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Die Floßfahrt

Es lief eine Depesche aus dem Oberland ein: »Eisgang. Groß Wasser.« Und Eis und Wasser kamen.

Um Rudolstadt herum dauerte es keine Stunde, so war die Saale frei. Aber vor Pöhlstädt staute sich das Eis, und das Wasser überschwemmte die Felder und Wiesen.

Auch der Weidigt stand unter Wasser, unterhalb des Wehrs inmitten der Saale die kleine Geröllinsel, die mit Weiden bewachsen ist und die bei niedrigem Wasserstand meist trocken liegt, ein schmaler Streifen aus abgelagertem Flußgries.

Mäuschen hatte seine Wickelstiefel geschmiert, jetzt sah er nochmals das Seil nach, wickelte es zusammen und stellte seine Floßaxt dazu. Dann setzte er sich in Schlappschuhen und Hemdsärmeln auf die Ofenbank und spielte mit seinem kleinen Jungen.

Er stellte das Kerlchen auf sein Fußblatt, faßte den kleinen Mann breit bei beiden Händchen und schaukelte das Bein auf und ab, so daß das Hemdenmätzchen wie ein kleiner, weißer, fliegender Engel aussah. Das Bürschlein mit den gebreiteten Ärmchen stand ein wenig vornüber. Dadurch fiel aber auch das Hemdchen, das hinten offen war, vor und hing wie eine kleine weiße Gardine herab, hinter der das reizendste, nackende Bengelchen zum Vorschein kam.

Die Frau trat ein. Sie bückte sich und hob. ein Stückchen Floßwiete auf, das mit dem Seil in die Stube gekommen sein mochte, drehte es wie einen Strick zusammen und bog es vor und zurück, um es zu zerbrechen.

»Das hat enne Widerstandskraft«, sagte sie.

Mäuschen, der ihr lachend zugesehen hatte, antwortete: »Ja, die Floßwieten sind zähe. No, das sind ja keine Weiden, das is enne Art Fichte, wo wir die Reiser davon nehme.«

Er hatte seinen kleinen Jungen jetzt auf dem Knie. Immer noch lachend, sah er, wie seine Frau den Mund vorschob und an dem Wietenendchen weiterdrehte.

»Das hält«, sagte sie, und warf es auf das Fensterbrett.

Und dann legte sie das Kindchen zu Bett und packte für ihren Mann einen Reisebissen, indes Mäuschen sich anzog. Frisch und fröhlich ging sie ab und zu.

»Ihr kommt mit der Fichte«, sagte sie, »gelle ja?«

»Ja«, gab er zur Antwort. »Es wird uns ja wohl keiner zuvorkomme.«

Floßaxt und Seil auf der Schulter, die Wickelstiefel verschnürt in der Hand, so brach Mäuschen auf.

Auf dem Bahnhof traf er mit dem Nachbar zusammen.

Sie fuhren dann über Orlamünde, Pößneck bis Ziegenrück, verließen hier den Zug und gingen weiter in der Nacht über die Berge.

Am andern Morgen begannen sie gleich, ihr Floß zu bauen. Wenn das Tageslicht schwand, mußte es fertig sein und eingehängt sein, damit am Morgen darauf die Fahrt beginnen konnte.

Mäuschens Frau wußte zu jeder Stunde, wo die Männer waren und was sie taten.

Sie hörte den Pfiff der Lokomotive und wußte: Jetzt geht der Zug ab, der sie nach Ziegenrück führt. Sie wußte, wann sie ihre Bergwanderung antraten in das Oberland.

Zuerst erzählten sie sich allerlei Vorkommnisse von früheren Floßfahrten, von eigenen und denjenigen anderer Leute. Auch die Geschichte vom alten Schmeereis und der Wache kam wieder zum Vortrag. Dann aber fingen sie an zu gähnen und wurden einsilbig.

Im Morgengrauen langten sie endlich an, saßen, sich streckend und die Augen reibend, im Wirthaus, wärmten sich und stärkten sich. Eine Stunde fast hatten sie noch zu laufen bis zu der Stelle, wo das Floß gebaut und eingehängt werden sollte. Und am Abend eine Stunde zurück zum Nachtquartier.

Wenn sie zum Nachtquartier kamen, mußte die Wirtin grüne Klöße machen.

