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Die weitverbreitete Meinung von der Zeit als der gerechten Richterin und treuen Bewahrerin menschlicher Verdienste und Schöpfungen ist ein schöner Wunschtraum. Von der altgriechischen Hochkultur sind nur gigantische Trümmerfelder übriggeblieben; auch von der hellenischen Literatur besitzen wir lediglich spärliche Reste. Die dem Dichter Homer zugeschriebenen Epen Ilias und Odyssee sind ein ganzes Zeitalter hindurch über dem römischen Dichter Vergil und seiner Äneis fast ganz vergessen worden. Die Werke unserer großen mittelalterlichen Dichter haben Jahrhunderte auf ihre Wiederentdeckung warten müssen. Aber auch in der Neuzeit, die durch den Buchdruck und andere technische Mittel der Wortkunst rasche und weiteste Verbreitung ermöglicht, kommt es vor, daß echtes Dichtertum unbegreiflich schnell dem Gedächtnis der Nachlebenden entschwindet. Wie die Schweiz ihren Gotthelf, ihren Gottfried Keller, wie Mecklenburg seinen Fritz Reuter hat, so ist unserem Thüringer Land und Volk in Marthe Renate Fischer eine Darstellerin geschenkt worden, die man mit Recht »klassisch« genannt hat. Dennoch war schon sechsunddreißig Jahre nach ihrem Tode die Erinnerung an sie und ihr Werk beinahe ganz erloschen. Als im März 1962 das Buch »Mit den Augen der Liebe«, eingeführt von unserem Landesbischof D. Dr. Mitzenheim, herausgegeben von der Pressestelle der Evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen, bei der Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin erschien, gab es so manchen, der die darin abgedruckten Novellen für veraltet hielt und eine Wirkung auf die heutige Leserschaft abstritt. Der schnelle Verkauf des Buches sowie zahlreiche Urteile haben jedoch den Zweiflern Unrecht gegeben. Nicht nur Vertreter der älteren Generation, sondern auch junge Menschen haben aus ihrer Begeisterung für die so zu Unrecht und höchst unverdient vergessene christliche Dichterin realistischer Prägung kein Hehl gemacht. Um so bedauerlicher ist es, daß auf einen Neudruck ihrer Hauptwerke, der Romane, wenig Hoffnung besteht, aber gerade im Hinblick auf diese Tatsache ist es um so nötiger, wenigstens aus der Novellistik weitere Proben darzubieten. So ist der vorliegende Band dazu bestimmt, durch den Abdruck von acht Erzählungen und zwei Episoden aus Romanen die bereits für Renate Fischer gewonnenen Leser zu bereichern und neue hinzuzugewinnen.
Marthe Renate Fischers Lebenslauf fehlen, abgesehen von der merkwürdigen Kurve ihres literarischen Aufstieges, die Höhepunkte, geschweige denn die Sensationen. Von Liebesgeschichten verlautet nichts; Ehe und Mutterschaft sind ihr versagt geblieben; Geld genug, um sich Haus und Garten anzuschaffen und große Reisen zu machen, haben die Bücher ihr nicht eingebracht. Die eingehende Erörterung ihres Lebens und ihrer Bedeutung (»Mit den Augen der Liebe«, Seite 11-93) zeigt, wie dürftig unser Wissen über Einzelheiten ihres Lebens ist, zumal nur eine beschränkte Anzahl ihrer Briefe vorliegt. Geboren wurde sie am 17. August 1851 in Zielenzig, einem neumärkischen Städtchen 40 Kilometer östlich von Frankfurt a. O. Hier hat sie als Tochter eines Gutsbesitzers im Kreise von drei älteren Schwestern und einem jüngeren Bruder ihre Kindheit verlebt. Da der Vater wirtschaftlich nicht vorwärts kam, siedelte die Familie zuerst nach Frankfurt, später nach Berlin über. Renate, deren Schulbildung in der Heimatstadt krankheitshalber unterbrochen wurde, mußte viele Jahre hindurch ihre Eltern und Geschwister durchbringen helfen; »die Sorge für den Unterhalt der Familie lag zum guten Teil auf ihren Schultern«. Nur in mühsam abgesparten Mußestunden konnte die Autodidaktin ihre ersten schriftstellerischen Entwürfe zu Papier bringen.
