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Konrad schlenderte um das Dorf herum.
Jenseits desselben kam er nach längerer Zeit an einen zwischen Wiesen gelegenen Tümpel, in welchem Frösche schrien, suchte sich flache Steine und schnippte sie in das Wasser, so daß sie auf der mißfarbenen Fläche eine Strecke schlidderten, ehe sie untersanken. Er fürchtete sich, sowohl heimzugehen, wie auch auf das Lehngut zurückzukehren.
Nachher schnitt er Weidenruten, setzte sich auf einen Stein und machte Piepen daraus.
Drei Piepen zugleich kniff er zwischen die Lippen und schrillte in die Luft hinein, daß der Schall weithin zog.
Dann stand er auf und ging weiter – ziellos – stundenlang – bis er, müde und hungrig, auf einem entfernt liegenden Felde einen Sämann gewahrte.
Er lief schnurstracks hin.
»Hast du nichts zu essen?« fragte er sogleich. Der Sämann war Beatens Oberknecht.
»Ja, mein Vesper!«
»Gib mir was davon, ich habe Hunger.«
»Hättest nicht fortlaufen sollen! Was hast du denn mit der Kleinen gemacht?«
»Warum?« Konrads Gesicht war mürrisch, und er rückte sich unbehaglich in den Kleidern.
»Weil sie so viel jämmerlich geweint hat, die Kleine.«
»Wer sagt denn, daß sie geweint hat?«
»Ich hab's gesehen, du Fratz, und die Frau auch. Weißt, du bist ein miserabler Bengel; du hast ihr vorgeworfen, daß sie bucklig ist!«
»Na, da weißt du's ja mit eins. Was fragst du denn erst? Gib mir was zu essen, ich habe solchen argen Hunger.«
»Geh heim!«
»Erst ärgert einen die Schwiegermutter immerwährend, und das Mädel ist auch niederträchtig. Und bucklig ist sie ja.«
»Du, geh mir alleweile aus der Luft«, sagte der Knecht.
»Maulst wohl wieder? Auf dir müßte einer zehn Reitpeitschen zerhauen, daß du anders wirst. Da hast du was zu essen, und nun scher dich heim!«
»Sei doch nicht so ungemütlich!« sagte Konrad. »Du willst dich wohl anvettern?« Er ging eine Weile neben dem Knecht her, der wieder säte, und schnitt Fratzen. »Kloßtreter!« sagte er halblaut, »Furchengucker!«
Da flog ihm eine schallende Ohrfeige in das Gesicht.
»Das werde ich meiner Mutter sagen! Ich gehe jetzt bei meine Mutter«, zeterte der Junge aus Leibeskräften.
»Lauf eins, aber schnell«, antwortete der Knecht. »Dein Vater hat den Strick schon parat gelegt.«
Konrad blieb stehen und sah unter gesenkten Lidern dem Knecht nach, der weiter schritt. »Heh, Er da! Kloßtreter, Furchengucker!«
Sodann lief er fort, schrillend, pfeifend, mißvergnügt und das Herz so voller Angst, daß es heftig klopfte.
Er ging auf einem rasenbewachsenen Scheideling, welcher die Felder zweier Bauern voneinander trennte und welcher drüben in einen Fahrweg mündete, der von Obstbäumen eingefaßt war. Als er den Fahrweg endlich erreicht hatte, sah er einen barfüßigen, ihm fremden Jungen daher kommen, der eine Ziege am Strick führte.
»Ist das Eure Ziege?« fragte Konrad.
»Ja!«
»Gehst du damit heim?«
»Ja!«
»Wo ist denn das?«
»Wir wohnen in Neudorf«, sagte der Junge. »Wo wohnst du denn?«
»Ich wohne in Malkow. Weißt du, wo Malkow liegt?«
»Nein! Aber unser Knecht ist hingezogen bei die Witfrau aufs Lehngut.«
»Du, das ist meine Schwiegermutter!« sagte Konrad. »Mit meiner Braut spiele ich immer. Aber heute bin ich niederderträchtig zu ihr gewesen,«
»Bist du darum davongelaufen?«
»Ja!«
»Kriegst du am Ende Hiebe, wenn du heimkommst?«
»Aber feste«, sagte Konrad, als schere es ihn nichts.
Der fremde Junge lachte und sagte: »Schenk mir eine Piepe, du!«
»Wenn du mir ein bißchen die Ziege gibst …«, sagte Konrad.
So zogen die Kinder nebeneinander des Weges, von dem Feld in den Wald, wo schon lange abendliche Schatten lagen.
Konrad brach einen Birkenzweig ab und wedelte damit, auf daß die Ziege schneller laufe. Wenn er sprang und Geräusch machte, fühlte er nicht die Furcht vor dem Dunkelwerden.
Plötzlich blieb er stehen und sagte: »Ich muß auch heim, Mutter hat sonst Angst. Geht es da gradeaus nach Malkow?«
»Nein, da geht es bei uns nach Neudorf. Aber ich glaube, da geht es nach Malkow –«, der Junge wies ihm auf gut Glück einen Weg, der rechts abzweigte – »erst nach Sebzig, und dahinter ist Malkow.«
»Sebzig kenne ich nicht.«
»Es liegt aber da, und Malkow ist dahinter.«
»Hast du nichts zu essen?«
»Nein!«
»Was hast du denn da im Bündel?«
»Semmeln.«
»Gib mir eine!«
»Ich darf nicht.«
»Ich habe solchen Hunger.«
»Ich gebe dir mein Messer dafür. Gib mir eine Semmel«, bat Konrad.