»Solche, die recht zittern, Frau Werten, wie Sie immer for den alten Schmeereis welche gemacht haben, der in Heiligen-Eberschdorf die Wache rausgebrüllt hat …« also sprach Mäuschen.

Alles das wußte Mäuschens Frau und war bei den Männern und sah sie und sprach mit ihnen in ihren Gedanken.

Am übernächsten Morgen wurde sie zeitig wach.

»Jetzt müssen sie aufstehe«, dachte sie.

Sie saß aufrecht im Bett und bedachte es sich, ob sie wohl mit der Fichte fahren würden, ob ihr Floß wohl das Glück haben würde, das erste zu sein, das im neuen Jahre stromab kam.

Sie war am Abend vorher auf der Saalebrücke gewesen und hatte nach dem Wasser gesehen, wie hoch es stand und wie scharf es daherfloß.

›Wenn sie bloß nirgends anecken‹, hatte sie gedacht, ›daß sie nich aus dem Fahrwasser kommen‹ …

Jetzt, als sie im Bett saß, drückte sie was auf der Brust. Es war der Himmelsbrief, in den sie das Stückchen Floßwiete eingefaltet hatte.

Als sie am Abend ihren Himmelsbrief gebetet hatte, hatte sie das Floßwietenendehen auf dem Fenster liegen sehen und hatte es mit dazugelegt. Sie hatte gleichsam einen Zauber gesponnen von dem Himmelsbrief hinüber zur Floßwiete, und von der Floßwiete hinüber zum Floß, auf dem Mäuschen saaleab kam. Sie hatte das Floß geschützt, damit es nicht anecke und nicht aus dem Fahrwasser kam.

›Itze fahren sie ab‹, dachte sie.

 

Das Floß war unterwegs. Es trug die Fichte, ein lockeres Bäumchen, an dessen Stamm und Zweigen schon kleine Liebesgaben befestigt waren.

Auf dem ersten Gelenk stand Mäuschen an der Patsche (Steuer), auf dem zweiten Gelenk der Nachbar. Das Wasser ging hoch, und der Saalelauf war wild.

Wild war auch der Anblick der Ufer mit ragenden Felsen. Die Floßaxt war eingehauen, Seil und Rüffel verwahrt. Die Flößer standen breitbeinig auf ihren Plätzen, die hohen Wickelstiefel an den Füßen.

Allmählich wurden die Ufer flacher und freundlicher, und eine Ortschaft tauchte daran auf. Da mußten sie nun anlegen und mit dem Fichtenbäumchen abklopfen.

Das Seil, mit dem einen Ende am Floß festgebunden, wurde mit dem anderen Ende am Rüffel befestigt, einem Pfahl, der scharf zugespitzt ist, und Mäuschen hielt mit seinem Steuer aufs Land. Der Nachbar sollte den Sprung machen und das Floß zum Halten bringen.

Mit dem Rüffel in der Hand stand der Mann bereit, dicht am Ufer schoß das Floß dahin.

»Itze spring!« rief Mäuschen.

Der Mann sprang.

Kaum war er drüben, so trieb er den Rüffel in das Erdreich ein. Kaum rückte das Floß an, so riß er ihn wieder heraus und sprang weiter und stieß abermals schräg den Rüffel ein. Er minderte die Kraft und Schnelligkeit des Floßes, indem er es aufhielt und ihm dann wieder Bahn ließ und es wieder aufhielt.

Vier- oder fünfmal mußte er den Rüffel einstoßen und neben dem Floß her jagen in seinen hohen Wickelstiefeln, die bis zum Leib reichten, ehe er es wagen konnte, den Pfahl einzutreiben.

Nun hielt das Floß, und sie zogen ihre Röcke über die Wolljacken, nahmen die Fichte und gingen in den Ort.

Im Gasthof kehrten sie ein.

Während sie tranken, band der Gastwirt sein Geschenk an das Bäumchen. Pochten sie im Kaufladen an, so folgte der Kaufmann seine Gabe aus. So klopften sie mit der Fichte ab.

Und dann setzten sie ihre Fahrt fort.

