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(1905)
Bei der Betrachtung der antiken Tragödie müssen wir vor allem eines festhalten: sie ist etwas anderes, als was wir heute unter dem Namen verstehen. Für uns ist die Tragödie eine durch Schauspieler dargestellte Handlung, welche durch das Gegenspiel von Schicksal und Freiheit eines Menschen eine bestimmte und gewollte Reihenfolge von ästhetischen Gefühlen in uns erregt; wir denken gar nicht mehr daran, daß die Anfänge unseres Dramas Darstellungen aus der heiligen Geschichte waren, welche nicht durch das Reinmenschliche wirken wollten, sondern teils gewisse Erzählungen unserer Religion recht lebendig veranschaulichten, teils eine unmittelbare moralische Wirkung ausübten, beides durchaus im Sinne der Predigt, nur durch ein anderes Mittel. Die griechische Tragödie ist im wesentlichen noch als Mysterium empfunden; das Interesse des Zuschauers, welches der Dichter erwecken will, geht nicht zunächst auf Reinmenschliches in unserm Sinn, sondern auf eindringliche Darstellung einer aus andern Gründen interessierenden Handlung. Die hohe künstlerische Vernunft der Griechen bewirkte jedoch, daß das, was als Mysterium empfunden wurde, nicht Mysterium in unserem Sinne blieb: es fand seinen Ausdruck einerseits in reiner Menschlichkeit, nicht in Allegorie oder bloßem Wunderwesen, andererseits in einer vollständig auf das Bedürfnis des Zuschauers gebauten Handlung. Man denke an den Ödipus auf Kolonos. Der blinde Ödipus sucht ein Asyl auf Kolonos. Menschlich interessiert uns nur, ob der unglückliche Mann endlich Ruhe finden wird, oder ob er noch weiter im Elend wandern muß; ein solches Interesse ist viel zu schwach, um auf ihm heute ein Schauspiel aufzubauen; jedoch das Orakel hatte verkündet, das Land, welches des Ödipus Gebeine berge, wird unüberwindlich sein; das Drama ist von einem athenischen Dichter verfaßt, für Athener, welche alle den Hain der Eumeniden bei Kolonos mit ehrfürchtigem Schauder betreten haben und gewiß sind, daß des Ödipus Gebeine in diesem Hain, auf ihrem Gebiete ruhen. Dadurch gewinnt das Werk ein außerordentliches Interesse: die Scheu der Einwohner von Kolonos, die Versuche der Thebaner, ihn zurückzuholen, das Vorgehen des Theseus: alles das ist der allerlebendigsten Wirkung sicher. Und die Darstellung selbst ist klar, einfach und menschlich; nur menschliche Charaktere und Leidenschaften werden uns vorgeführt; und selbst wenn ein Gott erscheinen würde, so würde auch er immer nur ein griechischer Gott sein, nicht dem Wesen, sondern nur den Kräften nach vom Menschen verschieden. Und einmal das national-religiöse Interesse angenommen an Stelle des reinmenschlichen: die Handlung ist mit so feinem Verstand geführt, daß, außer diesem Grundinteresse, kein fernerer Anspruch von seiten des Stoffes an den Zuschauer gemacht wird; sie ist mit Hinsicht auf die allgemeine Zuschauerpsychologie geführt, nicht mit Hinsicht auf das zufällig historische Athenerinteresse.
Liegen die Dinge so, so braucht nur eins einzutreffen, um das als Mysterium für fromme Athener gemeinte Stück zu einem Drama zu machen, das zu allen Zeiten eine Wirkung ausübt, also ein lebendiges Kunstwerk bleibt durch alle Jahrtausende und mit seiner Wirkung nicht an zufällige historische Bedingungen gefesselt ist. Das wird sein, wenn das Grundinteresse, vielleicht gar in unserm Sinne ungewollt, allgemeinmenschlicher, nicht geschichtlich bestimmter Natur ist. Nehmen wir hierfür als Beispiel die Antigone. Hier ist das Zufällige, historisch Bedingte so weit von den handelnden Menschen zurückgeschoben, daß es von dem heutigen Zuschauer als Voraussetzung empfunden wird, die er ohne weiteres annimmt, und das Interesse wendet sich ganz dem sittlichen Kampf in der Brust der Antigone zu, der so stark ist, daß er zu allen Zeiten eine Tragödie ausmachen kann.
In derartigen Werken haben wir denn, bei der eigenartigen Kunstbegabung des griechischen Volkes, das Vorzüglichste erhalten, was es in der Tragödie gibt. Es handelt sich hier um zwei Dramen: den König Ödipus und die Antigone. Etwas Herrlicheres als diese beiden Tragödien ist nie gedichtet, und da sie den höchstmöglichen Grad der Vollkommenheit haben, so kann auch späterhin vielleicht einmal etwas in seiner verschiedenen Art gleichwertig Schönes, niemals etwas Höheres gedichtet werden.
Jener Unterschied der alten Tragödie von der neueren ist der hauptsächlichste, wiewohl er nicht auf den ersten Blick bemerkbar wird und oft nicht bedacht wurde; der zweite Unterschied, welcher viel auffälliger ist, scheint mir doch im Grunde weniger wichtig: bei den alten Tragikern erscheint der Chor als eine, zuweilen als die Hauptsache, bei den modernen finden wir den Chor nur dann, wenn sie die Alten nachahmen wollten, und immer als einen fremden Bestandteil.
Wir haben es hier mit einer ästhetischen Betrachtung zu tun und untersuchen, wie in den Formen, die irgendwie historisch entstanden sind, geschaffen ist Sehr verständig ist die Bemerkung Grillparzers: «Der Chor war da, ehe eine Tragödie war, und keinem der Dichter aus der alten Zeit stand es frei, sich seiner zu bedienen oder nicht. Er war ein feststehender, von seinem Willen unabhängiger Teil seines Vorwurfes» – sollte heißen: der Form. Nur bedingt richtig ist es, was Grillparzer weiter sagt: «Ein Teil, der schon vor der Tragödie bestand, zu dem diese nur zufällig hinzukam, und in dem an sich eine Bedeutendheit zu suchen offenbar Unsinn wäre.» ; daher brauchen wir uns mit der Frage, wie Verhältnis von Lyrik und Handlung respektive Erzählung in der Entwicklung der alten Tragödie war, nicht zu bemühen – wir würden doch wohl nur auf Hypothesen kommen. Jedenfalls scheint bei den Aufführungen das größte Gewicht auf den Chor gelegt zu sein, und auch heute noch, wenn wir etwa den Ödipus oder die Antigone auf einem modernen Theater sehen, wo alles – das Interesse des Zuschauers wie des Regisseurs, die Gewohnheit, die Bühne, die größere Annäherung der Schauspieler an die Natur, die größere Nähe des Zuschauers – dem Dialog mehr Bedeutung gibt gegenüber dem Chor, empfinden wir unter Umständen den Chor noch ebenso stark wie den Dialog; man kann vielleicht sagen, daß der alte Dichter den Dialog nur als Mittel für das Verständnis des Chors betrachtete.
Trotzdem darf man wohl diesen Unterschied der alten von der modernen Tragödie nicht überschätzen. Die Modernen haben die Lyrik nicht mehr selbständigen Trägern zugeteilt, sondern den handelnden Personen, und sie nicht über die Situation gestellt, sondern aus der Situation entstehen lassen. Auch bei den Griechen wäre es wohl zu diesem Ende gekommen (wie ja denn der Chor schon oft wirklich in die Handlung eingreift und dadurch seinen eigentlichen Charakter verliert), wenn nicht die Verhältnisse der Bühne, das Gottesdienstlich-Festliche der Aufführung und die große Entfernung vom Zuschauer, verbunden mit dem leichten Verhallen des Lautes im offenen Raum, da bewahrend gewirkt hätten.
Der Chor erzwang seinerseits die Einheit des Ortes und der Zeit. Des Ortes: das heißt die Abwicklung der Handlung an einem mehr oder weniger öffentlichen, oft nur schwach charakterisierten Platz, wodurch denn die Notwendigkeit häufiger Erzählung entsteht. Das verursacht unter Umständen eine gewisse Schwäche des Dramatischen und bei weniger gewissenhaften Dichtern eine ermüdende Gleichförmigkeit der Stücke; man kann an verschiedene Dramen des Euripides dabei denken. Aber bei einem sehr großen Künstler wird aus solchem Mangel gerade eine Schönheit, denn der Zwang bringt ihn auf neue Dinge. So ist der dramatische Verlauf des König Ödipus nur ein Herausholen einer Erzählung durch den König erst aus Kreon, dann aus Teiresias, dann wieder aus Kreon, dann aus Jokaste und endlich aus dem Boten und dem Hirten; und viel gewaltiger und erschütternder wirkt das, wie wenn wir in moderner Weise die wesentlichen Vorgänge einer tragischen Handlung in einzelnen Akten selbst mit ansehen. Dazu verhilft auch die Einheit der Zeit, wenn sie wenigstens so wunderbar gehandhabt ist wie in diesem Stück, indem nämlich das gewaltige Schicksal in die denkbar kürzeste Zeitspanne eingepreßt wird und dadurch eine viel größere Wucht erhält, als es sonst haben würde. Nichts im Formalen charakterisiert besser, wie tief Euripides unter den beiden andern Dramatikern steht, als der Umstand, daß er nie einen solchen Versuch gemacht hat, aus dieser Schwäche eine Stärke zu machen; er will nicht höher steigen, sondern nur sich seine Aufgabe so leicht wie möglich machen; deshalb benutzt er die einfache Erzählung so oft wie es gerade noch geht, ohne den Zuschauer abzuspannen. Und weil er weniger will, kann er sich leichter bewegen und so auf den Oberflächlichen den Eindruck größerer Fülle und größeren Reichtums machen: bei ihm wie bei andern ist in Wahrheit da größere Armut.
Andrerseits verursachte der Chor, indem er das lyrische Element der Tragödie, nämlich Reflexion (es ist eine törichte Meinung der Neuesten, daß die Reflexion aus der verstandesmäßigsten Dichtform verbannt sein müsse), Gefühl und das, was ich das Fluidum des Stückes nennen möchte, welches alle Personen umgibt und aus vielen Menschen und Schicksalen ein einheitliches Werk macht – indem er also das lyrische Element verselbständigte, daß die Handelnden nüchtern, nur sachgemäß und gewissermaßen als Abstrakta ihrer Persönlichkeit reden können, während wir Modernen immer den Trieb haben müssen, sie (individuell-zufällig, nicht typisch-notwendig) charakteristisch und also vielfältig zu machen, denn die Lyrik darf ja in ihrem Munde nicht unverständlich erscheinen, und je schöner, also je vielfältiger die Lyrik ist, desto differenzierter muß auch der Charakter des Redenden gestaltet sein. So vermochten die Griechen eher Größe in der Tragödie zu erreichen als wir, die wir statt zur Größe so sehr zur Mannigfaltigkeit kommen, daß das englische Theater sogar die Vermischung mit komischen Szenen als Kunstgesetz hat. Alfieri, welcher fast gänzlich auf Lyrik verzichtete, hat deshalb auch von den Neueren wohl am meisten Größe. Das meint vielleicht Grillparzer, welcher dem Chor wenig günstig ist, wenn er sagt: «Ein wahrer Vorteil des Chors ist aber vielleicht die strenge Scheidung des dramatischen und lyrischen Elements der tragischen Poesie, welche leider bei den Neueren vermischt sind, bei den Alten aber eben durch den Chor sich gesondert zeigen.»
Dieser Punkt verdient besonders hervorgehoben zu werden, weil wir uns leicht hier überlegen glauben; allein, wenn wir, auch unzweifelhaft hier reicher sind als die Griechen, so sind wir es doch nur in der Art, wie etwa der Naturalist reicher ist als der stilbewußte Künstler: auf Kosten des Kunstzieles. Dieses ist die tragische Wirkung, die leicht durch Größe, sehr schwer durch Mannigfaltigkeit erreicht wird. Ich will aus einem Briefe Schillers an Goethe ein Zitat über die Frage bringen, das zwar lang ist, aber durch die Wichtigkeit des Problems für uns entschuldigt sein möge:
«Ich finde, je mehr ich über mein eigenes Geschäft und über die Behandlungsart der Tragödie bei den Griechen nachdenke, daß der ganze Cardo rei in der Kunst liegt, eine poetische Fabel zu erfinden. Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich mit Zufälligkeiten und Nebendingen herum, und über dem Bestreben, der Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dem Leeren und Unbedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu verlieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen Fall vollkommen nachahmen ... Es ist mir aufgefallen, daß die Charaktere des griechischen Trauerspiels mehr oder weniger idealische Masken und keine eigentlichen Individuen sind, wie ich sie in Shakespeare und auch in Ihren Stücken finde. So ist z. B. Ulysses im Ajax und im Philoktet offenbar nur das Ideal der listigen, über ihre Mittel nie verlegenen, engherzigen Klugheit; so ist Kreon im Ödipus und in der Antigone bloß die kalte Königswürde. Man kommt mit solchen Charakteren in der Tragödie offenbar viel besser aus, sie exponieren sich geschwinder, und ihre Züge sind permanenter und fester. Die Wahrheit leidet dadurch nicht, weil sie bloß logischen Wesen ebenso entgegengesetzt sind, als bloßen Individuen.»