»Eine halbe«, handelte der Junge.
Konrad reichte das Messer mit zuckenden Händen hin, es war ein so hübsches Messer und Mutter hatte es ihm gekauft, griff zu und nahm eine Semmel dafür.
»Spitzbube!« schrie der andere.
Da stürzte Konrad mit einem Wutschrei über ihn her. Die Angst hatte seine Brust und sein Herz derart zermartert, daß es ihm eine Erleichterung war, sich in einer Gewalttätigkeit Luft zu machen.
Indes die beiden Jungen sich in den Haaren lagen, stand die Ziege und sah zu. Endlich meckerte sie.
Ihr Herr sprang auf und strich sich das Haar aus der Stirn. Konrad lag unten, das Gesicht in den Sand gedrückt. Er hatte eine volle Tracht Hiebe bekommen; denn sein Gegner war stärker als er gewesen.
Da der andre forttrieb, stand er auf, drückte beide Fäuste in die Augen und weinte, daß er seine Stimme laut schallen hörte.
Als er die Hände sinken ließ und aufsah, schien es ihm, als sei urplötzlich stockfinstere Nacht hereingebrochen.
Der Weg war mit Nebel angefüllt wie mit einem grauen Brei, dick hing er von Baum zu Baum bis auf das Erdreich hernieder.
Das Kind holte mühsam Atem mit geöffneten Lippen, schlaff hingen seine Arme an dem zitternden Körper herunter, und Tränen schossen über sein Gesicht. Dann packte ihn die Angst, ob auch gespenstische Unholde hinter jedem Baum seiner lauerten, und er lief mit allen Kräften jenen Weg dahin, von dem er glaubte, daß er nach Malkow führe.
Er strauchelte bei der zunehmenden Dunkelheit über vorspringende Wurzeln, fiel, raffte sich in die Höhe, irrte ab in einen Seitenweg, lief, ging, schwankte nur noch, und prallte, da er kaum mehr die Hand vor den Augen sehen konnte, gegen eine breite, feste Fläche an.
Es war ohne Zweifel ein Gebäude. – Als Konrad daran entlang tastete, fand er eine verkettelte Tür.
Er zog nach kurzem Besinnen aus seiner Joppentasche eine halb zerdrückte Schachtel hervor. Es waren Streichhölzer darin. Er wollte sehen, wo er war. Vielleicht war das Gebäude ein Stall oder eine Scheune. Dann mußte das Wohnhaus auch in der Nähe sein. Da wollte er bitten, daß jemand ihn auf den Weg nach Malkow bringe. So strich er hoffnungsvoll sein erstes Hölzchen an. Aber es brachte nur eine kleine Flamme hervor, die schon erstickte, ehe sie sich ganz entfalten konnte. Das zweite, dritte und vierte Hölzchen versagten, Das vorletzte, das er wie ein kostbares Gut sorglich mit seinem Körper vor dem Luftzug schützte, fing endlich Feuer.
Bei dem kurzen Lichtschein sah Konrad, daß er sich vor einer Holzhütte befand, mitten im Wald, weit ab von den Seinen, verweht wie ein Sandkorn, das der Sturm aufgehoben und eine Zeitlang mit sich geführt hat.
Er trat ein und kettelte von innen zu. Bei der schwachen Helle, die sein letztes, ach so kleines Hölzchen warf, sah er rechts neben der Tür ein Bund Stroh liegen und einen zerrissenen Sack, links sah er etliche Bretter und Stangen stehen. Da er noch weiter umschaute, war das Hölzchen herabgebrannt, das Flämmchen leckte über seine Finger, und er ließ die winzige, noch glimmende Kohle erschreckt zur Erde fallen.
Ein dürres Blatt brannte auf, noch eines, noch eines. Im Nu war eine Feuerstelle geschaffen, vorläufig freilich nur wie eine Hand groß.
Sein Vater, der wohl wußte, daß seine Jungens immer Streichhölzer bei sich trugen, hatte öfter erzählt, wie sie sich beim Entstehen eines Brandes zu verhalten hätten. Daran erinnerte sich Konrad, als er jetzt seine Mütze vom Kopf riß und sie auf die Flammen preßte.
Er kauerte darüber, wie wenn er ein gefährliches Tier erwürgen wolle. Und freilich, wenn es nicht seinem Griff erlag, mochte kaum eine Stunde vergehen, und das Flämmchen war zu einem riesenhaften Brande angewachsen, dessen Schein den Himmel färbte.
Aber es war erstickt, Gott sei Dank!
Nein da – da – lief noch ein Fünkchen an der Spinnwebe entlang …
Konrad wagte kaum, Atem zu holen. Hierhin, dorthin flogen seine Blicke in die Finsternis, ob er es nicht gleißen, flackern, aufbrennen sehe. Dabei hörte er die Holzwürmer in den Balken und Steilen bohren und gelegentlich ein Blatt rascheln, gegen das er mit Hand oder Fuß gestoßen hatte.
