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(Tagebuchblätter.)
Heute an Gerdsen geschrieben, wegen des Romans. Eigentlich eine schnurrige Idee.
Mit Petersen beim Lehrer in Süssen gewesen. Unterwegs der jungen Komtesse von Rixdorf begegnet. Lenkte selbst ihre Ponies. Sah leider nur ihren Rücken.
Wer auch so fahren könnte!
In Süssen Kaffee und Kuchen. Junge, leidlich hübsche Frau, sauber, appetitlich.
War auch ein »Gemeinderat« da, ein Ziegeleibesitzer und Hufner, ein gutmütiger Riese. Streit über das neue Gesangbuch. Die Lehrer waren dafür.
Der Süssener war für die neuen, frischeren Melodieen. Er spielte ein paar auf dem Klavier. Eine klang wie ein Jägerlied. Der Koloss polterte dagegen. Die Bauern wollten kein neues Gesangbuch, wollten sich das alte nicht nehmen lassen. Es ist so lange gut gewesen, in Freud und Leid, ist ein Stück ihrer Seele geworden. Woraus ihre Eltern und Grosseltern und Urgrosseltern Trost und Erbauung geholt, auf einmal sollte das nicht mehr gelten?
»Ne min Gesangbook lat ik mi nich nehmen. Ik lat mi nich vörschriewen, wat ik singen und beeden schall. Doran lat ik mi nich rögen. Dat is min Religion. Wat wär dat för'n Religion, de man so quantswies alle fif Johr mal ännert warden künnt! Häw ik recht?«
Ich hatte den Mann lieb in seinem beschränkten Eifer. Ja, daran soll man nicht rühren, oder es fällt alles zusammen. So was muss alt sein, ehrwürdig, durch jahrhundertlange Tradition geheiligt. Das Neue ist den Leuten nichts. Bibel und Gesangbuch müssen auch äusserlich alt sein, abgegriffen, blank von vielem Gebrauch, stockfleckig und gesättigt mit dem Parfüm von Familien- und Krankenstuben.
Bin ich nicht eigentlich ein Erzreaktionär? Adel und Kirche. Obgleich ich im tiefsten Grunde (lüge nicht, Randers!) an diese frommen Dinge nicht glaube. Aber man ist heute so hübsch isoliert damit, so hübsch in der Minorität. Und Minorität ist vornehm, ist aristokratisch. Majorität ist der Pöbel.
Ich könnte aus Opposition gegen den Pöbel in das letzte Kloster gehen.
In andern Zeiten würde ich wahrscheinlich Freigeist sein, aus Opposition, aus angeborenem Bedürfnis, mich von der Masse abzusondern, aus aristokratischen Instinkten. Ich könnte Demokrat werden aus Aristokratismus. Unsinn! Na!
Heute Nacht von Berta geträumt. Ich habe sie doch lieb gehabt. Es war nicht nur, weil sie sich schick zu kleiden wusste und ein so damenhaftes Benehmen hatte. Sie war so durch und durch anständig und so rührend in ihrem tapfern Kampf. Eine junge, hübsche Direktrice mit kärglichem Gehalt, ohne Familienanschluss, in einer Stadt wie Hamburg. Man weiss, was das sagen will. Und sie war in einem jüdischen Geschäft angestellt. Nicht, dass sie jemals geklagt hätte. Im Gegenteil. Aber ich habe nun mal diese Animosität gegen Israel. Sie lachte mich oft deswegen aus.
Sie war eine vornehme Natur und ein Labsal nach all diesen Paulas und Ellas und Friedas, bei denen ich meine Gefühle für das Weib »an den Mann zu bringen« suchte.
Sie hatte sogar Mässigkeitseinfluss auf mich. Es war meine Temperenzlerperiode. Aber da ich sie nicht heiraten konnte, verlangte sie zuletzt Schluss. Entweder, oder! Und ich konnte sie nicht heiraten. Es wäre ein Hungerleben geworden. Eine der Ehen, die nichts sind, als ein langsameres oder schnelleres, aber immer sicheres und qualvolles Hinsiechen der Liebe.
Sie sah das ein. Ohne Vorwurf, ohne Klage reiste sie ab. Ein Charakter, eine vornehme Seele. Eine Aristokratin!
Dieses Denkmal hast du verdient, Berta!
Wie wohl fühl ich mich allmählich in diesen einfachen Verhältnissen hier, und täglich wird mir klar, was mir in der Stadt wie ein Strick um den Hals lag und schnürte und schnürte. Es ist die ganze widerliche Lüge jenes Lebens und Treibens.