Renate Fischers erste Veröffentlichung in Buchform trat ans Licht, als sie bereits fünfunddreißig Jahre zählte: ein kümmerliches Zwanzig-Pfennig-Heftchen mit einem Dutzend kleiner Geschichten, die zuvor eine Berliner Zeitung abgedruckt hatte. In den nächsten acht Jahren hat die Verfasserin dieses »Novellettenkranzes« als Jugendschriftstellerin gewirkt. Sie schrieb vier Bücher für junge Mädchen, »Backfischromane«, wie man zu jener Zeit sagte, die nach dem damaligen Geschmack als vortrefflich galten und sich z. T. auch heute noch ganz gut lesen. 1894 erschien das erste Buch für Erwachsene: »Die Aufrichtigen«, ein heute für uns im ganzen unbefriedigender, aber in manchen Einzelheiten verheißungsvoller Bauernroman, der in einem norddeutschen Dorfe spielt. Als wiederum acht Jahre später der Novellenband »Auf dem Wege zum Paradiese« herauskam, hatte Renate Fischer als Erzählerin bereits festen Fuß auf dem thüringischen Boden gefaßt. Wann sie von Berlin aus ihren Wohnsitz nach Uhlstädt, dem reizenden Ort im Saaletal, wo ihre Tante ein Haus besaß, verlegt hat, ist uns unbekannt. Als ihr erster Thüringer Bauernroman, »Das Patenkind«, erschien, war sie sechsundfünfzig Jahre alt. Aufsehen erregte drei Jahre später als eine Frucht achtjähriger Studien der Roman »Die aus dem Drachenhaus«, mit dem sie zugleich einen volkserzieherischen Zweck verfolgte: die Bekämpfung des verderblichen Drachenglaubens. Im siebenten und achten Jahrzehnt ihres Lebens hat die Dichterin dann noch eine stattliche Reihe von Meisterwerken verfaßt: die vier Romane »Die Blöttnertochter« (1913), »Herr und Frau von Bosien« (1915), »Wir ziehen unsere Lebensstraße« (1920) und »Die kleine Helga Habermann« (1923). Dazu zwei weitere Novellenbände: »Aus stillen Winkeln« (1911) und »Hört, was die Scholle spricht« (1925).
Renate Fischers Bücher sind die Hauptdokumente ihres inneren, persönlichen Lebens, in dem sie ihre eigentliche Bestimmung, ihr Glück gefunden hat. Ihr »äußeres Leben« war voller Drangsale. Nachdem sie Uhlstädt verlassen hatte, wohnte sie zusammen mit ihren beiden unverheirateten Schwestern von 1911 bis 1914 in Leutenberg, dem Badeort im Sorbitztale. Dann zog sie nach Saalfeld, wo sie bis zu ihrem Tode das Haus Nr. 36 der früheren Knoch-, jetzigen Leninstraße bewohnte. Renates Briefe an die »Deutsche Schillerstiftung«, die sie ein Vierteljahrhundert hindurch in sehr anerkennenswerter, verständnisvoller Weise unterstützt hat, legen ein erschütterndes Zeugnis davon ab, wie schmerzlich sie unter eigenen Erkrankungen, der Sorge für ihre Schwestern und ihrer wirtschaftlichen Notlage hat leiden müssen. Dennoch sah die tapfere Frau in allen diesen Prüfungen »Kräfte-Erwecker und Kräfte-Entfalter«: »Wem das Leben keine Knüppel zwischen die Beine wirft, wem es nicht gelegentlich sein Kartenhaus einbläst, seine bunten Hoffnungsburgen in Scherben schlägt, aus dem wird nie ein fester Mann oder eine feste Frau.« Als die Dichterin am 17. Juli 1925 starb, hatte sie sich als Künderin des thüringischen Volkstums ein fest begründetes literarisches Ansehen erworben. Man horchte auf, wenn ihr Name genannt wurde. Mit liebender Verehrung sah eine große Leserschar aus allen Bevölkerungsschichten, besonders aus evangelischen Kreisen, zu ihr empor. An der Spitze Menschen hohen geistigen Ranges, wie die beiden Dichterinnen Marie von Ebner-Eschenbach und Lulu von Strauß und Torney, die Jenaer Professoren Wilhelm Rein und Heinrich Weinel, der spätere Heidelberger Germanist Professor Reinhard Buchwald, Heinrich Lilienfein und andere. Der »große Brockhaus« (Leipzig 1928 bis 1935) bezeichnete sie als »die klassische Darstellerin des thüringischen Volkslebens«.