Der Furcht vor dem Feuer gesellte sich bald das Grauen bei. Im Wald ging der Hutzelmann um, der ganz klein war und doch so hoch wuchs alle Nacht, daß er dem Mondmann in die Fenster sehen konnte, da bellte der dreiköpfige, weiße Hund, und da hausten nichtswürdige Zwerge, die von dem Blut verirrter Kinder leben.
Er stand auf, schlich, angstvoll vorwärts und seitwärts spähend, zum Stroh und raschelte sich mit einem Sprunge hinein. Das Gesicht kehrte er der Tür zu, um einen etwa noch glimmenden Funken, ehe er zur Flamme erstarkt war, bemerken zu können. Denn gleich würde der Ausgang versperrt sein.
Weshalb war er nur davongelaufen? Hätte er doch Mariannchen gebeten, gut zu sein. Es hatte ihm ja so leid getan, als das nichtswürdige Wort gefallen war. Aber sein Trotz war größer als sein Kummer gewesen.
Er sah das kleine Mariannchen ganz deutlich vor sich, wie es, gegen die Wand gedrückt, bitterlich weinte.
Hätte sein Vater ihn für seine Bosheit geschlagen, so hatte er Prügel vollauf verdient. Prügel verwinden sich. Er hätte nicht fortlaufen sollen. Er begriff gar nicht, daß er deshalb fortlaufen konnte. Er faltete seine kleinen Hände und betete inbrünstig zu Gott, daß er ihm die große Sünde verzeihen solle, daß er ihn hier beschützen möge vor Brand und jedem Ungefähr, und daß er ihn glücklich heimgeleite zu seiner Mutter, zu seiner einzigen, guten Mutter und zu seinem Vater.
Er schluchzte, starrte mit den tränenverschwollenen Augen nach der Tür, ob kein Fünkchen aufglimme und sah überall Mariannchen sitzen.
Endlich überwältigte ihn die Müdigkeit, und er schlief ein. Er schlief unruhig, schluchzend, aber er schlief doch, schlief, bis der junge Morgen seinen Dämmerschein durch die Türspalte warf.
Sowie er sich aufrichtete, wußte er auch, wo er war. Mit einem Schlage standen die Erlebnisse des gestrigen Tages vor seinen Augen da. Nur heim kommen, heim kommen! lieber halbtot geschlagen werden; aber doch heim kommen. Er kettelte die Tür auf und trat hinaus.
Ein kalter Luftzug wehte ihm entgegen, so daß er sich schüttelte.
Wahrscheinlich blies der Luftzug nach Malkow hin, und er brauchte kaum zu laufen, sondern sich nur vorwärts schieben zu lassen.
Auf daß ihn nicht friere, sprang er und rannte, pustete den Atem zwischen gespitzten Lippen heraus und schlug mit den Hacken empor, den Rücken ganz prall gezogen, die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Er sah aus, als finde er sich selber nicht zurecht vor eitel Lustigkeit.
Dann sagte er: »Donner auch!« und blieb stehen. Er vermißte seine Mütze, die neben der zerdrückten kleinen Feuerstelle liegengeblieben war. Das ist aber auch ein Unsinn. Umkehren? er wollte nicht. Na … Schwiegermutter konnte ihm eine neue kaufen –
Heim! Heim! Mutter sprang dazwischen, wenn ihn Vater schlug; zuviel ließ sie ihm nicht tun. Und wenn ihn Vater auch sehr schlug: nur heim!
Als die Sonne mit der Morgenkühle soweit fertig geworden war, daß er anstatt zu springen und zu laufen seinen Weg gehen konnte, hatte er die Straße mehrmals geändert. Zuerst war er einen Fußpfad dahingeschritten, sodann einen Fahrweg, dann eine neu angelegte breite Straße, in deren tiefen Geleisen heimtückisch mächtige Wurzeln stolzer, seitwärts stehender Stämme lauerten.
Jetzt ging er auf gut Glück quer durch die Heide, die gar kein Ende nehmen wollte.
Er hatte noch keine Menschenseele getroffen. Traf er jemanden, so würde er um etwas zu essen bitten, denn ihn hungerte sehr. Danach würde er um den Weg fragen.
Ihn hungerte sehr.
Hungrig war er schlafen gegangen, hungrig war er aufgestanden. Und jetzt mochte es Mittag sein.
Er nahm ein harzig Fichtenzweiglein in den Mund und sog daran.
Das war ein verhexter Wald. Brach volleres Tageslicht durch die Stämme, so folgte ein breiter Weg, eine junge Anpflanzung oder eine Blöße. Dahinter war immer wieder Heide.
Ein Baum sah aus wie der andere, der eine größer, der andere kleiner.
Selten huschte ein Häslein über seinen Weg; am frühen Morgen hatte er Rehe getroffen.
Aber das da drüben jenseits der Fahrstraße und des Grabens war etwas anderes. Niedrig bewegte es sich fort mit krummem Rücken, schwarz und grunzend … wilde Schweine.
Wie ein Pfeil schoß er die Fahrstraße entlang. Dann stolperte er über einen Stein und fiel hin.
Als er aufstand und umblickte, sah er es in der Ferne schwarz, grunzend und springend verschwinden, in einem sonderbaren, kurzen Galopp, etwa wie mächtige geworfene Gummibälle, – und vor ihm war Licht, Licht, Licht! Durch die fernen, letzten Stämme schien das helle Grün von junger Saat, blinkten rote Dächer, weiße Wände.