Die Vorgeschichte des König Ödipus ist folgende: König Laios von Theben und seine Gemahlin Jokaste hatten vom delphischen Apollon die Prophezeiung erhalten, ihr Sohn werde den Vater ermorden, damit ein alter Fluch des Pelops erfüllt werde. Um der Erfüllung des Orakels zu entgehen, durchstachen sie dem neugeborenen Kind die Fußsehnen und übergaben es einem Diener, um es im Gebirge auszusetzen. Der Diener wurde jedoch von Mitleiden gerührt und überlieferte das Kind einem Hirten des korinthischen Königs Polybos; der übergab es seinem Herrn, und dieser, welcher keine Kinder hatte, zog es als sein eigenes auf und nannte den Knaben Ödipus. Wie Ödipus herangewachsen ist, macht ihm jemand seine Geburt zum Vorwurf; er geht nach Delphi, um das Orakel zu befragen, erhält aber nur zur Antwort, er solle nicht in sein Vaterland gehen, denn er werde seinen Vater ermorden und seine Mutter ehelichen. Indem er diese Auskunft auf seine Pflegeeltern bezieht, meidet er Korinth und zieht nach Theben. Auf dem Wege gerät er mit dem Wagenlenker seines Vaters in Streit und tötet diesen und den ihm unbekannten Vater. In Theben selbst war eine Sphinx erschienen, welche jeden Vorübergehenden aufforderte, ein Rätsel zu lösen und dann alle, nachdem sie die Lösung verfehlt hatten, vom Felsen herabstürzte. Die Thebaner versprachen dem, welcher sie von diesem Unheil befreien werde, er solle Jokaste heiraten und König werden. Ödipus löste das Rätsel, die Sphinx stürzte sich selbst vom Felsen, und er ward König und Gatte seiner Mutter; aus der Ehe entsprangen die beiden Söhne Polyneikes und Eteokles und die Töchter Antigone und Ismene. Wie diese herangewachsen sind, senden die Götter eine Pest über das Land als Strafe der unnatürlichen Verbindung und verkünden, daß die nicht eher aufhören werde, bis der noch allen Unbekannte, welcher den Fluch über das Land gebracht, entfernt sei. Auf dem Könige liegt nach seinem Amt die Verpflichtung, diesen ausfindig zu machen. Hier beginnt die Tragödie, die langsame Enthüllung der erzählten Vorgeschichte ist ihr Inhalt, und der Abschluß ist, wie Jokaste sich tötet und Ödipus sich blendet und aus dem Lande zieht.
Auf den ersten Blick finden wir, weit unverhüllter als in andern Tragödien, die Wildheit und Außersittlichkeit des Mythos. Der Fluch eines Ahnen wirkt auf gänzlich unbeteiligte Nachkommen. Die Götter sind Wesen mit übermenschlicher Macht, welche die Menschen lediglich als Mittel ihrer uns unverständlichen Zwecke benützen. Der Mensch ist wehrlos mit seinem Geschick diesen unbekannten Dämonen ausgeliefert. Im Zeitalter des Sophokles tauchen Versuche auf, das Schicksal des Menschen in eine Beziehung zu seiner Sittlichkeit zu setzen; Aristoteles, dessen Bemerkungen über das Drama auch sonst starke Bedenken erwecken, lebt schon ganz in dieser Vorstellung, hält sie für notwendig für die Tragödie und konstruiert sich, weil der Dichter den tragischen Helden doch nicht unsympathisch gestalten darf, seine tragische Schuld, die immer nur eine kleine und im Verhältnis zur Strafe unbedeutende sein müsse. Diese merkwürdige Kompromißtheorie, die in der Praxis der alten Dramatiker, selbst der des Euripides, keine Bestätigung findet, hat sehr vielen Schaden angerichtet. Merkwürdigerweise nennt Aristoteles gerade den Ödipus als Beispiel für die tragische Schuld. Was er da gemeint hat, ist nicht mehr zu finden; jedenfalls ist das gewiß, daß der Mythos in einer Zeit gebildet wurde, wo es das, was wir heute Sittlichkeit nennen, noch nicht gab; und ich wenigstens finde in dem Werk des Sophokles nichts, was darauf hindeutete, daß der Dichter ein Schuldmotiv hineingebracht hätte. Auf jeden Fall ist das sicher: die tragische Wirkung entsteht ohne eine Schuld des Ödipus, und so hatte ein Mann wie Sophokles, der kein überflüssiges Motiv in eine Sache hineinbringt, das ja denn nur schadet, keinen Grund, hier den Mythos zu verändern.
Betrachten wir die Erzählung nochmals: wir werden finden, sie ist schauerlich, unheimlich, entsetzlich; aber auf keine Weise unterscheidet sie sich von so vielen anderen urtümlichen Mythen der Griechen oder anderer Völker. Solcher Mythen gibt es Hunderte. Aber ein Werk wie den König Ödipus gibt es sonst nicht mehr, und wenn man da überhaupt abwägen kann: eine so tragische Wirkung wie dieses Drama ausübt, übt kein andres Drama aus. Hier muß also alles Verdienst der Form sein, da es in anderem nicht liegt. Ein Fräulein Prellwitz Spätere Anmerkung (1911): Fräulein Prellwitz ist inzwischen vergessen, vermutlich beschäftigt sie sich jetzt mit Frauenfrage oder Wohltätigkeit. Aber das Prinzip Prellwitz hat ein ewiges Leben bei uns, und deshalb ist der Absatz über ihr Werk nicht veraltet. hat mit großem Feinsinn die einzigartige Wirkung des Ödipus erkannt; aber indem sie dem in Deutschland gewöhnlichen Urteile folgte, daß solche Dinge aus irgendeiner Theorie kommen, einer Weisheit, Weltanschauung, oder wie man das sonst nennen will, die in dem Stoffe stecke, so glaubte sie, sie könne so etwas wie Sophokles auch machen, und bescherte deshalb unserer Literatur einen neuen Ödipus, den sie dann des leichteren Verständnisses halber mit einem tiefsinnigen Untertitel versah. Derartige Dinge ereignen sich ja alle Tage bei uns; aber daß dieses naive Unterfangen eine solche Unterstützung dessen, was man bei uns «die geistigen Kreise» nennt, gewinnen konnte, daß es durch deren Hilfe aufgeführt wurde, das beweist doch einen Tiefstand der Bildung – nicht unserer Gebildeten, sondern unserer sogenannten geistigen Führer, der beschämend ist. Was Dichtung ist, gehört bei uns zu den unbekanntesten Dingen. Die Dichtung ist eine Kunst, welche in uns durch ihre spezifischen Mittel gewisse Empfindungen erweckt; wer diese «spezifischen Mittel» derart zu handhaben versteht, daß die «gewissen Empfindungen» sich einstellen, der ist ein Künstler. Im Fall der Tragödie ist von diesen Mitteln das wichtigste die Handlungsführung, und die Empfindung, welche sich einstellen soll, ist die tragische. Im Ödipus sind die Mittel meisterhaft gebraucht, deshalb stellt sich die tragische Empfindung so vortrefflich ein. Fräulein Prellwitz und ihre Gönner hielten die tragische Empfindung aber für eine Einsicht oder eine Weisheit und würden wahrscheinlich mit ähnlichem Scharfsinn in der Neunten Sinfonie einen philosophischen Gehalt finden, den man vorteilhaft von neuem durch eine Klavierlehrerin einkleiden lassen könne.
Vielleicht können wir uns die Umstände am klarsten machen durch einen Vergleich mit einem ähnlich komponierten Werk von ganz anderer Absicht: Kleists Zerbrochenem Krug. Dieses technisch höchst merkwürdige Lustspiel hat eine Komposition genau wie eine Tragödie und erzielt dadurch seine merkwürdige Wirkung, die ganz verschieden ist von der Wirkung anderer Lustspiele. Auch beim Zerbrochenen Krug ist das Drama nur die allmähliche Enthüllung eines in der Vergangenheit liegenden Vorgangs, und wie auf dem Ödipus die tragischen, so sammeln sich, die komischen Empfindungen allmählich auf dem Dorfrichter bis zum Schluß mit der Endkatastrophe. In beiden Fällen sehen wir die Notwendigkeit der Enthüllung voraus. Aber der Richter will sie durch sein Betragen verhüten. Ödipus ruft sie hervor; der Richter weiß, und Ödipus ist unwissend; bei dem Richter handelt es sich um die verdiente Strafe, bei Ödipus um ein unverschuldetes Schicksal; der Richter ist eine mesquine Person, und sein Vergehen ist trivial, Ödipus ist ein König, und seine Tat ist furchtbar. In diesen vier Dingen liegt der Unterschied der beiden Stücke; der Stücke, wie sie zufällig vorliegen; denn wir können die drei ersten Unterschiede wegdenken, nur der vierte ist wichtig.
Stellen wir uns vor: Ödipus war ein gewissenloser Abenteurer und beging als solcher bewußt eine entsprechende Tat, die ihn auf den Thron brachte; er ist also schuldig, wissend und wird im Drama sich mühen, die Enthüllung zu verhüten. Ist er im Stück als ein bedeutender und wichtiger Mensch dargestellt und ist seine Tat nicht trivial, so kann er tragisch wirken, wie Macbeth oder Richard III. Die für die Tragödie erforderte Bedeutsamkeit und Wichtigkeit liegt aber nicht in der Intelligenz oder in der Stellung, sondern im Willen; mit andern Worten: die tragische Empfindung entsteht aus dem Kampf zwischen Willen und Notwendigkeit. Und die Größe des Ödipus liegt erstens darin, daß der große Dichter es vermocht hat, in Ödipus die Gestalt eines Menschen von hohem und königlichem Willen zu schaffen; zweitens die Notwendigkeit in ihrer vollkommensten Gestalt zu zeigen, denn das Unabwendbarste in aller Welt ist eben das Geschehene; und drittens, indem er den Kampf zwischen beiden so gestaltete, daß gerade der Wille zum Hebel der Notwendigkeit wird. Unser angenommener Macbeth oder Richard könnte als bloße Figur vielleicht sogar größer gedacht werden als Ödipus; indem ein Mensch, der nun ein voller König ist und früher ein gewissenloser Abenteurer war, muß doch etwas ganz Gewaltiges sein; sein Schicksal aber vermöchte nie so tragisch zu wirken wie das des Ödipus, indem er nie in so ganz zwingender und vollständiger Weise seinen Willen zum Hebel der feindlichen Notwendigkeit machen könnte: man braucht nur die möglichen Kombinationen mit der Phantasie durchzugehen.
Auf die tragische Empfindung kommen wir also immer als letztes zurück; und mancher wird die Frage stellen: was ist die tragische Empfindung?
Vielleicht kann man eine Untersuchung über sie anstellen; aber stellen wir eine Untersuchung über die Empfindungen an, welche bestimmte Musikstücke in uns erwecken? Der Unterschied ist, daß das Mittel der Dichtung das Wort, der Musik der Ton ist, und der Ton wirkt unmittelbar auf Phantasie und Empfindung, das Wort mittelbar durch den Verstand. Dieser Umstand macht die Wirkung aber nicht verständlicher, und wir wissen dadurch immer noch nicht, warum eine bestimmte Kombination von Vorstellungen tragische Empfindungen erzeugt. Und erinnern wir uns nur, wie manche Formen schon des bloßen Dramas allein besondere, untereinander verschiedene Empfindungen hervorrufen, ohne daß man auch nur daran denkt, sie zu unterscheiden, geschweige zu untersuchen; welche Ähnlichkeit ist wohl zwischen dem Zustand, in welchem ich aus Gozzis «blauem Ungeheuer» und aus Lessings «Minna» komme? Nur gerade über die tragische Empfindung – oder in der Umsetzung: «über das Tragische» – wird soviel theoretisiert: vielleicht nur, weil wir immer noch im Bann des Aristoteles stehen; aber der hat etwas ganz anderes gemeint als wir: nämlich die schon auf der Grenze nach dem Technischen liegenden Mittel, durch die man das Interesse des Zuschauers für das Dramatische warm erhält.
Antigone liegt nicht so klar vor uns wie der König Ödipus. Das Drama ist komponiert auf Kreon als Hauptperson und wurde von den Athenern auch so verstanden; wir heute aber empfinden Antigone als die Heldin, obwohl sie weniger dramatische Bewegung hat wie Kreon. Der Grund ist: In Antigone nehmen wir einen sittlichen Konflikt an – der nicht dargestellt ist, da er den athenischen Zuschauer nicht bewegte – in Kreon empfinden wir nicht mehr mit genügender Stärke das, was die Athener empfanden, denen selbst die Besonnenheit so sehr fehlte: wie der Mangel des besonnenen Sinnes einen Menschen in den Abgrund stürzt; Kreon kann uns heute nur als Nebenperson interessieren, nicht mehr als Held.
Vorgeschichte und Inhalt ist kurz folgendes: Eteokles und Polyneikes hatten um die Herrschaft über Theben gestritten, und zwar Eteokles als Besitzer, Polyneikes als Prätendent mit fremder Hilfe. In der Schlacht fallen beide, und Kreon wird König. Dieser ordnet für Eteokles, der das Vaterland verteidigt, ein feierliches Begräbnis an, Polyneikes will er unbestattet lassen als einen Feind des Vaterlandes. Der Unbestattete gelangt nach dem Glauben der Zeit nicht zur Ruhe in der Unterwelt, sondern muß ewig unglückselig umherirren, freilich ist sein Verbrechen nach derselben Anschauung ungeheuer gewesen, und die Strafe ist die allgemein übliche. Die nächsten Anverwandten sind die beiden Schwestern Antigone und Ismene; diese haben die sittliche Pflicht, auf jeden Fall für die Bestattung zu sorgen; hier liegt kein bloßes Gefühl vor, wie in dem Nichtbestatten nicht bloßer Gefühlsausdruck, sondern eine wirkliche Pflicht; man denke an den Prozeß der zehn Feldherren.
Antigone empfindet die Pflicht als zwingend und handelt gegen das Gebot des Kreon. Dieser hatte gesagt, er werde den Übertreter töten lassen.
An dieser Stelle finden wir einen Bruch zwischen der alten Zeit und der neuen; Ansicht der alten Zeit muß gewesen sein, daß der König die Notwendigkeit habe, in seiner Weise zu handeln, und nicht anders dürfe; Sophokles aber findet schon, daß er unter Umständen doch anders handeln könne: es fehlt ihm also die Notwendigkeit der objektiven Pflicht und bleibt nur die Halsstarrigkeit, der Mangel an besonnenem Sinn und die Vermessenheit. Das drückt klar der letzte Satz des Chores aus:
Am ersprießlichsten ist, um glücklich zu sein,
Der besonnene Sinn: nie frevle darum
An des Gottes Gesetz! Der Vermessene büßt
Das vermessene Wort mit schwerem Gericht;
Dann lernt er zuletzt
Noch weise zu werden im Alter.