Hier ist alles auf Wahrheit gegründet, auf Natur. Nichts ohne Zweck, und der Zweck ehrwürdig, weil notwendig und natürlich. Hier hat jeder noch ein Verhältnis zu seiner Arbeit, ist mit ihr verwachsen. Was hat der Kaufmann, der Krämer, für ein Verhältnis zu seiner Ware? Sie ist ihm nur Mittel Geld zu machen; bringt ihm die schlechte mehr ein, ist sie ihm lieber als die gute.
Und diese ganze Vermittlergesellschaft, die ihr Brot durch Laufen und Schwatzen verdient. Diese ganze, hohle, windige Gesellschaft. Wie lob ich mir den Handwerker, der mit seiner Arbeit, seinem Topf, seinem Schmiedewerk, seinem Stuhl, ein Stück seines Ichs hingibt, des erhaltenen Lohnes würdig! Da hängt Schweiss daran, Liebe, Freude, Ehre.
Und hier der Bauer! Welche Tüchtigkeit, welche Natürlichkeit, welche innere urheilige Notwendigkeit in all seinem Tun. Der Adel der Arbeit!
Und dann sind hier keine Juden.
Juden und Sozialdemokraten, die haben jetzt das grosse Wort. Scheidewasser! Zersetzende Elemente. Ohne Produktivität. Wäre Gott ein Jude, wäre die Welt nicht. Ein Jude kann kein Gott sein. Der Jude hat Witz, ein Gott nie. Ein witziger Gott! Ein göttlicher Witz! Widerspruch in sich.
Ihr verdreht dem Volk nur die Köpfe. Bildung in die Menge bringen! Eure Art »Bildung«. Die Menge kann immer nur halbgebildet sein, und Halbbildung ist gar keine Bildung, ist schlimmer als Unbildung. Die Halbbildung glaubt alles zu verstehen, ist dünkelhaft. Und sind wir nicht ganz zerfressen von dieser »Bildung«. Überall, in Literatur Kunst, Gesellschaft? Jeder schwätzt über jedes! Wo ist Ehrfurcht, Schweigen, Bewunderung, Freude?
Alles, das Höchste und Grösste wird auf das Allerweltsniveau von Müller und Schultze herabgeschwätzt, und der Ladenjüngling spricht von Darwin und Ibsen mit derselben Zungengeläufigkeit wie von der neuesten Mode und dem grossen Preis von Hamburg.
Wie kocht es in mir, hör ich so ein Dämchen über die neueste Richtung räsonieren, oder so einen Krämerkommis über die moderne Malerei. Rede einmal so dumm weg über ihre Ware, ihre Stiefel, ihre Seidenstrümpfe, gleich verklagen sie dich beim Staatsanwalt, dass du sie diskreditierst, ihr Geschäftchen schädigst. Aber die Kunst, die Literatur, die sind vogelfrei, da kann jeder Hans Narr seinen Mist darauf werfen, dem Dichter, dem Maler, dem Musiker seinen guten Namen nehmen, seinen Ruf, sein Brot.
Und sie wagen sich an alles, diese »Gebildeten!«
Es gibt überhaupt gar keine Bildung mehr. Es gibt nur Vielwisser, Halbwisser und – Alleswisser natürlich. Ausserdem die Dummheit. Und nur unter den »Dummen« trifft man ab und an mal ein paar Gebildete.
Gestern rote Grütze, heute rote Grütze, morgen rote Grütze, rote Grütze in alle Ewigkeit. Amen!
Das Leben geht hier seinen höllisch gleichmässigen Gang.
»Wat schall all dat Lihren, Herr. Wenn se sik man för't Füer wohren und sik man in acht nähmen, dat se nich int' Water lopen, wat brukt se mehr to weten. All könt wie doch nich klook waren.«
Hest recht, oll Jürs. Wat schall all dat Lihren.
Petersen bat mich, keine Pfennige wieder in die »Grabbel« zu werfen.
»Das v–v–verdirbt die Kinder nur.«
Er hat recht. Aber ich hatte diabolisches Vergnügen daran, wie sie sich balgten, übereinanderkollerten, Buben und Mädel im Staub der Landstrasse. Wie die Hunde um einen Knochen.
Vor zwei Jahren – ich warf mal Bonbons vom Wagen herab, unter die Dorfjugend. Köstlich! Aus dem Staub, dem Schmutz in den Mund. Brrr!
Müssen wir nicht alle unsere kleinen Freuden und Süssigkeiten aus dem Schmutz klauben? Und die grösste Süssigkeit (?), die Liebe, ist sie nicht eine Sumpfpflanze? –
Gott muss keinen Ekel kennen.