Es war ein einzelnes Gehöft, seitlich von Ställen begrenzt; nach der Fahrstraße zu, von der es etwa zweihundert Schritte entfernt war, von einem Lattenzaun umgeben.
Davor, am Grabenrand, saß ein kleines, dralles Mädchen und hütete Gänse.
»Hast du nichts zu essen?« sagte Konrad bettelnd, »ich habe solchen Hunger. Ich habe seit gestern nichts gegessen.«
Sie sah ihn erst eine Weile an und überlegte. Sodann brach sie ein Teilchen von ihrer Stulle ab, die neben ihr zwischen zwei großen Blättern lag.
»Es ist mein Vesperbrot«, sagte sie, da sie seinen gierigen Blick bemerkte.
»Vielleicht geben mir die was«, sagte Konrad und wies auf das Gehöft.
»Da ist keiner zu Hause«, antwortete die Kleine. »Die Magd ist ins Dorf, und der Herr ist Pferde abholen.«
»Aber die Frau.«
»Wir haben keine Frau, der Herr ist schon ein alter.«
»Der ist wohl ein Großbauer, du?« sagte Konrad und kaute immerwährend an seinem letzten Bissen, auf daß der Geschmack verlängert würde.
»Gar auch – der Herr ist Schinder.«
Dem Jungen blieb im ersten Schreck sein Essen im Halse sitzen. Wo der Schinder ein gefallenes Tier abholte, lief die Dorfjugend johlend und schimpfend hinterdrein. Schinder und Henker war einerlei. Konrad wußte nicht, ob ihm wegen seines Davonlaufens der Schinder nicht auch etwas anhaben könne.
»Weißt du nicht, wo es nach Malkow geht?« fragte er.
»Nein. Ist das auch ein Dorf?«
»Ja, mein's. Wo ist denn euer Dorf?«
»Da gleich! Ich gehe da auch in die Schule.«
Konrad lief die Fahrstraße weiter, die bald eine scharfe Biegung machte. Als er diese umschritten hatte, sah er das Dorf vor sich liegen, mit einer grauen, spitzturmigen Kirche, die von oben bis unten mit Schindeln bekleidet war.
Vor dem ersten, weit ausgebauten Gehöft stand eine ganz alte, krumme Frau mit einem kleinen Kinde.
»Guten Tag, Großmutter!«
»Ich habe solchen Hunger, Großmutter. Gebt mir doch was zu essen!«
»Wo kommst denn her?«
»Von Malkow.«
»Jesus Maria und Joseph! Bist auch närrisch, Junge, das ist ja hinter der Forst!«
»Gebt mir doch was zu essen, Großmutter!«
»Komm eins rein. Na wo sollst denn hin?«
»Ich habe mich verlaufen, schon seit gestern. Gebt mir doch bloß was zu essen!«
Da sie eingetreten waren, legte die Alte das Kind in die Wiege und holte ihrem Gast ein Stück Brot.
»Willst auch eine Zwiebel? So! Und da sind noch kalte Kartoffeln vom Mittag, und da hast ein Töpfchen Milch vom Kind. Wo wird's denn nun?«
»Ich geh' gleich nach Hause.«
»Da hast's aber eilig. Das ist jetzund zwei Uhr; wo du scharf läufst, bist du um Sechse heim.«
»Wißt Ihr, wo es hingeht nach Malkow, Großmutter?«
»Gar mein Sohn, mitten durch die Forst. Siehst, eben den breiten Weg, den du gekommen bist; danach ist ein Dorf, und da fragst du weiter. Aber das ist auch nicht gut mit den wilden Schweinen jetzund. Na, du läufst deinen Weg, da tun sie dir nichts. Schling' nicht so, das ist ungesund! Wer ist denn dein Vater?«
»Wir heißen Stenger«, sagte Konrad zitternd.
Er hatte noch vor einer Minute fahl und blaß ausgesehen, jetzt brannten wieder seine Backen. Er dachte voll Angst an den langen Weg, den er noch zu gehen hatte, an die Schweine, an den Schinder, an dessen Gehöft er vorüber mußte, und auch an die Müdigkeit, die er jetzt, da er saß, in jedem Gelenke fühlte.
»Großmutter, ich dank' schön für's Essen. Und wenn Ihr uns halt auch einmal besuchen möchtet.«
»Ich habe bloß noch einen Weg, mein Sohn«, sagte die alte Frau, »und den lauf ich nicht, den tragen sie mich – und auch nicht weit, bis hinters Dorf, mein Sohn, auf den Gottesacker. Na, glücklichen Weg! Am Ende triffst unterwegs einen, der dich mitnimmt. Immer die grade Straße bis aufs nächste Dorf.«
Sie geleitete ihn vors Haus und sah zu, wie er eilig fortschritt, zurück, wo er hergekommen war. Aber von der Angst, die in seinem Herzen wühlte, wußte sie nichts.
Er war schon öfter in Trotz und Bosheit unvernünftig fortgelaufen, etwa auf eine Stunde, hatte dafür seinen Verweis, wohl auch gelinde Schläge erhalten, und die Sache war in Ordnung gewesen. Heute schien es ihm, als kehre er aus einem fremden Lande zurück und habe ein nicht wieder gut zu machendes Verbrechen begangen.