Mit andern Worten: hier ist der Weg, auf welchem Aristoteles zu seiner Schuldtheorie kam, durch die Umsetzung des Notwendigen in das Gewollte.
Antigone wird bei der Ausübung ihrer frommen Pflicht gefangen; Kreon verurteilt sie, daß sie lebendig begraben werden solle; aus Kummer darüber tötet sich Hämon, sein einziger Sohn, der ihr Bräutigam ist, und aus Schmerz über diesen seine Gattin, so daß er am Schluß des Dramas allein dasteht.
Hätte Sophokles noch die alte Anschauung gehabt, so war Kreon ein tragischer Held in unserm Sinn, und zwar ein Held von einer höhern Würde als Ödipus, denn er konnte für seine Pflicht in Erwartung des Unheils handeln, das ihm drohte. Wir Heutigen hängen unser Interesse an die Antigone. Es wird immer eine höchst merkwürdige Erscheinung bleiben, daß das Stück trotzdem auf uns heute so sehr wirkt, denn in unserm Sinn wäre es ja unrichtig aufgebaut. Machen wir uns nur den Gang der Handlung klar: 1. Antigone mit Ismene, welche sich dem bürgerlichen Gesetz fügen will, als Gegenspielerin entwickelt ihre Absicht, den Bruder zu beerdigen; Ursache, daß diese Szene an die Spitze gestellt wurde, war, die folgende mit Kreon dramatisch zu heben, daß sie nicht als Exposition erscheint, sondern bereits den Konflikt darstellt: der Held soll eben Kreon sein, Antigone ist als Nebenfigur benutzt, seine Handlung interessant zu machen; spräche in der ersten Szene Kreon das Verbot aus und folgte dann die Szene Antigone-Ismene, so würde umgekehrt Antigone durch Kreon gehoben. 2. Kreon: Verbot. Ein Wächter erzählt, daß der Leichnam bestattet sei; Kreon bedroht den Wächter heftig. 3. Der Wächter bringt die ergriffene Antigone: Kreon und Antigone stellen ihre Standpunkte dar. 4. Erste Hemmungen gegen den unbesonnenen Sinn des Kreon: Ismene erklärt sich edelmütig für mitschuldig. 5. Zweite Hemmung: der Sohn Hämon spricht für Antigone, stürzt verzweifelt ab. 6. Kreon läßt Antigone trotz der zwei Hemmungen lebendig begraben. 7. Der Seher Teiresias warnt Kreon, dritte Hemmung. Dieser ist endlich erschüttert, in genialer Weise wird hier die Retardierung früher und stärker eingelegt wie sonst; in diesem Drama konnte sie später nie so stark wirken wie an dieser Stelle; man sieht, wie die alten Dichter es verstanden, die Gesetze nicht zu hohlen Regeln werden zu lassen und immer jedesmal aus der Empfindung zu dichten. 8. Kreon beschließt, Antigone zu befreien, 9. Ein Bote erzählt, daß er zu spät kam; Antigone war tot und Hämon tötete sich selber. 10. Die Königin tötet sich. 11. Kreon erfährt auch den Tod der Gattin und bricht zusammen.
In der Art von Betrachtung, welche hier angewendet ist, wird immer auf das Konstruktive gesehen als das Hauptsächliche. Die modernen Menschen interessieren sich gewöhnlich mehr für die Gestaltung, und indem diese im Drama vornehmlich auf die Charaktere geht, betrachten sie vornehmlich diese (indem sie freilich nicht selten dem Charakterisierungsvermögen des Dichters zuschreiben, was Folge der Stellung einer Figur im Aufbau ist oder durch Sympathiegefühle für dieselbe in uns entsteht). So ist die Gestalt der Antigone von jeher in uns als ein rührendes Bild eingeprägt gewesen; recht merkwürdig ist, daß schon das spätere Altertum so empfand; in einem Epigramm der Anthologie hat Dionysos auf dem Grabe des Sophokles ein beschorenes Haupt in der Hand und antwortet auf die Frage:
Nenn es, wie's dir gefällt, Antigone oder Elektra.
In Wahrheit ist diese Figur denn auch in der wundervollsten Weise gestaltet, und vielleicht trägt das mit dazu bei, die Möglichkeit des geschilderten merkwürdigen Wechsels in der Auffassung des Stückes zu erklären.
Die fünf Dramen, welche noch erhalten sind, außer König Ödipus und Antigone, stehen unserem Verständnis sehr fern; der Leser – denn an eine Aufführung dieser Werke ist heute nicht mehr zu denken – muß sich wohl mit großer Liebe in eine ganz andere Welt hineindenken, um sie zu verstehen; und auch dann, wenn er sich alle historischen und kulturellen Verbindungen klar gemacht hat, versteht er doch immer nur verstandesgemäß, was sie für Athener sein konnten; um sie mit dem Gemüt zu erfassen, um sie wirklich zu empfinden, dazu gehört außerdem noch eine besondere Anstrengung und vielleicht auch Begabung. Wer aber den schwierigen Weg zu diesen Dramen gefunden hat, der wird reichlich belohnt werden durch einen Genuß, den er bei keinem neueren Werk haben kann; die Empfindungen sind ganz verschieden von denen, welche wir von unserer Dichtung her kennen. Es ist da eine Art Rhythmus, der durch das ganze Stück geht und teils instinktiv, teils durch den prüfenden Verstand aufgenommen wird; ein Sichverschlingen und Sichlösen; etwas rein Formales; vielleicht wird, was ich meine, am klarsten, wenn ich an die Sinfonie erinnere.
Als Beispiel wollen wir die Trachinierinnen betrachten. Herakles ist lange von Hause fortgewesen, seine Gattin Dejanira erwartet ihn sehnsüchtig. Sie hat seit langen Jahren ein angebliches Liebesmittel aufbewahrt, das Nessusgewand, welches, ohne daß sie es weiß, dem den Tod bringt, der es anzieht. Orakel haben verkündet, wenn Herakles jetzt, in diesen Tagen, nach Hause kehre, so werde das Ende aller seiner Leiden da sein. Der Zuschauer kennt die ganze Geschichte vorher genau und weiß, daß er eine Geliebte, Jole, mitbringen wird; daß Dejanira, im Versuch, seine Liebe zu erhalten, ihm das Nessusgewand schicken und ihn so töten wird.
Wir wollen uns das Stück in vier Teile teilen: Von Vers 1–325; 325–650; 650–955; 955–1255; und bei deren Untersuchung wollen wir immer an die Wirkung auf den Zuschauer denken.
Erster Teil: Vers 1–60, Dejanira erzählt die Situation, klagt über die lange Entfernung des Herakles. Vers 60–90, ihr Sohn Hyllos erzählt, daß Herakles die Burg des Eurytus belagere; sie berichtet einen Orakelspruch, daß er da entweder fallen werde, oder, wenn er siege, endlich Ruhe finde. Hyllos will gehen, ihn aufzusuchen. Vers 90–130 Chor: Ausdruck der Sehnsucht, des Bangens und der Hoffnung. Vergessen wir nicht, daß der Zuschauer den Sinn des doppeldeutigen Orakels kennt und weiß, daß die sehnsüchtige Gattin ihn wider Willen ermorden wird: in die Liebe, Besorgnis und Sehnsucht hinein empfindet er die Schauer der unentrinnbaren Notwendigkeit. (Ungeheurer Vorteil des alten Tragikers mit seinen mythischen Stoffen, die jedermann bekannt waren und als heilig wirkten; daraufhin konnte der antike Dichter sehr viel wagen.) Vers 135 bis 170: Angriff auf unser Gemüt, unmittelbar nach dem lyrischen Ausdruck von Sehnsucht und Hoffnung; Dejanira erzählt, wie Herakles für den Fall seines Todes vorausgesorgt hat und gibt nochmals ausführlichen Bericht von dem Orakel. Vers 170–195: Ein Bote kommt, erzählt in vorläufiger Kürze, daß Herakles zurückgekehrt ist. Vers 195–220 Chor: Ausdruck des Jubels. Vers 220–325: Lichas, der Herold des Herakles tritt auf, erzählt umständlich die Rückkehr und bringt die Jole, die Geliebte, mit; über diese und was mit ihr zusammenhängt, berichtet er aus Furcht der Dejanira Unwahres, das der Zuschauer als solches sofort erkennt.
Bei diesen drei letzten Abschnitten (Vers 170–325): Mit welcher Kunst sind die Wirkungen berechnet: zunächst soll reine Freude herrschen, als Gegensatz zu der Erinnerung an den Tod; dann erst kommt die Beunruhigung durch die rätselhafte Sklavin; daher die Trennung der Nachricht. Dejanira empfängt die Jole in edler Gesinnung, der Zuschauer aber weiß, daß sie ihre Nebenbuhlerin ist und die unschuldige Veranlassung allen kommenden Unglücks. Im Bühnenbild muß sie als solche auf den Instinkt gewirkt haben, als trauernde stumme Sklavin, und der Kontrast gegen die glückliche und gute Dejanira muß herrlich gewesen sein.
Für ein modernes Drama wäre hier das Ende des Expositionsaktes, Es folgt nun der zweite Teil.
Vers 330–380, der Bote klärt Dejanira über die Lüge des Lichas auf, Vers 385–490, Lichas gesteht ein und erzählt den wahren Hergang; Dejanira geht ab, ihr Nessushemd hervorzuholen. Nun folgt Vers 490–520 im Chorgesang etwas ganz Wundervolles: die Erzählung, wie Herakles, als er um die Dejanira freite, mit dem Acheloos kämpfte: heroisch im Ausdruck und zugleich die Erinnerung der betrogenen Gattin an die Brautzeit bezeichnend. Das ist über alle Maßen schön, wie das Gefühl hier in die Höhe geht, statt zu sinken. 520–585, Klage der Dejanira, würdig und edel, Erzählung der Nessusgeschichte: das Unheil zieht herauf. 585–620, sie gibt dem Lichas das Hemd, man beachte: mit einer umständlichen Beschreibung des Gebrauchs; es wird auf die Empfindungen des dritten Teils vorbereitet, wie in 220–335 auf die des zweiten Teils; der Zuschauer denkt sich ja bei der Beschreibung, wie Herakles es anziehen und wie es dann wirken wird. Dann, im Kontrast Vers 620–650 Chorgesang des vollsten Jubels über die Heimkehr.
Für ein modernes Drama wäre dieser zweite Teil Akt zwei und drei gewesen; man beachte, daß er ebenso lang ist, wie der erste Teil. Es folgt der dritte Teil, der den vierten und fünften Akt in unserm Sinn enthält.
Vers 650–720 wird der Ton wieder angeschlagen, den wir dicht vor dem jubelnden Chorgesang hörten. Dejanira bekommt Bedenken wegen des Nessushemdes durch eine Beobachtung, die sie gemacht und eine daran sich schließende Erwägung. Auf diese Vorbereitung folgt 720–800 die Erzählung des rückkehrenden Hyllos, der in furchtbarer Weise schildert, wie sein Vater von tödlichen Schmerzen gepeinigt wird, nachdem er das Hemd angezogen; er zeigt sich hart gegen die Mutter, von welcher er böse Absicht annimmt. 810–845 Chor, Klage über das Unglück und Entschuldigung der Dejanira. 845 bis 930 Erzählung, wie Dejanira sich aus Leid selbst tötet. 930–955 Chor, Klage.
Die moderne Tragödie hätte hier ein Ende: sie hätte durch die Darstellung, wie ein rätselhaft-düsteres Schicksal Für unser heutiges Empfinden wäre die Wirkung vom Orakelspruch untrennbar; erst der, mit seiner gewollten Zweideutigkeit, welche zeigt, wie der Mensch ein Spielball der Dämonen ist, erhebt den Vorgang aus dem Gebiet des Zufälligen (aus welchem die deutsche Schicksalstragödie nicht kam; das ist ihr Fehler, nicht die Betonung des Schicksals; hätte sie es nur betont!) ins Tragische; am Rande: anders verhielt es sich bei dem Orakel im König Ödipus, das ich gegen Schillers Ansicht für die Wirkung auf uns für nebensächlich halte. Der Unterschied ist: Im Ödipus haben wir Enthüllung von Vergangenem, hier Vorgang von Gleichzeitigem. Das Geschehene wirkt auf unser Gemüt nicht mehr als zufällig, wie es das Geschehende leicht tut. einen guten Willen benutzt, um ein furchtbares Unheil zu erzeugen, die Gemüter erschüttert. Durch ein eigenes Zusammentreffen haben Ödipus und Antigone da ein Ende, wo auch wir das Ende setzen würden. Bei den Trachinierinnen folgt aber noch ein vierter Teil nach jenen drei ersten.
Je mehr ich mir die Theorien des Aristoteles über die Tragödie überlege, desto zweifelhafter wird es mir, daß er wirklich den Sinn der alten Tragödie verstanden hat. Man lebte sehr schnell damals, schneller wie jemals sonst in der Welt, und Jahrzehnte mochten dem Verständnis in jenen Zeiten zurückliegen wie heute Jahrhunderte. Es bestärkt mich in dieser Ansicht, daß Grillparzer eine ähnliche Meinung von Aristoteles gehabt zu haben scheint; Lessing sogar bereut einmal, daß er den Aristoteles eher gelesen habe wie die alten Tragiker selber. (Für unsere heutige Tragödie ist Aristoteles ganz gewiß ein sehr bedenklicher Führer.)
Der vierte Teil war für unsere Begriffe an sich nicht notwendig; Hyllos konnte in Vers 720–810 ganz gut alles das mit erzählen, was in ihm dargestellt wird; das Stück wäre dann in unserem Sinn eine Tragödie mit Dejanira als Heldin, und im antiken Sinn enthielte es die ganze Sage, welche in lebhafter Weise dargestellt werden sollte. Daß noch die Verse 955–1255, also 300 Verse, rund ein Viertel des Ganzen, folgen, muß seine Gründe in einem Bedürfnis des antiken Zuschauers gehabt haben. Der Inhalt ist: Herakles selbst tritt auf, jammert, will sich an Dejanira rächen; Hyllos erzählt dem Vater den Zusammenhang; Herakles verlangt, daß Hyllos ihn verbrennen soll; er kommt nochmals auf die Göttersprüche zurück; die in unserm Sinn dramatische Bewegung dieser Verse entsteht lediglich durch den Widerstand des Hyllos, zunächst in bezug auf die Mutter, dann gegen das Verlangen, dem Vater den Scheiterhaufen zu richten, dann gegen seinen Befehl, die Jole zu heiraten.