Welchen Platz hat Marthe Renate Fischer im Schrifttum ihrer Zeit eingenommen? Worin besteht ihre Bedeutung für die Geschichte der deutschen Dichtung? Sie war als Darstellerin, wie ihr berühmter Zeitgenosse Gerhart Hauptmann und viele Gleichstrebende, eine ausgesprochene Realistin. Sie trat an das, was sie sagen wollte, nicht von vorgefaßten Gedanken, von Ideen aus heran, sondern sie nahm ihren Ausgangspunkt bei den »Sachen«, den Menschen, die sie aufs genaueste beobachtete, Dabei haben es nur wenige so ernst genommen wie sie. Renate ging auf die Dörfer, in die Bauernhäuser, nahm in ländlicher Tracht an der bäuerlichen Hausgemeinschaft teil, lauschte den Dorfbewohnern ihre Mundart ab und lebte sich in ihre Vorstellungsweise hinein, wobei sie eine vorzügliche Kennerin des thüringischen Aberglaubens wurde. Da sie um die Abhängigkeit des Menschen von seiner landschaftlichen Umgebung wußte, suchte sie den »Genius loci«, den Geist und die Stimmung einer bestimmten Gegend, zu ergründen. Wie es ihr bei solchen Versuchen erging, hat sie einmal ausführlich mitgeteilt (»Mit den Augen der Liebe«, Seite 61). Aber was sie von der Fülle des Geschauten und Erlebten in Prosadichtung umsetzte, glich keineswegs einer Photographie, sondern einem Kunstwerk, einem Gemälde. Klug beschränkte sie sich auf die wesentlichen Züge. Sie wahrte über den Einzelheiten, den Details, die Einheit des Ganzen. Sie betrachtete die Menschen nach ihrer individuellen Seh- und Auffassungsweise und hauchte ihnen dabei etwas von der eigenen Herzenswärme ein. Wenn es etwas Ideelles gab, das ihre Schöpfungen befruchtete, so war es die aus christlicher Geistes- und Lebenshaltung erwachsene Überzeugung, daß es unser aller Bestimmung ist, uns vom Staube, von der Triebverbundenheit zu befreien, uns zu läutern und zu höheren Zielen emporzustreben. So war Marthe Renate Fischer eine echt christliche Dichterin, eine wirklichkeitsnahe, illusionslose Erzählerin auf dem Grunde christlichen Bewußtseins. Dabei war sie durch ihre starke, eigenartige Persönlichkeit, dieses Wort im dynamischen Sinne, als Funktion verstanden, ihre Art und Weise wahrzunehmen und zu gestalten, von trivialer, hausbackener christlicher Schriftstellerei weit entfernt. Wenn der Leser die Novellen des vorliegenden Bandes durchgeht, möge er darauf achten, wie die Verfasserin, die dem wohlhabenden deutschen Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstammte, Menschen geringeren Standes, »kleine Leute«: Knechte und Mägde, Tagelöhner und Häusler, Fabrikarbeiter und Heimarbeiterinnen besonders gern in den Mittelpunkt stellt. Sie tut dies nicht um einer Mode oder um eines besonderen Zweckes willen, sondern aus einem christlichen Grundgefühl heraus, das sie immer wieder zu den »Mühseligen und Beladenen« hinzog. Auffällig ist es auch, daß sie kaum einen Gebrauch von dem gängigen christlichen Vokabelschatz macht, auch nicht an solchen Stellen, wo es durchaus nahe gelegen hätte. Weder treten Pfarrer in ihren Büchern auf, noch werden Probleme unseres Glaubens, unseres Bekenntnisses erörtert. Sie zögert, bei den Fragen der Liebe, der sozialen Verpflichtung, des Alters, des Aberglaubens die christlichen Lösungen heranzuziehen. Für diese Frau war der Glaube an die Erlösungstat des Heilandes, an Gottes leitende Hand als die Grundlage ihrer Existenz eine selbstverständliche Herzensangelegenheit. Die Keuschheit ihrer Seele verbot ihr, viele Worte darüber zu machen. So ist ihr Leben und ihr Werk ein vollgültiger Beweis dafür, wie sehr das Evangelium, die Frohe Botschaft, mit einer sachlich nüchternen Lebensbetrachtung, vom weltanschaulichen wie vom künstlerischen Standpunkt aus, zusammenpaßt. Sie sah die Welt, wie sie ist, in ihrer nackten Wirklichkeit, aber »mit den Augen der Liebe«.