Als er in die Nähe der Schinderei kam, lief das kleine Mädchen daher und sagte zutraulich: »Du, der Herr ist jetzund zurück, wenn du ihn bitten willst um was.«
»Ich dank' auch schön«, versetzte Konrad, »und ich wollte nichts.«
»Bleib schon ein bißchen spielen«, unterhandelte sie weiter.
»Für ein andermal«, sagte er.
Jetzt wollte er ordentlich laufen, so schnell er die Beine setzen konnte.
Ticke – tacke, ticke – tacke.
Das rechte Bein hieß Ticke, das linke Tacke. Gleichmäßig, wie der Perpendikel fliegt, setzte er sie aus. Er kam schnell vorwärts damit. Die Furcht vor dem Schinder und den Schweinen überwältigte ihn, und die Schweine getrauten sich, wenn er so dahinschoß, auch wohl kaum an ihn heran. Ticke – tacke, ticke – tacke.
Da ganz hinten waren sie. Auch gar! Das waren Streuhaufen, da hatte er sich geirrt. Nein, das schob sich weiter und das grunzte: es waren die Schweine.
Als er vorüber war, ging er langsamer, pilgerte weiter und weiter, bis er wieder Hunger fühlte. Kinder wollen immerwährend essen. Ticke tat von dem angestrengten Laufen so weh, daß er hinkte. Sodann war er müde, die Lider hingen dick und tief auf die Augen herunter.
Er ging ein Stückchen abseits in die Heide hinein und setzte sich hin.
Bloß ausruhen, nicht schlafen. Er kniff sich in die Arme, um wach zu bleiben. Gequält stand er wieder auf und schlich fort.
Und hinten kam Licht, viel Licht, da war die Heide zu Ende.
Als er heraustrat, sah er rechts von der Straße einen Hügel. Er stolperte hinauf, um auszublicken. Vielleicht sah er Malkow liegen, mit dem Lehnberge und der hübschen, weißen Kirche dahinter. Wenn doch Malkow schon viel nahe wäre!
Als er oben stand und umschaute, sah er weit auf grünes Land hinab, seitwärts lag ein See, dicht unter ihm ein Dorf, drüben noch eins, und hüben wieder eines. Und weit, weit aus der Ferne her, hörte er Glocken klingen. Rechts klang es auch, links auch. Allen Schall hob der Wind auf und trug ihn zu dem einsamen Kinde hinüber. Auf der Erde wohnen die Menschen, Gott ist allerwegen – im Himmel – auf der Erde. –
Jetz hub auch voll Geläute in dem Dorf zu seinen Füßen an; grad war es ihm, als rufe es ihm zu, hinabzukommen. War doch kein Feiertag heute, und die Menschen zogen und zogen die Glockenstränge.
Jetzt, da es aussetzte unten, hörte er einzelne Töne um die Waldecke wehen, die Glockenrufe aus seinem Heimatdorf. Stand da sein jüngerer Bruder am Glockenseile und schwang es, daß seine kleinen Kräfte erlahmten. Helft, sucht, ihr Leute, das verirrte Kind hat noch nicht heim gefunden! Und hier im Dorfe am Walde kreiste das Krummholz, das die fremden Menschen um Gottes Erbarmen anflehte, suchen zu helfen, des Kleinbauern Stenger Sohn aus Malkow habe sich verlaufen, zwölf Jahre alt, schmächtig, mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Die letzte Spur von dem Vermißten sei in der Baude jenseits des Holzschlages in der Forst gefunden worden, wo das Kind ohne Zweifel genächtigt habe.
Konrad stieg herab, setzte sich in eine Höhlung am Berg und zog seinen Stiefel aus.
Da er seinen kranken Fuß besah, jagte auf der Straße ein Reiter auf ungesatteltem Pferd vorüber, der rechts und links umschaute, als suche er etwas. Konrads wurde er nicht gewahr, denn der saß eingeklemmt wie eine Erdschwalbe, halb von einem Dornbusch verdeckt.
Herr Jesus Christus! Das war vom Lehngut der Oberknecht gewesen. Aber es war zu spät, ihn anzurufen. So nahm sich Konrad vor, zu warten, bis er zurückkommen würde, drückte sich fest in den Berg, machte die Augen zu und schlief ein – und unten zogen Männer und Burschen vorüber, um das entlaufene Kind suchen zu helfen, und hüben und drüben klangen die Glocken zusammen, und jenseits des Waldes kreiste das Krummholz, ob keiner des Verirrten ansichtig geworden sei.
»Jesus Maria und Joseph!« sagte die Großmutter, »der war hier, just da hat er gesessen und die Milch getrunken vom Kind, arg schlecht hat er ausgesehen. Aber der ist heim, alleweil heim. Ich habe ihm gewiesen, wo er gehen soll, durch die Forst, dahinter im Dorf soll er weiter fragen. Ja, der ist heim, der hat arg Eile gehabt, heim zu kommen!«
Jenseits der Forst war er fortgegangen, diesseits war er nicht angekommen. Nun hallte es in der Heide wider von Pfeifen und Rufen.
Das Wild floh in langen Sprüngen vereinzelt und in Rudeln entlegeneren Teilen zu. Die Dämmerung wurde dichter, der Abend kam, der Mond stand hoch ob der schwarzen Heide am sternfunkelnden Himmel, und die Glocken klangen noch immer hüben, drüben, diesseits und jenseits! –
Als Sylve (Konrads Mutter) heimkam, saß ihr Mann am Tisch und las ein Kirchenlied.