Ich gestehe offen, daß mir das ästhetische Verständnis dieses letzten Teiles nicht aufgegangen ist, und es ist wohl fraglich, ob wir uns je so sehr in die Seele der Zeitgenossen des Dichters hineindenken können, daß wir verstehen, weshalb er sein mußte. Oder ob vielleicht hier bereits eine Auflösungserscheinung des alten Dramas vorliegt, wie wir sie bei Euripides überall sehen, daß noch eine rein theatralische Wirkung durch den Sterbenden angehängt werden sollte? Oder liegt hier, wie gleichfalls oft bei Euripides, und ebenfalls in Auflösung der Form, eine Zeitbeziehung, vielleicht politischer Haß gegen Sparta, zugrunde?
Immerhin möchte ich glauben, daß die Deutung der drei ersten Teile richtig ist. Man denke nun an eine moderne Tragödie, etwa den Wallenstein, um sich zu überzeugen, daß Mittel und Absicht des Alten (die bloße Kunstabsicht, welche die Art, durch welche er das an sich, stofflich, nichtige Mysterium künstlerisch machte) ganz andere sind wie des Neuen. Dieses Drama hält in seiner Wirkung und Absicht etwa die Mitte zwischen dem modernen Drama und einer musikalischen Komposition; die Mittel sind nur äußerlich die gleichen wie bei uns; so erklären sich auch die häufigen Stellen, wo der Dialog ganz leer ist, die schon vielen aufgefallen sind; da bleibt alles stehen, es wird noch nicht einmal etwas erklärt, noch nicht einmal lyrisch beleuchtet, sondern nur bis zum Überdruß eine ganz einfache Sache hin und her gewendet; sie müssen notwendig gewesen sein für das Gemüt der Zuschauer.
Wir dürfen nicht vergessen, daß die heutigen Menschen sehr viel unbegabter sind wie die damaligen Griechen, und zudem in der Poesie nicht eine Spur von Bildung besitzen. Wie, um ein rohes, aber einleuchtendes Beispiel zu wählen, in der Blütezeit des spanischen Theaters die Zuschauer angeblich eine künstliche Verschlingung von Assonanzen bis durch vierzig Verse so verfolgen konnten, daß sie eine falsche Assonanz auspochten, so mag man sich auch vorstellen, daß die damaligen Griechen den ganzen künstlichen Aufbau von Empfindungen, wie ich ihn eben im allergröbsten Umriß zeichnete, vom Anfang des Stückes an immer im Bewußtsein hatten. Da müssen denn diese uns heute so unverständlichen leeren Stellen ihre Bedeutung gehabt haben. Der heutige Dramatiker, der ja doch sein Publikum empfängt, wie es von den Lumpenhunden gebildet ist, welche es den größten Teil der Abende auf denselben Brettern amüsieren, kann auf solche Wirkungen nicht arbeiten; er muß immer auf den Eindruck des augenblicklich Vorsichgehenden rechnen und kann das Frühere nur als dumpfe Stimmung in der Empfindung und natürlich als logische Voraussetzung im Verstand annehmen. Vielleicht erklärte das manches, wenn es sich wirklich so verhielte. Bezeichnend ist, daß der moderne Dichter die Buchausgabe erst nach der ersten Aufführung in den Handel gibt, er will also mit Neuem und Überraschendem wirken; jene Art von Wirkung der Alten aber setzt voraus, daß der Inhalt des Stückes wenigstens recht bekannt ist: und wenn sogar das Stück selbst vom Zuschauer womöglich auswendig gewußt würde, so müßte das noch die Wirkung erhöhen, weil der Zuschauer dann in jedem einzelnen Augenblick alle anderen Empfindungen (nicht bloß logischen Beziehungen innerhalb des Stückes), die das Stück in ihm erregt, gegenwärtig hätte.
Philoktet und der rasende Ajas würden noch zu manchen Bemerkungen Veranlassung geben, die aber nicht so die Hauptpunkte des dramatischen Schaffens und Genießens betreffen, und da wir ja nicht historisch, sondern ästhetisch untersuchen, so mögen wir sie zur Seite lassen, um nunmehr die Elektra zu betrachten.
Bei Gelegenheit der Elektra möge eine besondere Ausführlichkeit gestattet sein, weil sowohl das Werk des Sophokles selbst, wie die übrigen alten und einige neuere Bearbeitungen des Stoffes sehr lehrreich sind.
Wir müssen uns zunächst den Stoff klar machen.
Klytämnestra, die Gattin des Agamemnon, hat während der Abwesenheit ihres Mannes mit Ägisthos gebuhlt. Aus diesem Verbrechen entwickelt sich logisch alles weitere: wie der rechtmäßige Gatte nach Hause zurückkehrt, ermordet sie ihn in Gemeinschaft mit dem Ehebrecher, bevor er das Geschehene erfahren und sie bestrafen kann. Aber wenn die Kinder erwachsen sind, so werden sie den Mord des Vaters rächen; der Dichter, welcher den Stoff gestaltet, wird zunächst, wenn kein anderer Grund hindert, nur einen Sohn und eine Tochter annehmen, um Wiederholungen zu vermeiden, und in diesen die Wirkung des Mordes, sowie in ihrem Schicksal die Furcht der Mörder nach dem Geschlecht differenzieren: dem Sohn, Orestes, muß gleichfalls nachgestellt werden, die Tochter, Elektra, darf am Leben bleiben, aber damit sie nicht einen Rächer erzeugt, muß sie entweder von den Mördern unvermählt gehalten oder einem unbedeutenden Mann gegeben werden. Orestes muß der Nachstellung entkommen und zu dem entsprechenden Alter gelangen, wenn eine Handlung entstehen soll; um die Rache zu vollführen, kehrt er dann zurück.
Wir haben für unser Drama demnach drei Hauptpersonen: Klytämnestra, Orestes und Elektra. Die Mutter fürchtet die Nachstellungen der Kinder, und diese stellen der Mutter nach.
Zu weiterem Verständnis müssen wir uns klarmachen, daß der Mythos, aus welchem die Dichter ihren Stoff formten, in der Zeit und als ein Kampfmittel jener gewaltigen Umwälzung entstand, in welcher das sogenannte Mutterrecht, richtiger die Rechnung der Verwandtschaft bloß nach der mütterlichen Seite, gegen das Vaterrecht, das heißt zunächst die Rechnung der Verwandtschaft bloß nach der väterlichen Seite, unterlag; diese Umwälzung muß die Menschen tiefer erschüttert haben wie irgendeine andere. Noch bei Äschylus zittert diese tiefe Erregung fühlbar nach. Dazu wollen wir nicht vergessen, daß die Rache in jener Zeit eine sittliche Pflicht ist, ähnlich, wie heute ein Richter einen Mörder verurteilen muß.
Dürfte ein neuerer Tragiker wagen, an einen Stoff zu gehen, wo die Motivationen so auf urtümlichen Anschauungen ruhen, daß seine Zuschauer ihm nie mit dem Gemüt folgen könnten, auch wenn er die höchste Kunst aufböte, diese Motivationen lebendig zu machen, so müßte er sich sagen: die Rache meiner beiden Helden muß durchaus als sittliche Pflicht, als Vollziehung eines Rechtsspruches erscheinen, und ich muß mich sehr hüten, eine egoistische Befriedigung des Rachedurstes, etwa für die persönlich erlittene Kränkung hineinzubringen; denn wenn auch ein Tragiker zwar unchristlich, vielleicht sogar antichristlich gesinnt sein muß, so ist unser Empfinden doch durch die jahrtausendelange Ansicht von Schuld und Sünde gegen solche an sich natürliche Regung wie den egoistischen Rachedurst so empfindlich geworden, daß sie der notwendigen Idealität neuer Helden schaden würde; denn die höchste Idealität müssen sie haben, wenn sie eine so entsetzliche Tat, wie der Muttermord ist, begehen dürfen, ohne dem heutigen Zuschauer verabscheuungswürdig zu werden, sondern vielmehr tragisch wirken. Der antike Tragiker brauchte diese Erwägung nicht anzustellen, denn der Grieche hatte ein anderes Gewissen wie wir und empfand in solchem Fall natürlich. Immerhin aber mußte auch er die sittliche Pflicht der Rache als Urteilsvollziehung mit in den Vordergrund stellen gegenüber dem Rachedurst. Aber wie nun weiter?
Dem Geschlechtscharakter entsprechend muß Orestes die Tat wirklich tun, Elektra kann höchstens helfen; andererseits braucht Orest in dem fremden Lande bei dem befreundeten Erzieher nicht jene bittern Jahre durchgemacht zu haben, die Elektra auf jeden Fall durchgemacht hat. Auf einen von beiden als Helden muß das Stück komponiert werden, denn die dritte Hauptperson, Klytämnestra, ist ja nur das Opfer und kann also nicht der tragische Held sein.
Das Nächstliegende ist, Orest zum Helden zu machen. Das hat Äschylus getan.
Shakespeares Hamlet Die deutsche Kritik, die meistens in der Hand von Männern liegt, welche nicht selber Künstler sind, geht fast stets von falschen Voraussetzungen über Absichten und Mittel der Künstler aus. Im Fall von Shakespeares Hamlet, wie in so vielen anderen Fällen, wird die Erklärung immer aus dem Charakter des Helden gesucht – bis zuletzt womöglich einer kommt, der seine Lebensaufgabe in den Nachweis setzt, Shakespeare habe in Hamlet das Genie darstellen wollen: als ob ein Dramatiker, namentlich ein – bei mancher Unzulänglichkeit im Tragischen – im spezifisch Dramatischen so ausgezeichneter Dramatiker wie Shakespeare nicht immer von der Situation ausginge und für deren Bedürfnisse die Charaktere gestaltete! Gerade über Shakespeare werden von den Gelehrten, die naturgemäß in solchen Dingen nicht auf neue Gedanken kommen können, immer noch die Meinungen der Romantiker weitergeführt, die über das Drama höchst unzulängliche Einsichten besaßen und mit merkwürdiger Kunst da immer die Nebendinge für Hauptsachen hielten. hat dieselbe Aufgabe wie Orestes. Sein Charakter wie seine Handlungsweise sind in der eben geforderten Art von Shakespeare gebildet: und dennoch hielt es Shakespeare für unmöglich, ihn den Muttermord wirklich begehen zu lassen; Hamlet wird vernichtet, weil seine Aufgabe für einen heutigen tragischen Helden unmöglich zu erfüllen ist. Orestes bei Äschylus aber begeht den Mord; indessen entsteht nicht ein Drama, das wir als Tragödie im heutigen Sinne bezeichnen dürfen, sondern ein geistliches Schauspiel. Nachdem der Mord geschehen, beginnt ein Kampf der Götter, der uranischen, vaterrechtlichen, nämlich des Apolls und der vom Vater ohne Mutter geborenen Athene, gegen die chthonischen, mutterrechtlichen, nämlich die weiblichen Eumeniden; und entschieden wird der Kampf durch einen Urteilsspruch von Menschen. Das Werk des Äschylus wird auf die Athener einer großen Wirkung gewiß gewesen sein; aber das Schicksal des Orest ist in ihm nur in äußerlich-juristischer Weise erledigt, die bei dem verschiedenen Rechtsgefühl der Zeiten uns heute noch dazu als ein bloßer Gewaltstreich erscheint.
Aber auch für die Empfindung der Griechen hat vielleicht Orestes das poetische Interesse verloren, nachdem sein Schicksal ganz offenkundig nur die Veranschaulichung eines historischen Vorganges, des Schrittes zum Vaterrecht geworden ist. Nicht nur wir empfinden die Eumeniden als die künstlerische Objektivierung der Gewissensqualen (etwa wie Shakespeare in der Lady Macbeth das Vorwärtstreibende im Gemüt des Macbeth zu einer selbständigen Figur gestaltete); auch die Griechen müssen sie so empfunden haben. Ihnen war diese Art künstlerischer Gestaltung psychologischer Vorgänge (an deren Stelle die Neuesten die sogenannte Psychologie, das heißt die unkünstlerische Analyse der betreffenden Vorgänge setzen) ja ganz gewohnt. Dazu kommt, daß die Ansicht, die Verwandtschaft rechne nur nach der väterlichen Seite, sich offenbar nicht lange hielt, wenn sie überhaupt je herrschend und nicht bloße Kampftheorie war, und wenigstens zur Zeit des Äschylus war man sich klar darüber, daß ein Kind von beiden Eltern stamme. Orest hat wirklich einen Muttermord begangen; der Mythos befreit ihn; aber auch für das Gefühl der Zeitgenossen des Äschylus war doch wohl eigentlich der Muttermord unmöglich gewesen.
Vielleicht liegt hier der Grund, weshalb das Interesse von Sophokles und Euripides sich von Orest abwendet und nun das Drama auf Elektra hin komponiert wird. Elektra kommt nicht zur Handlung, sondern nur zur Beihilfe, ihr Schicksal hat ein stumpfes Ende wie das des Orest ein scharfes, ist dadurch an sich dramatisch uninteressanter, und ihre merkwürdige Bevorzugung kann nur durch einen zwingenden Grund erklärt werden.