Der Reigen der Novellen und Episoden, die hier aus dem Gesamtwerk Marthe Renate Fischers zusammengetragen sind, wird eröffnet durch »Die Schwestern«, eine kurze Erzählung, die uns anmutet, als hätte ein Dichter vom Range Adalbert Stifters in seiner abgeklärten Weltschau und in seinem Abstande vom Leben das Wort. Das vorherrschende Thema bildet ein Altersproblem, die Frage, wie auch Menschen, deren Wachstum nie zum Blühen gereift oder nach der Blüte um seine Früchte gebracht worden ist, noch im letzten Drittel ihrer Tage eine gesunde, tätige Lebensfreude zurückgewinnen können. Den beiden Fünfzigerinnen gelingt es, indem sie aus den Quellen ihrer Jugend schöpfen. Aber ihre Erinnerungen haben nichts mit romantischer Anempfindelei zu tun. Vielmehr sind es Tatsachen echter seelischer Entwicklung, wenn durch das Wiedererwachen ihrer Kindheit der Schutt hinweggeräumt wird, der sich über ihrer ursprünglichen, angeborenen Natur abgelagert hat. So werden gealterte Menschen jung und fröhlich, »plaudern und lachen«, weil sie wieder zu sich selbst gekommen sind.
Ebenso wie die »Schwestern« spielen die nächsten beiden Geschichten: »Der kleine Napoleon« und »Die Frau von Marree« in der bürgerlichen Umwelt des vorigen Jahrhunderts, die in ihren positiven wie negativen Zügen in Erscheinung tritt. In das alte Fräulein, das in langen Jahren einträchtigen Zusammenlebens mit einer wenig bemittelten, jedoch menschlich höchst achtbaren Gutsbesitzersfamilie fest zusammengewachsen ist, fährt plötzlich die Großmannssucht. Sie entschließt sich, in ein vornehmeres, besser situiertes Haus umzuziehen. Was wäre aus ihr geworden, wenn dieser Plan sich verwirklicht hätte! Allein da setzt kurz vor ihrer Abfahrt jener Umschwung ein, der uns aus den Romanen der Dichterin wohl vertraut ist, die innere Läuterung. Renate Fischer bedient sich eines surrealistischen Mittels, indem sie einen unsichtbaren Redner einführt, der dem alten Mädchen, aus dessen besserem Selbst er spricht, eine regelrechte, wohlverdiente »Standpauke« hält. Erst jetzt, nachdem die Reinigung von der sittlichen Seite her angebahnt worden ist, greifen äußere Mächte ein: der Gewittersturm und die wildgewordenen Ochsen und Pferde. Der vortrefflich gebauten Novelle geben Symbole ein besonderes Gewicht. An den törichten Wünschen der Tante war der Unruhestifter, der kleine Napoleon aus Porzellan, schuld: Der lange ersehnte Sommerregen, der die Ernte rettet, versinnbildlicht die Rückkehr zur Vernunft, zum seelischen Gleichgewicht, zu »einer starken, sonnigen, sanften Herbststille«.
Während die Tante noch rechtzeitig vor den Folgen ihres Vornehmtuns gerettet wird, fällt Florentine Kuntzendorff, die spätere »Frau von Marree«, der Engherzigkeit ihrer Umgebung zum Opfer. Was für Seligkeiten hätte sie durchkosten dürfen, wenn sie ihrem Herzen gefolgt wäre und dem geliebten Manne die Hand gereicht hätte! Jedoch das Gebot der Sitte, der Gehorsam gegen den Vater, der allerdings nicht nur durch den Gedanken an das Geld geleitet wird, geben für sie den Ausschlag. Allein sie hat falsch gehandelt, als sie im Streite der Pflichten die Stimme in der eigenen Brust überhörte. Als nach achtundvierzig Jahren die Sechsundsechzigjährige kinderlose Witwe zu ihrer Jugend zurückkehrt, widerfährt ihr das genaue Gegenteil von dem, was die »Schwestern« erlebten: Sie verliert sich in eine ausweglose Tragik. Wiederum spricht die Dichterin in Bildern zu uns. Der ausgestopfte Kanarienvogel in der grauen Pappschachtel und der ergreifende Brief des jugendlichen Bewerbers zeigen ihr den Weg, den sie hätte gehen sollen. Was ihr der anerzogene Gehorsam eingebracht hat, offenbart ihr gelangweiltes, ausdrucksloses, ja häßliches Gesicht, in dessen Zügen nichts mehr vorhanden ist, »was den Ausdruck ihres Jammers und Leides verklärt oder gemildert hätte«.
