, tiefer und immer tiefer dringt er ein in das unendliche Paradies seiner Seele. Aber es gibt Leidenschaften, deren Wahl nicht vom Menschen abhängt. Sie werden mit ihm geboren in der Stunde, da er zur Welt kommt, und keine Kraft ward ihm gegeben, sie weit von sich zu stoßen. Ein höherer Plan ist es, der sie lenkt, und in ihnen liegt etwas, das uns ruft und lockt und keinen Augenblick im Leben verstummt. Ihre große irdische Laufbahn zu beenden, ist ihre Bestimmung, ob sie nun als finstere Gestalten vorüberwandeln oder als herrlich leuchtende Erscheinungen, die den lauten Jubel der Welt entfachen, indem sie an uns vorüberziehen; einerlei: sie kamen, um das den Mitmenschen unbekannte Gute zu erfüllen. Und vielleicht stammt auch die Leidenschaft, die unseren Helden Tschitschikow lenkt und vorwärts treibt, nicht aus ihm selber, und auch in seinem kalten, frostigen Dasein liegt etwas beschlossen, das einstmals den Menschen auf die Knie und in den Staub niederzwingen wird vor der Weisheit des Himmels. Und es ist noch ein Geheimnis, warum diese Gestalt gerade in dieser Dichtung erscheinen mußte, die hiermit den Schauplatz der Welt betritt.»
Jedes Können, auch jedes künstlerische Können, kann nur bis zu einem gewissen Punkt gebracht werden: von da an entwickelt sich ein Mensch nicht weiter, wenn nicht von anderer Seite her, von seiner Aufgabe, ihm neue Kraft, neue Ziele kommen. Eine Kunst, die nur auf Können gestellt ist (mag man selbst den Begriff des Könnens noch so richtig gefaßt haben), wird deshalb bald an ihre Grenzen kommen; und das ist der Grund, warum sich unsere Dichter nicht weiterentwickelten; ja, da alles seine Zeit hat, Empfindung, Einsicht, Aufgabe und Wille des Jünglings und des Mannes, so mag es kommen, daß ein Dichter, der so stehenbleibt, am Ende wirkt wie die geckenhaften Greise, die auf Liebesabenteuer ausgehen; was kindlich war, wird kindisch, und was jugendlich war, wird jungenhaft. Aber unser auf das Gute gerichtetes Wollen entwickelt sich mit unseren Jahren, mit Erfahrung, zunehmendem Verstand, Kenntnissen, Einsichten und Umsicht. Oft mag eine solche Entwicklung in ihren letzten Enden der Menge unverständlich sein, wie es die Gogols war, als er auch in den äußeren Formen seiner Religion immer strenger wurde; da soll sich der Gewöhnliche bescheiden und sich sagen, daß das Kleine nicht das Große fassen kann. Uns aber, denen nun fast schon das Wissen verlorengegangen ist um das, was Dichtung ist, mögen die Werke Gogols ein Trost sein und eine Hoffnung, daß auch unserem Volk einmal wieder bessere Zeiten kommen werben.
Leo Tolstoi (1902)
Wenn man des Morgens bei Sonnenaufgang an einem Fluß steht und in einem gewissen Winkel auf das Wasser schaut, so sieht man tausend leuchtende Punkte aufblitzen, eine Weile fast schwimmen und dann plötzlich wieder verschwinden; die vereinzelten Punkte scheinen ohne Zusammenhang miteinander zu entstehen und zu verschwinden; wie vereinzelte Lampen bei einem Feuerwerk. Und doch fließt unter ihnen der eine Fluß, und ihr Leuchten ist das Abbild der einen Sonne.
Betrachtet man die tausend einzelnen Inhalte, welche wir zusammenfassend Welt und Ich nennen, so kann man gleichfalls auf die Vorstellung kommen, daß eben nur die Einzelheiten, diese verschiedenen Inhalte da sind, leuchtende Pünktchen, die auftauchen und verschwinden; und Welt und Ich erscheinen uns dann als ganz unzulässige Vorstellungen. Aber eine geheime Kraft treibt uns, unter diesen leuchtenden Pünktchen den Fluß zu suchen, aus dem sie herausblitzen, das Eine, Ungeteilte, das sich hinter dem Schein verbirgt, eine intelligible Welt, ein Ding an sich, eine Substanz, eine Gottheit, oder welchen Namen wir immer sagen wollen aus dem Vorrat unserer Erfahrungen, die beschränkter sind wie jener Trieb, der sich doch nur in dem durch sie Gegebenen gestalten kann. Aus allen Wegen aber kommen wir zu der Meinung, daß hinter diesen zerstreuten Inhalten, die nur eine Welt des Kampfes bilden, eine Welt des Friedens liege, ein Eines, ein Gemeinsames, ein See, in dem die Individuen nur auftauchen wie Wasserbläschen.
Philosophen, welche Unrast bei den Menschen schaffen möchten, haben diesen Trieb auf das schärfste bekämpft, mit den gefährlichsten Waffen; Nietzsche in den Fragmenten, welche zu seinem «Willen zur Macht» gehören sollten, denn er hat die psychologischen Wege nachgewiesen, auf denen wir zur «wahren Welt» kommen. Aber die Bekämpfung kann sich immer nur gegen die Form richten, in welcher sich der Trieb äußert und die man ja naturgemäß nie wird halten können; der Trieb selbst ist vorhanden und kann auf keine Weise hinweggeleugnet werden.
Wenn man in dem vielfältigen Leben Tolstois den beherrschenden Trieb sucht, der offenkundig doch von Anfang an vorhanden ist und klarer wie bei andern ihn bis an sein Ende geführt hat, so ist es dieser. Wer ihn genau kennt, wird nicht oberflächlich scheiden zwischen dem Künstler und dem Moralisten und etwa den einen bewundern, des andern unstreitige Schwächen hervorheben; sondern er wird finden, daß das Große wie das Törichte, das Erhebende wie das Hypochondrische, das Künstlerische wie das Banausische bei diesem wahrhaft großen Menschen einer einzigen Quelle entspringt.
Sein großes Werk «Auferstehung» ist das bekannteste und ladet deshalb am meisten zur Anknüpfung ein; auch dadurch, daß es ganz besonders charakteristisch für alle Seiten des Dichters ist, empfiehlt es sich als Ausgangspunkt, wenn man mit einigen Worten ein Bild des merkwürdigen Mannes geben will.
Zunächst das Ästhetische.
Das Buch enthält eine Fülle von Personen und Schicksalen, welche alle mit wenigen Strichen sicher und genau charakterisiert sind, in einer Art, welche sich nicht zu schämen braucht, neben Dantes Kunst zu treten. Und in gleicher Weise sind Stimmungen, Natur, Gesellschaftsschilderung mit dem allerhöchsten Kunstverstand und dem größten Können gegeben.
Aber der Roman, oder wie man das Buch nennen will, hat gar keine Geschlossenheit; wir sehen nur eine ruhige Weiterbewegung ins Endlose; der Schluß ist ein einfaches Abschneiden. Das liegt in dem Problem, welches der Dichter sich gestellt hat; für das Problem gibt es keine Lösung, sondern nur ein einfaches Erzählen von Vorkommnissen, die nacheinander geschehen. Das Problem indessen hat sich nicht der Kunstverstand des Dichters gewählt, sondern sein moralischer Trieb.
Sieht man vom Kompositionellen aus diesem Grunde ab, hält man sich nur an das übrige, so findet man das Werk eines großen Dichters und Künstlers, der über alle Wirkungen gebietet, alles kann, was er will, in jeder Hinsicht fertig ist. Betrachtet man das Kompositionelle allein, so findet man einen Suchenden, Unfertigen, ja Unreifen. Auch am Ende seiner Laufbahn ist der Dichter nicht über das Anklagen und Fragen hinausgekommen, findet er nur törichte, hypochondrische und radikale Antworten, die sich wegen ihrer gänzlichen Sinnlosigkeit nicht poetisch gestalten lassen; denn alles, was man dichterisch schaffen will, muß doch im tiefsten Grunde vernünftig sein.
Ziemlich am Anfang seiner Laufbahn schrieb er eine kleine Erzählung «Der Morgen des Gutsherrn»: Ein junger, idealistischer Gutsherr will die Lage der Bauern bessern, findet aber zuletzt, daß er gar nichts erreichen kann, und macht sich nur selbst ein unglückliches Leben durch seinen Fürwitz. Durch sein ganzes Leben hat den Dichter dieses Problem und die Figur des betreffenden Helden begleitet: er will einen Trunkenbold retten oder er setzt sich mit einem wandernden Musikanten an einen Tisch, weil die Gesellschaft gegen den Mann ungerecht war, immer mit dem gleichen, negativen Erfolg. Und am Ende seines Lebens läßt er seinen Helden ein Mädchen, das er einst verführt hat, als Prostituierte wiederfinden und auf den Gedanken kommen, dieses sein und anderer Menschen Opfer nicht nur zu retten, sondern sogar zu heiraten. Und immer ist das letzte Grundgefühl weniger die Liebe zu den andern Menschen, als der Wunsch, sich selbst zu kasteien.
Ob hier der Instinkt einer fremden Rasse wirkt? Auch bei Dostojewskij finden wir überall diesen hysterischen Trieb, sich selbst zu quälen, der sich, wie so oft, in scheinbarer Menschenliebe äußert. Man stelle sich für einen Deutschen das Problem von «Auferstehung»: Ein sehr reicher und sehr vornehmer Mann, auf die Folgen seiner Jugendsünde stoßend, will sein Vergehen wiedergutmachen. Es ist doch ausgeschlossen, daß der auf den Gedanken käme, eine Prostituierte zu heiraten und dadurch sich und die Person unglücklich zu machen; einen solchen Gedanken würde er primanerhaft finden; vielmehr wird er das Mädchen in ordentliche Verhältnisse zu bringen suchen, soweit das möglich ist, und im übrigen seine Tat bereuen; dabei sich aber immer sagen, daß er doch nicht für weitere Komplikationen verantwortlich ist, die nur indirekt mit seiner Tat zusammenhängen und die er bei der geringen Erfahrung und Leichtfertigkeit der Jugend gar nicht voraussehen konnte. Goethe hat an Friederike Brion doch im Grunde nicht anders gehandelt wie der Fürst Nechludow an der Maslowa; aber als ein feinsinniger Dichter mit edlen Instinkten hat er das Mädchen geliebt und ihm viel gegeben; und als alter Mann dichtete er dann das wundervolle Idyll aus Sesenheim zur Freude für viele Menschen, und beim Diktieren kamen ihm die Tränen; der Fürst Nechludow stürzt sich auf das Mädchen als ein sinnlicher Barbar, gibt ihm gar nichts, und nachdem sie in den untersten Schlamm gesunken ist, will er zur Sühne sie heiraten, ohne an die Pflichten zu denken, die er gegen sich, seine Familie und etwaige Nachkommenschaft hat.
Diese Gegenüberstellung, die natürlich nicht ganz passend ist, gibt vielleicht eine Erklärung für die Erscheinung Tolstoi: er ist ein großer Dichter, aber Kind eines barbarischen Volkes, das auch noch nicht ahnt, was Humanität ist. Wir mögen dabei an die Anfänge der Kunst bei anderen barbarischen Völkern denken, wie frisch, wahr, einfach und kraftvoll da alles einzelne ist, wie naiv und schön das Wollen; aber wie aller Aufbau, aller Zusammenhang, alles, was Aufgipfelung ins Große sein sollte, alle Verhältnisse albern und bizarr, kleinlich und roh werden.
Greifbaren Ausdruck finden die Triebe in den moralphilosophischen und sozialpolitischen Theorien des Dichters, welche ihn in die unmittelbarste Nachbarschaft des Anarchismus bringen, der gleichfalls doch ein Produkt von Idealismus und Unkultur ist und gleichfalls die nächste Verwandtschaft mit hysterischer Selbstpeinigung und wahrhaftem Opfern, übersentimentaler Nächstenliebe und verbrecherischer Feindseligkeit gegen die Menschen hat.
Der typische Gedankengang aller der Leute ist, der Mensch sei von Natur gut, das Volk komme diesem Naturzustand am nächsten, und die höheren Klassen, weil sie sich von der Natur am meisten entfernt haben, seien die schlechtesten. Man sollte doch nie vergessen, daß die Prediger dieser Weisheit nie aus dem Volke stammen, sondern aus den höheren Ständen; diese kennen sie genau, und natürlich entsprechen dieselben nicht dem Idealbild irgendwelcher Art, das man sich von Menschen machen kann; das Volk aber können sie nie kennenlernen, denn auch wenn man Bauer wird und selbst pflügt wie Tolstoi, so wird das Volk sich ihnen gegenüber doch immer anders geben, als es wirklich ist, weil sie eben nicht zu ihm gehören, und zwar, da jede gute Meinung, die man von einem hat, diesen treibt, der Meinung irgendwie zu entsprechen, werden Leute aus dem Volk sich solchen Idealisten immer besser zeigen. Es kommt dazu, daß gewisse Eigenschaften wie Gutmütigkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft usw. in der Tat ja in den unteren Ständen häufiger sind wie in den höheren; wie man an Emporgekommenen sehen kann, sind sie fast immer Resultat des Druckes, unter dem die Leute leben; wenn sie selber drücken können, so verschwinden sie bald. Einer der ekelhaftesten Typen ist wohl der Typus der Prostituierten, dessen bestimmende Elemente Leichtsinn, Lügenhaftigkeit, Schmutz, Gedankenlosigkeit, Putzsucht, Faulheit sind; dabei durchaus eine gewisse Gutmütigkeit und Freundlichkeit, welche, wenn sie nicht einer hohen geistigen Kultur entstammen, ja nur die Rückseite von Gedankenlosigkeit und sittlicher Schwäche sind. Und nun sehe man, wie Tolstoi aus seiner Maslowa eine Art Heilige gemacht hat, die, gleich der Sonja Dostojewskijs im Raskolnikow und ähnlichen literarischen Töchtern von Eugen Sue und George Sand, wohl gar unsere Liebe und Verehrung erwecken soll.
Dichter, welche Kultur haben, weisen die Tendenz auf, den Menschen zu erhöhen, indem sie ein größeres Kraftmaß von ihm verlangen; sie schaffen «Helden»; wie weit es den Einzelnen gelingt, ihrer Zeit oder skeptischeren Generationen solche Helden glaubhaft zu machen, ist ja eine andere Frage. Und umgekehrt rücken sie die Mißratenen jeder Art weit ab von der Menschlichkeit, entweder durch Lächerlichkeit oder durch Bosheit; es ist hier der Schnitt, welcher ganz scharf Balzac von Zola trennt, so oft man auch oberflächlicherweise die beiden zusammen nennen mag. Dichter der Unkultur wie Tolstoi heben die Niedrigen und Verachteten und senken dafür die Hochstehenden, indem sie sie als Schauspieler darstellen, als vom Schicksal Geschobene, als Produkte der Zufälle, als betrogene oder unbetrogene Betrüger, welche Tendenz man hübsch als «demokratisch» bezeichnen kann. So geht es auch bei Tolstoi her. In seinem großen Roman «Krieg und Frieden» ist die durchgehende, stets aufs neue betonte Absicht, Napoleon, den mit Recht oder Unrecht, was hier gleichgültig ist, sonst so Erhobenen, als einen Kleinen hinzustellen, alle anderen hervorragenden Akteurs desgleichen, und dafür die im gemeinen Soldaten und in Kutusow verkörperte «Volksseele» als das wahrhaft Welthistorische zu erweisen. Es liegt der Vergleich nahe mit der modernen allgemeinen Weltanschauung, wie sie sich in der Geschichte und im sozialen Leben, in Ethik und Ästhetik sonst äußert, nur daß bei uns im Westen die christliche Nuance fehlt, welche Tolstoi beibehalten hat, und dafür die naiv materialistische tritt. Und wer, der unsere heute herrschende allgemeine Geistesrichtung und Weltbetrachtung mit etwa der unserer klassischen Zeit vergleicht, wollte leugnen, daß wir heute barbarisch geworden sind und von Jahr zu Jahr uns immer mehr von den höchsten Zielen der Menschheit entfernen, zu Freiheits- und Gleichheitsillusionen, Sittenlosigkeit, Schwäche, Toleranz, Schwindel, Unwissenheit, Berufsidiotismus, Banausentum und Aberglauben?
Auch hier geht Tolstoi mit dem größten Kunstverstand vor, er schafft so plastisch, so lebenswahr, so überzeugend, mit so einfachen und klaren Mitteln, daß man an keiner Stelle ihm entgegenzutreten vermöchte. Aber an diesem Punkt kann man auch den Zusammenhang seines poetischen Könnens mit seinen moralischen Ideen verfolgen. Er erreicht seine Resultate, indem er die Handlungen der Menschen zerpflückt in eine lange Reihe aufeinanderfolgender Zustände, eine übermenschlich erscheinende Tat der Tapferkeit etwa in das Zaudern, die Unkenntnis, die Überraschung, das unbewußte Reagieren u. s. f. Jeder einzelne dieser Momente ist so platt und dürftig: siehe da, die scheinbare Heldentat ist also nur eine Summe von kleinen dummen Handlungen, Gefühlen und Geschehnissen. Nirgends aber sollte man energischer betonen wie in psychologischen Dingen, daß das Ganze etwas anderes ist wie die Summe seiner Teile. Eine Heldentat ist doch noch etwas mehr, als was Tolstoi von ihr zu erzählen weiß, ebenso wie die Liebe mehr ist, als er von ihr schildert, und alles andere, was der Mensch auf den Höhepunkten seines Daseins leistet oder empfindet.
So sehr in solchen und anderen Dingen der Dichter beschränkt wird durch die starken anderen Triebe, die in Tolstoi lebendig sind, so sehr findet auf der anderen Seite doch wieder ein Kampf statt zwischen den beiden Fähigkeiten und Trieben. Ein Dichter muß sich immer zur Humanität gedrängt fühlen, er kann nicht in Beschränktheit verharren. So entsteht in Tolstoi die merkwürdige Unruhe, die ihn immer von neuem treibt und ihn nicht zum Frieden kommen läßt in irgendeiner muckerischen und aufrührerischen Sekte. Seinen Ausdruck findet das bei Tolstoi in der beständigen quälenden Untersuchung des Warum und Wozu des Lebens.
«Der Tod des Iwan Iljitsch» ist hierfür am lehrreichsten. Beständig quält den Dichter die Frage: Welches ist der Sinn des Lebens? Sein ganzes Leben eigentlich besteht in der beständigen Betrachtung dieses einen Gedankens. Auf dem Höhepunkt seiner dichterischen Kraft schreibt er eine Novelle, welche sich um sein eigenes Grundproblem dreht, er schreibt diese Novelle mit der Eindringlichkeit, Wucht, Natürlichkeit und Schlichtheit, die ihn auszeichnet, und zugleich in einer straffen und geschlossenen Kompositionsart, so daß man merkt, hier hat man ein Werk sorgsamster Arbeit vor sich. Und was ist der ganze Inhalt? Ein gänzlich gleichgültiger Mensch, eine Dutzendfigur, führt ein gänzlich gleichgültiges, dutzendmäßiges und durchaus sinn- und geistloses Leben, und bemerkt, daß der Tod ein ganz gleichgültiger und sinnloser Abschluß ist.
Ist hier dieselbe Tendenz vorhanden, welche Napoleon zu einem kleinen, gelblich fetten Komödianten erniedrigen mußte? Oder liegt hier im letzten Grund die hysterische Selbstquälerei vor, die den Fürsten Nechludow zwingen will, eine Prostituierte zu heiraten, die läppische Hypochondrie, welche ihn treibt, sich mit einem Musikanten an einen Tisch zu setzen, weil die Kellner hochmütig sind, der nihilistische Zerstörungstrieb, seine Gutsbesitzerstellung unmöglich zu machen, indem er versucht, die Bauern zu heben, die ihn gar nicht nötig haben? Kann denn nicht ein Hochstehender die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen? Würde nicht Goethe eine andere Antwort wissen wie Iwan Iljitsch? Aber freilich: die «Beichte» zeigt, daß der Dichter sich selbst auch niederschraubte, statt sich in die Höhe zu zwingen; er mußte wohl Gestalten dichten, die geringer waren wie er selbst und nicht höher, denn sich selbst machte er ja auch geringer.