Sie standen jeder an seiner Patsche mit breitgestellten Füßen, Seil und Rüffel lagen auf dem Floßboden, die Röcke hingen festgebunden auf dem »Knecht«. Sie schossen auf dem wilden Wasser dahin, ihr Augenmerk darauf gerichtet, daß sie im Fahrwasser blieben.

Und wieder tauchte eine Ortschaft auf, und wieder hielt Mäuschen auf das Land zu, und wieder kam seine Mahnung: »Itze hüpf rüber!«

Darauf folgte dann der Sprung und die Jagd am Ufer dahin, um das Floß aufzuhalten. Und wenn es festlag, griffen sie wieder nach ihren Röcken, nahmen das Fichtenbäumchen und gingen abklopfen.

Und am Fichtenbäumchen schaukelten mit der Zeit die heitersten Sachen: Tabak und Wurst und bunte Tücher, die im Winde flatterten, wenn das Floß auf dem wilden Wasser weiterschoß. –

Der Abend war herangekommen, und das Floß lag fest. Beide Männer hatten den Pfahl tief in die Erde eingetrieben.

Die Röcke hatten sie schon angezogen. Jetzt nahmen sie die Fichte und die Axt und gingen in den Ort am Saaleufer zum Nachtquartier.

»Frau Werten, Kaffee, aber guten, und Wurscht«, bestellte Mäuschen. »Und danach grüne Klöße, aber solche, die recht zittern, wie Sie immer haben mußt for den alten Schmeereis welche mache.«

Und Wirt und Wirtin setzen sich zu den Flößern, und die Geschichte vom alten Schmeereis wird erzählt, wie er in Ebersdorf die Wache herausgebrüllt hat.

Und die Flößer essen. Sie laden ein, als sei ihr Magen eine große, leere Tonne, die sie füllen müssen.

Nachher schlafen sie und schnarchen. Mit dem dämmernden Morgen aber gehen sie wieder auf ihr Floß.

 

Die Sonne kam heraus und streifte die Flößer mit warmen Strahlen auf ihrer Fahrt auf dem Wasser. Der Himmel sah blau aus von ganz dunkel bis wasserhell.

Es war ein unendlich reizvolles, stumpfes Blau, nicht das jauchzende junge Frühlingsblau, eine Farbe vielmehr, reif und wehmutsvoll, die einem frohen, schönen Gesicht glich zwischen Schmerz und Lachen.

Der ganze Himmel war mit dicken, weißen Wolken bepackt. Man sah Schneeberge und Schneewälle, und man hatte durch Schneemauern und Schneetore den Durchblick auf stille, wasserhelle, blaue Seen. Da waren Menschen und Tiere und Burgen und Wälder zu schauen, alles plastisch und greifbar deutlich, aber in weißer, stiller, leuchtender Schneefarbe. Da stand mitten im dunkelsten Blau ein riesenhafter Kosak, der drohend seine Faust erhoben hatte. Aber nach einer Weile hatte er sich in einen hohen Engel verwandelt mit großen Fittichen und einem Lilienstengel. Die Sonnenstrahlen kamen jetzt nicht mehr zu den Flößern hinab, denn die Sonne stand hinter den weißen bauchigen Wolken und durchleuchtete das ganze gewaltige Schneefeld, so daß weißsilberne Blinklichter entstanden und schwarzsilberne Schatten. Und immer gewaltigere Schneeberge drängten am Horizont herauf.

Zuletzt war die Sonne ganz gefangen, und ihre Strahlen konnten nicht mehr die Wolken durchdringen. Da sah man, wie aus dem weißen Schneewunder schwarze Klumpen entstanden, die Regen verhießen.

Die Rabenkrähen zogen aber über das Tal mit ihrem unharmonischen Schrei krah, krah, und das Wasser war schwarz, und schwarz waren die Berge und die Fichten.

Es fing an zu regnen, sacht und gleichmäßig. Nachher kam der Wind.

Die Flößer wollten bis Rauten flößen, kurz vor Rauten wollten sie anlegen und die Nacht ein jeder in seiner Behausung schlafen.

Aber es wurde spät. Die Dämmerung war schon angebrochen, als sie bei ihrer Anlegestelle endlich anlangten. Sie standen in ihren Röcken an den Patschen, ihre Hände waren steif von der Nässe und Kälte.