»Ist Konrad dahier?« fragte sie mit rauher Stimme.
Er legte seine Hand breit über die Buchseite und sah empor. »Nein! Was hat er geschafft?«
Aber schon klang Sylvens: Ist Konrad dahier? von der Küche her, wo ihre zwei ältesten Mädchen saßen. Die anderen Kinder waren zu Bett gegangen.
Konrad war nicht da, keines der Kinder hatte ihn überhaupt gesehen.
»Was hat er geschafft?« fragte ihr Mann wieder, als sie zurückkam. »Jetzund sehe ich erst, daß du übel ausschaust, Mutter.«
»Er ist fortgelaufen, schon zu Mittag.«
»Warum auch?«
»Er hat sich mit Mariannchen gezankt und hat sie geschimpft, sie wäre bucklig. Wo das Kind keiner Seele etwas zu Leide tut und immer dem Jungen am Halse hängt vor Liebe. Danach läuft er fort und macht seinen Eltern Angst. Aber er soll nur heimkommen!«
Sie machte das Fenster auf und steckte den Kopf weit hinaus. Dann zündete sie die Laterne an und schritt zur Tür.
»Wo willst hin?«
»Vielleicht, daß er auf dem Boden ist oder sich wo verkrochen hat«, entgegnete sie.
Er setzte die Mütze auf und ging mit. Sie suchten das Haus ab, danach die Ställe, die Böden, den Hof und den Backofen, der hinten im Garten stand.
Als sie zurück ins Haus gingen, sagte der Mann gedrückt: »Sprich eins, Mutter!«
»Ich weiß nichts«, entgegnete Sylve traurig.
Sie traten ein. Der Mann löschte das Öllämpchen in der Laterne aus und hängte sie an die Wand. Dann setzte er sich hin, als wolle er sein Kirchenlied zu Ende lesen.
Sylve trat ans Fenster und sah hinaus, die Stirn gegen die Scheibe gelehnt. Vor dem Nebel, der wie ein Meer gleichmäßig dahinfloß, konnte sie nicht das Bänkchen neben der Tür erblicken, das, kaum zwei Schritte von ihr entfernt, außen am Hause lehnte.
Alles ertrank in dem Nebel. So ertrank auch ihr Junge darin, ihr zärtliches, ungehorsames, trotziges, leider oft boshaftes Kind. Sylve weinte, von der Vorstellung gepeinigt, laut auf.
»Weine nicht«, sagte ihr Mann und versuchte die Schürze, die sie in die Augen gedrückt hielt, herabzuziehen.
»Laß mich!« entgegnete sie heftig. »Wer weint sonst! Du sitzest da fortweg und betest.«
»Das wär' noch keine üble Sache, wenn ich das täte.«
»Betest allerwegen, und derweile wird die Ernte schlechter alle Jahre. Und so auch hier.«
»Der Herrgott weiß das Ende von allem«, sagte der Mann. »Aber ich habe jetzund nachgesonnen, Mutter, ich hab' nicht gebetet.«
Sylve legte den Kopf auf seine Schulter und schluchzte. Wenn Konrad noch in den Feldern, ehe er die Landstraße gewann, vom Nebel überrascht worden war, wie sollte er heimfinden. Und wo – wo – wo – sollten ihn die Eltern suchen? Wo?
Die Tränen beruhigten sie nicht. Aber ein Gefühl größerer Stärke kam über sie, da sie der Mann ganz umfing und mit seiner harten Hand liebevoll streichelte. Es war, wie wenn ihre Kraft ineinanderflösse und ungeteilt ihm würde und ihr. Wo zwei so fest beieinander stehen, fällt der Schlag machtlos herab, der den einzelnen zu Boden wirft.
Ehe sie beraten konnten, was zu beginnen sei, knarrte die Haustür, danach die Stubentür, und Beate trat ein.
»Ist Konrad hier?« fragte sie hastig.
»Nein!«
»Gerechter Gott!« Mehr brachte sie nicht hervor.
»Kannst eine Weile hierbleiben?« fragte Sylva unter Schluchzen, »daß wir ausgehen können und ihn suchen?«
»Das schon. Aber es ist so neblig, daß ich mich zweimal verlaufen habe. Keinen Baum sieht man eher, als wie man dagegen stößt. Und wo wollt ihr ihn suchen?«
»Ja, wo?!« schrie Sylve auf in Seelenqual.
»Ich bin nicht schuld daran«, sagte Beate heftig, »und ihr denkt auf mich.«
»Wer sagt's?« fragte der Mann.
»Ich merk's. Und ich habe ihm kein Wort gesagt, ich habe ihn gar nicht danach gesehen. Herunter zu schicken und wegen seiner anfragen zu lassen, daran hab' ich nicht gedacht. Ich habe vermeint, er müßte hier sein.«
Der Mann hatte den Winterrock angezogen, Sylve ein Tuch um Kopf und Schultern gebunden.
»Wartest, bis wir heimkommen?« fragte sie.
»Ich warte schon«, entgegnete Beate. »Geht mit Gott!«
Stenger reichte ihr die Hand, als Zeichen, daß er ihr keine Schuld beimesse. Da wiederholte Beate aus vollem Herzen: »Geht mit Gott!«
Als sie allein war, setzte sie sich, von der Ratlosigkeit einen Augenblick erschöpft, an den Tisch. Sodann ging sie in die andre Stube, um Ruhe zu schaffen. Denn die beiden ältesten Mädchen hatten ihre Geschwister mit der Nachricht geweckt, daß Konrad fortgelaufen sei, und ungebärdiges Weinen schallte ihr entgegen. Aber es verstummte, da die Kinder Beatens strenges Gesicht erblickten.