Unter den Neueren hat Alfieri wieder Orest zum Helden gemacht. Auf der einen Seite hat er unserm Empfinden den Vorgang erleichtert, indem er in der vorhin verlangten Weise ihn nur als Richter erscheinen läßt und ihm keine Spur persönlichen Rachedurstes gibt. Auf der anderen Seite aber erschwerte er für das Empfinden des Zuschauers den Vorgang noch, indem er in die Figur der Klytämnestra, gemäß dem am Anfang dieser Abhandlung geschilderten Streben aller Neueren nach Mannigfaltigkeit, neue Nuancen hineinbrachte. Bei den Alten ist Klytämnestra eine durch nur einen Willen und die Folgen ihrer Tat beherrschte Figur: die Mörderin des Gatten, welche dadurch zu Haß und Furcht gegen ihre Kinder getrieben wird; Alfieri stattet sie auch noch mit mütterlicher Liebe gegen ihre Kinder aus, läßt sie ihre Schuld auf das schmerzlichste bereuen, aber ihre Liebe zu Ägisthos hält noch immer an, so daß sie auf keine Weise von ihm loskommen kann. Für die Empfindung des gebildeten Zuschauers, für den Alfieris Werke überhaupt nur bestimmt sind, verschiebt sich dadurch das Interesse in ungünstiger Weise; man weiß: daß Orest, besonders dieser so ideale Orest, diese Klytämnestra ermorden kann, ist ja ganz unmöglich; wir fragen uns beständig: wie wird sich der Dichter aus der Situation helfen? – Er nimmt einfach bei der Tat eine Verblendung des Orest durch die Wut an, daß er, die Mutter und ihren Buhlen erschlagend, nur den Buhlen zu töten glaubt und die Mutter nicht sieht. Abgesehen von der starken Zumutung an den Glauben des Zuschauers, die man einem solchen abstrakten Dichter vielleicht nicht so übel nehmen darf – das tragische Schicksal wandelt sich hier in einen unglücklichen Zufall. Es fehlt hier die Notwendigkeit – wenn auch nur die äußerlich-dramatische, genau wie beim Tode des Hamlet, der ja deshalb auch nie befriedigt. Wir sahen beim Ödipus, daß eine tragische Wirkung erzielt wird, auch wenn wir nicht an Orakel glauben, sondern den Mord des Vaters und die Heirat der Mutter für Zufälle halten; aber diese Zufälle liegen in der Exposition; von dem Augenblick an, wo Ödipus, durch die Not des Landes gezwungen, den Verbrecher sucht, empfinden wir den unerbittlichen Gang der Notwendigkeit; das vor der aufgeführten Handlung Liegende wirkt nicht auf unsere Empfindung, sondern ist lediglich eine verstandesmäßige Voraussetzung, die ein allzu kühner Dichter, wie Hebbel im Gyges, sogar fast unsinnig gestalten kann. Aber ein Zufall im Lauf der dargestellten Handlung selber, gar im entscheidenden Moment, hebt jede tragische Wirkung auf. Das wirkliche Gefühl des Zuschauers am Schluß von Alfieris Orest wird sein: «Ach, so hat der Dichter die Schwierigkeit gelöst; ja, das ist mir nicht eingefallen, daß man das so machen könnte.» Es entsteht eine Empfindung des Zuschauers ähnlich der bei einem Intrigenstück: einer an sich durchaus berechtigten Form des Dramas; nur, daß ein solches einen heiteren Vorwurf haben muß, weil die Erfreuung des rätsellösenden Verstandes nicht mit der Erschütterung des Gemütes vereinigt werden kann. – Das alles sei mit höchster Achtung gegen den bei uns leider wenig gekannten Dichter gesagt; er selber hielt übrigens den Orest für sein bestes Werk.
Es war also wohl ein richtiger Kunstverstand, welcher Sophokles und Euripides trieb, die Elektra zur Heldin zu wählen.
Eine Tragödie in unserem heutigen Sinne ist auch hier nicht entstanden, wie in allen übrigen Dramen des Sophokles nicht, mit Ausnahme des König Ödipus und der Antigone, sondern die dramatische Darstellung eines unglücklichen Lebens nebst der endlichen Erlösung. Macht man sich den Stoff vom Standpunkt der Elektra aus klar, so wird man finden, daß er wesentlich lyrisch ist; der Jammer um den ermordeten Vater, der ihr durch ihre unwürdige Stellung besonders stark und täglich neu sein muß, und um die unwürdige Stellung selbst werden das Hauptinteresse in Anspruch nehmen; die Mithilfe bei der Tat des Orest kann ja nur geringfügig sein nach der Natur der Handlung und muß es, denn der Zuschauer wünscht nicht eine Megäre zu sehen, sondern eine leidende Jungfrau, welche sein Mitgefühl erregt. Um etwas mehr dramatische Bewegung zu schaffen, hat Sophokles ihr eine Schwester gegeben, gegen welche sie differenziert ist wie Antigone gegen die Ismene in der Antigone; so ergibt sich ein, wenn auch schwaches, Gegenspiel statt des lyrischen Monologs; dann kommt eine Gegenüberstellung gegen die Klytämnestra, dann ihre Sorge, daß der Bruder tot ist; etwa bei Vers 1200 erst erfährt sie, daß Orestes lebt, und von da bis zum Ende, Vers 1470, geht dann erst die eigentliche Handlung, und auch in diesen 270 Versen ist noch sehr viel Lyrik enthalten.
Man würde sich kaum einen undankbareren Stoff für ein Drama ausdenken können; trotzdem hat Sophokles eine ungemeine dramatische Lebendigkeit erzielt. Diese dramatische Kunst ist der allerhöchsten Achtung wert; niemals war wieder diese Besonnenheit in einem Dichter, ganz abgesehen von allen übrigen Vorzügen des herrlichen Werkes, welche zu unbestimmter Natur sind, als daß man sie kritisch würdigen könnte.
Elektra möchte ich als Schulbeispiel nehmen für die Wirkung durch Furcht und Mitleid. Ich habe an einer andern Stelle auseinandergesetzt, daß die aristotelischen Pathemata nicht auf die Tragödie in unserem Sinn gehen, die in Wirklichkeit erst wir Neueren aus dem Drama differenziert haben – vielleicht ist der Vorgang erst gegenwärtig seinem Abschluß nahe – sondern daß sie lediglich Empfindungen sind, welche neben andern, die Aristoteles nicht kennt, das bloße dramatische Interesse wachhalten. Wer die Elektra daraufhin durchprüft, wie abwechselnd, mit immer neuer Spannung und fast immer mit gegenseitiger Erhöhung diese Pathemata hervorgerufen sind, der wird von der höchsten Bewunderung erfüllt werden. Die Spannung durch die Furcht rührt fast immer von der Seite des Orest her. Einer der genialsten Griffe ist es, daß das Drama mit Orest und dem Pfleger beginnt, wodurch der Zuschauer in den Plan und die Absichten eingeweiht wird und von nun an in beständiger Furcht für Orest in seiner gefährlichen Lage erhalten wird: also mit dem starken Gefühl setzt das Stück ein, das sofort erzeugt wird, wenn wir uns über die Situation klar sind. Und sowie alles erzählt und der Entschluß ausgesprochen ist, zum Grab des Vaters hinauszuziehen, ertönt auch schon die jammernde Stimme der Elektra aus dem Hause, es folgt der wundervolle lyrische Monolog der Elektra und das lyrische Gespräch mit dem Chor, und dann die Erzählung der Elektra von ihrer Situation, die also, wohlgemerkt, nach den lyrischen Klagen kommt. Und wie wirkt nun die Zwiesprache mit Chrysothemis, und die Erzählung der Chrysothemis, daß sie von der Mutter zum Grabe des Vaters geschickt sei, wo sie ja, wie wir wissen, Orestes antreffen muß! Durch solche geringen Dinge weiß Sophokles dramatische Spannung zu erzeugen; daß einer die findet oder beibehält, denn schon Äschylus hat das, zeigt dramatisches Genie an; aber was soll man von Hofmannsthal sagen, der seinen Sophokles vor sich hat, sich im Gang der Handlung sehr eng an ihn schließt, und gerade solche Dinge nicht wieder aufnimmt?)
Die Elektra des Euripides ist in ihrer Art gewiß vorzüglich und zeigt den klugen Kenner des Publikums, den gestaltungskräftigen Bildner und interessanten Lyriker: aber das Werk steht weit, weit unter dem edlen Drama des Sophokles. Wie fast immer, hat Euripides auch hier noch andere Pathemata verwendet, die nicht allgemein menschlicher, sondern zeitlich bedingter Art waren, vornehmlich die Schmeichelei der Instinkte und Vorurteile des Publikums, welches damals die demokratischen Ideen waren. Freilich verdanken wir dem auch die sehr schöne Figur des Landmanns, des Mannes der Elektra, welcher gewissermaßen dramatisch an die Stelle der Chrysothemis getreten ist. Damals muß diese Figur ungeheuer gewirkt haben, und wenn Sophokles und Euripides jeder mit seiner Elektra im Wettkampf gestanden hätte, so hätte allein diese Gestalt dem Euripides den Preis gesichert. Da es in der Natur der Schmeichelei liegt, daß sie immer gröber werden muß, so müßte ein heutiger Euripides freilich wesentlich dümmer vorgehen, um so zu wirken, und der echte Euripides, würde er heute wiedergeboren, würde das auch unbedenklich tun: Sophokles war der letzte Herr, Euripides der erste Sklave des Publikums. Die alten Bildhauer, welche das Idealbild des Sophokles und des Euripides schufen, haben das sehr schön zum Ausdruck gebracht.
Euripides beginnt mit der Erzählung des Landmanns und einem kurzen Dialog desselben mit Elektra, durch den die unglückliche Lage der Elektra geschildert wird: er wußte, daß sein edler Mann aus dem Volke wirken würde. Orest und Pylades treten auf, erzählen ihre Situation, erfahren von Elektra das Nötige und werden noch vor der Mitte des Stückes von Elektra erkannt nach einer Polemik gegen die Erkennung bei Äschylus. Hier sehen wir so recht den Gegensatz des niedrigen gegen den großen Tragiker. Beim Äschylus kommt Elektra, die jugendlich und schwärmerisch gedacht ist, zum Grabmal des Vaters, findet die Locke des Orest und sieht seine Fußspur und erkennt an diesen Zeichen, daß der Bruder hier gewesen sein müsse. Natürlich ist es unmöglich, an Locke und Fußspur den Menschen zu erkennen, den man vor mindestens fünfzehn Jahren zum letztenmal als Kind gesehen hat: gerade das macht die Szene so rührend, weil gerade das zeigt, wie alles Sinnen und Denken des zarten Mädchens auf den geliebten und ersehnten Bruder gerichtet ist; immerhin kommt noch dazu, daß doch kaum ein anderer Mensch das Totenopfer gebracht haben konnte wie Orest. Ich hörte eine Aufführung an und kann versichern, daß der Eindruck dieser Szene sehr groß war; sie ist nicht bloß lyrisch gut, wie Grillparzer meint, sondern auch dramatisch. Euripides ist so roh, über diese zarte und poetische Stelle Scherze zu machen, und läßt die Erkennung durch einen alten Diener stattfinden – vermittelst einer Narbe über dem Auge, die von einem Fall des Kindes herrührt; als ob diese Erkennung wahrscheinlicher wäre! Und um die geistlose Wahrscheinlichkeit handelt es sich ja immer bei solchen Ausstellungen. Nach der Erkennung macht sich Orest auf, um den Ägisthos zu töten; der Mord wird dann erzählt; dann lockt Elektra durch das Vorgeben, sie habe ein Kind geboren, die Klytämnestra herbei, hat mit ihr die Auseinandersetzung über den Mord des Vaters, dann wird Klytämnestra getötet, was Orest selber erzählend schildern muß; hierauf erscheint in der Luft, wie gewöhnlich bei Euripides, ein Gott, Orest entflieht vor den Erinnyen, und Elektra heiratet den Pylades.
Euripides, den Aristoteles aus seiner ganz anderen, nämlich äußerlichen, Auffassung des Tragischen heraus den tragischsten Dichter nennt, ist dramatisch weit schwächer als Sophokles. Er ersetzt die musterhafte dramatische Spannung seines Vorganges einerseits durch Wirkung auf die politischen und sozialen Vorurteile, andererseits durch theatralische Kunstgriffe: wo das Interesse zu erlahmen beginnt, tritt eine neue Figur auf; er wendet im Übermaße Sentenzen an, die nicht die Zusammenfassung einer Situation sind, wie etwa sehr oft bei Schiller, sondern äußerlich angeflickt, um den Zuhörer eine Weile zu beschäftigen; er malt kraß die eindrucksvollsten Dinge aus, welche Äschylus oder Sophokles verschleiert haben; solche Roheit ist, wie wir an der allerneuesten dramatischen Produktion bei uns sehen, stets des Erfolges sicher; aber das ist kein durch die künstlerischen Mittel gewonnener Erfolg. So, wenn nach dem Mord der Mutter Orest der Elektra vorwirft, daß sie jetzt fromm denke, vorher aber ihn zum Morde gereizt habe, während er selbst sich sträubte, und dann fortfährt, indem er die enthüllte Brust der Mutter, ihr Jammern und Flehen um Erbarmen schildert. Hierzu paßt dann trefflich die vergnügte Verlobung hundert Verse später.
Die allerneueste Bearbeitung des Stoffes durch Hofmannsthal verdient die härteste Beurteilung.
Es war eine Kühnheit, daß Sophokles nach Äschylus sich an die Elektra machte; im ganzen genommen bleibt sein Werk hinter dem Totenopfer zurück; aber dennoch hat das andere, das er schuf, seine Berechtigung, weil es an sich vollendet und edel ist. Des Euripides Bearbeitung machte nichts schöner und höher, sondern nur manches anders und weniger schön und edel. Hofmannsthal schließt sich an Sophokles an: aber wie schon angedeutet, mit Vernachlässigung der spezifisch dramatischen Elemente, welche die Kunst des Sophokles, in näherer Ausführung der Vorlage bei Äschylus, in den an sich undankbaren Stoff hineinbrachte. So bleibt nur das übrig, was der Stoff von Natur hatte, nämlich ein stark lyrisches Element.
Eine Tragödie ist Hofmannsthals Werk ebensowenig wie das des Sophokles, es ist ein Drama. Aber es gibt eine Menge von Möglichkeiten, wie man auch die widerstrebendsten Stoffe dramatisch wirksam machen kann, namentlich wenn man nur für seine Zeit arbeiten will und sich darauf gefaßt macht, daß nach wenigen Jahren die Zuschauer das Stück nicht mehr verstehen.