Und dann kam das Anlegemanöver. Mäuschen hielt wieder auf das Ufer zu, der Nachbar sprang wieder an Land und stieß den Rüffel in das Erdreich hinein. In steifen, kurzen Sprüngen lief er neben dem Floß dahin. Er riß den Rüffel heraus, er stieß ihn wieder hinein – fast entglitt er dabei seinen eisig kalten Händen.

Ab.er dann kam er an eine Weide, die dicht am Ufer stand und einen sicheren Halt verhieß für das Floß.

Schnell schlang er das Seil um die Weide herum.

Aber das Floß war noch zu sehr im Schuß, und beim Anruck bog sich der Baum, als solle er entwurzelt werden.

Das Seil zerriß mit einem Krach, und das Floß schoß dahin. Es war aber keine Möglichkeit vorhanden bei dem hohen Wasserstand und scharfen Wind, daß das Floß gelenkt werden konnte nur mit einer Patsche.

Das wußte der Mann, der darauf verblieben war, und er stieß einen Schrei aus, so gräßlich und gellend wild in seinem Entsetzen, daß die Bergwände ihm nicht den Eintritt in ihre Wälder gewährten – einen Schrei, so geheimnisvoll fürchterlich in seiner Herzensqual, daß sie ihn packten und ihn zurückwarfen, so daß er zitternd in der Luft aufrechtstand wie eine tönende Säule, ehe er erstarb.

In langen, verhetzten Sprüngen wie ein Tier raste der Nachbar am Fluß entlang über die Saalebrücke nach Rauten hinein. – Unaufhörlich, während er lief und sprang, schrie er um Hilfe.

Aber ihm auf den Fersen raste das Floß heran und schoß unter der Brücke weg.

Männer stürzten herzu.

Doch schon hatte das Floß das Überschwemmungsgebiet erreicht, und eine breite Wasserfläche trennte es von jeder menschlichen Hilfe.

 

Mäuschen handhabte das Steuer auf Land zu. Aber das Floß gehorchte der Führung nicht. Er sah die schattenhaften Gestalten der Männer im hastigen Lauf der Saalebrücke zustreben vor Ober-Dornum. Und sein Herz faßte frischen Mut. An der Brücke würde es den Männern gelingen, ihn aufzuhalten.

Aber da tauchten Lichter auf, brandendes Geräusch erreichte sein Ohr –

Er näherte sich dem Pöhlstädter Bahnhof.

Dicht hinter dem Bahnhof war das Wehr.

Nun stockte ihm der Atem vor ungeheurem Entsetzen.

Sein Hilferuf gellte in den Abend hinein, krampfhaft umklammerten seine Hände die Patsche.

Die Lichter wurden heller, das Wassergeräusch brausender. Schnell, wie ein Vogel fliegt, jagte das Floß in sein Verderben.

Jetzt schoß das erste Gelenk vom Wehr hinab. Aber das zweite Gelenk folgte nicht nach. Mit Krach und Schlag riß es ab und blieb festgeklemmt auf dem Wehr sitzen.

Das Vordergelenk hatte sich in das Weidigt eingebohrt. Der fürchterliche Ruck, mit dem es geschah, hatte Mäuschen zu Boden geworfen. Die Wellen waren über ihn hinweggeschossen.

Er hatte sich festgeklammert und konnte sich wieder erheben. Wieder gellte sein Hilferuf über das Wasser.

Am Schienenstrange sammelten sich Menschen an, aber sie konnten ihm keine Hilfe bringen. Es gab wohl ein paar Boote in den verschiedenen nächsten Ortschaften. Aber man hatte schließlich die Brücken, und darum waren die Boote allzu klein und nicht wassertüchtig.

So verging Minute um Minute, Viertelstunde um Viertelstunde.

Es wurde abendlich dunkler, die Luft kälter, der Wind schärfer. Das Wasser brach sich tosend auf dem Wehr an dem Wrack des zweiten Gelenks, das wie eine Harfe aufgerichtet war, und überspritzte den unglücklichen Mann im Weidigt mit kalten Wasserstrahlen.

Die Leute von Ober-Dornum und Rauten waren nun auch herbeigekommen. Der alte Meßner erhob seine Stimme.

»Hörscht du mich?«

»Ja«, kam die Antwort.