»Geht jetzt zu Bett«, befahl sie den beiden Mädchen.
»Wir haben solche Angst, Tante, wegen Konrad«, sagte das eine Kind widerstrebend.
»Die könnt ihr auch im Bett haben. Zieht euch aus! Hier seid ihr im Wege. Und schreit nicht so! Konrad kommt ja wieder.«
Nachher saß Beate wieder am Tisch und wartete, daß Sylve mit ihrem Mann heimkehren solle.
Sie hatte Schränke und Kommoden abgeschlossen und einer Magd befohlen, in der Stube zu bleiben, bis sie zurückkommen würde. Aber die Dienstboten waren unzuverlässig. Wie leicht konnte Mariannchen etwas zustoßen.
Ungeduldig stand sie auf und trat vor die Tür, wo ihr der Nebel dick und rauchig entgegenquoll. Als sie ihn einatmete, fühlte sie einen widerlichen Geschmack auf der Zunge.
Sie war mehrmals ins Haus zurückgekehrt und wieder herausgetreten, als sie stolpernde Schritte auf der Straße sich nähern hörte. Sogleich rief sie Konrads Namen.
»Das ist er nicht. Guten Abend!« antwortete eine fröhliche Stimme. Und bald darauf tauchte eine schlanke, mittelgroße Gestalt vor ihr auf. Es war der junge Lehrer. »Bei dem Wetter hätten sie ihn nicht fortschicken sollen. Man kann den Nebel schneiden, wie Käse.«
»Er war ungezogen und ist fortgelaufen. Haben Sie nichts von ihm gesehen?« fragte Beate, die nicht wußte, wen sie vor sich hatte.
»Fortgelaufen? Das ist aber, um auf Akazien zu klettern«, entgegnete der Fremde. »Gesehen habe ich natürlich nichts von ihm. Wann ist er denn abgeschwebt? Er wird längst oben bei Ihrer Freundin sein. Aber der Bengel müßte Hiebe kriegen.«
Als sich Beate noch mit dem Lehrer unterhielt, tat sich die Stubentür auf, das Öffnen der Haustür war von ihnen überhört worden, und Sylve trat ein.
»Ist er hier?«
»Nein.«
Sie nickte, löste das nasse Tuch und hängte es auf. Als sie dann am Tisch saß, beide Arme breit aufgelegt, sah ihr Gesicht frostig blaß aus, und unter ihren Augen zeigten sich tiefe, dunkle Ringe. Von ihrem Platz aus reichte sie Beaten und dem Kantor die Hand.
»Wo ist dein Mann?« fragte Beate.
»Ich dacht', er wäre schon hier. Er wollte noch wo suchen, ich weiß nicht wo. Er hat mich heimgeschickt. Aber ich habe auch noch gesucht und gerufen und mich versäumt. Wir dachten, derweile ist das Kind vielleicht doch heimgekommen. Geh auch heim, Beate!«
»Ja, Sylve, ich muß gehen, so viel gern ich hier bliebe die ganze Nacht über. Aber ganz früh schicke ich herunter und lasse anfragen.«
»Schon gut«, sagte Sylve. Ihre Augen waren halb geschlossen, als hätte sie Kopfschmerzen oder wäre müde, ihre Lider waren dick aufgelaufen. Sie schüttelte still vor sich hin den Kopf und ließ ihn auf die Arme sinken.
»Gehen Sie auch nach Hause?« fragte Beate den Schullehrer.
»Ich bleibe hier, bis Stenger kommt.«
Nachher saß er Sylven gegenüber und tröstete sie – aus sich selber heraus und aus der Bibel. Aber es lief über sie hinweg und berührte sie nicht. Schließlich sagte er einen Psalm her.
So mochte etwa eine halbe Stunde vergangen sein, als Schritte vor dem Haus erklangen und der Erwartete über die Schwelle trat. Er war allein, zog die Sohlen über die Dielen, als habe er sich halb tot gearbeitet und trug den Nacken gesenkt.
Er erzählte, er habe einen Mann getroffen, der ihm gesagt habe, Konrad hätte in Sebzig um Nachtquartier gebeten, da es für den Nachhauseweg zu spät und zu neblig gewesen wäre. Dem Lehrer machte er Zeichen, daß er lüge, aus Erbarmen mit seiner Frau.
Sylve sah ihn mit unsicherem Lächeln an, schüttelte den Kopf und schluchzte auf. Dann fiel ein Weinkrampf über sie her, so daß ihr gelles Schreien weit hinaus drang. Ihre Arme hingen machtlos herab, ihr Kopf fuhr wie ein Pendel her und hin.
Stenger, der sie im Arm hielt, sah den Schullehrer ratlos an.
»Austoben lassen, nur nicht unterdrücken«, sagte dieser, nahm einen irdenen Topf, der auf dem Tische stand, und holte frisches Wasser vom Brunnen. Ehe er sich auf dem Hof zurechtfand und wieder hereinkam, war die Macht des Krampfes gebrochen.