Was alles mögen solche furchtbaren Erscheinungen bedeuten? Was zwingt uns, unser Bild der «wahren Welt» so zu gestalten oder so? Was war es, das, in noch höherem Maße wie Tolstoi, Dostojewskij zu Schmutz, Verachtung, Lüge und Schwäche trieb? Gibt es einen größeren Gegensatz zum Nihilismus wie die Weltbetrachtung Tolstois und Dostojewskijs, und gibt es eine größere Verwandtschaft wie die zwischen den beiden russischen Extremen?
Je mehr wir Europäer uns in das Russentum vertiefen, desto unheimlicher, rätselvoller erscheint es uns. Ach, sind wir denn nicht doch die letzten Erben Griechenlands, mag der Schatz noch so sehr zusammengeschmolzen sein? Wir sollen uns doch klarmachen: Neue Perserkriege bereiten sich vor; wieder naht eine Sturmflut des Orients, die sich über unser liebes, helles Europa ergießen will; und, wie schon früher einmal, in Verbindung mit den sich öffnenden Gewässern unserer eigenen Tiefe.
Mit Tolstoi ist der letzte der Generation großer europäischer Dichter gestorben, welche gleichzeitig in Frankreich und in den nördlichen Ländern auftraten, die Dichter und Denker, Propheten und Reformatoren, Revolutionäre und Heilige waren. Bei ihnen allen ging ihre dichterische und politisch-religiöse Tätigkeit mehr oder weniger auseinander, bei keinem in dem Maße wie bei Tolstoi. Schon in gewöhnlichen Verhältnissen umfaßt die Persönlichkeit des Dichters eine fast unglaubliche Menge scheinbar unvereinbarer Gegensätze: wie erst in diesen Verhältnissen, wo der Schauende ein Handelnder, der Darstellende ein Lehrer, der Empfindende ein Volksredner sein mußte, wo der praktische Volksmann den Dichter verachtete, der Dichter, indem er ihn darstellte, den Volksmann belächelte! Wenn sonst das Große aus der Harmonie und Ruhe kommt, aus einem klaren und einheitlichen Willen, aus einem einseitig gerichteten Gefühl und bewußt geleiteten Verstand: hier kam es aus dem Kampf aller geistigen Kräfte gegeneinander, aus der Disharmonie, der Verzweiflung, der Unklarheit über die eigene Persönlichkeit und der vielleicht bewußten Selbsttäuschung und aus einem vielleicht mehrfach gespaltenen Willen.
Tolstoi war zuerst Dichter: ein Mensch, den es drängte, sein Weltbild in schöner Weise darzustellen. Seine ersten Schilderungen aus der Belagerung Sewastopols sind reine epische Dichtwerke, objektiv, schön und ruhig und so in sich geschlossen, daß keinerlei Kraft in ihnen nach außen strebt; nur wer seine späteren Arbeiten kennt, mag hier und da spüren, daß nicht alles gedichtet ist, daß ethische Triebe durch die künstlerische Arbeit hindurch sich anderswohin drängen. Seine erste größere Novelle «Die Kosaken» zeigt schon den Bruch; nicht mehr geht die Absicht auf reine Kunst, auf Wirkung durch Anschauung, Natur, Bild, Harmonie und Schönheit; das Nachdenken, die Theorie, die Zerstörung der Empfindung durch den praktischen Zweck beginnen. In seinen späteren Werken hält er sich dann inmitten der äußersten Gegensätze: zuweilen eine wundervolle, reine Dichtung, zuweilen eine merkwürdig leidenschaftliche Tendenzschrift.
Ja, wie kann denn ein Dichter, der zugleich ein tiefer Mensch ist und leidenschaftlich empfindet, der nicht im Handwerklichen aufgeht – aus weiser Selbstbeschränkung oder aus Trockenheit des Herzens – wie kann der denn heute ein Weltbild darstellen? Die Generation europäischer Dichter, zu der Tolstoi gehört, hat große Romane geschaffen, vielleicht die bedeutendsten Romane der Weltliteratur; aber alle diese Romane sind nicht rein episch, denn diese Zeit der stärksten Gegensätze, der mit klarstem Bewußtsein erfaßten Kämpfe zwischen den Menschen und in den Menschen war nicht episch, sie war dramatisch. Als Homer seine Gedichte schrieb, da gab es für den Dichter nur einen normalen Menschen: den vornehmen Mann; seine Empfindungen waren die natürlichen, allgemein menschlichen, und wenn ein Mensch andere Empfindungen hatte, so galt er als unberechtigt. So konnte ein klares, schönes episches Weltbild entstehen. Wir Menschen von heute kennen nicht mehr einen einzigen berechtigten Menschentypus, wir haben eingesehen, daß alle Menschen notwendig sind, der Vornehme wie der Gemeine, und selbst der Verbrecher hat seine bestimmte Stelle, wo er mit dem eigenen Bewußtsein seiner Notwendigkeit steht. So können wir die Welt nur noch als Kampf empfinden; und wollen wir diesen Kampf im Roman darstellen, so kommen wir entweder zu den erzählten Dramen Dostojewskijs mit ihrer fieberhaften Spannung, mit ihrer Verneinung des epischen Behagens, oder zu jener Spaltung in Arbeit und Interesse des Dichters wie bei Tolstoi, bei dem man von einem gewissen Punkt an denn den Dichter in den Schriftsteller übergehen sieht.
Der Dichter als Dichter löst alle Widersprüche der Welt, empfindet jeden Kampf als Frieden, denn in ihm ruht ja die Welt, und keinem Menschen wie dem Dichter erscheint alles Wirkliche so als vernünftig. Aber wenn der Dichter nicht mehr Dichter ist, sondern Schriftsteller wird, dann erscheinen ihm alle Widersprüche ebenso unlösbar, wie sie es den andern Menschen sind, sieht er wie sie überall einen sinnlosen Kampf, erscheint ihm wie ihnen alles unvernünftig: und indem er mit seiner beschränkten Vernunft zu bessern sucht, wird er genau so töricht – in seiner Vereinzelung betrachtet – wie jeder andere vereinzelte Weltverbesserer; denn sobald er nicht mehr Dichter ist, ist er nur ein Mensch wie die andern, der nicht das allgemeine Gesetz und die große Harmonie der Welt in sich trägt, sondern nur ein unharmonischer Teil der harmonischen Welt ist, ein murrender und unverständiger Untertan des Gesetzes.
Tolstoi als Schriftsteller, oder, wenn man will, als Denker, ist zu einer Art von quietistischem Anarchismus gekommen, zu einer edlen, aber gänzlich unsinnigen Theorie von der menschlichen Gesellschaft, an die nur ein Mensch glauben kann, der die Menschen gar nicht kennt; und der Dichter Tolstoi kennt die Menschen so gut, wie nur wenige sie gekannt haben. Macht man sich den ganz unglaublichen Widerspruch klar, der darin liegt, daß derselbe Mensch einmal eine beliebige Anzahl von Personen seelisch und körperlich so genau darstellen kann, daß man mit ihnen vertraut wird wie mit wirklichen Menschen, und daß er das andere Mal glaubt, die Menschen könnten nach Motiven handeln, nach denen Durchschnittsmenschen – an die allein kann man ja bei sozialen Theorien denken – noch nie gehandelt haben, so wird einem klar, daß hier etwas Tieferes zugrunde liegen muß als eine wunderliche, persönliche Kombination; in der Tat, hier stehen wir vor dem eigentlichen Problem unserer Zeit.
In einem seiner letzten Werke, dem Roman «Auferstehung», ist das Paradoxon besonders klar: der Held verschuldet, daß ein Mädchen zugrunde geht; die Personen sind mit dichterischer Kraft so geschildert, daß ein Sühnen oder Ungeschehenmachen gänzlich ausgeschlossen ist. Dennoch versucht er das Sühnen, und ganz natürlich mißglückt es ihm. Das Epos kann solche Vorgänge nicht darstellen, erst das Drama geht in das Metaphysische hinein, erst hier erscheint als Vernunft und Notwendigkeit, was in der Erzählung als grausiger Zufall und lächerlicher Unsinn erscheint. Die großen erzählenden Dichter, deren letzter Tolstoi war, konnten keine Lösung geben; der einzige aus seiner Generation, der Dramatiker wurde, war Ibsen; aber Ibsen hat seine Probleme fast immer zu sehr zeitlich-zufällig aufgefaßt, und so hat er die Aufgabe nicht bewältigen können: durch die Dichtung einen Sinn in die scheinbare Sinnlosigkeit unserer Zeit zu bringen.
Der auf drei Bände berechnete Nachlaß enthält nun außer manchem, das dichterisch und menschlich wundervoll ist, eine Erzählung, wo es dem großen Dichter und großen Menschen gelungen ist, zu einer höheren Einheit zu gelangen; indem die eigentliche Form der Erzählung gesprengt wird, kommt er zu jener Verbindung mit der Metaphysik; alles Furchtbare, Sinnlose und Grausige des vereinzelten Daseins wird mit der großen darstellerischen Kraft vorgeführt, die der Dichter sich bis in sein Hochalter erhalten hat; aber wir bekommen auch eine Ahnung von dem Zusammenhang des Weltganzen, in welchem jenes Furchtbare, Sinnlose und Grausige an einer notwendigen Stelle steht und höheren Zwecken dient. Beinahe möchte man meinen, daß dieser Zusammenhang unbeabsichtigt erscheint, aus dem ungewollten und ungekannten Einssein mit allem kommend, dem alles Große entstammt.
Es handelt sich um die Erzählung «Der gefälschte Coupon». Durch einen schlechten Streich von zwei jungen Leuten, der durch eine zufällige Laune eines Vaters verursacht ist, wird eine lange Kette von Untaten und Verbrechen erzeugt; diese hängt an mehreren Stellen mit einer andern Kette guter Persönlichkeitswirkungen zusammen; gut und böse, böse und gut wirken aufeinander, und zuletzt schließt sich die Kette zu einem Ring, indem die ersten Veranlasser des Bösen durch die Berührung mit dem Guten gehoben werden.
Wenn die Heilige Schrift sagt: «Gottes Wege sind unerforschlich», so verwirft sie die einseitige und starre Ethik, welche das Böse als ungöttlich auffaßt und schließlich doch hinauskommt auf einen Dualismus von Gott und Teufel, wenn wir die mythische Ausdrucksweise beibehalten. Was Tolstois Leben und Dichten problematisch macht, war dieser Dualismus; eine andere Geschichte des ersten Nachlaßbandes enthält ihn noch offen: Ein junger Mann hat vor der Ehe ein bloß auf Sinnlichkeit gerichtetes Liebesverhältnis, fühlt in der Ehe eine beständig stärker werdende sinnliche Leidenschaft, die ihn dieses Verhältnis wieder aufzunehmen treibt, und kommt zu einer tragischen Katastrophe.
Die Erzählung heißt bezeichnend «Der Teufel». Hätte diese Erzählung dichterische, das heißt höhere Wahrheit, so wäre die ganze Welt furchtbar geordnet, und wir könnten uns in ihr nur zurechtfinden, wenn wir an den grausigsten Pessimismus glaubten. Kein Mensch ist frei von Schuld, und wenn schon so kleine Schuld, wie sie dort erzählt wird, alles Gute zerstören kann, dann wäre ja nichts als Elend und Jammer auf der Welt, und die Dichtung, von der wir dachten, daß sie uns erheben könnte und aus dem Sinnlosen des zufällig empfundenen Leidens in jene Höhe heben, wo das Leiden seinen Stachel verliert, weil es als sinnvoll empfunden wird: die Dichtung wäre dann ein Übel mehr zu allen übrigen Übeln.
«Der Teufel» stammt aus dem Jahre 1889; man möchte hoffen, daß jene andere Erzählung jüngeren Datums ist, leider ist ihre Entstehungszeit nicht angegeben; sollte sie es nicht sein, so würde das nicht viel beweisen, denn Tolstoi dachte immer nur als Dichter, und sein ganzes Denken bewegte sich darum in beständigen Widersprüchen. Mag jene große Empfindung von der Schönheit des ganzen Weltzusammenhangs und von dem göttlichen Zweck des Bösen das letzte Ergebnis seines Lebens sein, oder ist sie nur ein einziges Mal in ihm aufgeblitzt, um dann wieder von seiner Weltfeindlichkeit vernichtet zu werden: er hat sie einmal gehabt und einmal dichterisch geformt; und so gibt uns der letzte große Dichter, den wir Heutigen hatten, doch noch die Hoffnung auf eine Weiterführung der Dichtung und Höherleitung der Kunst: auch uns wird es möglich werden, die Welt wieder harmonisch zu fühlen.
Flaubert schreibt einmal in einem Brief: «Wir Künstler dürfen die Schönheit und das Glück darstellen, unter der Bedingung, daß wir selber nichts von ihrem Trost haben und nur die schwere, drückende Arbeit empfinden.» Das ist der Ausspruch einer schöpferischen Natur; die nicht schöpferischen Naturen, welche oft Dinge machen, die von den meisten Menschen auch für Kunstwerke gehalten werden, empfinden ganz anders, für sie bedeutet die Kunstarbeit ein hohes Glück und ein volles Genießen. Von dem verstorbenen Wilhelm Hertz, einem Mitglied der sogenannten Münchner Dichterschule, wurde ein Ausspruch erzählt, daß er sich sein ganzes Leben lang immer glücklich gefühlt habe. Da die gewöhnliche Vorstellung vom Künstler sich nach diesen Leuten bildet, welche ja in der großen Überzahl sind und am meisten bekannt werden, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn in ihr der Künstler ganz anders erscheint, als er nach jenem Ausspruch Flauberts müßte.
Aber ob es ähnlich nicht auch auf den anderen geistigen Gebieten hergeht?
Man kann zwei religiöse Typen unterscheiden: Die glücklichen, heiteren und ruhigen Frommen, und die gequälten, zweifelnden, sich abarbeitenden. Sollte es in der Religion so sein wie in der Kunst, daß der eigentlich Schöpferische in ihr nur Mühsal und Verzweiflung fände, damit andere glücklich sein können; und daß nur die Unschöpferischen in ihr das Glück finden, das eben die anderen für sie schaffen?
Es ist soeben ein sehr schöner Briefwechsel von Leo Tolstoi mit einer geistig hochstehenden Frau herausgekommen Leo Tolstois Briefwechsel mit der Gräfin A. A. Tolstoi. München, Verlag von Georg Müller , der unter manchen Fragen auch diese anregt.
Die Sache geht aber noch weiter.
Jene Künstler aus zweiter Hand machen oft einen sehr viel angenehmeren Eindruck als die wirklich schöpferischen Künstler; sie erscheinen oft talentvoller, weiter, klüger als die anderen, sie scheinen oft ein besseres Herz, ein liebevolleres Gemüt, einen freieren Verstand, eine bessere Bildung zu haben; der Schöpferische erscheint oft beschränkt, unliebenswürdig, in unangenehmer Weise kindlich. Bei den Religiösen ist es so, daß man bei dem schöpferisch Religiösen oft im Zweifel sein kann, ob er überhaupt ein guter Mensch ist. Selbst im Evangelium treffen wir Spuren davon, die ja denn natürlich immer schnell fortinterpretiert werden. Die Verfluchung des Feigenbaumes, wie sie erzählt wird; ein Satz wie: «Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern den Krieg», stimmen gewiß nicht zu dem üblichen Jesusbilde, das etwa auf einer Linie steht mit der üblichen Vorstellung vom Künstler. Die Religiösen aus zweiter Hand aber sind unter allen Umständen gute Menschen.
Die Schreiberin der Briefe an Tolstoi gehört zu den Unschöpferischen, Tolstoi ist ein Schöpferischer. Wenn man die Briefe der beiden liest, so macht für den Oberflächlichen die Frau einen sehr viel günstigeren Eindruck wie der Dichter: sie scheint ruhiger, weiser, gütiger und glücklicher. Sehr oft sagt Leo Tolstoi etwas unglaublich Dummes, sie aber nie.
Die Gräfin – sie war Hofdame – schreibt etwa einmal über den Tod einer Kaiserin: «Für die, die sie kannten, ist ihr Tod ein seelischer Verlust. Ihre sanfte und kindliche Seele ist mit vollkommenem Bewußtsein und mit Ruhe eingegangen in die Ewigkeit. Einige Stunden vor ihrem Tode nahm sie von ihren Kindern Abschied, aber nicht nur von ihnen: auch von allen Hausgenossen und von allen Dienstboten bis hinab zur letzten Scheuermagd und sagte jedem ein zartes Abschiedswort.» Man wird sagen: das klingt recht hofdamenmäßig; gut; aber nun erzählt sie weiter, daß an der Bahre fünf Tage lang das Evangelium gelesen wurde, und fährt fort: «Jedes Wort bekam einen eigenartigen Klang, ward erleuchtet und fiel ins Herz wie etwas Heilbringendes, zu neuem Leben Erweckendes, und war voll unaussprechlicher und bestimmter Verheißungen. Mit solcher Zuversicht hob sich die Seele dem Kommenden entgegen, daß selbst für das Herzeleid kein Raum mehr blieb. An jenem Tage, als ich Ihren Brief empfing, kam die Reihe zu wachen wieder an mich, und diesmal schien es mir, als stünde ich nicht mehr allein am Sarge, sondern zusammen mit Ihnen, hielte Ihre Hand in meiner Hand, und das Wort der ewigen Wahrheit erglänze noch heller in mir und ginge in Sie über mit der ganzen Kraft meines Wunsches.» Offenbar sind ja bei der Briefschreiberin nicht nur Ausdruck und Gedanken konventionell, sondern auch die Empfindungen; aber ebenso sind sie echt, und, mit dem Maßstab gemessen, den man an sie legen muß, auch tief.
Hier ist der Punkt, von dem aus man solche Erscheinungen verstehen muß. Diese Art Menschen sind ja recht häufig, sie sind die durchschnittlichen höheren Gebildeten, diejenigen Menschen, welche nach Begabung und Charakter nichts irgendwie Besonderes sind, aber durch ihre gesellschaftliche Stellung sich Dinge angeeignet haben, welche eigentlich nur bedeutende Menschen besitzen, und diese Dinge nun viel augenscheinlicher darbieten. Dem Selbständigen erscheinen sie oft als verlogen, weil er nicht die Wurzel bei ihnen findet, aus der diese Dinge hätten wachsen müssen. Aber sie sind durchaus ehrlich. Eine Person wie diese Gräfin Tolstoi muß man mit der höchsten menschlichen Achtung nennen. Mit der Lüge ist es ja eine eigene Sache; jeder Mensch ist nur bedingt wahr, und je tiefer man in sich steigt, desto mehr Lüge findet man in sich, die man ursprünglich für Wahrheit gehalten; von der Gräfin kann man unbedingt sagen, daß sie bis zu dem Punkt in sich, zu dem sie hat steigen können, jede Lüge entfernt hat. Sie ist wahr, und ihre Empfindungen sind echt.
Aber sie ist kein bedeutender Mensch: sie kann eben nicht tief genug in sich hineingehen. Selbst durch die Übersetzung hindurch fühlt man ihren Worten an, daß sie nicht aus dem eigentlichen Erlebnis kommen, jenem Erlebnis, das in Verzweiflung, Angst, Rausch und Begeisterung erlebt wird.
Es ist schwer, solche Dinge den Menschen klarzumachen. Vor etwa einem halben Menschenalter hat man auf einem Papyrusblatt Worte Jesu gefunden, die nicht mit in unsere Evangelien aufgenommen sind. Ein solcher Ausspruch lautet: «Oft habe ich begehrt, eines dieser Worte zu hören, und hatte niemand, der es sagte.» Heute könnte Jesus seine Worte von Millionen von Menschen hören: würde er diesen Verzweiflungsruf des fürchterlich einsamen großen Menschen, dieses furchtsam-demütige Wort eines in Gott Lebenden nicht heute ebenso ausstoßen wie damals? Die meisten Menschen werden über die Frage verwundert sein, die besten selber werden sie verneinen. Lassen wir uns nun etwas von Tolstoi erzählen: «Ich ging einer Prozession zuschauen und schaute mit einer gleichgültigen und saugenden Beklemmung des Herzens auf die Menge und auf die Statue, die man umhertrug; und so widerwärtig erschien mir ihr Aberglaube und die ganze Komödie.»