»Wir können dir hier nich helfe, von unsern Platze aus. Das is unmöglich. Aber vielleicht können wir dir unten an der Brücke helfen. Nu nimm deine Axt und hau drei Stämme ab vom Floß und kauz dich rauf und laß dich forttreibe. Wir wollen sehen, daß wir dich erwischen können unten an der Brücke.«

Es gab keine andere Hilfe. Aber es war grauenhaft anzusehen, wie der Mann seine Axt gebrauchte. Er konnte sie kaum mehr halten in den erstarrten Händen, und schlaff und kraftlos fielen seine Hiebe.

So verging wieder Viertelstunde um Viertelstunde, bis endlich die zähen Wieten durchschlagen waren, das Floß klaffte – das schmale Bruchstück sich ablöste – auf dem Wasser hin- und herschwankte – von den Wellen gedreht und gehoben und getrieben in das Fahrwasser kam – und auf der schwarzen Wasserfläche von dannen schoß – auf ihm wie ein dunkler Klumpen zusammengeduckt der Mann, dessen Hände den schmalen Steg umklammerten, der ihn entführte. –

An der Brücke von Ober-Dornum hatten sich indessen die Männer angesammelt. Da standen ihrer sechs oder acht mit großen Laternen und beleuchteten das Wasser. Und diesseits der Brücke und jenseits der Brücke standen die anderen Männer zu beiden Ufern mit langen Floßstangen, um die Floßtrümmer aufzuhalten.

Da stand der Bunte als erster Posten weit vorgeschoben schon im sumpfigen Überschwemmungsgelände und fühlte, wie seine Füße mehr und mehr einsanken. Aber eine düstere Freude am Wagnis verklärte sein Rattenfängergesicht. –

Das Floß mit dem verlorenen Mann schoß daher. Die erste Floßstange schlug hinab und schlug fehl. Sie hatte nur das Wrack gestreift, das weiterschwankte.

Man hörte aber ein dumpfes Röcheln und Winseln vom Wrack aufsteigen: »Gott hilf! Gott, hilf mir! Gott, verloß mich nich! Hilf! – Hilf! – Hilf! – Hilf!« –

Und nun schlugen im schnellen Tempo die anderen Floßstangen ein, die alle einen Haken an der Spitze führen, die langen Floßstangen der Männer, die sich diesseits der Brücke aufgestellt hatten.

Aber keiner von ihnen war es beschieden, sich im Wrack festzuhaken. Sie streiften es nur, oder aber sie schlugen daneben ins Wasser. Und das Wrack schaukelt – und wich aus – und schoß weiter – und war unter der Brücke verschwunden.

Da schlugen die Floßhaken von jenseits der Brücke herab. Doch sie streiften nur das fliehende Floß, das aus seiner Bahn wich.

Denn es floh weiter! – Es floh! – Es floh!

Man hörte aber einen Schrei aufsteigen, der so gräßlich war, daß die Bergwände ihm nicht den Eintritt in ihre Wälder gewährten – einen Schrei, so gellend wild, so geheimnisvoll fürchterlich, daß sie ihn packten und ihn zurückwarfen, so daß er zitternd in der Luft aufrecht stand wie eine tönende Säule, ehe er erstarb.

Einer von den Männern nahm den Hut vom Haupt wie beim Begräbnis, wenn gebetet wird. Die andern folgten dem Beispiel.

Ein paar Frauen hatten sich eingefunden, standen und fragten, was geschehen sei. Zuletzt kam auch die Frau aus dem lichten Häuschen daher, aus dem lieben, schmucken, kleinen Haus mit den weinroten Fensterrahmen, Mäuschens kernfrische Frau mit den Jauchztönen im Herzen.

»Ach, ich habe mich aber erschreckt«, sagte sie. »Wer schrie denn hier?«

Sie hatte ein großes Tuch über den Kopf gehängt, das zugleich den Oberkörper einhüllte. So stand sie im vollen Laternenschein, und man sah ihr festes, rotwangiges Gesicht mit dem großen Mund, der so herzlich frische Lippen hatte und so freigebig die weißen Zähne sehen ließ.