Das Thema der unglücklichen Liebe erklingt auch in den beiden nächsten Novellen, der »Kränzchenfrau« und der »Taufe im Wirtshaus«. In der ersten treten wir, nachdem wir die bürgerliche Gesellschaft verlassen haben, in den Kreis der Dorfbewohner, der bäuerlichen Menschen. Die Wirklichkeitsnähe der Darstellung steigert sich: Die Mundart wird laut und vergewissert uns, daß wir auf thüringischem Boden stehen. Die soziale Frage wird gestellt. Die Dreher in der Fabrik sterben fast alle frühzeitig dahin. Wie mühselig muß die alte Hanne, glücklicherweise ohne den Humor zu verlieren, sich und ihr Enkelchen als Tagelöhnerin, durch das Sammeln von Pilzen, Beeren und Heilkräutern und durch Flechten von Kränzen für den Lebensunterhalt sorgen! Um ein Kränzchen zu erhandeln, tritt die jugendfrische Hulda in ihr Häuschen, und wir erfahren, wie diese an ihrem Burschen die gleiche Enttäuschung erlebt, wie einst ihre Mutter an dessen Vater. Nur mit dem Unterschiede, daß die unglückliche Mutter darüber wahnsinnig geworden ist … Als Marie v. Ebner-Eschenbach die Novelle gelesen hatte, schrieb sie der Verfasserin: »Die Kränzchenfrau hat mich entzückt. Tief bewegt, voll Wehmut und Freude, habe ich die köstliche Erzählung aus der Hand gelegt und werde sie nie vergessen. Sie gehört wohl zu den schönsten und besten, die wir überhaupt besitzen.«
Bisher haben Schicksale von Frauen vorgeherrscht. Mit der »Taufe im Wirtshaus« nehmen die Männer deren Stelle ein. Der Held dieser Geschichte ist keiner im Sinne besonderer Männlichkeit. Philipp Lattermann hat aus dem deutsch-französischen Kriege von 1870/71 neben einem Schenkelschuß eine seelische Verwundung heimgebracht: Er kann die Erinnerung an die Infanterie-Gefechte, in denen ein Kamerad nach dem anderen von einer Kugel getroffen zu Boden stürzte, nicht wieder los werden und bricht in Tränen aus, wenn er daran zurückdenkt und davon erzählt. Ja, seine krankhafte Weichheit hat seinen Charakter verändert. Er neigt zum Trunke und hat anstelle seiner früheren Geliebten, der jetzigen Wirtsfrau, ein Mädchen geheiratet, das wenig zu ihm paßt. Aber jene, die unterdessen in einer anderen Ehe längst Witwe geworden ist, kann ihn nicht vergessen und nimmt sich seiner mütterlich an. Im zweiten Jahre des ersten Weltkrieges war es ein besonderes Verdienst, daß die Dichterin den Krieg von einer anderen Seite aus ansah, als es damals weithin geschah, und dessen verhängnisvolle Folgen für das Leben in Betracht zog.
Die nächsten beiden Stücke unserer Sammlung sind keine in sich geschlossenen Novellen oder Skizzen, sondern Episoden aus zwei Romanen Renate Fischers. Die erste, hier »Konrads Flucht« genannt, ist den »Aufrichtigen« entnommen, jenem ersten Bauernroman, der 1894 in Stuttgart bei Adolf Bonz, ihrem Hauptverleger, als erstes ihrer Werke erschien. Wir werden in ein norddeutsches Dorf geführt, das den Namen Malkow trägt. An die Mundart wagt sich die Verfasserin noch nicht heran und begnügt sich mit ein paar Anklängen an die niederdeutsche Sprache. So unzulänglich der Roman noch im ganzen wirkt, fesselt er uns doch durch ein paar Nebengestalten und Einzelszenen. Zu diesen gehört der packend vorgetragene Bericht, wie ein Kleinbauernsohn, der zwölfjährige Konrad Stenger, weil er seine Spielgefährtin und spätere Frau, die kleine verwachsene Marianne, Tochter der reichen Bäuerin Beate, in einer zornigen Aufwallung bucklig genannt hat, nun aus Furcht vor Strafe Reißaus nimmt und sich im Walde verirrt. Sein Ausbleiben versetzt die Eltern und schließlich das ganze Dorf in schwerste Unruhe.