Diesen Satz hätte irgendein trivial «aufgeklärter» Mensch schreiben können; und man würde sich dann über den albernen Skribenten ärgern, der nicht imstande war, seine Vorstellungen von diesen Dingen auf einen Augenblick zu vergessen und zu empfinden, daß diese Leute in der Prozession doch Religion fühlen; daß auch seine eigenen Vorstellungen von den höheren Dingen von anderen Leuten als Aberglaube bezeichnet werden können, und daß nie ein Mensch sagen kann, wo Komödie anfängt, sobald Religion äußere Form annimmt – vielleicht sogar schon, sobald sie sich uns selber formt und nicht nur mehr bloße Sehnsucht ist. Und diesen Satz hat Tolstoi geschrieben, einer der wenigen Menschen unserer Zeit, vor denen man immer Ehrfurcht haben muß, auch wenn er irrt.
Aber Tolstoi fährt fort, daß er den Brief der Gräfin während der Prozession erhalten habe, eben den, von welchem wir oben sprachen, und schreibt dann: «Ihr Brief hat mich nur von einem überzeugt: daß ich Sie sehr liebe, und als ich dann wieder hinter der Prozession herschritt, wurde mir fröhlich zumut, weil auch ich einen Aberglauben hatte.»
Wie? Erlebt jetzt nicht Tolstoi das, was die Briefschreiberin geschrieben hat, erlebt er es nicht mit der schwermütig lächelnden Skepsis des bedeutenden Menschen, der eben die Dinge tiefer nimmt als der andere, und der durch einen Scherz einen Menschen von sich fernhalten muß in dem Augenblick, wo er ihn zu sich heranzieht? Er fährt fort: «Überzeugungen sind einem Menschen nur durch das Leben und nicht durch Überzeugungen beizubringen, hauptsächlich aber durch Leiden.»
Wie? Welch ein Ton ist das plötzlich? Wie versinken da mit einem Male die Worte der Hofdame, die in ihrem Brief fortfuhr: «Mein Gott, wird es denn einmal sein, wird denn die Minute kommen, wo auch Sie mit einer Brust voll Liebe sich an das Kreuz anschmiegen werden, das Sie jetzt nur drückt?»
Tolstoi fährt fort: «Irgendeinmal werde ich Ihnen noch über den Tod meines Bruders und seine letzten Minuten erzählen, und Sie werden begreifen, daß wohl nichts stärker auf die Seele wirken kann, und doch war die einzige Überzeugung, die ich davontrug, die, daß es mir nicht beschieden sein wird, das Leben besser als er zu ertragen, und noch weniger das Sterben; und ihm war es schrecklich schwer, das Leben und das Sterben. Und mehr weiß ich nicht.»
Diese Worte sind erlebt, die Gedanken und Gefühle sind erlebt. Die meisten Menschen werden wohl die Worte der Hofdame vorziehen; aber wenn Jesus einmal wieder unter uns wandelte, so wäre er vor Tolstoi stehengeblieben und hätte gedacht: «Dieser Mann spricht ja zuweilen Törichtes, aber von ihm könnte ich vielleicht eines meiner Worte hören.»
Zeiten, welche natürlich und vernünftig leben, verlangen vom Künstler nur sein Kunstwerk und haben für den Mann, der das Werk gemacht hat, nicht viel Interesse. Je unnatürlicher die Zeiten sind, desto wichtiger werden ihnen die Künstler als Menschen. Das kann Narrheit sein, wie sie bei unnatürlichen Zuständen sich ergeben muß. Dahin gehört etwa das lebhafte Interesse am Schauspieler, das in solchen Zeiten sich zeigt. Es kann aber auch mehr sein.
Wenn alle Menschen falsch fühlen, wenn aus allen Verhältnissen die Natur verschwunden ist und wenn alle Beziehungen unvernünftig geworden sind, dann sind die Künstler die einzigen, bei denen noch wahres Gefühl, Natur und Vernunft vorhanden sind; denn diese Dinge sind für ihre Arbeit notwendig, sie könnten nicht ohne sie sein. An ihnen sehen dann die Menschen, was eigentlich menschlich ist. In diesem höheren Sinn sind uns Heutigen die Briefe und Tagebücher von Dichtern und anderen Künstlern wichtig.
Von den Tagebüchern Tolstois ist soeben der erste Band der Jugendtagebücher herausgekommen. Das sind Aufzeichnungen aus seinem neunzehnten bis zu seinem vierundzwanzigsten Jahr. Tolstoi war alles andere als frühreif; wenn man die Aufzeichnungen gelesen hat, dann hat man gewiß keinen Schatz von neuen und hervorragenden Gedanken in sich aufgenommen oder von dichterischen Bildern. Man hat nichts in dem Buch als das Bild eines sehr begabten jungen Menschen, der ein wirklicher Mensch ist. Aber das ist in der heutigen Zeit so außerordentlich viel, daß man nicht leicht unter den gegenwärtig erscheinenden Büchern eines finden wird, das so bereichern kann: es wäre vielen Leuten zu empfehlen, allen eigentlich, welche heute irgendwelchen Einfluß haben; denn das große Unglück heute ist, daß durch die falschen Gefühle der Menschen eine solche Lage entstanden ist, daß nun viele nicht mehr aus noch ein wissen. Unsere Lage wäre gar nicht so fürchterlich, wenn ein paar einfache, richtig fühlende und nüchtern denkende Menschen an unserer Spitze ständen. Der neunzehnjährige Jüngling schreibt: «Man muß nur die Vernunft zu Worte kommen lassen ... Die Vernunft des Einzelnen ist nur ein Teil des Allgemeinen, und ein Teil kann die Ordnung des Ganzen nicht zerstören, wohl aber kann das Ganze den Teil vernichten. Bilde daher deinen Geist so aus, daß er dem Ganzen gemäß sei, dem Urquell des Alls, nicht bloß einem Teil, der menschlichen Gesellschaft. Diese Vernunft wird dann mit diesem Ganzen, dem All, in eins zusammenfließen, und dann wird auch die Gesellschaft, als Teil, auf dich keinen Einfluß mehr ausüben können.»
Das schreibt der neunzehnjährige Jüngling; und wie so oft bei den Äußerungen des Genies fragt man sich: das kann doch nicht ein Gedanke sein, der aus dem Erleben kommt, der muß aus tieferen Gründen der Seele kommen. Denn in ihm ist, wie ich glaube, die ganze Aufgabe des heutigen Menschen dargestellt: der Gesellschaft keinen Einfluß auf sich zu gestatten; und ihre Lösung ist gleichfalls in ihm enthalten: die Seele muß sich auf das zurückziehen, was unsere Vorfahren Gott nannten, was wir heute die Beziehung zum Unendlichen nennen; sie muß das einsehen, was unsere Vorfahren meinten, wenn sie sagten, daß Gottes Wege unerforschlich sind.
Die Erkenntnis der Aufgabe und ihre Lösung ist bei gewöhnlicher Begabung nur erst dem höheren Alter möglich; das Auszeichnende eines Mannes wie Tolstoi ist, daß beides ihm schon in jungen Jahren vor aller Erfahrung wird. So können wir denn auch verstehen, wie der Dichter Einsichten vorwegnimmt, die als Einsichten niemals waren; wie man im Altertum sagte, daß der Dichter durch Gott begeistert ist.
Selten hat ein großer Mann sich mit solcher Genauigkeit selber beobachtet. Wir können alle weiteren notwendigen Äußerungen seines Wesens genau verfolgen. Er schreibt: «Es ist etwas in mir, was mich zwingt, zu glauben, daß ich nicht geboren bin, um zu sein wie alle andern.» Er sucht das Gefühl verstandesmäßig zu erklären und kommt dabei auf Irrtümer; sein Gefühl aber ist richtig, es ergibt sich aus der ersten Einsicht. Und noch eine weitere Folge ergibt sich. Er schreibt: «Ausgezeichnet sagt Japitschka, daß ich ein Ungeliebter sei. Genau so fühle ich, daß ich niemand angenehm sein kann, und alle sind unerfreulich für mich.» Der Widerwille der Andern ist nur natürlich für einen solchen Mann, wie es sein Widerwille gegen die Andern ist. Die drei Aussprüche umschreiben scharf und klar das Wesen des Genies.
In dem jungen Menschen hatte sich das schon entwickelt – der vielleicht in mancher Hinsicht äußerlich zurückstehen mochte gegenüber auffälliger Begabten. Selten kann man das Wesentliche des Dichters, seine Seele, so klar und rein beobachten wie hier.
Man sagt herkömmlich, daß die Dichter Propheten sind. Sie sind es auch. Aber das Wort gilt nur für die bedeutenden Männer unter ihnen.
Die letzte bedeutende Dichtung ist der russische Idealismus gewesen, der sich in Tolstoi und Dostojewskij verkörperte. Die Revolution, welche sich vor unsern Augen abspielt, ist vorgebildet in diesen beiden Männern.
Was die verschiedenen Formen des europäischen Idealismus von den großen geistigen Schöpfungen der beiden ostasiatischen Kulturvölker, der Chinesen und Inder, unterscheidet, das ist die Unvernunft. Es ist wohl nicht möglich, größere Gegensätze im Geistigen zu finden als das ganz nüchtern auf das Diesseitige gerichtete Wesen der Chinesen und das ganz losgelöst auf das Jenseitige gerichtete der Inder. Aber in ihrer Art sind beide Völker vernünftig. Es ist bei ihnen deshalb, jedem in seiner Art, geglückt, Lebensformen für die große Menge zu finden. Überall, wo man in Europa versucht hat, einen Idealismus zu begründen, welcher imstande wäre, eine Lebensform für das gesamte Volk zu geben, ist man gescheitert.
Der russische Idealismus ist gewiß nicht der bedeutendste Versuch der europäischen Völker gewesen, seine Schwäche wurde deshalb wenigstens für uns westliche Völker sofort klar. Tolstoi hat einmal von Dostojewskij gesagt, er könne nicht begreifen, wie ein Mensch der Welt helfen wolle, der sich selber nicht helfen könne. Das ist sehr richtig gesagt; aber Dostojewskij hätte dasselbe von Tolstoi sagen können. Beide Männer sind doch im letzten Grunde ratlos; und wohl die schmerzlichste aller schmerzlichen Einsichten von heute wird sein, daß auch die europäische Revolution ratlos ist. Sie sieht ja wohl die Aufgaben, wenn auch freilich recht wenig klar; aber sie weiß bei keiner eine Lösung.
Wir wollen aus der Fülle der aufgeworfenen Gedanken einen herausgreifen: den der allgemeinen Verpflichtung zur körperlichen Arbeit.
Bekanntlich hat Tolstoi in seinem Leben diese Verpflichtung erfüllen wollen. Die am meisten links stehenden Revolutionäre haben sie aufgestellt, und selbst die etwa auf einem rechtschaffenen Volksschullehrerstandpunkt stehenden Vertreter des rechten Flügels der Revolution nehmen sie, wie es scheint, auf, soweit überhaupt feste Gedanken geformt werden.
Die Begründung ist naturgemäß verschieden nach der verschiedenen sittlichen Höhe der Personen. Der harmlose Mann aus dem Volke hat die Vorstellung, daß von seiner Hände Arbeit alle leben, daß das eine überwältigend große Leistung ist, daß er dadurch unterdrückt wird und es schlecht hat, und daß es nun, wo er zur Herrschaft gelangt ist, alle anderen Leute ebenso schlecht haben sollen. Ein Mann wie Tolstoi steht immerhin diesen Gedankengängen noch nahe durch seine romantische Auffassung des niederen Volkslebens, das er nicht, wie es richtig wäre, mit dem eigentlich geistigen Leben in Gegensatz stellt, sondern mit dem mehr oder weniger schmarotzerhaften Dasein der früheren höheren Gesellschaft: wodurch er dann notwendig zur Überschätzung des niederen Volkes kommen muß. Im wesentlichen aber ist bei ihm der Gedankengang der, daß die körperliche Arbeit notwendig sei für die seelische Gesundheit; daß die Erkrankung – man darf es ja wohl heute wagen, sie als tödlich zu bezeichnen – der führenden Gesellschaft in Europa von der körperlichen Untätigkeit gekommen sei. Der Gesichtspunkt ist natürlich der einzig richtige; und wenn es sich tatsächlich so verhalten sollte, daß es keinen anderen Grund für die Erkrankung gäbe, so wäre die Schlußfolgerung Tolstois und der Revolutionäre unabweislich: daß die allgemeine körperliche Arbeit notwendig ist.
Vielleicht darf ich hier Persönliches berichten. Ein Freund war in seiner Jugend – das ist nun ein Menschenalter her – Sozialdemokrat und gleichzeitig ein überzeugter Anhänger Tolstois. Die Verderbnis unserer Zustände war ihm klar; als unerfahrener junger Mensch sah er keine anderen Auswege aus ihnen als die hier gezeigten; und eine warnende Stimme des innersten Gefühls übertäubte er, indem er, wie das ja gleichfalls dem jungen Menschen angemessen ist, dem verstandesmäßig Erfaßten zu folgen für Pflicht hielt: erst später wird einem ja klar, wie trügerisch der Verstand in den wesentlichen Lebensdingen ist, und versteht man die leisen Andeutungen des Gefühls. Er wußte sich bestimmt für geistige Arbeit, um es schärfer zu bezeichnen: für eine in sich geschlossene Entwicklung ohne Zweck für die Außenwelt, bei der als Nutzen für die übrigen Menschen denn nur etwas abfällt, das eine rein zufällige Beziehung zur eigentlichen Tätigkeit hat. Das mußte ihm als geistige Selbstsucht erscheinen. Vielleicht würde man es ja auch ganz richtig als solche bezeichnen. Heute würde ihm jedenfalls diese Bezeichnung keine Gewissensbedenken mehr machen. Damals machte sie ihm solche Bedenken; er hielt es für richtig, daß man sein Gedeck an der Lebenstafel durch eine der Allgemeinheit unmittelbar nützliche Arbeit bezahle, und hat diese Arbeit geleistet. Überall, wo er körperliche Arbeit versuchte – viel ist bei ihr nie herausgekommen: übrigens sollen auch über Tolstois Pflügen die Bauern und über sein Schustern die Schuster gelächelt haben – spürte er sofort, daß er in seiner wesentlichen Tätigkeit behindert wurde. Er hat dann sein Gedeck durch Tagesschriftstellerei bezahlt; auch das würde er längst nicht mehr tun, wenn er nicht müßte; wenn er in der Lage wäre, so würde er sich ganz auf seine eigentliche Arbeit beschränken, die heute nur für einen sehr kleinen Kreis Bedeutung hat. Er würde dieser Tätigkeit dann besser vorstehen; und er weiß, daß er das Recht zu einer solchen scheinbar drohnenhaften Existenz hätte.
Es kann hier nur die Erfahrung maßgebend sein. Die höchste geistige Arbeit – um die handelt es sich hier – ist unverträglich mit körperlicher Arbeit. Wenn man alle Menschen zu körperlicher Arbeit zwingt, so macht man die höchste Arbeit unmöglich.
Man wird hoffentlich nicht annehmen, daß hier einem Bourgeois-Dasein das Wort geredet sein soll. Die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Unkenntnis der schöpferischen geistigen Arbeit und ihrer Hochschätzung des für den unmittelbaren Bedarf Nützlichen ist hier vielmehr, wie in so vielem andern, die Vorläuferin der proletarischen: wie jener nichts galt, was sich nicht irgendwie in Geld umsetzte, so gilt dieser nichts, was sich nicht in gesellschaftliche Nützlichkeit, wie sie der durchschnittliche Mensch versteht, umsetzt.
Wenn die Erfahrung ist, daß die höchste geistige Arbeit mit der körperlichen unverträglich ist – und sie ist die Erfahrung nicht nur des Freundes, sie ist die Erfahrung aller Zeiten und Völker, welche wohl dem Bettler den Zugang zu den Göttern zutrauten, aber nie dem Tagelöhner –, so bedeutet das offenbar, daß das Programm der Revolution barbarisch ist. Die Barbarei des Proletariats löst die Barbarei der Bourgeoisie ab.
Soweit die Forderung von den Männern mittlerer Geistesverfassung gemacht wird, ist ja nichts zu sagen. Es ist wohl fast zu allen Zeiten so gewesen, daß die Träger der Macht in der Gesellschaft nicht die Träger des Geistes waren. Etwas zu sagen aber wäre über den Gedankengang Tolstois.
Sollte nicht ein falscher Schluß vorliegen, den ein schlechter Denker aus der Beobachtung eines guten erzählenden Dichters gezogen hat? Wenn man als Dichter die nun zusammengebrochene Gesellschaft betrachtete, so war das Hervorstechendste bei den höheren Klassen die eigentümliche Erscheinung, daß alle wesentlichen Lebensverhältnisse durch falsche Gefühle bestimmt waren. Eine gewisse moralisierende Richtung des Schrifttums, die sich hauptsächlich im Drama zeigte, bezeichnete das als die bürgerliche Verlogenheit. Diese falschen Gefühle schienen nun aufzuhören bei den körperlich arbeitenden Klassen. Schienen. Denn in Wahrheit waren sie auch vorhanden; sie treten ja gegenwärtig genügend klar in die Erscheinung; sie waren immer nur überdeckt durch die viel größere Kindlichkeit, mit welcher die Selbstsucht sich darstellte, und durch die Tatsache, daß der körperlich Arbeitende selten so gänzlich überflüssig sein kann wie der Mann der höheren Stände, und wenn er es ist, immer die Schuld dafür auf einen Höheren abwälzen kann, der ihn an diese Stelle gesetzt hat. Tolstoi hat ganz klar eingesehen, daß ein Beamter von der Art, wie er sie oft schildert, ein völliges Schmarotzerdasein führte, und die Lügen, welche die Leute sich selber vormachten, um das sich zu verbergen, waren ihm ganz klar. Der Mann aus dem Volk, der so überflüssig ist, gibt offen zu, daß es ihm lediglich darauf ankommt, daß er selber lebt. Eine der schönsten Gestalten des Dichters ist der Kutscher in der Erzählung: «Herr und Knecht». Der Mann ist Kutscher bei einem Dorfwucherer. Wenn der Dorfwucherer eine nicht gerade wünschenswerte Persönlichkeit ist, so ist sein Kutscher doch offenbar auch nicht notwendig für die Menschheit. Iwan Iljitsch, der Beamte, in dessen Tod der Dichter die Sinnlosigkeit des Daseins der höheren Klassen dargestellt hat, ist nicht im geringsten mehr überflüssig als der Kutscher. Aber das Mitgefühl des Dichters, und jedes erzählenden Dichters, ist mit dem Kutscher und nicht mit dem Beamten, weil der Kutscher eben Natur hat und der Beamte nicht. Man kann sogar weiter gehen und sagen: wenn es möglich wäre, diese Beamten alle zu solchen Kutschern zu machen, dann würde immerhin eine Besserung unserer gesellschaftlichen Zustände eintreten, denn immerhin, der Kutscher hat wenigstens Natur.
Aber nur eben eine Besserung «immerhin». Und angesichts der Zustände, die wir heute beobachten können, mag fraglich sein, ob die viel verstecktere Lüge des Kutschers nicht denn doch gefährlicher werden kann als die Lüge des Beamten. Der erzählende Dichter ist auch nicht die letzte Instanz für die dichterische Bewertung der Erscheinungen. Man ist heute vielleicht nicht geneigt, den Dramatiker über ihn zu stellen: wenigstens muß man ihn neben dem Erzähler gelten lassen; nun, der Dramatiker wird mehr Sympathie mit dem Beamten als Modell haben als mit dem Kutscher, denn der Dramatiker kann mit dem Kutscher nur etwas Verlogenes machen, während er bei dem Beamten vielleicht – vielleicht – den Punkt treffen kann, wo er tragisch ist, wo also notwendig auch bei ihm Natur sein muß. Innerhalb der Grenzen, die für den Erzähler in der Darstellung des Tragischen gezogen sind, hat Tolstoi ja bereits das bei dem Beamten getan.