Der alte Meßner hatte leise zu den Männern gesagt: »Wir wollen ihr noch die eine Nachtruhe gönnen.« … Nun drehte er sich um, tat unwirsch und sagte »Es sind Pferde durchgegangen! Was willst denn du dorthier? Das regnet! Mach, daß du heimkommst!«

Sie lachte über den alten Grobian und ging. Versorgte Haus und Kind und saß ein wenig später am Tisch bei der Lampe, den Himmelsbrief vor sich ausgebreitet.

Und sie spann wieder den Zauber vom Himmelsbrief zu dem Floßwietenendchen und vom Floßwietenendchen zu dem Floß ihres Mannes – zu ihrem Mann hinüber.

 

Auf der schmalen Brücke zwischen Tod und Leben trieb Mäuschen stromab. Seine Hände waren wie Haken um das Holz geschlagen, starr vom eisernen Griff, tödlich durchkältet vom Wasser, waren sie zu Zangen geworden, die sich nicht mehr lösten. Er lag auf den Knien, der Hut war wie eine Kappe über den Kopf gezogen, das Gesicht, halb erhoben, stierte mit glotzenden Augen in die Dunkelheit, auf das schwere, schwarze Wasser, das ihn leicht hinwegtrug, auf die schwarzen Ufer, die das Wasser eindämmten. Es stierte nach beweglichen Punkten, nach der Nähe des Lebens und der Hilfe.

Jeder Lichtpunkt weckte des Mannes Hilfeschrei. Gellend stieg der Schrei auf, sowie er den ersten Lichtschein gewahrte. Dann stürzten Leute herzu und sahen das Wrack vorüberziehen.

Er kam an Weißen, Uhlstädt, Oberkrossen vorüber. Er kam nach Zeutsch. Sein Schrei röchelte nur noch. Er hoffte, sein Steg solle an Land getrieben werden, aber er lenkte immer wieder in das Fahrwasser ein, so oft er auch um die Biegungen schiffte und die Wehre hinabstürzte.

Mäuschen betete. Er bat Gott um sein Leben für seine Kinder und seine Frau. Er bat Gott um Verzeihung seiner Sünden, die er in weltlichem Unverstand begangen hatte.

Er dachte an Linda, die er verlassen hatte. Er vergaß seiner Frau und schrie nach seinem Mädchen. »Linda! Linda!« Aber er wußte es nicht, daß er nach seinem Mädchen schrie, er glaubte, daß er um Hilfe riefe.

Wohin er blickte, sah er bewegliches Leben, die Weiden auf den Wiesen liefen eine zur andern, die Berge standen auf, als wären es Menschen, stiegen in das Tal hinab und ließen sich dort nieder. Er hob den Kopf, röchelte und schrie: »Linda! Linda!«

Da tauchte Naschhausen auf, Orlamünde. Orlamünde, das Nest auf hohem Fels, das dem Bethlehem des gelobten Landes ähneln soll.

Er dachte an den lebenspendenden Gottessohn, und er dachte an die schöne, sündhafte Gräfin Agnes von Orlamünde, die in wahnsinniger Liebe zu dem Markgrafen Albrecht dem Schönen von Brandenburg entbrannt war. Sie glaubte aber, daß ihre beiden holden Kinder – sie hießen Herkules und Herkula – ihrer Liebesleidenschaft im Wege ständen, und dang den bösen Jäger Heider, der sie töten mußte. Auf der Plassenburg und zu Orlamünde kann man sie zu nächtlicher Stunde einherwanken sehen, ruhelos mit gerungenen Händen – Agnes von Orlamünde, die weiße Frau.

Der Mann auf den schwimmenden Floßtrümmern sah sie auf der Felskante dahinschweben, in weiße Gewänder gehüllt, und sah sie ihm winken mit weißem Schleier. Und er legte den Kopf zurück und schrie röchelnd: »Linda! Linda!« und meinte, daß er um Hilfe riefe.

Leute eilten an das Ufer.

Sie riefen: »Wer ist da! Wer ruft?«

Und er röchelte weiter: »Linda! Linda!« So sahen sie ihn auf der schmalen Planke vorübertreiben.