In ihrem ersten Thüringer Bauernroman, dem »Patenkind«, stellt Renate Fischer ihre Menschen in eine Umgebung hinein, die von einem vielfältigen Brauchtum beherrscht wird. Zu den alten Gebräuchen gehört der alljährliche Wettbewerb, welches Floß im Winter nach dem Eintritt des Tauwetters als das erste die Saale abwärts gelangt. Diese Floßfahrt ist ein lebensgefährliches Wagnis, und Mäuschen, seines Zeichens ein junger Maurer und Flößer, kommt nur um ein Haar mit dem Leben davon. Bei seiner Rettung spielt der »Himmelsbrief«, eine christlich verbrämte Form alten Aberglaubens, zunächst eine Rolle. Die Dichterin steht als Darstellerin seelischen Erlebens wie als Wortkünstlerin auf dem Gipfel ihres Könnens. Man beachte z. B. eine Einzelheit, wie den zweimaligen Gebrauch des Vergleiches von Mäuschens Schrei mit der »tönenden Säule«.
Die Erzählung mit dem merkwürdigen Titel »Derjenige« ist dem »Novellettenkranz« entnommen, Renate Fischers erstem Werk, sofern wir das Zwanzig-Pfennig-Bändchen Nr. 18 von »Weicherts Wochenbibliothek« als ein solches bezeichnen dürfen. Die kurze Geschichte unterscheidet sich von den elf übrigen Novelletten zu ihrem Vorteil dadurch, daß der Leser nicht durch ein uns längst fremd gewordenes Milieu abgestoßen wird. Der Vortrag ist schon recht flüssig, die Handlung verläuft geradlinig, die Gestalten sind greifbar. Das Thema des Aberglaubens, das hier zum ersten Male bei der Dichterin erklingt, wird kurz, aber wirkungsvoll durchgeführt und läuft in einen harmonischen Durakkord aus: Wir werden mit der Hoffnung entlassen, daß sich der brave und tüchtige Panek sein Fluchen und seine Phantasielügen doch noch einmal abgewöhnt.
Die beiden letzten Erzählungen stammen aus einer Novellensammlung, die 1909, zwei Jahre nach dem »Patenkind«, gedruckt wurde. Die sieben Kapitel der »Letzten Station« sind durch einen festen Rahmen zusammengeschlossen: Die in dem Feierabendheim so freundlich verpflegten Altersrentner teilen miteinander den Schauplatz ihrer letzten Jahre wie ihre Lebensweise. Den alten Valentin, der in seinen Seifenlappen vernarrt ist, haben die Leser (»Mit den Augen der Liebe«, Seite 191 ff.) bereits liebgewonnen. Der »Alte Daniel« und »Orlando, der Schäfer« mögen den Eindruck, den das Büchlein hinterläßt, vervollständigen. Die fixen Ideen, denen der fünfundachtzigjährige Daniel huldigt, sind harmloser Art, und die grundgütige Schwester Karoline läßt den kindlichen Greis gern gewähren. Orlando erfährt in dem Altersheim eine durchgreifende Wandlung. Der ehemalige Schäfer hat bei einer Feuersbrunst Haus und Habe eingebüßt; zuletzt ist auch seine Frau dahingestorben. Bei seiner Einlieferung wünscht er sich nur das eine: einen baldigen Tod. Doch die ungewohnt gepflegte Umgebung, die rücksichts- und liebevolle Behandlung, die ihn mit Erstaunen erfüllt, vor allem die Feierlichkeit, mit der ein verstorbener Kamerad bestattet wird, geben ihm das Bewußtsein seiner Menschenwürde und die Freude am Leben zurück. Er gesundet, darf wieder eine Schafherde hüten und dankt Gott in einem heißen Gebet für die »köstlichen Tage«, die ihm beschert sind: »Ich möchte nune wohl noch e bißchen hier unten bleibe. – Ich möchte wohl bitten, daß du noch möchtst e bißchen laure … Indessen … dei Wille geschehe –«.