Der einzig wesentliche Unterschied des Menschen vom Tier ist seine Fähigkeit, sich in eine höhere geistige Welt zu erheben, in eine Welt, welche mit seinen persönlichen Bedürfnissen nichts zu tun hat. Alle übrigen Unterschiede sind nur Unterschiede des Grades. Mit großem Recht behauptet die heutige Tierpsychologie, daß die höheren Tiere, wie Pferd und Hund, etwa auf der geistigen Stufe fünf- bis sechsjähriger Kinder stehen. Diese Fähigkeit haben selbständig nicht alle Menschen, sondern nur die Ausnahmenaturen, deren Aufgabe in der Wirtschaft der Menschheit darin besteht, irgendwie die übrigen nach sich zu ziehen. Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, müssen sie körperliche Kraft haben zu einer außerordentlich starken Konzentrierung. Diese Kraft geht verloren durch die körperliche Arbeit. Männer wie Spinoza und Jakob Böhme, welche das Gegenteil zu beweisen scheinen, können nicht angezogen werden, weil man nicht weiß, wie der Vorgang bei ihnen war. Bei Jakob Böhme macht sich eine gewisse Energielosigkeit in der Fassung seiner Gedanken bemerkbar, die vielleicht durch seine Lebensweise kommt.
Wer die körperliche Arbeit kennt, der weiß, wie beglückend sie ist, wenigstens wenn sie in vernünftiger Weise ausgeführt wird: von der menschenzerreibenden Fabrikarbeit ist hier nicht die Rede. Wohl jeder, der die Anstrengung der höchsten geistigen Arbeit kennt, wird zugeben, daß er gern tauschen möchte, wenn er könnte: wir haben eben solche Dinge nicht in unserer Macht. Wenn das revolutionäre Programm der allgemeinen Pflicht zu körperlicher Arbeit durchgeführt werden könnte, so würde es gewiß manchen Segen bringen, vor allem für die Frauen der höheren Stände, welche heute entarten, weil ihnen die körperliche Arbeit fehlt; aber das höchste geistige Leben würde vernichtet.
Wie soll man ein fremdes Volk kennenlernen? Es gibt zwei Wege: Wenn kluge Menschen der andern Nation lange zwischen ihm leben und dann ihren Landsleuten berichten; und wenn man die Dichter des Volkes genau studiert.
Der erste Weg hat immer seine Bedenken. Es ist selten jemand so unbefangen, daß er ein fremdes Volk beobachtet, ohne die kritischen Maßstäbe anzulegen, die er in seiner Brust von seinem eigenen Volk mitbringt, die hier natürlich falsch sind; und er ist selten in einer so günstigen äußeren Lage, daß er weit genug blicken kann, um die notwendigen und wesentlich bestimmenden Züge des fremden Volkes zu verstehen und nicht bei den zufälligen und äußeren zu bleiben. Etwa das Buch über die russische Volksseele des sehr klugen und sehr gebildeten Viktor Hehn scheint mir an diesen beiden Übeln zu kranken.
Viel schwieriger zwar, aber auch zuverlässiger, ist der zweite Weg: ein Volk durch das Studium seiner Dichter zu verstehen.
Der bedeutende Dichter gehört der Menschheit an und nicht seinem Volk, und in seinem Bild werden wir die allgemeinmenschlichen Züge immer als wichtiger fühlen wie die nationalen. Trotzdem aber prägt sich gerade in ihm auch wieder das Innerste seiner Volksseele deutlich ab, das zwar bei seinen anderen Volksgenossen oft gar nicht zur sichtbaren Erscheinung kommt. Es ist freilich nötig, daß wir sein Bild verständig fragen. Etwa wenn wir den italienischen Charakter kennenlernen wollen, so müssen wir nur Dante und Ariost fragen. Aber freilich lernen wir von großen Männern nicht die kleinen Fehler und Laster ihrer Nation: wir erfahren von den beiden weder etwas über die Sentimentalität, noch über die Pedanterie, noch über die Treulosigkeit der Italiener; wir sehen nur das über das Kleine und Zufällige erhobene Wesen des Volkes: den klaren, nüchternen Verstand; die Natur und Wahrheit des Gefühls, das nicht durch ethische Gegenwirkungen verfälscht ist; die Geschwindigkeit und Heftigkeit der seelischen Gegenwirkungen. In solchen Männern stellt sich dar, was nach Gottes Willen ein solches Volk erreichen soll; wenn das Fehlen der ethischen Gegenwirkungen gegen das Gefühl zur Treulosigkeit wird, der nüchterne Verstand zur Pedanterie, und die unbeherrschten Gegenwirkungen des Temperaments zu Sentimentalität, dann sind das tatsächliche Charakterzüge des geschichtlich sich darstellenden Gesamtvolks, die vielleicht nur deshalb unsern Blick treffen, weil das Volk eigentlich doch seit dem Trecento die hohen Pflichten, die seiner großen Begabung gestellt sind, nicht mehr erfüllt. Aber auch so würde doch ein Mann sehr irren, wenn er das italienische Volk zu sehr nach seinen Fehlern und Lastern beurteilen wollte: mögen die noch so auffällig sein; was die Völker leisten, das geschieht denn doch durch jene Eigenschaften, welche nur bei seinen großen Männern klar zu sehen sind.
Zu unserer Erkenntnis des russischen Volkes ist nun vor kurzem ein wertvolles Werk erschienen, dessen Verfasser, Karl Nötzel, zwanzig Jahre lang in Rußland gelebt hat und zwar als Industrieller, wo er viel sehen und beobachten konnte, von dem jemand nichts erfährt, der nicht durch wichtige wirtschaftliche Interessen überall Fäden im Volk hat: denn wir lernen die Menschen kennen, wenn wir ihnen bei der Verflechtung der Interessen gegenüberstehen, nicht wenn wir unbeteiligt sie nur betrachten; und der gleichzeitig die Seele dieses Volkes studierte, indem er den einen seiner großen zeitgenössischen Dichter, Leo Tolstoi, aufmerksam verfolgte.
Der Hauptunterschied zwischen den Russen und uns, aber auch den übrigen europäischen Völkern, ist das Vorherrschen des Gefühls über die übrigen Fähigkeiten des Geistes. Wenn man uns Deutsche als ein wissenschaftlich beanlagtes Volk bezeichnen kann, dann kann man die Russen künstlerisch und religiös beanlagt nennen. Natürlich muß man mit solchen allgemeinen Bezeichnungen sehr vorsichtig sein. Auf einer gewissen Höhe verschwinden diese scharfen Unterschiede, und es zeigt sich dann nur, daß die Deutschen etwa in Kunst und Religion ein anderes Ziel haben, daß sie in beiden metaphysisch gerichtet sind, während die Russen naiv und sinnlich bleiben. Die Menschen, welche auf dieser Höhe stehen, gewinnen dann mit der Zeit Einfluß auf ihr Volk und bilden es nach sich; wie man etwa heute bei uns einen Einfluß der Frömmigkeit Goethes verspüren kann, ein Wirken unserer doch recht unsinnlichen klassischen Dichtung.
Es erklärt sich aus dem Unterschied zunächst, daß bei den Russen der furchtbare Bruch innerhalb des Volkes nicht notwendig ist, der bei uns Westeuropäern, und am tiefsten bei uns Deutschen, seit dem Beginn der Neuzeit besteht. Man denke sich, daß Goethe und Schiller so hätten zu ihrem Volk sprechen wollen, wie das Tolstoi und Dostojewskij taten; das wäre doch unmöglich gewesen. In ihrem Briefwechsel sagen sie einmal: «Es ist doch von unsereinem nicht zu verlangen, daß man in die Kirche geht»; die beiden russischen Dichter haben sich bewußt dem Glauben des Volkes angepaßt.
Es ist wahrscheinlich die Lebensfrage unserer Kultur, ob es uns gelingt, wieder ein einheitliches Volksleben zu schaffen. Wir haben bis jetzt versucht, das durch die Bildung, durch die Verbreitung des wissenschaftlichen Denkens zu erreichen; und manche kleinen Länder, wie namentlich Dänemark, sind da offenbar bis zu den letzten Möglichkeiten gegangen. Aber alle Wissenschaft hat schließlich doch nur praktischen Nutzen, alle Bildung kann nur den Einzelnen heben; einen Zweck für das Leben der Einzelnen, einen Zusammenhalt für das gesamte Volk können wir nur aus einem gemeinsamen seelischen Erleben in Religion und Kunst gewinnen: ob dieses bei uns kommen wird, das ist die Frage, von deren Beantwortung das Schicksal Europas abhängt.
Die Russen haben es: aber sie haben es in einer Art, die uns untergeordnet erscheinen muß.
Denn eben durch jene furchtbare Kluft, welche jahrhundertelang durch unser Volk gegangen ist, welche die Gebildeten und Ungebildeten notwendig trennte, haben wir ein Gut errungen, das unbekannt war seit den Zeiten, wo in Indien einige erlauchte Geister dachten, in Griechenland forschten und bildeten: die geistige Freiheit. Wir wissen heute, daß viele Wege zu Gott führen, daß nicht ein Glaube richtig ist und der andere falsch, daß auch der Unglaube, wenn er der Erfolg eines redlichen und unermüdeten Wollens zum Höchsten und Besten ist, nicht verworfen werden darf. Wir nehmen uns nicht mehr absolut; wir wissen, daß jeder Einzelne, jedes Volk ein farbiger Strahl ist, der von der Sonne kommt, und daß erst alle Strahlen zusammen das Sonnenlicht ergeben, welches weiß ist. Das Größte, das die Menschheit bisher geleistet hat, hat sie nur in den seltenen Zeiten geleistet, wo sie sich zu dieser geistigen Freiheit erhoben hatte; auch unser europäisches Mittelalter, so hoch wir es schätzen mögen, namentlich gegenüber der Unkultur und der Zerfahrenheit von heute, hat doch nicht jene Höhe erreichen können und hat der Menschheit deshalb nicht so Großes hinterlassen wie das alte Indien und das alte Griechenland. Das russische Volk gleicht uns in unserem Mittelalter. Darin ruht seine sehr große Stärke. Wenn es uns aber gelingt, aus der Gegenwart zu einer höheren Stufe zu gelangen, dann hat es seine Überlegenheit uns gegenüber verloren.
Wir kämpfen heute mit den Waffen. Längst ist es klargeworden, daß nicht Pulver und Blei, nicht Kraft und Zahl entscheidet, sondern Geist und Sittlichkeit. Wenn wir in Zukunft den Russen gewachsen bleiben wollen, dann müssen wir immer wissen, daß wir seelisch überlegen sein müssen. Es wird uns das nicht immer so leicht sein, wie im Augenblick; denn seelisch waren die Russen nicht so gerüstet wie wir; ihr eigentliches Wesen ist in der Wirklichkeit heute erst potentiell vorhanden, denn in der Wirklichkeit sehen wir ja gerade bei den Russen die klaffendsten Gegensätze zwischen den Klassen: die Vornehmen, welche kaum ihre Muttersprache sprechen können, und das Volk, das halbtierisch dahinlebt; jene Einheit des Volkes machte sich erst in den großen Genien bemerkbar; in hundert Jahren, wenn Tolstoi und Dostojewskij ihr Volk durchdrungen haben werden – sie werden es anders durchdringen als uns Goethe und Schiller – dann wird diese «Einheit des Volkes» auch in die Erscheinung treten. Vermutlich wird der Erfolg des Krieges zunächst ein Zusammenbruch der gegenwärtigen Ordnung sein; wenn das russische Volk eine ihm angemessene Ordnung findet, dann wird es sich schnell zu dem entwickeln, was es ist.
Wir, die wir die geistige Freiheit als selbstverständliche Voraussetzung des Lebens fühlen, können uns schwer, und auch dann nur verstandesmäßig, einen Zustand klarmachen, der von geistiger Freiheit nichts weiß.
Die gewöhnliche Vorstellung bei uns ist, daß in Rußland zwar eine alles in Unfreiheit haltende Regierung sei, daß aber die Revolutionäre ganz Menschen seien, die wie wir fühlen. Es ist das durchaus unrichtig. Die Revolutionäre unterdrücken genau so wie die Regierung, und nicht nur die Gesinnung, sondern auch die unsittlichen Mittel, die Gewalt, sind bei beiden dieselben. Das russische Volk weiß nicht, was Freiheit ist; und wenn man eine Prophezeiung wagen darf: Es wird das nie wissen.
Die merkwürdige Persönlichkeit Tolstois zeigt das in der deutlichsten Weise.
Für uns Europäer ist Tolstoi eine Doppelpersönlichkeit; er ist der große Dichter, dem nichts Menschliches fremd ist, der alles versteht, den Heiligen und den Sünder, den Weisen und den Narren, und der alle mit dem geistigen Auge des Dichters ansieht; und der doktrinäre Narr, der keine Ahnung von den Mächten hat, welche die Menschen bewegen, der eine konfuse Vorstellung einer vermeintlich besseren Ordnung gefaßt hat und daraufhin nun alles Bestehende anarchistisch haßt und zerschlagen möchte. Wir verstehen es nicht, wie das Doppelleben so weit gehen kann, daß derselbe Mensch ein großer Dichter ist und auch beständig dichterisch tätig ist, und dabei ein Buch schreibt, das den finsteren Haß gegen die Kirche predigt.
Tolstoi ist aber, wie jeder Mensch, eine Einheit, und der falsche Prophet ist derselbe Mann wie der große Dichter. Sein falsches Prophetentum rührt daher, daß er nie erfahren hat, was geistige Freiheit ist, Achtung des anderen Menschen, Anerkennung des Gegners, Kritik der eigenen Meinung; daß er nie sich relativ fassen konnte, wie wir alle es doch tun, oft unter sehr schweren seelischen Schmerzen. Sein Dichtertum hängt auf das engste mit dieser Beschränktheit zusammen: es ist durchaus naiv, es ist nur durch die Naivität möglich. Wer es versteht, dem schöpferischen Prozeß nachzugehen, der kann in «Krieg und Frieden» am besten verfolgen, wie die törichte Theorie und die schöne und wahre Dichtung aus einer Quelle kommen.
Man kann verstehen, daß die Russen glauben, sie seien die neuen, unverbrauchten Barbaren, die unseren Westen erneuern müssen. Sie sind, was sie glauben: an uns ist es, zu zeigen, daß wir das nicht sind, was sie von uns glauben.
Aus einem um 1900 geschriebenen Essay
Ein Kulturhistoriker beginnt eine Reihe von Abhandlungen über deutsche Sittengeschichte mit einer Gegenüberstellung aus den alten germanischen und slawischen Sagen. Bei den Germanen ermahnt die Mutter den jungen Mann, daß er tatenlos hinter dem Ofen sitze, während andere Ehre und Reichtum gewinnen, und sieht ihn harten Auges das Schiff besteigen, auf dem er einem gefahrvollen Seeräuberleben entgegengeht. Bei den Slaven wird der junge Mann durch einen äußeren Zwang aus seiner Familie gerissen in das gefährliche Leben hinaus; da begleiten ihn Vater, Mutter und alle Verwandten stundenweit weinend und klagend, und er selbst nimmt unter Tränen Abschied.
Die harte germanische Art, die für sich allein nicht imstande war, in der Gemeinschaft Großes zu schaffen, hat den nötigen Zuschlag von weicherem Metall erhalten in der Mischung mit Slaven und Kelten. Trotzdem bricht im deutschen Geistesleben immer noch die alte, unbändige Mannhaftigkeit durch, die sich ganz auf sich allein gestellt wissen will und jede Anlehnung an andere verachtet, der Welt nur in Kampfesstimmung entgegentritt und nichts Höheres kennt als die Zwecke der eigenen Persönlichkeit. Aus primitiver Roheit haben sich diese Zwecke vergeistigt: nicht mehr habsüchtiges Zusammenraffen von Besitz und der Ruhm äußerlichen Mutes wird gepriesen, sondern das Erwerben geistigen Eigentums, die Arbeit an der Persönlichkeit zu einem Ziel höherer Vollkommenheit. Das Ideal der Selbstvervollkommnung ist spezifisch deutsch. Emerson in seinem Essay über Goethe hält es für einen ganz ungewöhnlichen Besitz; er spricht als Amerikaner; wir Deutschen würden jeden verachten, der es nicht hätte; und noch in der jüngsten Gestalt eines großen Suchenden, in Nietzsche, hat es wieder einen scharf herausgearbeiteten Ausdruck gefunden. Und dieser Vergeistigung des einen Zieles entspricht die des anderen; noch immer genießt bei uns den höchsten Ruhm der Mut; aber es ist das der Mut der inneren Wahrhaftigkeit. Wenn Dostojewskij sympathisch von der Lüge spricht, so redet er als Russe; uns erscheint noch heute die Lüge als niederträchtig.
Man kann die Philosophie Nietzsches als eine deutsche Ethik bezeichnen; ihr gegenüber würde die Dostojewskijs die russische Ethik sein. Die Anschauungen beider sind scharf umrissen und streifen oft nahe an ihre eigene Karikatur; um so lehrreicher ist ihre Betrachtung. Dostojewskij hat bei uns großen Anklang gefunden, einen viel größeren als Nietzsche bei den Russen; ein schlimmes Zeichen dafür, daß unsere nationalen Instinkte unter dem Einfluß der modernen Auflösung aller alten Gesellschaft bereits schwächer geworden sind.
Die Verfasserin einer deutschen Biographie Dostojewskijs, Nina Hoffmann, welche zu den Deutschen gehört, auf welche russisches Wesen tiefen Eindruck gemacht hat, skizziert mit großer Umsicht die nationalen Gründe, aus denen Dostojewskij zu verstehen ist:
«Was uns als ein durch alle Schichten dieses Volkes gehender Zug vor allem auffallen muß, ist die familienhafte Zusammengehörigkeit und Brüderlichkeit aller mit allen ... Dieses Familiengefühl geht von unten hinauf, nicht umgekehrt, allein das ist es, was ihm ewige Dauer sichert. Dadurch, daß der Sprachgebrauch in der direkten Anrede keine Titel und keinen Geschlechtsnamen, nur Taufnamen mit dem höflichen Zusatz des Vaternamens zuläßt, geht eine, wenigstens formelle Intimität durch die ganze Nation, von der sich kein anderes ‹demokratisches› Volk etwas träumen läßt ... Ein anderer Zug ist eine Fähigkeit zum Leiden und Mitleiden, das sich auf den Schuldigen und Verbrecher erstreckt. Auch hier gibt uns die Sprache bedeutsame Fingerzeige; das Volk nennt jeden Verbrecher einen ‹Unglücklichen›, und die Sprache selbst, welche für das Menschliche drei Ausdrücke streng unterscheidet, nämlich: ‹Menschlich›, ‹Allgemeinmenschlich› und ‹Allmenschlich›, sie hat für die Nuancen der Schuld, die wir dreifach besitzen: ‹Übertretung›, ‹Vergehen›, ‹Verbrechen›, außer dem Worte ‹Schuld› nur das eine Wort ‹Übertretung› ... Ein anderer auffallender Zug der russischen Natur ist die mit tiefer Religiosität verbundene Demut der Russen, die auch da erhalten bleibt, wo, wie in den Kreisen der dem Westen nachstrebenden Intelligenz, jede Spur von Glauben gewichen ist. Der Russe ist sehr schnell bereit, ein Unrecht einzusehen und auch einzugestehen, sowie sich um dessentwillen vor Freund und Feind zu demütigen oder anzuklagen ... Ein dritter hervorstechender Zug ist das, was wir Deutschen Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, Regellosigkeit nennen müssen ... Dazu gesellt sich ein unausrottbares Mißtrauen in allen seinen Beziehungen zum Nebenmenschen, allein ein Mißtrauen, das viel mehr dem immerwachen Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit entspringt, als daß es sich auf den Unwert des anderen bezöge. Es ist das Mißtrauen der Demut im Gegensatz zum Mißtrauen der Routine.»
Diese Darstellung eines Menschen, der den Russen günstig gestimmt ist, kann auf unser deutsches Gefühl doch nicht sympathisch wirken. In uns lebt die feste Überzeugung, daß alles Gute im Menschen nur aus dem Gefühl seiner eigenen Würde kommen muß; eine allgemeine Vertraulichkeit zwischen Leuten verschiedenen Standes scheint uns unpassend, der Mangel an Verachtung gegen Verbrecher hat für uns einen Mangel an Achtung des Menschen gegen sich selbst zur Folge, und alle übrigen Dinge erscheinen uns sklavisch. Viele Jahrhunderte lang haben die Slawen die Sklaven für Europa geliefert, und das Andenken dauert noch fort im Namen «Sklave» aller modernen Sprachen; die Germanen, welche im Krieg gefangen waren und in der Arena als Fechtersklaven kämpfen sollten, töteten sich lieber selbst. Die Begriffe von Pflicht und Recht, für uns die höchsten, werden bei einem solchen Volk einen viel geringeren Wert haben.