Wie seine Hände die Fähigkeit eingebüßt hatten, zu fassen und fahren zu lassen, so büßte seine Seele die Fähigkeit ein, sich aufzuschwingen und sich in das Leben zurückzusehnen. Er war zu matt, um noch an seine Frau denken zu können, an seine kernfrische, jauchzende Frau, ein schlaftaumelnder Instinkt führte ihn seinem todgeweihten Liebchen zu.

Er sah nicht mehr die Weiden, wie sie zueinander liefen, und die Berge, wie sie sich erhoben und in das Tal hinabstiegen, sein Kopf war herabgesunken.

Der Abend war ganz dunkel. Der Regen fiel herab, der Wind strich pfeifend. Der Mann auf dem Floß sah, fühlte, hörte nichts mehr, er strich dahin auf dem schwarzen, leise rauschenden Wasser. Er hatte das Gleiten so lange empfunden, den Regen so lange gefühlt, den Wind und das Wasserrauschen so lange gehört, daß es tote Eindrücke für ihn geworden waren, die von seinen Sinnen nicht mehr aufgenommen wurden.

Ein anderer, neuer Eindruck ermunterte sie.

Es war ein Stoß.

Mäuschen fühlte ihn, hob mechanisch langsam den Kopf, machte mechanisch langsam die Augen auf.

Und stierte hinaus.

Wie er eine Weile so hinausgestiert hatte, bemerkte er, daß sein schmaler Steg in der Geleitschaft anderer Stämme dahinschwamm, die ihn mehr und mehr dem Ufer zudrängten.

Nun versuchte er vorsichtig wie ein Mensch im Traum, den Körper aus seiner gebückten Stellung aufzurichten. Aber seinen Gelenken schien es versagt, sich noch zu regen. Krumm zusammengeduckt, nur den Kopf erhoben, so schwamm er weiter.

Sein Steg war aber mit der Zeit vollständig in die Begleitstämme eingekeilt worden und rutschte langsam am Ufer hin.

Es wäre jetzt eine Leichtigkeit gewesen, dem Floß vom Land aus zu Hilfe zu kommen. Aber es war Abend, und der Mann auf dem Floß würde das Morgenlicht nicht mehr erleben. Er würde auf der schmalen Planke sterben, zusammengeduckt wie ein gebundenes Tier, mit gefesselten Händen.

Immer mehr dem Ufer zu wurde das Wrack geschoben. Jetzt fühlte der elendeste Mann, wie es das Erdreich streifte, wie die Zweige des Weidengebüsches sein Gesicht berührten.

Da wurde noch einmal das Leben in ihm wach mit seinen hunderttausend Schmerzen.

Denn es gelang ihm endlich wohl, den Griff der einen Hand zu lösen, aber Hand und Arm waren nicht fähig, den Halt zu erfassen, und sein Körper hatte nicht die Kraft, sich, aufs Land zu ziehen.

Er weinte und schrie. Es waren unheimliche Töne. – – –

Hinten an den Bergen liegt eine kleine Ortschaft, in der außer anderen Einwohnern auch ein Mann ansässig ist, der seine ganze Wirtschaft ein wenig obenhin betreibt.

Hier bei diesem Mann riß sich ein Pferd los und brach aus. Mit flatterndem Schweif und flatternder Mähne galoppierte das Tier über das Feld und die Wiesen.

Eine Anzahl Männer, Freunde und Nachbarn des Besitzers, liefen dem Tiere nach, um es einzufangen. Die meisten von ihnen trugen Laternen.

Von diesen Männern wurde Mäuschen gefunden. Sie gingen den unbeschreiblich grauenhaften, fremden Lauten seiner Stimme nach, von denen sie nicht wußten, welcher lebenden Kreatur sie diese gespenstisch hohlen, wüsten und zerstörten Töne zuschreiben sollten.

Sie lösten seine Hand vom Wrack und zogen ihn an Land. Dann packten sie ihn ihrer mehrere und trugen ihn fort. Der Mann, dessen Pferd sich losgerissen hatte, und das nun auch mit im Zuge ging, erbot sich, den Verunglückten in sein Haus aufzunehmen.

Da schafften sie ihn hin, entkleideten ihn und legten ihn ins Bett. Er lag mit blöden Augen, indem sich langsam die Stube füllte.

Zuletzt waren soviel Menschen versammelt, daß die Frauen auf die Ofenbank stiegen, um einen Blick auf den kranken Mann im Bett zu gewinnen, dessen Bewußtsein verschwamm und entschwand.