Hofmannsthal mußte, wie für ihn nun einmal die Sache lag, wohl oder übel so vorgehen, daß er seine Wirkung durch das Scheußliche und Widerwärtige der Situation erzielte. Die Lage der Elektra muß ganz kraß geschildert werden, ihr Haß bis zum Pathologischen gesteigert werden. Ich bewundere die große Kunst, welche Hofmannsthal hier gezeigt hat, nicht nur im einzelnen, sondern auch in der beständigen angemessenen Steigerung: schade, schade, daß sie verschwendet ist. Das Stück kann heute bei unserm Großstadtpublikum, das gleichmäßig Gorki und Wilde beklatscht – es muß wirklich das Gemeinsame der beiden herausgefunden haben – und in einer ausgezeichneten, sehr suggestiven Darstellung, in welcher besonders die Eysoldt noch Persönliches hinzutat, eine Wirkung ausüben; halten kann es sich ebensowenig, wie etwa Hauptmanns Weber, mit denen es im Grunde auf eine Stufe zu setzen ist: ein Ersetzen des Dramatischen durch anderes, nämlich hier lyrisch-psychologisches, dort charakterisierend-oberflächliches Detail.
Gut zwei Drittel des Stückes sind reine Zustandsschilderung. Um ihr den Anschein eines dramatischen Interesses zu geben, mußte die lyrische und psychologische Skala sehr weit genommen werden; und da Hofmannsthal sie nur nach der einen Seite weit nahm und gleich sehr hoch anfing, so mußte es notwendig bis zum Pathologischen kommen; man kann aber sicher sein, daß ein Dichter schlecht komponiert hat, wenn er pathologisch wird.
Welches Gefühl hat der Zuschauer bei einem solchen Werk, mit welcher Stimmung geht er nach Hause? Mit der Romantik kam es auf, den Zuschauer oder Leser als quantité négligeable zu behandeln; während für die frühere Kunst das Gemüt des Zuschauers ein Instrument war, welchem der Meister durch sein Werk diejenigen Töne entlockte, welche er als ein das Höchste erstrebender Mensch wollte, dachte der Künstler von jetzt an nur noch an sein Werk, vergaß er die Geige und den Ton über dem Bogen. Über die Wandlung waren die Künstler sehr stolz, weil sie meinten, sie seien nun ganz frei. Frei waren sie aber so wenig wie die andern Menschen, sondern sie wurden durch die Vorurteile ihrer Zeit bestimmt, und je nachdem diese nun auf philosophischen Gallimathias oder auf materialistische Glaubensartikel, auf psychologische Hypochondrie gingen oder auf lyrische Auflösung, wurden sie Romantiker, Naturalisten, Neuromantiker, Symbolisten und anderes; und indem sie meinten, daß sie dem abstraktesten Kunsttriebe dienten und l'art pour l'art schufen, schufen sie nur Illustrationen der flüchtigsten Tagesmeinungen. Welches Gefühl hat der Zuschauer nach Hofmannsthals Elektra? Wenn er ehrlich sein will: Abscheu und Ekel. Hat denn der als Mensch gewiß feinsinnige Dichter das gewollt? Sicher nicht; aber er hat eben genau so gearbeitet, mutatis mutandis, wie Emile Zola: er ist ein Sklave seiner Zeit. Jeder Mensch ist ein Sklave seiner Zeit, nur einer nicht: derjenige Künstler, welcher ein Diener der Form ist; fügt er sich dieser Dienstbarkeit, so stellt er sich außerhalb jeder Zeit und erhält ewige Jugend, und nicht nur Freiheit hat er alsdann, sondern ewige Herrschaft über die Gemüter der Menschen.
Sophokles wurde 496 geboren, dreißig Jahre nach Äschylus und sechzehn vor Euripides, in Kolonos, bei dem Grabe des Ödipus. Sein Vater soll nach einigen ein wohlhabender Fabrikant gewesen sein; sympathischer und mehr zu seinem Idealbilde passend scheint die Erzählung, daß er vornehm war. Nach der Schlacht bei Salamis, an demselben Tage, wo Euripides geboren wurde, soll er als Jüngling den Siegesreigen angeführt haben. Mit 28 Jahren trat er zum ersten Male als Tragiker auf und gewann gleich den Sieg über Äschylus. Die Zahl seiner Stücke wird bis auf 130 angegeben; nur sieben sind völlig, von über hundert Titel und Bruchstücke erhalten. Den Preis erhielt er zwanzigmal. Er war einmal Feldherr in einem Seekrieg. Er führte endgültig den dritten Schauspieler ein, beschränkte den Chor und löste die einzelne Tragödie aus dem kompositionellen Bande der Trilogie und Tetralogie. Sein Beiname ist «Der Süße». Er wurde neunzig Jahre alt und soll aus Freude über einen Preis gestorben sein. Nach seinem Tode sagten die Athener von ihm, daß ihn die Götter vorzüglich geliebt haben, und man erzählte sich, daß er die Stürme beschwichtigen durfte.
Das herrlichste Andenken an ihn ist die edle Statue im Lateran; unter den Epigrammen der Anthologie, welche ihn betreffen, ist eines an sein Grabmal besonders schön:
Leise umschleichet den Hügel des Sophokles, Ranken des Efeus,
Breitet das grünende Laub über des Schlummernden Grab;
Rosen, entfaltet den purpurnen Kelch, und mit Trauben belastet
Breite sich schlankes Geflecht saftiger Reben umher,
Schönes Symbol gebildeter Kunst, die im Chore der Musen
Und der Chariten einst emsig der Süße geübt.
Wir wollen uns freuen, daß wir nicht mehr über sein Leben wissen, und wir wollen uns hüten, allzu genau seine Zeit zu betrachten: Edleres wie das Bild, welches wir aus seinen Werken und aus seiner Statue uns von ihm schaffen, kann nicht wirklich gewesen sein. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir dieses Bild nicht zeichnen, wie es die Heutigen so gern tun; wir ziehen Göttliches herab zu Menschlichem und vermögen doch nicht den Eindruck zu erreichen, den ein unbefangener und schönheitsfähiger Mensch ohne unsere Reden empfängt. Das ist auch der Grund, weshalb wir über das Dichterische schweigen wollen; Nützliches können wir tun, indem wir über das Technische reden; der Verständige wird schon wissen, wie weit das Technische geht und wo das andere beginnt; es ist schamlos und zugleich töricht, über das andere sprechen zu wollen, das doch gerade bestimmt ist, unmittelbar auf das Gemüt zu wirken, mit Umgehung der Reflexion.
Und weiter: Mit großer Anstrengung unserer Phantasie mögen wir vielleicht einen leichten Schimmer von Vorstellung zu erhaschen wissen, was Sophokles den Athenern seiner Zeit war, nur seiner Zeit, denn schon kurze Zeit später drückte nicht mehr Äschylus und Sophokles, sondern Euripides aus, was die Athener in der dramatischen Form empfanden. Könnten wir das dann in Worte fassen, was hätten wir anderes gewonnen als eine müßige und gelehrte Kenntnis? Für uns heute aber ist der Dichter Sophokles etwas ganz anderes als für die damaligen Athener: und wenn schon fraglich sein mag, ob der Dichter Sophokles, der auf jene wirkte, mit dem Menschen zusammenfiel, so ist es ziemlich ausgeschlossen, daß der Dichter, welcher auf uns heute Eindruck macht, der wirkliche Mensch gewesen ist. Je höher die Form eines Kunstwerkes, desto inniger verschmilzt sich das persönliche Wollen und Können des Künstlers mit objektiven Elementen der Kunstanforderungen einerseits, mit unserem Empfangen andererseits; wir können es nicht mehr loslösen und sollen es auch nicht loslösen: das beste ist Schweigen über den Menschen und alles das an seinem Schaffen, das nicht verstandesmäßig restlos zergliedert werden kann; und das Bilden einer Idealgestalt aus seinem Wesen.
(1916)
Herodot war ein universaler Mensch. Er hat zwar sein Werk deutlich auf die Darstellung seines religiösen Glaubens angelegt, daß Gott die Großen klein und die Kleinen groß zu machen liebt; aber innerhalb dieses ja sehr weiten Rahmens hat er das ganze lebendige Wissen vom Menschen eines weitsichtigen, vorurteilslosen und im höchsten Sinn kritischen Mannes ausgebreitet. Er ist Geschichtschreiber; aber er faßt die Aufgabe der Geschichtschreibung im höchsten Sinn auf: nicht als ein Erzählen geschehener Dinge, sondern als eine umfassende Schilderung der ihm bekannten Menschheit, welche denn die Menschheit überhaupt vertritt. Er steht bei diesem Schildern auf dem Standpunkt seiner Zeit; aber seine Zeit war der wundervolle Frühling unserer Welt, in dessen Blühen schon alle spätere Frucht geahnt wird. So ist es möglich gewesen, daß die Verehrung für ihn in der modernen Zeit von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer gestiegen ist: je besser wir ihn nämlich verstehen lernten, weil wir selber uns höher gebildet hatten; so ist es auch möglich, daß er zu den wenigen Schriftstellern gehört, welche das Kind mit der gleichen Freude lesen kann wie der reife Mensch, und welche denn vielleicht erst ganz der erfahrene Greis versteht.
Zu den liebenswürdigsten und am leichtesten zugänglichen Teilen seines Werkes gehören die mythischen, märchenhaften und novellistischen Stücke, welche auf Grund von alten, ihm mündlich überlieferten Erzählungen in poetischer Weise Vorgänge der Vergangenheit verdichtet darstellen. Er berichtet sie nicht als wirkliche Geschehnisse; aber er weiß wohl, daß sie Höheres sind als gewöhnliche Wirklichkeit, daß in ihnen die dichtende Kraft von Generationen und Völkern das Wesentliche, das Menschliche, der Vergangenheit abgebildet hat, welches denn, weil alles Menschliche ewig gleich ist, immer neu sein muß.
Die orientalischen Völker waren von jeher in solchen Geschichten ausgezeichnet, und sie find es noch heute. Wer einen älteren Historiker liest, der asiatische Geschichten schreibt, der wird solche Erzählungen, wie Herodot sie hat, aus allen Zeiten finden; nur freilich wird er immer den Zauber von Herodots Darstellungskunst vermissen. Etwa von Akbar dem Großen, einem Nachkommen des Tamerlan, der um 1600 in Indien ein mächtiges Reich hatte, wird erzählt, daß er eine Festung belagerte, die von einem König Mustapha hartnäckig verteidigt wurde. «Ermüdet durch die Anstrengungen einer langen Belagerung und die Hitze, welche in diesen Gegenden im Mai fast unerträglich ist, war Akbar im Begriff abzuziehen, als er durch Überläufer erfuhr, daß das Wasser in der Festung zu mangeln begann. Mustapha verzweifelte daran, seine Zisternen wieder zu füllen, da die Regenzeit noch sehr entfernt war, und beschloß, heimlich allein aus der Festung zu entweichen und nach Brampur zu flüchten, um von dort aus den Rest seiner Lande zu verteidigen. Er wurde von den Wachen Akbars gefangen und vor diesen geführt. Akbar fragte ihn: ‹Wer bist du und was erwartest du von mir?› Der Gefangene antwortete: ‹Ich bin der König Mustapha und bin aus meiner Festung gekommen, um meinen Feind selber um Rat zu fragen. Ein großer Fürst wie du darf mir ihn nicht verweigern. Das Wasser wird mir knapp; was muß ich tun, um der Knechtschaft zu entgehen, die mich bedroht?› Akbar antwortete ihm: ‹Gehe in diese Festung zurück, die du mit so viel Mut verteidigt hast, und wenn Gott will, so wirst du Wasser bekommen.› Obwohl in dieser Gegend die Regenzeit erst Mitte Juni beginnt, kam doch schon in der folgenden Nacht ein so heftiger Regen, daß alle Zisternen in der Festung angefüllt wurden. Akbar hob die Belagerung auf, und Mustapha verglich sich später mit ihm.»
Der Orient kann seine Edelsteine nicht fassen; unendlich viel Schönes muß verlorengegangen sein, das in diesen weiten Ländern ausgedacht war; was Herodot hörte, das hat er so geformt, daß es heute Gemeingut der Menschheit geworden ist, was sonst nur die Geschichten der Bibel sind. Wer erinnerte sich nicht ans seiner Kindheit der Geschichten von Krösus und Solon, Krösus und Cyrus, Cyrus bei den Massageten, und so vieler anderer. Griechische Kunst und orientalische Weisheit sind hier vereinigt.
Aus zwei Quellen strömten Herodot die Geschichten zu. Die Religion beherrscht im Orient das Denken und Fühlen in ganz anderer Weise wie bei uns. Zu allen Zeiten haben die Orientalen die Geschehnisse des irdischen Lebens eng mit dem Göttlichen verknüpft; so haben sie nicht nur von vornherein eine ganz andere Stellung zum Wirklichen: daß es ihnen nämlich näher liegt als uns, es symbolisch zu fassen für das Geistige, daß sie es nicht so ernst nehmen wie wir, daß sie also das Unglück leichter ertragen; auch ihr Dichten sucht immer gleich das Geistige, betrachtet von vornherein das Irdische nur als ein Gewand. Es wird uns schwer, eine solche Gemütsstimmung zu verstehen. Wenn wir etwa Hafis lesen, so glauben wir uns über einen Anakreontiker zu freuen; die Perser aber belehren uns, daß der Wein die mystische Erkenntnis Gottes bedeutet und daß Hafis ein frommer Dichter ist. Die unzähligen kleinen Geschichten des Orients sind aus dieser Gemütsstimmung entstanden, die denn, je nach der Persönlichkeit, schwankt von mystischer Frömmigkeit bis zu reiner menschlicher Ethik. Die Weisheit Solons in der Geschichte von Krösus und Solon ist nicht griechisch, sondern orientalisch. Man vergleiche folgende Geschichte aus Saadis «Rosengarten»: Es brachte Einer Nuschirwan dem Gerechten die frohe Nachricht, daß Gott, der Ruhm- und Preiswürdige, den und den seiner Feinde hinweggenommen. Nuschirwan versetzte demselben: «Hast du etwa auch gehört, daß Gott mich will lassen?» Die merkwürdige Frömmigkeit Herodots selber scheint durchaus orientalischen Ursprungs; und es ist gewiß kein Zufall, daß sie am schönsten sich in diesen Geschichten zeigt.