Das Christentum, das ursprünglich eine Religion der Sklaven war, muß für ein solches Volk eine ganz andere Bedeutung gewinnen als für uns; und bei dem Versuch, aus diesen Zügen des russischen Charakters ein sittliches Ideal zu konstruieren, konnte Dostojewskij deshalb ganz ruhig alle christlichen Nennungen verwenden. Er schreibt im «Idiot», Band 3: «Der Katholizismus ist nach meiner Meinung schlimmer als der Atheismus, der das Christentum nur verneint, während der Katholizismus es entstellt und verstümmelt. Der römische Glaube predigt den Antichrist. Lehrt er doch, daß die Kirche ohne weltliche Macht auf Erden nicht bestehen könne – was ist er daher anderes als eine Fortsetzung des alten weströmischen Reichsgedankens, dem alle andern Ideen, vor allem aber der wahre Glaube und das wahre Christentum sich unterordnen mußten? Nachdem aber der Glaube in den Dienst dieser fremden Idee getreten ist, war er nicht mehr der wahre, auf sich selbst stehende, allgemeingültige Glaube Christi, und die ersten, welche sich von ihm abwandten, waren diejenigen, welche ihn so gedemütigt und geknechtet hatten. So entstand im Schoß des Katholizismus, als dessen eigenste Frucht, der Atheismus, und zwar von oben herab, indem er langsam bis zu den untersten Schichten durchsickerte, die heute bereits so fern sind vom wahren Glauben wie bei uns kaum die obern Zehntausend, welche die Fühlung mit dem Volke verloren haben. Ja, man haßt im Westen Europas bereits die Kirche, man schmäht und lästert sie mit wahrem Fanatismus, nachdem man zuerst ihre ungetreuen Oberhirten gehaßt hatte, welche den wahren Glauben an die Erben des römischen Reichsgedankens verkauften. Auch der Sozialismus ist ja nur ein Ergebnis des Katholizismus, auch er ist, wie der Atheismus, eine Frucht der Verzweiflung, die sich an Stelle der verlorenen sittlichen Idee, welche in dem wahren Christentum ruhte, etwas Neues schaffen wollte, um den Seelendurst der verschmachtenden Menschheit zu stillen. Aber nicht mit dem Worte Christi stillen sie ihn, sondern mit Blut und Gewalt ...»
Der Haß Nietzsches gegen das Christentum ist töricht, denn wir haben für uns nur das aus ihm genommen, was wir brauchten, und haben es uns angepaßt, nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch. Wo Deutsche christlich gedacht haben, von den Mystikern angefangen bis auf die Gegenwart, da handelt es sich bei ihnen immer um Glückseligkeit und Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit; es geht ein buddhistischer Zug durch unsere Art, das Christentum aufzufassen, und so fern die Lehre dessen, der sagte: «Mein Wort ist nicht für die Törichten» den Lehren des Mannes war, der die Kinder zu sich kommen ließ, so fern ist das, was wir christlich nennen, dem wirklichen Christentum. Dostojewskij als Russe hat das wohl gefühlt, als er den wiedererstandenen und im christlichen Mittelalter lebenden Christus vom Großinquisitor mit dem Scheiterhaufen bedroht werden ließ. –
Feodor Michajlowitsch Dostojewskij wurde geboren 1821 in Moskau als der Sohn eines Arztes, der in sehr beengten Verhältnissen lebte; die Wohnung der sehr zahlreichen Familie bestand aus zwei, später drei Zimmern. Der Vater besaß noch ein kleines Landgut mit einigen Bauern. Das Wenige, was an Naturfreude in Dostojewskijs Werken erscheint, stammt aus Erinnerungen an den Kinderaufenthalt auf diesem Landgütchen; sonst ist seine Szenerie immer nur die schmutzige Mietskaserne und die dunstige Straße der Großstadt. Es liegt hier ein tiefgehender Unterschied von Tolstoi nicht nur, sondern auch von früheren christlichen Mystikern des westlichen Europa. Bei diesen hat man immer eine weite Landschaft, den frischen Hauch der Luft und den Glanz der Sonne, den Duft des Heues und das Glitzern der Kornfelder. Auch bei dem Verhältnis mittelalterlicher Frommer zu den Armen und Kranken sollte man das nie vergessen: das war nicht das jammervolle Großstadtgesindel von heute, sondern durch Krieg und Krankheit Verarmte; es fehlte der muffige Geruch des modernen Elends; das Elend von damals war durch die Luft gebräunt. Es ist sehr unrecht, wenn man etwa den heiligen Franziskus, den Dichter des Gesanges an die Sonne, den Erwecker der Freude und des Gefühls an der Natur, diesen heiteren, glücklichen Menschen, mit dem selbstquälerischen Epileptiker zusammenwirft. Es ist das ein Unterschied, wie man ihn herkömmlicherweise, aber nicht mit Recht, zwischen Altertum und Mittelalter zu finden pflegt. Es liegt eine ganze Welt zwischen dem mittelalterlichen Heiligen, der sein Glück, und dem modernen Dichter, der sein Unglück sucht.
Dostojewskij wurde Offizier und trat mit 22 Jahren in das Ingenieurkorps ein. Hier ging es ihm zunächst materiell sehr gut; er bezog im ganzen 3000 Rubel jährlich und hätte davon ausgezeichnet leben können, wenn er es verstanden hätte, sich einzurichten, aber durch Gutmütigkeit, Schwäche und Unwirtschaftlichkeit kam er bald in Schulden; ein Diener bestahl ihn, und zwar derart, daß er eine Hauptschuld an seinem Ruin trug; aber er behielt ihn, «weil er ihm so sympathisch war». Diese kleine Notiz ist sehr bezeichnend: in ihr liegt die Psychologie von Dostojewskijs Ethik und Ästhetik.
Dostojewskijs Sittenlehre kommt zuletzt doch hinaus auf Dulden, Verstehen, eigenes Schuldbewußtsein, Verzeihen. Was ist das schließlich als eine Idealisierung der würdelosen «Oblomowtschina», wie die Russen selbst, nach jenem Gontscharowschen Helden, die gänzliche Passivität bezeichnen! Tolstoi hat die Gedanken abstrakter ausgedrückt. Man soll dem Bösen nicht widerstreben, denn indem man Böses gegen Böses setzt, vermehrt man nur die Summe des Bösen auf der Welt. Das ist ein sehr orientalischer Gedanke, der einem Abendländer gar nicht kommen kann und daher zu den Sätzen des Neuen Testaments gehört, die ganz wirkungslos geblieben sind. Es liegt ihm zugrunde die asiatische Vorstellung von der Transzendenz des Bösen und Guten, das einfach als meß- und wägbare Qualität erscheint; in uns lebt der Instinkt, «den Feinden Böses und den Freunden Gutes» zu tun. Es läßt sich leicht einsehen, daß die Nachsicht nicht nur den Schlechten ermutigt, sondern auch die eigene sittliche Kraft schwächt; denn sich selbst behandeln die Menschen doch nicht härter wie andere. Daher findet man bei den Völkern jener Moral immer Mangel an Stolz und an Ehre, welche die gesellschaftbildenden Eigenschaften sind; das äußere Kennzeichen dafür ist die Herrschaft der Lüge: und man beachte wohl, wie politische Unfähigkeit bei sonstiger Begabung eines Volkes (etwa der alten Griechen), einer Zeit (etwa der Renaissance) oder einer Klasse (etwa der modernen Bourgeoisie) meist Hand in Hand mit Lügenhaftigkeit geht.
Als Gegengewicht gegen das Christentum haben die abendländischen Völker den Ehrbegriff geschaffen, den die antike Welt noch nicht hatte und, da sie eben kein Christentum besaß, auch noch nicht brauchte. Das Christentum gibt uns ein beständiges Schuldbewußtsein. Dabei aber ist die Energie der Initiative nicht möglich, man kann damit nicht hart sein gegen andere, und, so sonderbar es klingt, auch nicht gegen sich selbst. In der Forderung der Ehre schuf man deshalb ein sittliches Minimum, das unter allen Umständen erfüllt werden mußte, dessen Erfüllung aber auch hinreichte, Kraft und Selbstbewußtsein zu geben, da es immerhin hoch genug war, gleichzeitig aber so jenseits allem « comprendre», so absolut und ohne jedes Drum und Dran zwingend, einfach mechanisch wirkend, daß seine Erfüllung immer klar war. Etwa: Lügen oder Stehlen darf man unter keinen Umständen. Die Russen haben dieses Korrelat zur christlichen Ethik nicht bei sich erzeugt und verzeihen daher leichter sich selbst und anderen.
Schon nach kurzer Zeit nahm Dostojewskij seine Entlassung aus dem Dienst, um sich ganz der Literatur zu widmen. In diese Zeit fällt der Beginn des Leidens, das ihn durch sein ganzes Leben verfolgte, der Epilepsie. Zugleich wurde er von einer quälenden Hypochondrie befallen, die zuweilen ganz plötzlich und energisch auftrat, «der mystische Schauer», wie er sie nannte, und gewöhnlich sich in tiefer Traurigkeit, in grundlosem Ärger, in Menschenfeindlichkeit äußerte. Zuweilen hatte er sogar Halluzinationen: er sah seine Figuren, die er geschaffen hatte, und immer erlebte er die Qualen und Leiden mit, welche er sie erdulden ließ, er weinte mit ihnen und wurde zornig mit ihnen. In jedem seiner Romane kommen Wahnsinnige vor: fast jede Art der Geistesstörung hat er auf das Genauere und Grausamste beschrieben, und zuweilen steigern sich diese Schilderungen zu einer so entsetzlichen Naturwahrheit, daß der Leser selbst im Fiebertraum zu sein glaubt.
Die materiellen Sorgen griffen ihn hart an; er fror und hungerte auf seinem öden Zimmer, wo er für die Buchhändler übersetzte und Aufsätze für die Zeitungen schrieb; aber mehr als diese körperlichen Qualen der Armut drückten ihn die moralischen nieder. Ihm ging die Leichtfertigkeit und der Humor ab, wodurch allein das Bohemienleben zu ertragen ist; er schämte sich seiner Armut, seiner schlechten Kleider, seiner abgetretenen Stiefel, und es kam vor, daß er wochenlang nicht seine Stube verließ. Die Armen und Elenden, mit denen er in seiner unglücklichen Lage zusammenlebte, bemitleidete er auf das heftigste, mit einem Mitleid, das ihn quälte und peinigte, und er litt wiederum entsetzlich durch die Unmöglichkeit, ihnen zu helfen.
Man darf es nie vergessen: Dostojewskij war ein kranker Mensch; und wie seine Krankheit für seine ästhetische Begabung wichtig wurde, indem sie ihm sicherlich jenes hellsichtige Durchschauen der Seelen seiner Personen ermöglichte, so wurde sie offenbar auch bestimmend für seine Ethik. Man kann bei Nietzsche sagen, daß seine Ethik zum Teil entstanden ist aus der krankhaften Steigerung des Stolzes bei ihm, bei Dostojewskij aus der des Mitleidens; bei dem einen sind das Grundlegende die Einsamkeitsinstinkte, bei dem andern die geselligen, das innerliche Nachschaffen der fremden Gefühle.
Damals schrieb Dostojewskij seinen ersten Roman «Arme Leute». Derselbe enthält schon alle wesentlichen Elemente seiner Dichtung. Der Roman besteht aus einer Reihe von Briefen zwischen dem Titularrat Makar Djewuschkin und Warwara Dobroselow, einem alleinstehenden Mädchen, welches eben den Händen einer Kupplerin entronnen und auf die Unterstützungen des armen Alten angewiesen ist. Die Gestalt Djewuschkins erscheint nicht zum erstenmal in der russischen Literatur: schon Gogol hatte in seiner kleinen Novelle «Der Mantel» das Leben des armen, gedrückten, bescheidenen Schreibers geschildert. Djewuschkin ist das Ideal, welches sich die russischen Dichter von dem Mann aus dem Volk machen; die Bauernfiguren Tolstois, der Soldat Karatajew in «Krieg und Frieden», die Bauern Nekrassows, die Gestalten aus dem Volk, welche Turgenjew schildert, alles sind sie Verkörperungen desselben Charakters. Nur hat Dostojewskijs Figur eine besondere Nuance der Übertreibung aller zarten und edlen Gefühle. Djewuschkin ist ein unwissender, naiver, einfacher und gutherziger Mensch, schon bejahrt, dessen einziger Stolz seine gute Handschrift ist. Er hat sich in Warwara verliebt, freilich ohne daß er es selbst weiß; er legt sich die größten Entbehrungen auf, um sie in ihrer unglücklichen Lage zu unterstützen. Warwara ist gebildeter und klüger als er; sie durchschaut seine kleinen Listen, die er anstellt, um sie über seine Verhältnisse zu beruhigen, und es entspinnt sich zwischen den beiden Armen ein rührender Kampf des Edelmutes. Da Dostojewskij ein großer Dichter ist, so verfällt er nicht in sentimentale Darstellung. Er vermeidet fast ängstlich ein Anklingen an Gefühlsschilderungen; die Gefühle der beiden Personen werden lediglich durch die Handlungen vermittelt, welche sie begehen, und diese Handlungen werden naiv, ohne Reflexion erzählt. Dazu kommt die feine humoristische Begabung des Dichters, welche etwaige trotzdem noch vorhandene Klippen der Empfindsamkeit durch Aufzählen komischer Momente zu vermeiden weiß: er läßt den guten Djewuschkin seine sonderbaren Urteile über Literatur fällen; er fügt eine Menge kleiner Züge ein, die zu jenen rührenden Gefühlen in keiner Beziehung stehen. Dadurch erreicht er, daß das Ganze nicht das Aussehen bekommt, als sei es nur geschrieben, um den Edelmut und die Zartheit der «Armen Leute» zu beweisen und uns dadurch in gewisse Stimmungen zu versetzen; jene Stimmungen werden dennoch erreicht, nur merkt man nicht die Absicht heraus.
Warwara hat Gelegenheit, eine vorteilhafte Heirat zu machen. Djewuschkin rät ihr selbst zu, und sie befolgt seinen Rat. Die letzten Briefe des Buchs beschäftigen sich nur mit Aufträgen an ihn, daß er ihr für ihre Hochzeit diese und jene kostbaren Sachen besorge, und Djewuschkin führt alle diese Besorgungen genau aus. Sie empfindet gegen ihn das Gefühl der Freundschaft, sie ahnt nicht, wie glühend sie der arme alte Schreiber liebt, wie sie ihn durch ihre Aufträge quälen muß; er selbst kennt seine Liebe nicht; erst zu allerletzt beginnt er klarer über sein Gefühl zu werden. Aus den wenigen Andeutungen, welche über den Bräutigam gemacht werden, ersieht man, daß eine schwere Zukunft an der Seite eines rohen Mannes sie erwartet. So schließt der Roman mit der Verzweiflung Djewuschkins, die dieser selbst noch nicht ganz begreift, mit dem Kummer Warwaras über die Trennung von ihrem Freunde und mit der Aussicht auf eine traurige und öde Zukunft.
Alles das ist nur angedeutet; nirgends ist ein genaues Wort benutzt; man muß die Geschichte erraten. Der Leser ist der einzige, welcher die Verhältnisse durchschauen kann, denn der Autor ist ganz hinter den beiden Briefschreibern zurückgetreten, und die Personen, welche handeln, tappen im Dunkeln. Das ist eine Manier, welche fast in jedem Werke Dostojewskijs wiederkehrt, und die im «Jungen Nachwuchs» zu ihrer größten Vollendung gebracht ist. Das Zurücktreten des Dichters ist für den realistischen Roman selbstverständlich; man findet auch bei den französischen Realisten, daß Reflexionen, Urteile, Bemerkungen, Schilderungen fehlen, welche der Autor als Autor macht und nicht die dargestellte Figur; aber bei Dostojewskij fehlt auch meist die Exposition in der bisherigen Form; fast stets schneidet er rücksichtslos ein Stück aus dem Leben heraus; es bekümmert ihn scheinbar nicht, ob einige Fäden der Handlung, welche über einen Schnitt hinausgehen, dadurch in ihren Enden nicht mit zur Darstellung kommen; er stellt einfach das ausgeschnittene Stück dar, das übrige geht ihn nichts an; er hat als Dichter nur darzustellen, nicht als eine Art Kommentator des Dargestellten nebenher noch Einleitungen und Noten zur Erleichterung des Verständnisses zu schreiben. Den Schritt, den die französischen Realisten halb tun, hat er ganz getan; der Dichter ist nur Darsteller, Bildner; als Person verschwindet er vollständig aus dem Geschaffenen. Auch die zweite Eigentümlichkeit seiner Manier wird nur halbwegs von den französischen Realisten geteilt: die Unkenntnis der handelnden Personen über sich selbst und ihre Gefühle. Es ist das Zeichen einer primitiven Kunst, wenn die Figuren ihre eigne Charakteristik geben; derartige Roheiten vermeiden natürlich die französischen Realisten; aber nicht viel weniger roh ist es, wenn die Figuren gleich von Anfang an die volle Klarheit über ihre Gefühle haben. Djewuschkin liebt Warwara; aber er weiß es selber nicht, wird es vielleicht nie erfahren, daß er sie liebt. Der französische Dichter hätte uns gleich zu Anfang aufgeklärt und dann eine psychologische Analyse dieser eigentümlichen Liebe gegeben. Dostojewskij erzählt einfach und unbefangen, was Djewuschkin tut, und läßt die Schlüsse dann den Leser ziehen; er läßt den Leser zu der Klarheit kommen, welche seine Figuren nicht erlangen.
Untersucht man genauer, so findet man, daß hier ein Punkt ist, wo Stilprinzip, Technik und die spezifische Begabung des Dichters, seelische Momente halb visionär zu durchschauen, sich vereinen.
Jeder Leser Dostojewskijs wird bezeugen, daß der Dichter es verstanden hat, ihn in atemloser Spannung zu erhalten. Bei Tolstoi hat man den Eindruck, daß er sich der künstlerischen Mittel schämt; ihm kommt es immer nur auf eine Selbstbeobachtung, Selbstdarstellung an, auch in seinen großen Romanen; und er hat das Gefühl, daß er da den Instinkten des Künstlers nicht nachgeben darf, um nichts zu verfälschen, daß er nur einfach aufzeichnen muß und nicht auf den Eindruck achten darf, den er bei dem Leser erweckt.
Dostojewskij fühlt sich ganz anders als Schriftsteller und Künstler; er will Romane und Novellen schreiben, nicht wie Tolstoi Bekenntnisse und Grübeleien in Romanform. Allerdings ist bei ihm die Kunst gleichfalls zuweilen Mittel zum Zweck, aber in ganz anderem Maße hat er auch das Bewußtsein des Erzählers und der Erzählerpflichten. So ist ihm denn schon psychologisch die einfache, schlichte Würde der Tolstoischen Manier unmöglich; er will den Leser nicht bessern durch sein Buch, unbekümmert, welchen Eindruck er sonst macht; er will ihm gefallen durch ein Kunstwerk; und er überlegt es sich und bedenkt, wie er einwirken soll; er sucht, durch welche Effekte er wirken kann, verschmäht sehr oft sogar eine Talmiwirkung nicht – er ist eben Künstler, und auch die Moral des idealsten Künstlers ist nicht die des ethischen Menschen, wo es eine Wirkung zu erhaschen gilt.
Als der naturalistische Roman in der Blüte stand, verachtete man die Spannung, wie der naturalistische Dramatiker von heute die tragische Komposition verachtet. Ebenso aber, wie die Seele des Zuschauers im Theater gewisse Anforderungen stellt, um ein lebendiges Interesse zu behalten, so auch die des Lesers, der einen dreibändigen Roman vor sich hat. Ein Aristoteles des Romans könnte aus Dostojewskij die schönsten Beispiele zu einer Technik des Romans sammeln: wie kein anderer von den großen Erzählern seiner Epoche war Dostojewskij überzeugt, daß der Roman eine ebenso kunstvolle auf die Bedürfnisse des Lesers berechnete Komposition haben müsse, wie das Drama eine auf die Bedürfnisse des Zuschauers berechnete. Mit einem bezeichnenden, aber durch seinen Gebrauch unedlen Wort nennt man das Spannung.