Petersen fragte mich heute zum drittenmal, ob ich noch nicht auf dem Aussichtsturm gewesen sei, auf dem Fürstenberg. Aber zum Teufel, ich will da nicht hinauf. Ich hasse Aussichtstürme und jede Art Kletterei, um möglichst viel auf einmal zu sehen.
Wenn es noch ein Leuchtturm wäre. Oder meine alte Pappel zu Hause.
Aber da ist es nicht der Aussicht wegen, weshalb ich da hinaufsteige. Die Poesie des Leuchtturms, wenn draussen der Sturm tobt und die Vögel gegen die Laterne stossen. Was soll ich hier sehen? Wald und Feld und wieder Wald und Feld, Kühe, Schnitter, Erntewagen. Immer dasselbe. Von einem Knick zum andern. Und das ganze läuft nur darauf hinaus, dass man so weit sehen kann, so weit, bis nach Lübeck hin. Und dann die Herzen und Pfeile, und die Müllers und Lehmanns. Vielleicht noch gar ein Fremdenbuch mit albernen Versen.
Ich sehne mich ein Bad zu nehmen, in der offenen See. Darüber geht doch nichts. Nackt dem Element hingeben. Direktestes Naturgefühl, Einsgefühl mit der Natur!
Diese dumme Küsserei! Es kam so über mich. Und so tolpatschig, wie nur ich bei solchen Sachen bin. Eine ganz unschuldige Regung der Zärtlichkeit.
Mancher küsst im Vorbeigehen jedes Mädel, das ihm gerade gefällt, und sie lachen beide und denken sich weiter nichts dabei. Es ist alles so naiv, harmlos, wie Blumenpflücken. Bei mir wird immer eine Haupt- und Staatsaktion daraus. Ich bin zu schwerfällig, nicht leichtherzig, nicht leichtsinnig genug.
Meine onkelhaftesten Regungen und Handlungen unterliegen der Missdeutung.
Hätte ich übrigens geahnt, dass die Kleine auf einen Kuss so reagierte – und ihr Platz auf der Schulbank ist noch warm.
Ich kann übrigens jetzt an sie denken, ohne dass mir diese roten Flecken vor den Augen schimmern. Sollte das doch tiefer gelegen haben? Eine etwas umständliche Art, mich zum Kuss zu bringen. Die Natur wählt sonst kürzere Wege, um zu ihrem Willen zu kommen.
Heute Nacht wieder diese wüsten Träume. Es rührt doch daher. Naturam expellas furca ...
Ich habe zu lange gefastet!
Übrigens die Mummsche Geschichte – alles schon dagewesen! Er wollte sie keinem andern mehr gönnen. Es war genug, dass er mit der andern unglücklich war. Auch das noch ertragen, die Geliebte im Besitz eines anderen zu wissen, eines Glücklicheren, das ging über sein Vermögen.
Es ist doch etwas Herrliches um solche Kraft und Leidenschaft! Wir zahmen, moralischen Schwächlinge resignieren lieber, ehe wir auch nur einen Tropfen Blutes vergiessen.
O, nur einmal einer solchen Leidenschaft fähig sein: Aber das wird uns nur einmal im Traum beschert.
Meine graue Dame vom Steg habe ich hoffentlich für immer abgewürgt. Diese Empfindung, als ich ihren Hals zwischen meinen Fingern hatte. Ein Kuss ist nur ein Glas Wasser dagegen, und jede andere Art Wollust.
Armer Mumm!
Man muss den Gespenstern nur über den Hals kommen, allen Arten Gespenstern. Sie sind schliesslich alle nur Puppen, mit Sägespänen ausgestopft, und wenn man sie um den Leib fasst, quietschen sie.
Übrigens zur Notiz für Gerdsen:
Ich sah bei einem Übergang über einen schmalen Wassergraben eine Dame auf dem Steg stehen. Ganz in Grau gekleidet. Sie starrte ins Wasser ohne mich zu bemerken. Es war ein trüber, nebliger Novembernachmittag. Das Bild prägte sich mir wunderlicher Weise so ein, dass es mich schlafend und wachend verfolgte. Seltsamste Hallucination. Oft, in aufgeregtem Zustand, oder in Traumstimmung, zur Dämmerzeit sah ich sie manchmal vor mir, zum greifen; ich habe mich in das Gespenst verliebt, mit einer Art Gräberliebe, Gruselliebe.
Sie hatte mich übrigens lange nicht besucht. Heute Nacht war sie wieder da.
Ob sie nun tot ist?