Eine andere Quelle dieser Geschichten sind alte Stammessagen, die vielleicht bis zu einer balladenartigen Vorstufe der epischen Dichtung gediehen waren. Die Jugendgeschichte des Apus ist von dieser Art; es sind hier die urtümlichsten Vorstellungen in den bekannten mythischen Umformungen erhalten.
Wir wissen ja heute durch die Ausgrabungen unendlich viel mehr über den Orient, wie Herodot wußte. Aber wenn wir etwa den ersten Band von Meyers «Geschichte des Altertums» nun mit Herodot vergleichen, so müssen wir uns fragen: bedeutet denn dieses größere Wissen so viel, wie wir gewöhnlich denken? Den Geist des Orients hat Herodot in unübertrefflicher Weise gefaßt; er hat ihn nach seinem Temperament: eines heitern, milden, klugen und weisen Mannes gefaßt; ein anderes Temperament sieht vielleicht Tragödien, wo er Elegien sah, und unsere Zeit hat ja gewiß ein anderes Temperament, wie Herodot hatte. Aber ist unsere Auffassung nun etwa richtiger?
Vor mehr als dreihundert Jahren erschien die erste deutsche Übersetzung Herodots. Der Übersetzer, Georg Schwartzkopff, schreibt in seinem Vorwort: «Es ist wahr und unvermeidlich, daß herrliche, schöne und lustige Historien in diesem Skribenten vorhanden sind, welche demnach zu lesen nützlich, als unter andern vom reichen Krösus, von Cyro, von der Stadt Babylon, von den Egyptiern, von Cambyse, von Dario, von Xerxe und dem großen Krieg, so derselbige in Griechenland geführet.» Möge heute die Auswahl der liebenswürdigsten dieser Historien wieder viele Menschen erfreuen und – im höchsten Sinn – belehren.
(1916)
Von dem Verfasser der «Hirtengeschichten von Daphnis und Chloe» wissen wir nichts. Wir können auch nicht einmal die Zeit der Abfassung des Werkes genauer feststellen; es muß im Raum nach dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. bis zur ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts geschrieben sein. Da genauere Schilderungen von Lesbos vorkommen, so stammt der Verfasser vielleicht von dort oder hat wenigstens sich längere Zeit dort aufgehalten.
Die Dichtung ist also in einer sehr späten Zeit entstanden, aus welcher uns sonst nicht viel dichterisch Gutes erhalten ist. Sie ist von einem im höchsten Maße literarischen Verfasser geschaffen. Der erste Herausgeber bezeichnete diesen als Sophisten; die Bezeichnung findet sich zwar in der alten Handschrift nicht, aber sie ist offenbar durchaus richtig. Sophist ist etwa das, was wir heute Literat nennen würden: also jedenfalls nicht ein Dichter im heute gewöhnlichen Sinne des Wortes.
Die Urteile über das Werk sind sehr verschieden. Neben der höchsten Anerkennung treffen wir manches Bedenken. Deren wichtigste sind der in der Tat schlechte Stil des Originals und die unangenehme Lüsternheit einiger Stellen. Aber andere Stellen, den Geist des Ganzen kann man durchaus mit dem Schönsten der hellenistischen Dichtkunst dergleichen.
Mindestens muß man das Werkchen so auffassen wie die Wandbilder in Pompeji. Wir wissen von großen Stücken der griechischen Dichtung nichts oder so gut wie nichts. Gelegentlich bildet Longos Motive von Theokrit nach; es hindert uns nichts, anzunehmen, daß er noch anderen älteren Dichtern schuldet. Wie wir den Dekorationsmalern in Pompeji dankbar sein wollen, daß sie uns eine Ahnung von der Herrlichkeit der spätgriechischen und hellenistischen Malerei geben, so müßten wir denn auch das Werkchen des Longos mit Freude genießen. Aber mir scheint, man hat alles Recht, das Werk viel höher einzuschätzen.
In Goethes Gesprächen mit Eckermann kommt eine reizende Stelle über unser Buch vor. Wir müssen bei seinen Worten nicht vergessen, daß er selber sehr zu der hellenistischen Kunst neigte und daß lyrische Stücke von ihm, die zu seinen schönsten gehören, nicht ohne Properz denkbar wären, und daß er seinen Ausspruch als ganz reif gewordener Mann getan hat. Er hat auch nicht das Original gelesen, sondern die französische Übersetzung von Amyot, in welcher ein Hauptmangel des Werkes verschwindet, der gezierte Stil.
Eckermann erzählt von 1831:
«Das Gedicht ist so schön», sagte er, «daß man den Eindruck davon bei den schlechten Zeiten, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann, und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der helleste Tag, und man glaubt lauter herkulanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hilfe kommen.» «Mir hat», sagte ich, «eine gewisse Abgeschlossenheit sehr wohl getan, worin alles gehalten ist. Es kommt kaum eine fremde Anspielung vor, die uns aus dem glücklichen Kreise herausführte. Von Gottheiten sind bloß Pan und die Nymphen wirksam, eine andere wird kaum genannt, und man sieht auch, daß das Bedürfnis der Hirten an diesen Gottheiten genug hat.» «Und doch, bei aller mäßigen Abgeschlossenheit», sagte Goethe, «ist darin eine vollständige Welt entwickelt. Wir sehen Hirten aller Art, Feldbautreibende, Gärtner, Winzer, Schiffer, Räuber, Krieger und vornehme Städter, große Herren und Leibeigene.» «Auch erblicken wir darin», sagte ich, «den Menschen auf allen seinen Lebensstufen, von der Geburt herauf bis ins Alter; auch alle häuslichen Zustände, wie die wechselnden Jahreszeiten sie mit sich führen, gehen an unseren Augen vorüber.» «Und nun die Landschaft!» sagte Goethe, «die mit wenigen Strichen so entschieden gezeichnet ist, daß wir in der Höhe hinter den Personen Weinberge, Äcker und Obstgärten sehen, unten die Weideplätze, mit dem Fluß und ein wenig Waldung, sowie das ausgedehnte Meer in der Ferne. Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste reinste Himmel, die anmutigste Luft, und ein beständig trockener Boden, so daß man sich überall nackend hinlegen möchte. Das ganze Gedicht», fuhr Goethe fort, «verrät die höchste Kunst und Kultur. Es ist so durchdacht, daß darin kein Motiv fehlt, und alle von der gründlichsten, besten Art sind, wie z. B. das von dem Schatz bei dem stinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Geschmack und eine Vollkommenheit und Delikatesse der Empfindung, die sich dem Besten gleichstellt, das je gemacht worden! Alles Widerwärtige, das von außen in die glücklichen Zustände des Gedichtes störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das schnellste abgetan und hinterläßt kaum eine Spur. Sodann das Laster erscheint im Gefolg der Städter, und zwar auch dort nicht in den Hauptpersonen, sondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebenen. Das ist alles von der ersten Schönheit.» «Und dann», sagte ich, «hat mir so wohl gefallen, wie das Verhältnis der Herren und Diener sich ausspricht. In ersteren die humanste Behandlung, und in letzteren bei aller naiven Freiheit doch der große Respekt und das Bestreben, sich bei dem Herrn auf alle Weise in Gunst zu setzen. So sucht denn auch der junge Städter, der sich dem Daphnis durch das Ansinnen einer unnatürlichen Liebe verhaßt gemacht hat, sich bei diesem, da er als Sohn des Herrn erkannt ist, wieder in Gnade zu bringen, indem er den Ochsenhirten die geraubte Chloe auf eine kühne Weise wieder abjagt und zu Daphnis zurückführt.» «In allen diesen Dingen», sagte Goethe, «ist ein großer Verstand; so auch, daß Chloe gegen den beiderseitigen Willen der Liebenden, die nichts Besseres kennen, als nackt nebeneinander zu ruhen, durch den ganzen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauschaft behält, ist gleichfalls vortrefflich und so schön motiviert, daß dabei die größten menschlichen Dinge zur Sprache kommen. Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Verdienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahre einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden.»
Der alte Dichter und sein verständiger Freund haben die Schönheiten des Werkes so vortrefflich auseinandergesetzt, daß über sie nichts zu sagen übrig bleibt. Mag es sich mit Longos dichterischem Schaffen verhalten wie es will, ein großer Teil von Goethes Lob muß ihm immer zufallen; denn mindestens die weise Zusammenstellung der Motive, die gesamte Anordnung, welche Goethe so sehr rühmt, muß ja von ihm herstammen. Wie es ein alter Dichter ist, der sie anerkennt, so ist es auch erst in späten Zeiten einer Kultur möglich, die das Einzelne vielleicht nicht mehr so energisch faßt, aber dafür einen Überblick über das Ganze hat, welcher den jugendlichen Zeiten fehlt.
Vielleicht ist es gut, wenn wir uns noch folgendes beim Lesen immer klar machen.
Die griechische Dichtung hat in ihren frühesten Zeiten schon einen bäuerlichen Dichter, Hesiod. Hesiod ist ein wirklicher Bauer, Longos ist ein Städter; Hesiod dichtet aus seiner Wirklichkeit, Longos aus seiner Sehnsucht; Hesiod sucht nach dem Ausdruck für das, was sein Herz bewegt; Longos ist ein bewußter Künstler und schafft mit überlegenem und großem Verstand ein Kunstwerk. Wir tun Longos unrecht, wenn wir bei ihm die Naivität des Hesiod vermissen. Sein Gefühl ist ebenso wahr wie das Gefühl Hesiods; aber er drückt es anders aus. Hesiod und seine Zeit fühlten sich in einer angemessenen Welt, sie konnten also Wirkliches darstellen. Longos und seine Zeitgenossen fühlten sich in einer unangemessenen Welt: in einer hochentwickelten Zivilisation, welche sie bedrückte. Er konnte nicht das Wirkliche darstellen, in dem er lebte, den Markt, das Gericht, die Vorträge, die Hast der Geschäfte, die Leerheit der Bildung; er mußte darstellen, was er ersehnte. Aber er ersehnte nicht das wirkliche Landleben, sondern ein erdachtes.
Ein erdachtes Landleben hat auch die Schäferpoesie bei Beginn unserer Neuzeit dargestellt, als ähnlich, wie die alte griechische Gesellschaft im Hellenismus und im Römischen Reich zerfiel, die alte feudale Gesellschaft in Hofwesen überging. Die Arkadia des Sannazaro ist ein ähnliches Werk wie die Hirtengeschichten des Longos. Die Nachahmer sind zum Teil sehr schlecht, indem sie sentimental werden, und in dieser sentimentalen Umgestaltung hat sich denn die Schäferpoesie bis in das 18. Jahrhundert gehalten. Die Hirtengeschichten in der Arkadia sind aber nicht mit falschem Gefühl gedichtet, stellen nicht unwahre Verhältnisse dar; sondern, aus der Sehnsucht nach reiner Menschlichkeit, wie sie in den erkünstelten Zuständen untergehender Gesellschaftsformen entstehen muß, sind in idealistisch-abstrakter Weise allgemein menschliche Gefühle und allgemein menschliche Zustände dargestellt, mit der Absicht, bei diesen Gefühlen und Zuständen nur das Schöne zu bewahren und nicht das Unangenehme und Schwierige; Hesiod schildert die Arbeiten der Bauern: die Hirten des Longos arbeiten nicht.
Was man heute «Erdgeruch» oder «Bodenständigkeit» oder ähnlich nennt, muß einem solchen Werke natürlich fehlen. Es ist eine in zweifacher Hinsicht idealistische Dichtung: indem einerseits die Hirten auf das typisch Menschliche, andererseits ihre Zustände auf das Schöne oder romantisch Interessante idealisiert werden. Es ist im höchsten Maße ein Werk der Kultur und hat deshalb von naiver Dichtung gar nichts. Da man heute die naive Dichtung sehr hoch einschätzt, hat man für ein Werk dieser Art literarisch nicht das günstigste Vorurteil: aber ich denke, seine Kraft ist so groß, daß es trotzdem seine Wirkung ausüben wird.
(1919)
Man hat schon oft auf die Ähnlichkeit der heutigen Welt mit der hellenistischen Welt der Mittelmeergesittung hingewiesen. Diese Mittelmeergesittung macht man sich gewöhnlich nicht genügend klar, indem man sie immer mit der griechischen Gesittung zusammenwirft. Aber der echt griechische Geist, selbst in seinen letzten Äußerungen, etwa bei Plotin und Theokrit, hat mit dem Zivilisationsgeist keinen inneren Zusammenhang, nur einen äußerlichen; der innerste Geist der Mittelmeergesittung war nicht griechisch, sondern phönizisch.
Man kennt den Gang dieser Gesittung: eins nach dem andern werden die Mittelmeervölker von ihm ergriffen, erreichen schnell eine merkwürdige Blüte dadurch, daß fremdes und einheimisches altes geistiges Gut für die große Menge zubereitet wird, und sterben dann schnell ab. Der letzte Erbe ist Rom. Der Vorgang des Absterbens wird uns geschichtlich nicht klar, denn die großen geschichtlichen Erschütterungen, welche uns berichtet werden, können ihn ja nicht verursacht haben, und die gesellschaftlichen Vorgänge sind uns nicht genügend bekannt. Wir wissen aber, daß in den Blütezeiten große Städte entstehen, das Land sich entvölkert, Militarismus sich bildet, Handel und Industrie blühen, ein besitzloses Gesindel von Freien, Halbfreien und Sklaven in den Städten wimmelt, die äußeren Lebensgüter maßlos überschätzt werden, und im allgemeinen sich das herausstellt, was die griechischen Schriftsteller, die sich über den Vorgang klarer waren, wie wir heute einsehen, «Verweichlichung» nennen. Dann kommt der Zusammenbruch, von dessen Art wir wieder wenig wissen; später sind dann die Länder, über welche diese Zivilisation hinweggebraust ist, sehr dünn bevölkert von Hirten und Ackerbauern; und während in den Zeiten der Zivilisation von der unerhörtesten Gemeinheit als herrschend berichtet wird, wissen die Reisenden nun zu erzählen von außerordentlicher Vornehmheit der Gesinnung, Feinheit des Betragens, Richtigkeit der Sitten und Einfachheit des Lebens bei den Leuten, welche in diesen Ländern leben.