Wie man zur Zeit des Naturalismus und in Rußland bereits zur Zeit Dostojewskijs den ästhetischen Genuß verstand, war er die Freude an der Naturwahrheit der Darstellung, die Freude daran, wie das Kunstwerk selbst ein Stück Natur ist, einer inneren Logik gehorcht, mit einer Welt, die es umfaßt, übereinstimmt, daß nichts sich widerspricht, alles rein und schön zusammenklingt – kurz, ein Vergnügen am Darstellen. Erst die Notwendigkeit der Spannung ergibt das Interesse des Künstlers am Aufbau.
Es ist eine Eigentümlichkeit der Großen, daß alles, auch das Entlegenste, bei ihnen aus einer Mitte fließt. So, wie schon erwähnt, Dostojewskijs impressionistisch psychologische Begabung und die Art seiner Spannung. Am liebsten macht er die Sache so, daß er uns die Dinge und Charaktere nicht vollständig erzählt, sondern uns eine Reihe von Zügen, Andeutungen, Gesprächen, Geschichten gibt, aus denen wir uns so ungefähr etwas zusammenkonstruieren können, was aber bei weitem nicht hinreicht, uns eine vollständig logische Erwartung zu schaffen; sondern es sind etwa mehrere Auflösungen möglich; oder wir wissen mit dem Gegebenen gar nichts anzufangen. Am liebsten, indem er entweder sich selbst, den Schreiber, als einen unwissenden Menschen darstellt, der das Ganze nicht versteht und der vieles nicht bemerkt; so z. B. im «Halbwüchsling (Junger Nachwuchs)»; oder, indem er die Urteile der Leute über die betreffenden Dinge oder Personen erzählt, aus denen man natürlich auch nicht klug wird; wie z. B. in «Des Onkels Traum».
Ein anderes Mittel, virtuosenhaft angewendet, verleiht dem «Raskolnikow» seinen grauenhaften Reiz, er hat es später noch einmal im «Hahnrei» angewendet. Die Methode ist in diesem Falle die, daß alles auf ein Entweder-Oder zugespitzt ist, daß man aber bei der unberechenbaren Gemütskrankheit der betreffenden Personen, welche mit dem Entweder-Oder spielen, unmöglich wissen kann, welches der Ausgang sein wird.
«Raskolnikow» hat sechs Teile. Der Mord wird im ersten erzählt, durch die übrigen fünf geht die atemlose Spannung dieses Entweder-Oder. Es ist der psychologische Kriminalroman, den wir vor uns haben; und das Interesse am Kriminalroman ist so stark, daß wir die oft recht bedenkliche Psychologie ganz unbedenklich hinnehmen, die Spannung läßt uns nicht zur Kritik kommen.
«Raskolnikow» gibt auch die schönsten Beispiele für ein drittes Mittel, mit welchem Dostojewskij Spannung erregt. Es ist das Verschweigen oder unklare Andeuten der Motive. Sein Mensch tut etwas; wir erfahren vielleicht einen unzureichenden Grund, vielleicht auch gar nichts. Letzteres ist z. B. der Fall in der Novelle «Herr Prochartschin», wo uns eine Reihe Handlungen und Aussprüche eines Menschen erzählt werden, ohne daß daraus klar wird, was für ein Mensch das eigentlich ist, bis am Schluß herauskommt, daß der Betreffende ein Geizhals war, der beständig in Angst um sein Geld lebte. Das erstere ist der Fall bei «Raskolnikow». Zuerst haben wir den Eindruck, daß er die Witwe tötet, um Geld zu bekommen; am Ende des Buches erfahren wir, daß sein eigentliches Motiv eine Art irrsinniger Hochmut gewesen ist: er wollte sich beweisen, daß er ein Napoleon sei.
Die Art, wie Dostojewski; die Motive seiner Personen mitteilt, leitet zu einer anderen Eigentümlichkeit seiner Technik über. Es ist augenscheinlich, daß die Personen, welche Dostojewskij schildert, sämtlich einen kleinen Stich ins Verrückte haben. Soweit er wirklich Wahnsinnige darstellt, ist es dann natürlich nicht Sache seiner Technik. Allein auch die offenbar vernünftig sein sollenden Personen haben immer ein wenig eigentümliche Allüren; dieser sonderbare Anstrich ist seiner Darstellungsweise geschuldet.
Zum Teil rührt das eben daher, daß er die Motive nie gehörig mitteilt und immer irgendein X zurücklaßt, das sich der Leser zu ergänzen hat. Aber es kommt noch ein zweites dazu. Die Gründe, die man für seine Handlungen angibt oder die man selbst zu haben glaubt, sind in der Regel nicht Motive, sondern nur Rechtfertigungen. Die eigentlichen Ursachen unseres Handelns liegen unter dieser Oberfläche unseres Bewußtseins. Zuweilen kommen Fetzen von ihnen zutage, und wir verwundern uns dann meistens sehr; aus diesen Fetzen einen Zusammenhang zu konstruieren, ist ziemlich unmöglich, zumal hier die sonderbarsten, wahnsinnigsten Verknüpfungen vorhanden sind; man kann hier immer nur Vermutungen aufstellen. Bei dem einen Menschen kommen natürlich mehr solche Fetzen zum Vorschein wie bei dem andern; im allgemeinen übertreffen die Weiber hier die Männer, weil sie ja meistens nicht durch eine so strenge geistige Disziplin gegangen sind, durch welche das gleichsam tierische Element unseres Geisteslebens unterdrückt wird.
Der Dichter, welcher nur die Oberflächenerscheinungen registriert, die Gründe und Motive, die man selbst zu haben glaubt, wird nun immer höchst vernünftige und klare Wesen schaffen. Der Dichter, welcher auch auf die unterirdischen Erscheinungen eingeht, wird eigentümlich zwiespältige Wesen zu Papier bringen; und wenn diese Dinge schon in der Natur sonderbar und überraschend sind, so werden sie es in der Kunst, wo sie in einer ganz anderen Perspektive erscheinen, erst recht. Nun sind noch zwei Möglichkeiten da, wie man das machen kann: man gibt sich Mühe, dahinterzukommen, wie die Sache denn eigentlich zusammenhängt, und wenn das nicht gelingt, so läßt man den Zug lieber aus; so macht es Tolstoi; oder man freut sich, daß man nun so etwas recht Wahnsinniges herausgefunden hat, gibt sich gar keine Mühe, die Sache zu erklären und übertreibt womöglich noch das Unverständliche – so macht es Dostojewskij.
Das hängt zum Teil mit der anderen Tendenz seiner Kunst auf Spannung zusammen, zum Teil kann man es aber auch erklären aus der naiven Freude des Dichters, ein rechtes Bravourstück zu leisten.
Je intimer die Psychologie ist, desto unmöglicher wird es natürlich für den Künstler, sich die Psychologie durch die Beobachtung anderer anzueignen; er ist auf Selbstbeobachtung angewiesen und ist gezwungen, sich hypochondrisch in seine eigene Seele zu vertiefen. Die Fähigkeit dazu setzt schon eine gewisse Krankhaftigkeit der Seele voraus. Außerdem aber wird die natürliche Folge sein, daß der Dichter immer mehr in Gefahr gerät, nur sich selbst zu schildern – denn die Äußerungen seiner Seele, die er allein genügend kennt, haben zur Voraussetzung eben seine Seele und lassen sich nicht auf andere Seelen übertragen. Dostojewskij hat diese Gefahr gefühlt, und er hat versucht, sich ihr durch einen eigentümlichen technischen Kunstgriff zu entziehen, durch welchen namentlich die Eigentümlichkeiten seiner letzten Werke oft erklärt werden. Er begann nämlich, nicht mehr ganze Menschen zu schildern, denn dann hätte er sich ja immer selbst schildern müssen, sondern nur Teilmenschen, irgendeinen Komplex seiner, Dostojewskijs, seelischen Eigenschaften mit einem Namen zu versehen und laufen zu lassen. Ein Muster dieser Art ist der «Idiot» – entschieden doch nur das Viertel oder Achtel eines wirklichen Menschen.
Nietzsche bemerkt einmal, in Dostojewskijs Romanen befinde man sich in der Gesellschaft, welche das Neue Testament voraussetze: Epileptiker, Halbwahnsinnige, Dirnen, Verbrecher usw. Man muß doch vorsichtig sein mit etwaigen psychologischen Folgerungen aus einer solchen Tatsache: denn alle diese Personen sind Geschöpfe der Phantasie des Dichters, zu denen das Material aus seiner eigenen Seele genommen ist: in ihr ruhten «Idiot» und «Teufel» nebeneinander. – –
Dostojewskij hat eine neue Religion ausgebildet; der Gott dieser Religion ist das Leiden, der Gottesdienst ist das Anbeten des Leidens der Menschheit, das geduldige und demütige Ertragen des eigenen Leides. Raskolnikow fällt vor Sonja auf die Knie, denn in ihr sieht er das unendliche Leid der Menschheit verkörpert. «Ich habe nichts erlebt, aber Sie haben viel gelitten», sagt Fürst Myschkin im «Idiot» zu Nastaßja. Der Dichter schildert einen religiösen Schwärmer, welcher einen Ziegelstein nach einem Vorgesetzten wirft, absichtlich so, daß er ihn nicht trifft; er will nur bestraft werden, «sein Leiden auf sich nehmen». Sein Leiden auf sich nehmen, das ist die durchgehende Lehre der russischen Sektierer, die fast angeborene Lebensphilosophie des russischen Volkes, dessen ganze Geschichte in diesem einen Satz zusammengefaßt wird.
Man muß unterscheiden zwischen den ethischen Anschauungen eines Menschen oder einer Rasse und den psychologischen Voraussetzungen derselben. Der Kraft des Leidens bei Dostojewskij entspricht eine Lust am Leiden. In ihrer Ethik suchen die Menschen immer nur das Glück, das Glück freilich, das ihren allertiefsten und allerletzten Instinkten entspricht. Uns Europäern erscheint die Lust am Leiden wohl immer als krankhaft, wir halten sie für eine mehr oder weniger hysterische Erscheinung, und so manches sittliche Ideal, das aus ihr entspringt, erscheint uns als hysterischer Natur, lächerlich oder verächtlich. Das ist eine Betrachtungsart, welche angeht, sobald solche Dinge nur Ausnahmen in einem Volk sind und sich zum Teil auch nur bei Menschen in außergewöhnlichen Lagen finden. Den Russen gegenüber kann man einen solchen Gesichtspunkt kaum anwenden, wenn man nicht das ganze Volk für krank halten will. Verstandesmäßig muß man sich doch sagen, daß man das, was den Grundzug eines so großen Volkes ausmacht, als «gesund» bezeichnen muß, und daß «krank» immer nur eine Ausnahme sein kann. Trotz aller solcher verständigen Überlegung wird uns aber doch die Vorstellung des Krankhaften nicht verlassen ...
Dostojewskij ist eine Erscheinung von weit mehr als bloß literarischer Bedeutung: er verkörpert das tiefste Sehnen seines Volkes. Diesem Volke aber ist vom Schicksal eine große Zukunft beschieden. An der Schwelle Europas stehend, hat es noch als letztes europäische Kultur in sich aufgenommen, und für den daraus sich ergebenden Ausdehnungsdrang hat es das ungeheure Asien vor sich. Auch in dem geistigen Kampf der Kulturvölker kommt es aber schließlich auf die große Zahl an. Man braucht nur daran zu denken, wie Holland seine einstige führende Stellung im geistigen Leben verloren hat. Auch ohne das Hinzukommen kriegerischer und wirtschaftlicher Ereignisse wird in der kommenden Periode der Geschichte Rußland einen immer wichtigeren Einfluß ausüben. Und die russische Kultur ist eine gänzlich andere wie die der germanisch-romanischen Völker; ihr fehlt das chevalereske Mittelalter und dessen Grundlage, die soziale Differenzierung des Mittelalters. Sie springt aus einem sehr wenig differenzierten Zustand in die moderne Welt hinein. Dem entspricht die Weltanschauung. Es ist die Weltanschauung des undifferenzierten Orients, wo es keine sich auf kleinem Raum bekämpfenden Rassen gibt, keine Klassengegensätze in unserem Sinn, damit nicht den lebendigen Trieb nach vorwärts, die Unruhe, das Weiterentwickeln, den Kampf der Ideale und Weltanschauungen, den Gegensatz aristokratischer und demokratischer Strebungen und Ideen; sondern eine große Ruhe. Bei uns selbst ist die tüchtige Rasse offenbar im Rückgang begriffen, denn die Fähigkeiten, welche heute im Daseinskampf entscheiden, sind andere als die, durch welche sie sich auszeichnet; und wenn man für große Gegenden annimmt, daß das Verhältnis der Dolichozephalen zu den Brachyzephalen heute wieder dasselbe ist wie vor der germanischen Einwanderung, so erklärt sich auch das Zurückgehen der vornehmen Instinkte zugunsten solcher, deren Idealisierung Dostojewskij bietet.
Von der großen Dostojewskij-Ausgabe sind drei neue Bände erschienen. Zwei der Bände gehören der Frühzeit des Dichters an, ein Band stammt aus dem Höhepunkt seiner dichterischen Tätigkeit. Den Roman «Arme Leute» schrieb er mit dreiundzwanzig Jahren, den «Spieler» und den «Ewigen Gatten» etwa mit fünfzig. Gewöhnlich glaubt man, daß die realistischen Dichter besonders viel aus Erfahrung und Leben lernen; wenn man aber die drei Romane vergleicht, so sieht man, daß eigentlich gar kein großer Unterschied unter ihnen ist, und man fragt sich, ob eigentlich ein Menschenalter Erfahrungen – darunter zehn Jahre Erfahrungen unter sibirischen Sträflingen – für diesen geringen Unterschied notwendig waren. Die Charaktere in den Büchern sind so nahe verwandt, daß sie fast nur Abwandlungen eines einzigen Charakters sind; die Motive sind dieselben; die Situationen sind fast die gleichen. Ja, man kann sogar kaum von einer zunehmenden menschlichen Reife sprechen; wenigstens erkennt man die Jugendlichkeit des Frühwerkes nur an bedeutungslosen Kleinigkeiten. Das Rätsel der Genialität ist hier mit seltener Klarheit zu betrachten. – Man muß sich die Sache etwa so vorstellen: ein Dostojewskij wie jeder geniale Mensch, erlebt nur innerlich, alles äußerliche Erleben ist wenig bedeutungsvoll, unter Umständen sogar störend. Es treibt ihn, seine eigene Seele darzustellen, und er kann das nur durch Erzählung eines erdichteten Vorganges, mit Schilderung der Umwelt des Geschehens, so also, daß die erdichteten Figuren mit ihrer gesamten Atmosphäre ein Bild des Dichters selbst geben, wie etwa im Traum Handlungen, Landschaften, ganz große Zusammenhänge Teile unseres Selbst symbolisieren. Nur war Dostojewskij eine pathetische Natur, und vielleicht drängten ihn Temperament und Begabung eigentlich zum Drama; aber im Drama fand er damals das Epigonentum der deutschen Klassiker vor, und offenbar war er selber keine Natur, die selbständig einen Weg finden konnte; dagegen hatte Gogol, welcher offenbar eine Pfadfindernatur war, eine spezifische Ausdrucksweise für russische Empfindungen geschaffen und auch gleich einige Milieus herausgegriffen mit den zugehörigen Typen. So wurde Dostojewskij Erzähler. Schon Gogol hatte für sein Pathos eine Art des Erzählens gefunden, die ihn vor der Sentimentalität und unwahrer Darstellung der Natur schützte; diese Art nahm Dostojewskij auf. Seine pathetischen Gefühle gehen nie nach außen, sondern werden durch Schüchternheit, die Lächerlichkeit des zufällig Wirklichen, durch intellektuelle Unzulänglichkeit u. ä. nach innen geführt: sein Realismus ist im Grunde nichts als eine Verschleierung seines Pathos. Der sittliche Mensch ist aber offenbar schon ganz früh fertig, er ist nicht das Resultat des Lebens und der Erfahrung, er bildet sich offenbar in irgendwelchen geheimnisvollen Regionen jenseits der Zeit. Da der Angelpunkt in Dostojewskijs Persönlichkeit das sittliche Pathos ist, so war er also eben mit dreiundzwanzig Jahren schon fertig: und alles, was geschaut und beobachtet werden muß, das ist für einen Dichter so geringfügig, daß einer mit dreiundzwanzig Jahren schon reichlich die Kenntnis der Außenwelt haben kann, die er für seine Zwecke braucht.
Die europäische Literatur der vorigen Generation hat eine Reihe bedeutender Dichter hervorgebracht, welche mehr oder weniger Anerkennung bereits bei ihren Lebzeiten fanden, mehr oder weniger Einfluß schon auf unsere Jugend, die Jugend der Männer von heute, gehabt haben. Nun kommt allmählich die Zeit, wo die Nachprüfung beginnt; die übernächste Generation ist schon im Werden und hat schon bestimmte Urteile, läßt sich in bestimmter Weise beeinflussen; manche der hervorragendsten Dichter der vorigen Generation beginnen da zurückzutreten, ja beinahe schon zu verschwinden; und auf jeden Fall ändert sich die verhältnismäßige Bewertung.
Aber nicht bloß die übernächste Generation ist ein Richter darüber, ob Dichter wirklich das bedeutet haben, was ihre und die nächste Generation glaubten, schon die nächste Generation selber, wenn sie in die älteren Jahre kommt, ist es. Wir können das alle erleben, wenn wir uns fragen: Was ist uns eigentlich von den Dichtern, welche wir als Jünglinge verehrt, für unser späteres Leben geblieben?
Da kommen wir nun zu sehr merkwürdigen Ergebnissen.
Was auf künstlerisch empfindende Naturen zunächst Eindruck macht, das ist das rein Künstlerische, das, was man mit dem technischen Wort ausdrücken kann: die Qualität der Werke. Wir denken da kaum an die Dichter, wir betrachten immer nur die einzelnen Werke. Das ist ein sehr richtiger Gesichtspunkt, und gegenüber der meistens dilettantischen Kritik von heute sollte er immer festgehalten werden, denn ein Kunstwerk, das keine Qualität hat, ist überhaupt etwas Wertloses, und die schönsten Gesinnungen von der Welt und die edelste Persönlichkeit können darüber nicht hinweghelfen.
Im Laufe der Jahre aber, wenn man eine Anzahl vorzüglicher Werke gelesen hat, verschwindet dieser erste Eindruck, der aus der Qualität kam; das Werk reiht sich in der Erinnerung ein wie ein schönes Bild neben anderen schönen Bildern, die wir im Laufe der Zeit gesehen haben; die Erinnerung wird allmählich undeutlicher, und zuletzt wissen wir nur noch allgemein, daß damals das schöne Stunden waren, als wir dieses Buch lasen.
Bei einigen dieser Bücher aber tritt zu diesem etwas anderes. Ich muß hier das Wort «Problem» anwenden und möchte nicht gern mißverstanden werden, daß ich etwa gedankenmäßig zu fassende Fragen meine; ich meine eine Art Auffassung der Welt, Betrachtung der Erscheinungen und ihrer notwendigen Konflikte, die ganz neu ist und für uns irgendeine Wichtigkeit bekommt. Einige dieser Bücher also lassen in uns die Erinnerung an ein «Problem» zurück, und im Lauf der Jahre müssen wir oft – monatlich, wöchentlich, täglich – an dieses Problem denken; diese Bücher haben einen so tiefen Eindruck auf uns gemacht, daß sie dauernd unser Empfindungsleben und selbst unser Handeln beeinflussen.
Ein Buch wie etwa der Ulenspiegel de Costers ist gewiß von der ersten Qualität, es ist ein Werk vorzüglichster Art. Nach einer Reihe von Jahren haben wir immer eine schöne Erinnerung an das Buch, wie etwa an ein schönes Bild, eine schöne Landschaft; allmählich verblassen die Einzelheiten, nur der Gesamteindruck bleibt, auch immer schön; schließlich aber, wenn wir uns dann fragen, was das Ganze bedeutete, so war es doch nichts weiter als ein Genuß, den wir gehabt haben neben vielen andern Genüssen.