 

An so vielen Orten ihn seine unglückliche Floßfahrt vorübergeführt hatte, so viele Menschen ihn auf dem schwimmenden Wrack gesehen hatten, so viele Erzählungen von Mäuschens traurigem Abenteuer waren im Schwünge.

Die Männer sagten schließlich: »Das läßt sich nicht feststelle, ob er merre Glück oder merre Unglück gehabt hat. Das grenzt dichte ans Wunder, seine Rettung.«

Die Frauen sagten, die einen hart und grausam, die andern im Tonfall eines milden religiösen Vergeltungsbedürfnisses: »Das is die Strafe dafor, daß er sein Mädchen hat sitzen losse.«

Seine eigene Frau ging dahin, bleich geworden, stiller, die blauen Augen voll dicker Tränen, die sie wegwischte, ehe sie noch herabfallen konnten. Wenn sie sprechen wollte, zitterte ihr Mund, und sie wandte sich ab und verbarg ihr Angesicht. Wenn sie aber an das Bett ihres Mannes trat, war sie tapfer, und ihre Lippen lächelten.

Der Mann lag wie ein Toter, fahl, mit geschlossenen Augen. Schlug er langsam die Augen auf, so war es, als würden Sargdeckel gehoben und man gewönne einen Blick in die schaurige, schwarze, geheimnisvolle Unendlichkeit.

Kurz vor dem Schlafengehen betete die Frau allemal ihren »Himmelsbrief«. Dabei hielt sie das Floßwietenendchen in der Hand und küßte es inbrünstig mit innerem Grauen. Hatte sich der Zauber bewährt? der Himmelsbrief ihr Herz und Haus beschützt? Aber ihr Blick wich weit zurück, und ihre Augenlider schlössen sich über ihre Augen, die nichts von dem, was sie umgab, erschauten.

Ihre Seele folgte ihrem Mann auf seiner Fahrt über das hohe Wasser. Sie sah den schmalen Steg dahintreiben, der ihn entführte wie einen leblosen Klumpen. Sie sah die elende Planke das Ufer streifen und hörte das röchelnde Brüllen des verzweifelnden Mannes, dem die Rettung die Hand reichte, ohne daß er sie noch ergreifen konnte.

Mehr und mehr sank die Frau in sich zusammen. Ihr Körper zitterte, ihr Blick wurde irre.

Sie huschte ins Freie – in den Stall – in die Scheune – lag da auf ihren Knien, schrie und weinte. Oder sie stürzte an den Wiesenrand und lauschte dem Branden des Wassers am Wehr, das von Pöhlstädt herüberdrang.

Dann reckte sie ihren stolzen Körper auf und schüttelte die Faust, und ein Fluch gegen das Wasser wollte auf ihre Lippen dringen.

Aber immer stellte die Erinnerung an den Morgen sich ein, wo der alte Meßner bei ihr gepocht hatte.

»Erschreck dich nich«, hatte er gesagt, »über das, was ich dir itze kund tue: Dein Mann is verunglückt! Er is aber geborgen. Otto spannt an, der soll dich hinfahre. Wenn ich du wäre, ich würde Betten mitnehm. Leichte bringt Ihr ihn gleich mit. Du wirscht sehen. Den Schrei gestern abend, um den du gefragt hast, das is er gewesen.«

Und nun sank die Frau auf ihre Knie am Wiesenrand und weinte – und weinte.

 

Nach Verlauf einiger Wochen konnte Mäuschen auf kurze Zeit das Bett verlassen. Unförmlich, mit umwickelten Händen und umwickelten Beinen saß er auf der Ofenbank. Der Kopf war mager geworden, die Ohren standen weit ab, die Augen schienen größer als früher zu sein. Und sein Körper fühlte mit leisem Schauer die Wärme wie durch tausend einzelne Kanälchen rieselnd eindringen.

Sein Blick war noch fremd und grüblerisch. Aber seine Frau setzte sich zu ihm, und ihre Lippen lächelten ihn an, als sollten die Jauchztöne wieder darüber schweben, und ihre Augen standen voller Sonne.

Das rief den Mann sacht zum Glück und Leben zurück.


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