Angenommen die Richtigkeit des Vergleiches zwischen der alten Mittelmeergesittung mit ihrer phönizischen und der heutigen Weltgesittung mit ihrer kapitalistischen Grundlage, würde heute das Anfangsland Spanien sein, das nun schon längst da angelangt ist, wo sich heute Griechenland und Kleinasien befinden; und das Endland wären die Vereinigten Staaten, die heute etwa in dem Augenblick stehen wie Rom, nachdem ihm geglückt war, die hellenistischen Staaten durch ihre gegenseitigen Kriege so zu schwächen, daß es sie einen nach dem andern verzehren konnte.
Die Revolution, welche wir heute erleben, rückt bei einer solchen Betrachtung in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang. Sie verliert das Kleinbürgerliche in der Betrachtung ihrer Verteidiger und Gegner, von denen jene sich einbilden, daß sie ein Himmelreich auf Erden schaffen werden, und diese, daß wir weiterhin wunderschön hätten leben können, wenn nur die bösen Aufrührer nicht gekommen wären. Wir werden auch den Krieg und unsere Niederlage nicht mehr philisterhaft betrachten, als die Schuld von irgendwelchen Männern. Wir werden einsehen, daß das Leben der Völker, welches Leben der Masse ist, unabänderlichen Gesetzen unterliegt, und daß nur der Einzelne frei ist; daß Krieg, Revolution und alles, was sich noch anschließen wird an Hungersnot, Krankheit, Massensterben, Verzweiflung, Auswanderung, Aufruhr und anderem, notwendige Erscheinungen eines geschichtlichen Vorganges sind: des Zusammenbruches einer Gesellschaft, welche auf unsittlichen Grundlagen ruhte, und der Auslese von höher stehenden Menschen, welche sich in künftige einfachere Lebensverhältnisse hineinretten.
Wir wollen aus zwei alten Schriftstellern einige Nachrichten anführen, die vielleicht ein Licht auf die augenblicklichen Vorgänge werfen. Petron war ein Schriftsteller, welcher zur Zeit des Nero lebte. Er war ein Mann von gebildetem und unabhängigem Geist, aber unentwickeltem Charakter; er sah die allgemeine Zerstörung, er war zu geschmackvoll, den spießigen Sittenlehrer zu spielen, aber er war nicht stark genug, um sich innerhalb des Verderbens auf sich selber zu stellen, denn er hatte nichts in sich, auf dem er hätte ruhen können.
Die Helden seines Buches, das wir Heutigen als einen Roman bezeichnen würden, kommen nach Kroton, der bekannten griechischen Stadt in Süditalien, und fragen einen Mann nach der Art der Bewohner. Er antwortet ihnen: «Hier könnt Ihr nur etwas erreichen, wenn Ihr gewitzigt seid und gehörig schwindeln könnt. Hier macht man sich nichts aus Wissenschaft und Beredsamkeit; Mäßigkeit und Anständigkeit werden nicht geachtet, sondern es gibt in der ganzen Stadt nur zwei Arten von Menschen: sie lassen sich erbschleichen oder sie erbschleichen, denn wer richtige Erben hat, der darf weder ins Theater noch in den Zirkus, sondern lebt ohne allen Komfort unter dem gemeinen Volk. Bloß die Junggesellen ohne Anhang machen Karriere, sie allein kommen ins Offizierkorps und gelten allein als anständige Kerls. Ihr werdet die Stadt finden wie ein Lager, in welchem die Pest gewütet hat, in dem nur Leichen sind, welche gefressen werden, und Galgenvögel, welche die Leichen fressen.»
Leider kommt hier eine Lücke; die Schilderung geht nicht weiter, sie wäre wahrscheinlich auf schlagendere Ähnlichkeit mit den heutigen Zuständen gekommen, denn die Erbschleicherei, auf welche denn im folgenden auch ein Hochstaplerstück eines der Helden geht, spielt bei uns keine Rolle. Aber man denke daran, daß in Amerika in den Neuenglandstaaten bereits die kinderlosen Ehen sich als Regel bei den «anständigen Leuten» durchsetzen.
Die Ursachen des Zustandes in Kroton sind offenbar, daß die Leute nicht mehr arbeiten wollen, weil sie leichtere Mittel des Unterhalts gefunden haben.
Chrysostomus lebte zur Zeit des Trajan. Er war ein sehr ehrenwerter Mann, der die Übel seiner Zeit erkannte und mit kleinbürgerlicher Rechtschaffenheit gegen sie ankämpfte. Mit der Genialität des Petron ist er natürlich nicht zu vergleichen, aber er ist in seinem untergeordneteren Kreise wesentlich reiner. Wir haben von ihm eine merkwürdige Schrift «Der Jäger». An einer entlegenen Stelle von Euböa scheitert ein Schiff; ein Schiffbrüchiger wird gerettet und trifft im Umherirren einen halbwilden Jäger. Die Insel war früher sehr dicht bevölkert. Vermutlich durch Bauernlegen hatte sich an jenem Ende ein Großgrundbesitz gebildet, auf welchem Weidewirtschaft betrieben wurde. In diesem entlegenen Teil waren zwei Familien von dem Besitzer als Verwalter der Herden angestellt. Der Besitzer wird von dem Fürsten – wer das ist, wird nicht gesagt, ob ein römischer Beamter oder der Kaiser, natürlich muß sich der Verfasser vorsichtig ausdrücken – wegen seines Reichtums umgebracht; das Vieh wird fortgetrieben, und die beiden Familien bleiben auf dem Besitz zurück, der von nun an herrenlos liegt. Sie können sich nur durch die Jagd erhalten und sinken auf die einfachsten Lebensverhältnisse zurück und werden so von dem Fremden angetroffen.
Es gibt auch noch eine Stadt auf Euböa, in welcher die Leute ähnlich so leben wie in Kroton. Der Jäger erzählt, daß er einmal dorthin gebracht wurde, um sich vor dem Volk zu verantworten. Ein Mann denkt, daß aus dem Jäger Strafen, Abgaben und Steuern herauszupressen sind. Auch der Pöbel hatte damals eine gewisse Gesittung; die Gesittung war rednerisch; und so hält der Mann eine sehr geschickte Advokatenrede. Der Jäger lacht und erklärt, er habe einige Felle, die er geben könne, mehr sei bei ihm nicht zu holen. Es mag fraglich sein, wie weit der Verfasser die erste Rede ironisch gemeint hat, wie weit sie einfache Darstellung der gemeinen Dummheit des herrschenden Pöbels ist; jetzt tritt ein Mann auf, ein Vornehmer, dessen Rede jedenfalls ganz ernst gemeint ist. Er sagt, und jedes seiner Worte könnte für die heutige Zeit gelten: «Wer wüstes Land bearbeitet und anbaut, begeht kein Unrecht, sondern ist im Gegenteil des Lobes würdig; und man muß nicht den Anbauern und Bepflanzern des gemeinsamen Bodens hart begegnen, sondern seinen Verwüstern. Liegen doch jetzt, Ihr Männer, beinahe zwei Drittel unseres Landes wegen Fahrlässigkeit und Mangel an Arbeitskräften öde da. Ich selbst, wie gewiß noch viele andere, besitze nicht bloß in den Bergen, sondern auch in der Ebene viele Hufen, die ich nicht allein umsonst geben, sondern noch dazu Geld umsonst vorstrecken würde, wenn sich jemand zu ihrem Anbau entschließen könnte. Offenbar bekäme der Boden für mich dann einen größeren Wert, und zugleich bietet eine bewohnte und angebaute Gegend ein freundliches Bild, während eine öde Strecke nicht bloß ein nutzloser Besitz für den Eigentümer, sondern auch ein trauriger Anblick ist und die mißliche Lage ihres Herrn verrät. Ich bin also der Meinung, man solle eher noch weitere Leute dafür gewinnen, Gemeindeland in Bearbeitung zu nehmen, die Vermöglichen mehr, die Unvermöglichen, soviel ein jeder imstande ist, damit Euer Land Ertrag abwerfe und die Bürger ernähre, die sich bereitfinden lassen, den beiden größten Übeln, die es gibt, dem Müßiggang und der Armut, zu entgehen ... Es ist ja schrecklich, wie es jetzt aussieht. Unmittelbar vor den Toren der Stadt ist eine förmliche garstige Wildnis wie mitten in der Wüste; innerhalb der Mauern dagegen werden die meisten Plätze angesät und beweidet ... Ihr seht es ja wohl selbst, wie sie aus Eurem Gymnasium ein Ackerfeld gemacht haben, daß der Herakles und viele andere Bildsäulen von Göttern und Heroen in dem hochgewachsenen Getreide versteckt sind, und wie der geehrte Vorredner Tag für Tag vom frühen Morgen an seine Schafe auf den Markt schickt und um das Rathaus und um das Regierungsgebäude herum weiden läßt ... Und wenn es einer so macht, wie dieser Jäger da, so glaubt man noch, man müsse die armen Leute einsperren, damit ja hinfort niemand mehr arbeite und die einen draußen vom Raub, die andern hier in der Stadt vom Diebstahl leben.»
Die Leute in Kroton und die Leute auf Euböa haben das miteinander gemein, daß sie nicht arbeiten wollen. Wenn nicht gearbeitet wird, so werden auch keine Nahrungsmittel erzeugt, und die Leute haben nichts zu essen. Die Folge ist, daß die Menschen aussterben. Das ist ein sehr einfacher Gedankengang. Wäre die Sache so, daß nur ein einzelner Mensch lebte, dann würde das Unglück nicht geschehen, denn der wüßte dann: wenn ich nicht pflüge und säe, dann kann ich nicht ernten, und wenn ich nicht ernte, dann kann ich kein Brot backen. Die Sache ist nur um eine Kleinigkeit anders, und die verwickelt die Dinge gleich so, daß die Menschen den einfachen Gedankengang nicht mehr fassen. Es gibt eine Anzahl Menschen, von denen einige von der körperlichen Arbeit aus irgendwelchen Gründen ausgenommen sind. Die andern, welche arbeiten, sehen das und sagen sich, daß kein Grund vorliegt, weshalb sie nicht auch müßig gehen sollen: jeder denkt nur daran, daß er selber nicht arbeiten möchte, und nicht, daß dann alle nichts zu essen haben.
Wir erleben heute im kleinen den Zustand, welcher diesen großen geschichtlichen Bewegungen entspricht. Ein solcher Zustand des Volkes ist eine gesellschaftliche Erkrankung. Wie entsteht die?
Die Voraussetzung ist offenbar die schon angedeutete, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse so verwickelt geworden sind, daß der Einzelne nicht mehr unmittelbar an sich selber die Folgen seines wirtschaftlichen Handelns zu spüren braucht; daß nicht mehr eine Wirtschaft des Einzelnen vorhanden ist, sondern eine Wirtschaft der Gesellschaft, in welcher dann Pflichtgefühl und Einsicht das unmittelbare Selbstinteresse ersetzen müßten.
Bei der allgemeinen Mangelhaftigkeit des menschlichen Geschlechts können Pflichtgefühl und Einsicht das nur in sehr beschränktem Maße. Wenn nüchtern verständige Leute die Angelegenheiten der Gesellschaft führen, so wissen sie das, und so geschieht etwa, wenn Leute in den Fabriken keine Arbeit haben, daß die Unglücklichen zugrunde gehen. Durch die Furcht vor dem Verhungern wird hier das gesellschaftliche Pflichtgefühl ersetzt. Gegen diesen Zustand empört sich jede Menschlichkeit, denn mit Recht wird gesagt, daß doch auch Leute von diesem Schicksal des Verhungerns getroffen werden, welche gern arbeiten würden, aber durch irgendeine gesellschaftliche Verwicklung, an der sie unschuldig sind, etwa eine Absatzkrise, keine Arbeit finden. Es folgt dann die Unterstützung dieser Leute, die denn aber zunächst immer so gehandhabt wird, daß sie nicht ausreichend ist und den Empfänger entwürdigt, damit man ihn treibt, sich auf jeden Fall wieder Arbeit zu suchen. Man kann gegen diesen Zustand dieselben Menschlichkeitsgründe anführen, und die Herrschenden werden deshalb immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihn erhalten, wiewohl sie vernünftigerweise sich sagen werden, daß er nun einmal notwendig ist. Tritt eine Revolution ein, durch welche die Klassen, welche durch diese Dinge betroffen werden, zur Herrschaft kommen, wie das jetzt ist, dann fallen natürlich diese Einschränkungen der Unterstützung. Dann stellt sich aber auch sofort der Zustand heraus, daß bei der Mangelhaftigkeit des weitaus größten Teils der Menschen die Unterstützung einfach als Bürgerrecht erscheint. Unser Volk muß doch einen sehr guten Kern haben, daß die heutigen Arbeitslosenunterstützungen nicht noch viel verheerender auf die allgemeine Sittlichkeit gewirkt haben, als sie es tun. Wir haben in Deutschland schon einmal eine kapitalistische Zeit gehabt: von 1540 etwa bis 1620. In ihr können wir dieselben Erscheinungen beobachten, die wir heute sehen. Sie wurde abgelöst durch eine Zeit sehr starker Rückbildung nicht bloß zur Einzelwirtschaft, sondern sogar zur Vernichtung der Geldwirtschaft und dem Wiederaufkommen naturalwirtschaftlicher Zustände auf weiten Gebieten. Nach dem Dreißigjährigen Kriege war Deutschland verödet und verwüstet, seine Bevölkerung verarmt, geschwächt, durch Krankheiten und Hunger verstört. Hundert Jahre nach dem Frieden von Münster und Osnabrück beginnt schon unsere klassische Zeit, in drei Geschlechtern hat die Nation sich wieder so gekräftigt, daß sie einen Klopstock und Lessing erzeugen konnte. Das war möglich geworden durch die Rückkehr zur Naturalwirtschaft, zur fleißigen Arbeit eines jeden auf dem Eigenen; durch die Rückbildung der Industrie zum Handwerk, zum Schaffen des Einzelnen auf eigene Verantwortung.