Als Gegenbeispiel können wir die Werke Dostojewskijs nehmen. Seine großen Romane werden uns immer verfolgen; seine Figuren werden uns immer beschäftigen, und an die Probleme, die er behandelt, müssen wir in unserem Empfindungsleben und in unserm Handeln immer denken. Wer einmal eine Gestalt wie den Idioten, einen Konflikt wie den Raskolnikows innerlich miterlebt hat, der kann davon nie wieder loskommen, er muß sich dauernd mit ihnen beschäftigen. Durch diese dauernde Beschäftigung gewinnen wir im Lauf der Zeit dann ein ganz anderes Verhältnis zu den Werken; wir denken nicht an sie, wie als an Dichtungen, sondern wie an Wirklichkeiten; der Idiot und Raskolnikow sind Lebensmächte für uns geworden. Dadurch aber sind sie allmählich aus der Sphäre des Ästhetischen herausgerückt in die Sphäre des Lebens; wir betrachten die Werke nun ganz anders, als Äußerungen einer Persönlichkeit; diese Persönlichkeit wird uns immer wichtiger, denn in ihr liegen ja doch zuletzt die Kräfte, welche von den Büchern ausgehen; die Dichtung ist uns ihr eigentlicher Ausdruck geworden und nicht mehr Dichtung an sich, und endlich gehen uns dann Dichter, Dichtung und Helden des Dichters in eins zusammen.
Das sind die wirklich bedeutenden Dichter, bei denen dieser Prozeß vor sich geht, die, bei denen dann am Schluß eigentlich nur noch die Persönlichkeit als wichtig erscheint, bei denen schließlich wohl gar die Dichtung zurückweichen kann in unserem Interesse; etwa wie es heute mit Schiller der Fall zu sein scheint.
Nach seiner bloßen Qualität ist Dostojewskij sicher nicht sehr überragend über seine Zeitgenossen; nach meinem Gefühl ist Tolstoi etwa der reinere Dichter und klarere Gestalter. Aber immer überragender wird von Jahr zu Jahr seine Persönlichkeit, und der Komplex der Empfindungen, die in diesem Mann gelebt haben, sind heute wohl schon dauerndes Gut der Menschheit geworden.
Was ist aber eine solche Persönlichkeit?
Es ist soeben eine dankenswerte Veröffentlichung erschienen: eine Sammlung seiner Briefe in deutscher Übersetzung. Wenn man diese Briefe etwa mit den Briefen unserer Klassiker vergleicht, so wird man sehr enttäuscht werden: sie scheinen zunächst ganz ungeistig und im höheren Sinn wenig interessant zu sein; sie stellen das furchtbare Leben dieses Mannes dar, der nicht nur lange Jahre ein Sträfling war, der auch nachher noch bis an sein Lebensende wie ein Sträfling gelebt hat, in Elend, Sorge, Krankheit und Kummer. Etwa solche Stellen findet man: «Wie kann ich arbeiten, wenn ich hungrig bin und sogar meine Hose versetzen mußte, um mir die zwei Taler für das Telegramm zu verschaffen! Hole der Teufel mich und meinen Hunger! Aber sie, meine Frau, die jetzt ihr Kind stillt, mußte selbst ins Leihhaus gehen und ihren letzten warmen wollenen Rock versetzen. Hier schneit es aber seit zwei Tagen; wie leicht kann sie sich erkälten! Kann er denn nicht begreifen, daß ich mich schäme, ihm dies alles zu erklären!»
Wenn man den Band durchgelesen hat und dann sich ein Bild dieses Lebens zu machen sucht, dann geschieht einem etwas Merkwürdiges: plötzlich versteht man die große Persönlichkeit Dostojewskijs, die man bis dahin nur aus seinen Schriften geahnt, auch in der Wirklichkeit. Man versteht sie nicht verstandesmäßig, sondern man fühlt und erlebt sie; man schämt sich seiner selber und denkt – nicht etwa: einem solchen Manne nachzueifern; wie wäre das denn möglich! – man denkt ganz von selber über das nur Ethische hinaus, über das Wirkliche, in das Religiöse; man empfindet einen der wenigen Menschen, die so hoch stehen, daß sie uns nicht mehr Vorbilder sind, sondern daß ihre Existenz die Rechtfertigung für die Existenz der Menschheit überhaupt ist. Vor den Augen eines solchen Mannes zerfällt dann alle Kunst, alle höchste Klugheit und Weisheit in Nichts, und selbst sein eigenes furchtbares Leben kann er lächelnd abtun; nur spüren, daß wir mit ihm in einer Sphäre sind, welche weit jenseits von allem ist, was uns quälen und erfreuen kann, wo kindlicher Sinn ist wie tiefste Weisheit und Schmerz wie Heiterkeit.
Die notwendige Folge des Weltkrieges war die Weltrevolution. In allen Ländern, außer Rußland, war diese Revolution bis heute nur Zusammenbruch: man versteht, daß die Revolution nicht offiziell zugestanden sein muß, wie bei uns, daß sie vorhanden ist, auch wo sie äußerlich nicht zugestanden wird. In Rußland allein wurde etwas Neues versucht. Vielleicht, wenn man tiefer forscht, ist der wirkliche Unterschied zwischen den russischen Zuständen und den unsrigen nicht so groß, wie man nach den grundsätzlichen Verschiedenheiten annehmen sollte; vielleicht ist der russische Versuch in Wirklichkeit gleichfalls nichts anderes als Zusammenbruchserscheinung; jedenfalls: im Bewußtsein der in Rußland Handelnden ist wirkliche Revolution gemacht, eine wirkliche Neuordnung aller menschlichen Verhältnisse.
Eine jede Revolution ist eine Übertragung des Geistes der vergangenen Zeit auf das Leben. Von allen europäischen Völkern hatten die Russen allein in den letzten beiden Geschlechtern Geist, deshalb haben sie allein heute eine wirkliche Revolution. Man mag sich zu diesem Geist stellen wie zu der Revolution: zustimmend oder ablehnend; jedenfalls wird man ihm eine große Menschheitsbedeutung zuerkennen müssen. Dostojewskij ist unzweifelhaft der bedeutendste Vertreter dieses Geistes; mag man wollen oder nicht, jedenfalls muß man sich mit ihm auseinandersetzen.
Vor nun mehr als einem Menschenalter habe ich in der Sonntagsbeilage der «Vossischen Zeitung» eine lange Untersuchung über Dostojewskij veröffentlicht. Es war das damals die erste gründliche Stellungnahme eines Deutschen zu dem großen russischen Ereignis. Die Jugendarbeit war gewiß in vielem unreif; sie hatte nur das eine Verdienst, daß sie die tiefe Erschütterung zeigte, in welche ein Mann des damals jungen Geschlechts in Deutschland durch das russische Denken geriet. Seitdem hat mich die Gestalt Dostojewskijs immer begleitet; ich wußte, daß ich mit dem Mann zu kämpfen hatte, wenn ich mich als Deutscher behaupten wollte. Heute glaube ich, seine Bedingtheit einzusehen, und glaube zu verstehen, wie die Deutschen aus sich selber heraus zu einer anderen, und wie mir scheint, wahrhaftigeren und höheren Stellung zu ihren Aufgaben kommen können. Sollte dieses persönliche Erlebnis allgemein sein können, so würde das bedeuten, daß die Führung der Menschheitsentwicklung nicht an die Russen übergehen wird, sondern an die Deutschen.
Das untergehende Altertum hinterließ den neuen Völkern das Christentum; es hinterließ es ihnen aber mit all den Giften, welche seine verwesende Zivilisation erzeugt hatte. Diese Gifte waren stark genug, um einen großen Teil der neuentstandenen Völker nach einiger Zeit wieder zur Auflösung zu bringen. Nachdem die Bewegung, welche damals entstanden ist, sich beruhigt hat, sind zwei Völker in Europa, auf denen die Zukunft der europäischen Welt steht: die Deutschen und die Russen. Beide haben mit dem Christentum noch starke Gaben des Altertums erhalten, die ihr Wesen bestimmend beeinflussen mußten: die Deutschen von Rom und die Russen von Byzanz.
Wenn wir die Russen beurteilen, so vergessen wir gewöhnlich den außerordentlich starken byzantinischen Einfluß; wir begehen heute überhaupt den Fehler, daß wir die geschichtsbildende Kraft der Religion vergessen. Es ist uns wohl so im allgemeinen klar, daß wir viel von Rom haben – was eigentlich, das wissen wir selten; daß die Russen noch sehr viel mehr von Byzanz haben, daß vielleicht der «russische Gedanke» eigentlich das byzantinische Christentum ist, das ist wohl nur wenigen bewußt geworden. Wir wollen die Unterschiede kurz bezeichnen mit den Namen Konstantins und Karls des Großen. Konstantin hat den Cäsareopapismus begründet, Karl den Kampf zwischen Papst und Kaiser. Mit anderen Worten: die Deutschen und Russen bekamen das Christentum als Kirche; und zwar die einen in der Form, daß der höchste weltliche Herrscher zugleich der höchste geistliche Herrscher war, die andern in der Form, daß die höchste weltliche und geistliche Gewalt von zwei Männern ausgeübt wurde, von denen der eine außer seiner Bedeutung für die gesamte westliche Christenheit zugleich der nationale Herrscher war, der andere national in einer ganz anderen Gesittung, einem ganz anderen Volksleben wurzelte. Die byzantinische Form kommt auf den uralten östlichen Despotismus hinaus, die westliche Form auf das uralte Freiheitsideal: es ist derselbe Gegensatz wie zwischen Persern und Griechen.
Dostojewskij empfindet den Westen als religionslos. In einer sehr geistreichen Abhandlung stellt er den Protestantismus als bloße Negation des römischen Katholizismus hin: er sieht nicht, daß unsere Religion wohl noch keine Form gefunden hat, aber doch immerhin vorhanden ist, etwas Positives ist. Wir Deutschen unsererseits können das Russentum religiös wie politisch immer nur als sklavisch empfinden, mag es sich nun als Zarenreich zeigen oder als Sowjetrepublik.
Lenin glaubt nicht an Gott. Aber um den russischen Atheismus ist es eine eigene Sache: er ist ebenso kirchenbildend wie das russische Christentum. Wenn wir den Maßstab unserer deutschen Religiosität anlegen: Wie weit hat denn Dostojewskij an Gott geglaubt? Wir können ihm den Vorwurf erwidern, den er uns macht: wir sehen bei ihm wohl Beherrschung der Seelen, aber nicht das, was wir Religion nennen.
Die letzte große Dichtung vor der russischen war die deutsche klassische Dichtung. Ein Unterschied fällt uns sofort in die Augen: die russische Dichtung konnte sich an das ganze Volk wenden, die deutsche nur an einen ganz kleinen, besonders vorgebildeten Kreis. Aber sonst sind sich die beiden Erscheinungen gleich, und man muß auch unsere klassische Dichtung als Äußerung unserer deutschen Religiosität fassen. Heute sehen wir, daß die Russen eine Nationalität haben; wir haben sie nicht; die Ursachen sind dieselben wie bei der Wirkung der Dichtung.
Immer wieder wollen wir betonen: wir wollen nicht werten. Vor unsern Augen entwickelt sich das gewaltige russische Schauspiel des Versuchs einer Umgestaltung der Welt; unser deutscher klassischer Versuch ist gescheitert, und wir können über den Ausgang des russischen Versuchs noch nichts sagen. Wir können aber seine Tendenzen beobachten: sie liegen dem, was äußerlich erscheint – auch der Gegenrevolution – zugrunde.
Wohl alle Männer, welche Dostojewskij genau kennen, werden geneigt sein, die Erzählung vom Großinquisitor in den Brüdern Karamasow als letzten Ausdruck seiner Ansichten anzunehmen. Die Erzählung ist aber dem Iwan Karamasow in den Mund gelegt, welcher ungläubig ist und nur eingesehen hat, daß die Menschen einen Glauben haben müssen. Zweimal hat Dostojewskij versucht, sein Menschheitsideal darzustellen: einmal im Idioten und einmal in Aljoscha Karamasow. Beide Male ist ihm das mißglückt; geglückt ist ihm aber Iwan Karamasow; und dessen Dichtung wirkt als Ausdruck des Dichters: sollte es nicht so sein, daß Dostojewskij selber in Wirklichkeit im Iwan gewesen wäre: ein Ungläubiger, der die Notwendigkeit des Glaubens eingesehen hat?
Dostojewskij sagte einmal: «Wir Russen lügen alle. Aber wir werden uns noch zur Wahrheit durchlügen.» Ist das nicht ein Gedanke, den ein Iwan gehabt haben könnte?
Die Deutschen haben immer nach Freiheit gestrebt. Freiheit für ein Volk ist nur so zu erreichen, daß die höchste Gewalt geteilt wird. Indem bei uns sich Kaiser und Papst gegenüberstanden, kam es zu einem erbitterten Kampf der beiden höchsten Mächte, in welchem die Menschen ihr Leben führen konnten in ihrer Art. Es war ein Kampf. Und es konnte in diesem Kampf geschehen, daß der Großinquisitor die Ketzer verbrannte. Aber er konnte doch nur Ketzer verbrennen, wenn Ketzer da waren. Die Russen haben die beiden höchsten Gewalten bereinigt. Was bei ihnen sich an Gegnerschaft gegen die Kirche entwickelte, das war nie Ketzerei in unserm Sinn, das war ein Festhalten an älteren Büchern, ein stärkeres Betonen dieser oder jener Lehre, aber es war nie etwas von der Art, die bei uns durch das ganze Mittelalter ging und in Luther seinen geschichtlichen Ausdruck fand. Die griechische Kirche hat keine Ketzer verbrannt, weil sie keine Ketzer hatte, weil sie die Menschen im Innersten unfrei gemacht hatte, daß sie überhaupt nicht auf grundlegende Zweifel kamen. Die griechische Kirche hat die Menschen zu einer Herde erzogen; man kann das Herdenbewußtsein als Nationalitätsgefühl bezeichnen. Heute drückt der Bolschewismus gewiß doch nur die Ansichten einer Minderheit aus; aber diese Minderheit herrscht, und die Mehrheit fügt sich; sie kann sich fügen, sie kann im Bolschewismus sogar den Ausdruck ihrer Nationalität sehen. Merkwürdig! Das russische Volk erstrebte den Besitz von Konstantinopel aus frommen Gründen, es bekämpfte die Polen als Falschgläubige. Die Zaren haben die Politik getrieben, welche dem entsprach, sie waren ja zugleich die ersten geistlichen Herrscher ihres Volkes; heute treiben die atheistischen Bolschewisten wieder dieselbe Politik, ihre Nachfolger werden sie auch treiben.
Wir Deutschen stehen heute ohne Führer in dem allgemeinen Weltzusammenbruch, ohne Nationalität, ohne Willen. Ist das Unfähigkeit – ist es nicht vielleicht die Gewähr einer höheren Fähigkeit? Dostojewskij ist auch heute noch der Führer seines Volkes. Ist sein Auge so ganz sicher, daß er jedem prüfenden Blick standhalten kann? Wir leben inmitten der Ereignisse, welche für die nächste Periode das Antlitz der Welt bestimmen werden. Welche Rolle Rußland in ihr spielen wird, davon wird alles andere abhängen. Wenn man aber Rußland erkennen will, so muß man Dostojewskij studieren.
(1916)
Von den großen Nationen handeln die Deutschen am wenigsten impulsiv und am meisten aus vernünftigen Erwägungen, und es ist bei uns kein großer Unterschied zwischen der Handlungsweise des typischen Einzelnen und der Nation. Im stärksten Gegensatz zu dieser Art steht die russische. Man hat doch den Eindruck, daß dieser Umstand vielen Leuten bei uns noch nicht klargeworden ist. Wir wissen von den Franzosen etwa, daß sie zwar ein Volk von Ehre sind, im Impuls aber unehrenhaft handeln können, und daß ihre liebenswürdige und gutmütige Heiterkeit sich in rohe und tückische Grausamkeit verwandeln kann; wir suchen uns jetzt den Charakter der Engländer klarzumachen, und wenn wir auch, wie es scheint, erst nur einige ihrer Züge erfaßt haben, so ist uns doch jedenfalls die Gefährlichkeit ihres Nationalcharakters deutlich geworden; über die Russen aber weiß man bei uns gewöhnlich nichts weiter auszusagen, als daß der russische Charakter «ein Chaos» sei. Damit ist nun recht wenig gesagt; die Russen wissen über uns offenbar viel mehr wie wir über sie; und sie haben sehr recht, denn Deutsche und Russen werden im Frieden wie im Krieg noch viel miteinander zu tun haben, wenn England und Frankreich längst vom Schauplatz der Geschichte abgetreten sind.
Die Schwierigkeit, die Russen zu verstehen, wird für uns dadurch noch größer, daß wir ihre politischen Zustände noch viel mühsamer fassen müssen wie die irgendeines anderen Volkes. Die politischen Probleme sind ja dadurch so schwierig, daß die handelnden Personen sich fast immer im unklaren über ihre Motive sind und in Illusionen irgendwelcher Art handeln, die dann aber oft genug wirkliche Motive werden können; und daß der Betrachter seinerseits wieder Illusionen mitbringt, mit deren Augen er jene Handlungen ansieht. Nun sind die Russen offenbar jetzt in einem Umwandlungsprozeß ihrer politischen Einrichtungen begriffen, und der fremde Beobachter ist sich ganz unklar darüber, was von diesen alten Einrichtungen und neuen Forderungen nun eigentlich dem russischen Wesen entspricht, was bestehen und was sich neu bilden wird.
Ich möchte hier das Augenmerk auf ein schon vor einigen Jahren erschienenes Buch lenken, auf den Roman eines der hervorragendsten russischen Revolutionäre namens Ropschin; nicht, weil das Werk eine bedeutende Dichtung wäre, sondern weil man aus ihm sehr viel über die moderne russische Seele lernen kann. «Als wär' es nie gewesen.» Roman von W. Ropschin (Deckname für Boris Sawinko). Frankfurt 1913
Eine Revolution ist immer ein fürchterliches Ereignis für ein Volk. Nicht wegen der Menschenopfer, die sie kostet, oder wegen der Zerstörungen von materiellen Gütern, oder wegen der Erschütterung aller Verhältnisse, sondern weil durch die Revolution alle sittlichen Grundlagen eines Volkes ins Wanken geraten. Eine fehlgeschlagene Revolution ist ein Verbrechen, auf der geglückten Revolution ruht der gesamte Zustand eines Volkes für künftige Zeiten. Nur das äußere Gelingen entscheidet also, ob eine Handlung ehrwürdig oder schändlich sein soll. Man lasse sich nicht täuschen durch die Erwägung, daß die Revolutionäre ja nicht für sich und ihre persönlichen Interessen handeln, sondern für ein Ziel, das ihnen auf jeden Fall als sittlich erscheint; gewiß, sie sind edle und heldenhafte Naturen, und kein Mensch, auch der Gegner nicht, wird etwa dem Terroristen seine Achtung versagen können, der, indem er einen Mord auf seine Seele nimmt, nicht bloß kaltblütig für sein Ideal in den Tod geht, sondern noch Schwereres tut, nämlich gegen das tiefste menschliche Gefühl handelt. Aber man sollte schon durch den einen Umstand stutzig werden, daß noch in jeder Revolution neben den edlen Naturen gemeine Verbrecher auftauchten und wirkten, und daß, je schärfer man zusieht, desto schwerer der Unterschied zwischen den beiden Arten von Menschen zu erkennen ist. Eine Nation, welche notwendige Veränderungen ihres inneren Zustandes nur durch das Mittel der Revolution erzeugen kann, muß durch die Revolution einen bestimmten Charakterzug bekommen; und indem Charakter und Schicksal sich wechselseitig bedingen, wird sie auch in Zukunft immer etwas für sich wie für andere Gefährliches behalten. Heute, wo der Weltkrieg bei unseren Gegnern die Unsicherheit der letzten Grundlagen des Staates aufzeigt, wollen wir besonders dankbar sein, daß uns in unserer schweren und tränenreichen Geschichte doch immer das schlimmste Unglück, die Revolution, erspart blieb; daß bei uns die oberen Klassen immer Sittlichkeit und Verstand, die anderen immer Rechtlichkeit und Vertrauen genug hatten, um auf rechtlichem Wege zu schaffen, was bei andern, wo oben Verbrechen herrschte und unten Verbrechen, durch Unrecht und Gewalt geschaffen werden mußte.
Doppelt fürchterlich aber muß die Revolution in einem Volk sein, das von Natur passiv veranlagt ist wie das russische; das mit sich und über sich geschehen lassen will und keinen natürlichen Trieb zum Handeln hat.
Die Russen selbst erkennen als ihren großen Nationaldichter Dostojewskij an, seine Figuren müssen also, wenn nicht die Wirklichkeit, so doch das Ideal des russischen Volkes sein, wie bei uns die Gestalten Schillers und Goethes. Alle diese Figuren sind krank, und ihre Gefühle haben die Unwahrheit der Gefühle seelisch kranker Menschen; und wo eine Aktivität bemerkbar wird, da ist der letzte Grund immer nur das Bestreben des nervösen Schwächlings, sich zu beweisen, daß er Energie hat; die Menschen handeln also nicht, weil sie etwas als richtig eingesehen haben, das sie durchsetzen wollen, sondern sie handeln, um nur zu handeln, wie die Hysterischen, ohne weitern Zweck und ohne Ziel.
Der Roman von Ropschin, der nicht Dichtung ist, sondern Wahrheit, mag auch das Einzelne nicht immer ganz genau stimmen, schildert die Revolution genau so, wie Dostojewskij ein Verbrechen. Menschen bilden einen Ausschuß, bestimmen und befehlen, glauben eine historische Tat zu leiten, und Morde, Barrikadenkämpfe, Meutereien, Raubanfälle geschehen aus keinem andern Grunde, als weil die Menschen, welche diese Taten begehen, handeln müssen. Die Revolutionäre haben bei der Regierung ihre Spitzel, die Regierung hat unter den Revolutionären ihre Spitzel. Der fürchterliche Charakter des Lockspitzels, welcher selber an die Revolution glaubt, die er an die Polizei verrät, entwickelt sich zu seinem vollkommensten Ausdruck.
Man gebraucht das Wort Verzweiflung oft, selten machen sich die Menschen wohl klar, was es bedeutet. Man stelle sich die Geschichte des einen Helden aus dem Buche vor: Er ist Seeoffizier, macht die Seeschlacht bei Tsuschima mit, fühlt die völlige Hoffnungslosigkeit der russischen Zustände, geht nach Petersburg und wird Terrorist; nicht weil er eingesehen hat, daß das Ziel der Revolutionäre erreicht werden muß; von dem ist überhaupt nicht die Rede: «Er sah, wie in der Schlacht Tausende junger, kräftiger, von der Liebe zum Zaren beseelter Menschen willig und ohne zu klagen ihr Leben für die Andreasflagge ließen. Und er sah, wie Rußland trotz dieser großen Opfer geschlagen, beschimpft und verwüstet war. Ganz allmählich, wie ein langsam wirkendes Gift, drang in sein Bewußtsein die neue Erkenntnis, daß er verpflichtet sei, für sein Vaterland zu kämpfen, doch nicht auf dem Ozean, nicht auf der Kommandobrücke neben den Geschützen, sondern bei sich zu Hause, in den Reihen der Partei, die für Land und Freiheit kämpft. Es war keine aus den Büchern geschöpfte papierne Begeisterung und nicht jener impulsive Aufschwung, der im entscheidenden Augenblick Schwache und Unzufriedene ansteckt. Es war eine schwer erkämpfte Erkenntnis der bisher begangenen Fehler, der reife Entschluß, für das Volk zu sterben, und die Einsicht, daß er nicht anders als im Dienst seiner großen Heimat leben dürfte.» Die Revolution ist längst besiegt, als er eintritt; er bringt nur sich selber nutzlos zum Opfer, kann den Gegnern nur noch nutzlose Nachteile zufügen: aber er fühlt, daß er für das Volk sterben muß. Das ist Verzweiflung.
Die Revolution ist niedergeschlagen. Wie stellt sich nun das Leben dem Revolutionär dar? Welchen Ausweg kann er für sich im Innern finden?
Hier kommt wieder ein merkwürdig russisches Gefühl. Der letzte Überlebende wandert durch Rußland: «Plötzlich sah er so klar wie noch nie das ganze arbeitende Rußland vor sich. Er sah das Rußland der grenzenlosen, mit Schweiß begossenen Äcker, das Land der Fabriken und Werkstätten; es war nicht das Land der Offiziere, Studenten, Programme, Versammlungen und Komiteesitzungen, nicht das müßige, leichtfertige, geschwätzige Rußland, sondern das Land der Pflüger und Mäher, das arbeitende, unbesiegbare, große Rußland. Er begriff, daß die fruchtlosen Komiteesitzungen, die Lockspitzeln, die Korruption in den Freischaren, die ohnmächtigen Barrikaden ... nur der Schaum des sturmgepeitschten Volksmeeres, nur Spritzer der wilden Wogen waren ... Und er fühlte in der Tiefe seiner ermüdeten Seele das helle Feuer eines neuen Glaubens erwachen – des Glaubens an das Volk, an die Revolution, an eine neue, auf Liebe errichtete Welt. Des Glaubens an eine ewige Wahrheit.»
Dostojewskij, der auf dem Gegenpol des Revolutionärs Ropschin steht, schreibt über Rußlands Drängen nach der Eroberung von Konstantinopel: «Wir Russen sind unumgänglich notwendig für die ganze orientalische Christenheit sowie für die Vereinigung der ganzen zukünftigen rechtgläubigen Menschheit.» Die «ewige Wahrheit», welche durch eine scheußliche Revolution, und die «Vereinigung der ganzen zukünftigen rechtgläubigen Menschheit», welche durch die Eroberung Konstantinopels, das heißt durch die Herrschaft über die Mittelmeerstaaten nach Ähnlichkeit der Herrschaft über Serbien und durch die Unterjochung Deutschlands nach Ähnlichkeit der Unterjochung Polens erreicht wird – das ist dasselbe Ziel.
Jedes Volk hat eine Aufgabe für die Menschheit zu erfüllen. In dem chaotischen Wirbel, der heute das russische Volk ist, zeigt sich schon, daß von Rußland einmal eine neue Religion kommen wird. Wir sind immer gewohnt, als Religion das höchste Menschliche zu denken; sie kann aber auch etwas anderes sein, kann sie ja doch sogar, wie das Beispiel der Thugs und der Assassinen zeigt, Verbrechen werden. Einer Religion, welche der Würde der Menschheit entspricht, wird das kranke, verzweifelte, passive russische Volk nie fähig sein; aber nicht danach fragt die Wirklichkeit, sondern nach der materiellen Macht. Das «arbeitende, unbesiegbare, große Rußland», das ist eine Idee, die in jedem Russen lebt, die sich selber aufdrängt durch die unendliche Ebene, die Grenzenlosigkeit, die Millionen und aber Millionen von Menschen. Das «unbesiegbare Rußland» bildet jetzt seine neue Religion einer «neuen, auf Liebe errichteten Welt», in Revolution und Gegenrevolution, als Zarentum und vielleicht als Republik. Diesesmal ist es ihm nicht gelungen, Europa zu überfluten und zu einem größeren Polen oder Finnland zu machen: das deutsche Volk wird immer an der Grenze wachen müssen, daß es ihm nicht später gelingt, wenn es seine Bevölkerung inzwischen verdoppelt hat und dann in den Karpathen, statt 8 Reihen vor die Maschinengewehre zu treiben, 16 vor sie treibt. Wenn es ihm gelänge, dann hätten Kant und Fichte, Schiller und Goethe umsonst gelebt; aber auch Shakespeare und Ariost, Homer und Sophokles, denn dann würde durch Gewalt und Verbrechen das herrschen, was ein Sklavenvolk «ewige Wahrheit» oder «rechtgläubige Menschheit» nennt. Wir wissen, daß es nur ein ewiges Suchen nach Wahrheit gibt und die Sehnsucht des Einzelnen in seinem Kämmerlein nach Gott, und daß dem die ewige Lüge gegenübersteht und die Knechtschaft der Geister.
Zu Reymonts Roman «Lodz» (1917)
Zola ist sehr schnell in der allgemeinen Schätzung zurückgegangen. Wahrscheinlich wird er heute in der jüngeren Generation kaum noch gelesen. Vor etwa dreißig Jahren galt er bei uns noch allgemein als ein unzüchtiger Schriftsteller, und nur einige wenige Menschen schätzten ihn; die junge deutsche naturalistische Bewegung hob ihn als einen ihrer Meister auf den Schild, und vor etwa fünfzehn Jahren stand er in der allgemeinen Meinung auf seinem Höhepunkt. Das Auf und Ab ging bei ihm also in auffällig kurzer Zeit vor sich.
Es geschieht ja oft, daß man Dichter bei ihren Lebzeiten sehr hoch schätzt und sie dann sehr schnell vergißt. Ein solches Schicksal trifft gewöhnlich aber nur solche Dichter, die sich durch gewisse Eigenschaften bei der großen Menge einzuschmeicheln verstehen. Solche Eigenschaften hat Zola nun ganz gewiß nicht gehabt; er ist ja auch nicht von der Menge anerkannt, sondern von einem Teil Höherstehender. Gewiß, er war nur eine Zeiterscheinung; aber immerhin doch eine Zeiterscheinung, die den tieferen Anforderungen der Zeit entsprach. Sein merkwürdiges literarisches Schicksal muß also einen tieferen Grund haben.
Das neu übersetzte Buch von Reymont, dem Verfasser des ausgezeichneten Romans «Polnische Bauern», läßt sehr an Zola und seine Leistung denken. Es ist wieder ein Roman, der fast nur Milieuschilderung ist; und weil der Dichter das neue Milieu – er schildert dieses Mal die Fabrikantenkreise von Lodz – offenbar in ähnlicher Weise hat studieren müssen, wie Zola seine Studien machte, so ist die Verwandtschaft mit Zola viel klarer als in dem früheren Buch. Wenn man das Problem, das dieses Buch der Kritik stellt, richtig faßt, dann versteht man manches sonst schwer Verständliche unserer modernen Dichtung.
Die Absicht jeder Kunst ist, in den Menschen gewisse Gefühle zu erwecken. Sie erreicht diese Absicht durch ihre Mittel. Diese sind in den Künsten verschieden; im Roman ist das Mittel das kunstmäßige Erzählen von Geschehnissen. Diese Geschehnisse können historisch wirklich oder ausgedacht und ganz phantastisch sein; immer aber müssen ihre einzelnen Bestandteile irgendwie aus der Wirklichkeit stammen. Mit dem Worte «Naturalismus» wurde eine besondere Wahrheit und Wahrhaftigkeit dieser Wirklichkeitsbestandteile behauptet; man wird aber gut tun, wenn man solche Behauptungen, die aus dem naiven Selbstbewußtsein des schaffenden Künstlers stammen, nicht zu ernst nimmt. Die Frage: «Was ist Wahrheit?» wird in der Kunst ebenso schwer zu beantworten sein wie überall, und das Betonen der Wahrheit ist im Grunde immer nur als polemisch gegenüber einem älteren Stil aufzufassen. Das Spezifische der Zolaschen Kunst war nicht der Naturalismus, sondern die soziologische und naturwissenschaftliche Auffassung der dargestellten Menschen und Ereignisse.
Der menschliche Wille ist für die diesseitige Betrachtung zweifellos unfrei. Wie es für die jenseitige Betrachtung steht, geht uns hier nichts an, jedenfalls aber fühlt der Mensch selber seinen Willen immer als frei. Wenn die Kunst Menschen darstellt, so kann sie sie immer nur so darstellen, wie sie in Wirklichkeit sind, nämlich so, daß sie sich frei fühlen und entsprechend denken und handeln. Auch Zola – der hier immer nur als der entschiedenste Vertreter einer bestimmten Richtung gefaßt wird – kann nicht anders. Aber indem er uns die Ursachen der geglaubt freien Handlungen aufzeigt, kann er ihre Unfreiheit nachweisen. Diese Ursachen fand der soziologische und naturwissenschaftlich gerichtete Geist der Zeit in Umgebung und Vererbung. Solche Elemente aber konnten nicht durch Erzählung von Handlung, sondern nur durch lyrische Schilderung dargestellt werden. Theoretisch muß jeder Charakter und jedes Wollen durch Milieu und Vererbung zu erklären sein; praktisch für den Dichter darstellbar sind jedoch offenbar am leichtesten Menschen und Geschehnisse, welche diesen Elementen unmittelbar unterliegen: das ist, mit einem Wort, alles, was mit des «Lebens Notdurft» zusammenhängt. In der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft und aus der Betrachtung der industriellen Produktion hatte sich die Theorie entwickelt; wie alles Wirkliche, so drängte auch diese bürgerliche Gesellschaft danach, künstlerisch dargestellt zu werden; es ist nur natürlich, daß auf diese Weise der arbeitende Mensch plötzlich Gegenstand der Dichtung wurde: er wurde es, weil die Zeit es wollte und weil die Zeit eine Weltbetrachtung schuf, bei welcher die Kunst kaum einen andern Gegenstand wählen konnte.
Diese Weltbetrachtung gab denn nun nicht genug künstlerisch her, und so war das Ergebnis, daß die Dichtung sehr bald neue Wege suchte; die Folge davon ist, daß sie heute ganz in der Luft hängt und mit den eigentlichen Mächten der Zeit gar keinen Zusammenhang mehr hat, denn die sind immer noch dieselben, aus denen jene Weltbetrachtung entsprang.
Reymont ist nun offenbar ein Dichter, der mit seinem Volk organisch verwachsen ist; er ist der einzige heute, der das ist. Man sieht aus seinen Arbeiten, daß er zu völliger Klarheit durchgedrungen ist, und das künstlerisch Begrenzte der Weltbetrachtung, das dichterisch Falsche, das sie erzeugt, kann ihm nicht unbekannt sein. Trotzdem erweist er sich heute als reinen Zolaisten: wer so wie er mit seinem Volk verwachsen ist, muß das sein. Er erreicht dadurch, was keinem andern heutigen Dichter beschieden ist: was er dichtet, das ist das, was das polnische Volk heute erlebt. Alle andern Dichter können nur das eigene Erleben darstellen, und im günstigen Fall dürfen sie hoffen, daß dieses Erleben in Zukunft einmal ein typisches Erleben ihres Volkes sein wird; aber sie werden nie wissen, ob das eintrifft und ob sie nicht am Ende ihres Schaffens, wenn sie die Bilanz ziehen, sich sagen müssen: wir haben ein für unser Volk gleichgültiges Ästhetendasein geführt.
Es liegt in der Natur der Sache, daß solche naturalistischen Romane einen vielleicht größeren Wert für die Einsicht in die Zustände des Volkes haben, in dem sie spielen, als sie rein dichterisch bedeuten. Das erste Werk Reymonts, «Polnische Bauern», hatte auch rein dichterisch, abgesehen vom Inhaltlichen, einen sehr hohen Wert. Der Dichter hat offenbar seine Jugend im polnischen Dorf verbracht, und er hat nicht nur aus der Beobachtung dargestellt, sondern aus dem Gefühl.
Es ist damit folgendes gemeint:
Wenn ich ein Ding, das mir bis dahin unbekannt war, darstellen will, so sehe ich es genau an, bis ich den Punkt finde, von dem aus ich es darstellen muß. Mein Werk wird dann richtig sein, und niemand kann mir etwas vorwerfen: aber es ist tot. Flaubert hat einmal an Maupassant geschrieben: Starre ein Stück Natur so lange an, bis du den Punkt findest, den noch niemand vor dir gesehen hat; er meint damit dasselbe, den Punkt, von dem aus die Darstellung gehen muß. Für den Naturalisten, dem ja von außen her, von der Gesellschaft, seine Gegenstände gegeben werden, ist diese Art von Arbeit die natürliche und einzig mögliche.
Wenn ich aber ein Ding ganz genau kenne, nicht durch Beobachtung oder Untersuchung, sondern weil ich mit ihm gelebt habe, weil vielleicht schon meine Ahnen mit ihm gelebt haben, wenn ich es im Gefühl besitze, dann kann ich es ganz anders darstellen. Ich bin gar nicht so genau, denn ich habe die Wirklichkeit nicht vor den Augen, aber ich habe das Ding lebendig und organisch in mir. Goethe konnte sich, wenn er die Augen schloß, eine Rosenknospe sinnlich vorstellen, die sich langsam öffnete: er hatte die Knospe im Gefühl. Der Naturalist könnte sich nur eine Knospe vorstellen oder eine erschlossene Blüte, denn er hat jedesmal beobachten müssen.
In den «Polnischen Bauern» ist dieses Leben; in dem neuen Roman ist es nicht; man muß hier mit den anderen Vorzügen zufrieden sein. Diese aber sind sehr groß. Reymont ist klüger als Zola und sieht tiefer; er hat auch eine viel größere Darstellungskraft.
Das polnische Volk hat furchtbare Schicksale durchgemacht; noch furchtbarere aber stehen ihm offenbar bevor. Das Bisherige kam nur von außen; aber durch seine Lage, wodurch es dem übermächtigen zivilisatorischen und kulturellen Einfluß der Deutschen ausgesetzt ist, und durch den großen nationalen Fremdkörper der Juden, den es in sich hat, bereiten sich jetzt innere Kämpfe vor, die viel schlimmer sein werden als die bisherige Zersplitterung und die Unterdrückung durch die russischen Machthaber. Dazu kommt eine soziale Umschichtung, die noch viel rascher vor sich geht, als sie bei uns in Deutschland geschieht, wo durch sie doch auch schon das ganze Volk erschüttert wird: der Adel geht zugrunde, es bildet sich ein nationales Bürgertum, das doch gar keine Tradition hat, und der Bauernstand zersetzt sich durch das Eindringen des Neuen. In dem Industriezentrum Lodz spielt sich ein Teil dieses Vorganges ab, der vielleicht grausigste Teil.
Wir werden uns ja noch sehr mit Polen beschäftigen müssen, und es wird gut sein, für die Polen wie für uns, wenn wir das Land und Volk besser kennenlernen. Die besten Führer durch ein fremdes Land sind die Dichter; und von einem Naturalisten kann man nicht nur mittelbar, sondern auch unmittelbar eine Menge praktisch zu Verwertendes lernen. Schon aus diesem Grunde ist das Buch auf das wärmste zu empfehlen.
Wir müßten ja verzweifeln, wenn wir unsere Zeit nicht als einen bloßen Übergang zu einer höheren Form der menschlichen Gesellschaft betrachteten, denn alles wird aufgelöst und nichts wird neugebildet von menschlichen Beziehungen, überall werden Menschen verbraucht und nirgends werden neue Einrichtungen geschaffen, durch die Menschen wieder entstehen können; und so ist denn der Gesamteindruck unserer Zeit der einer allgemeinen Zwecklosigkeit des menschlichen Daseins: ein jeder ist nur ein Teil einer ungeheuren Maschine, keiner ist frei. Zola fand sich noch nicht aus diesem Höllenstrudel heraus, daher ist immer eine tiefe Niedergeschlagenheit das Ergebnis seiner Dichtung. Reymont sieht offenbar irgendwo einen Ausweg; er scheint ihn in der sittlichen Selbstbefreiung des Einzelnen zu finden. Am Schluß erzählt er von seinem Helden: «Er hatte nun die ersehnten Millionen, berührte sie tagtäglich, lebte mit ihnen und sah sie überall um sich herum. Aber diese Arbeit, die seine Kräfte überstieg, erschöpfte ihn physisch, und die Millionen brachten ihm keine Befriedigung – im Gegenteil, immer müder fühlte er sich, immer gleichgültiger und immer trauriger, immer häufiger gähnte die Langeweile in seiner Seele, immer häufiger fühlte er die Einsamkeit ... ‹Der Mensch kann nicht für sich allein leben – er darf es nicht, bei Gefahr seines eigenen Unglücks.› Diese Wahrheit kannte er wohl, jetzt aber sah er sie erst klar und begriff sie in ihrem ganzen Wesen ... ‹Mein eigenes Glück habe ich verspielt! ... Man muß es für andere schaffen› flüsterte er leise und umfing mit einem kräftigen, männlichen Blick wie mit den Armen eines unverbrüchlichen Entschlusses die schlafende Stadt und die grenzenlosen Ebenen, die aus der dunkeln Nacht emporstiegen.»
Wir sehen ja hier die Grenze der naturalistischen Dichtung. Innerhalb des Bereiches, den der Dichter dargestellt hat, und in der Form, wie er darstellt, ist die sittliche Selbstbefreiung eine Donquichotterie. Ein Dichter, der sie darstellen will, kann nicht als Naturalist vorgehen, er muß eine ideale Welt schaffen, in der sie vernünftig ist. In seinem eigenen Buch zeigt der Dichter hier den Bruch unserer literarischen Tradition. Aber daß er das tut, das beweist wieder, wie tief verwachsen er mit seiner Aufgabe ist: er ist ein ganzer Mensch; er ist kein Ästhet und Literat, sondern er ist ein Dichter.