Sylve trank und dankte ihm. Er sagte ihr ein paar aufmunternde Worte, beruhigte die Kinder, die hereingedrungen waren, und ging nach Hause. Helfen konnte er zu dieser Stunde nichts, außerdem bedurfte die Frau der Ruhe.
Aber die Uhr hatte die zweite Morgenstunde verkündet, ehe der erregte Geist dem abgematteten Körper sein Recht einräumte und Sylve sich niederlegte.
Die Abspannung war so groß, daß sie in tiefen Schlaf versank, der bis zum hellen Morgen währte.
Als sie noch ihre Stiefel schnürte, trat ihr Mann herein. Er kam geradewegs vom Tümpel zwischen den Wiesen. Dahin hatte ihn am gestrigen Abend die Angst getrieben, als er seinem Weib befahl, heimzugehen, und dahin war sein erster Gang am frühen Morgen gewesen. Kein Anzeichen sprach dafür, daß das Kind daselbst verunglückt sei.
Er hatte bei Beaten vorgesprochen, deren Knechte jetzt schon unterwegs waren, um auf den nächstliegenden Dörfern anzufragen. Er selbst wollte auch gleich aufbrechen. Sylve sollte zu Hause bleiben.
Hildebrandt, der Lehrer, war in aller Frühe dagewesen und hatte versprochen, sollte Konrad bis zehn Uhr nicht zurückgekehrt sein, die Schule ausfallen zu lassen und mit den Knaben seiner ersten Klasse sich den Suchenden anzuschließen.
Sylvens Kinder standen Posten an den Dorf enden und hinten im Garten und brachten der Mutter in Zwischenräumen Nachricht, leider immer die gleiche verneinende, indes Sylve ihr Hauswesen besorgte.
Als Sylve wieder einmal auf die Dorfstraße hinausrannte und selber Ausschau hielt, kam die Frau Kantor zu ihr, eine große, weiße Kanne im Arm, in welcher Schokolade dampfte.
»Ich habe Ihnen etwas auf die Angst gekocht«, sagte sie. »Tassen haben Sie ja wohl! Ich komme mit und mache Ihnen ein feines Frühstück fertig. Semmeln habe ich in der Schürze. War die Mutter Berken schon bei Ihnen?«
»Nein«, sagte Sylve.
Mutter Berken kam wöchentlich zweimal, auf ihrem Rundgang durch die benachbarten Dörfer, nach Malkow mit frischen Semmeln und Bäckerkuchen. Oben auf dem großen, aus Spänen geflochtenen Tragkorb stand ein Henkelkorb mit den gebräuchlichsten Kaufmannswaren: wenig schlechtem, schwarz gebranntem Kaffee, einigen Pfunden Reis und Zucker und vielen, sehr vielen gelben, roten, grünen und blauen Paketen Cichorie. Für die Kinder führte sie als Zugabe oder zum Verkauf billige Bonbons und Zuckernüsse mit.
War die Last in ihren Körben leichter, so strickte sie auf ihrem Gange. Und eifrig, wie sie strickte, tauschte sie Neuigkeiten aus.
Sie wußte von Beatens Knechten, denen sie begegnet war, daß Konrad gesucht wurde. Dafür erzählte sie: hinter Sebzig hätten gestern drei Wagen Zigeuner zu Nacht gelagert. Über dem Walde, jenseits der Forst, wäre ihr gesagt worden, hätten sie ein Kind gestohlen.
Alle Schrecklichkeiten, die Mutter Berken berichtete, hatten sich immer über dem Walde zugetragen. Denn die Leute über dem Walde und die Leute vor dem Walde hatten ihren Verkehr in entgegengesetzter Richtung.
Nun wußte ganz Malkow, Beate mit einbegriffen, in kaum mehr als einer halben Stunde, daß Konrad von den Zigeunern mitgenommen worden sei. Einige Vernünftige, darunter der junge Kantor, sagten, daß es barer Unsinn wäre; denn überflüssige Esser gebrauchten die so wenig als irgend ein anderer. Aber die meisten glaubten an die Richtigkeit dieser Nachricht. Einig waren indes alle, daß die Gemeinde sich an den Nachforschungen beteiligen müsse. Der Kantor erbot sich, mit seinen findigsten Schülern alle Verstecke unweit des Dorfes abzusuchen, wo Konrad sich etwa, aus Furcht vor Strafe, verborgen halten könne.
Als er aber nach Verlauf einer Stunde von diesem Gang zurückkehrte, ohne daß er den Vermißten gefunden hatte, entschloß sich der Schulze, das Krummholz kreisen zu lassen.
Das Krummholz war eine fauststarke, krumm und schief gewachsene Baumwurzel, in deren Mitte ein Papptäfelchen hing, auf welches die neueste Verordnung aufgeklebt wurde. Heute war es ein Aufruf an die Gemeindemitglieder, des Kleinbauern Stenger Sohn, Konrad, von dem jede Spur fehle, suchen zu helfen.
War das Krummholz gelesen worden, so gab es der Hausvater in der nächsten Wirtschaft ab. Das Ende seiner Wanderung erreichte es in dem Schulzenhause, von wo es ausgegangen war. Sylve hatte dem Kantor mit bangem Herzen ein Stück Weges das Geleit gegeben; jetzt stand sie vor der Tür mit über die Augen gehaltener Hand und sah das Krummholz in die Höfe einziehen und weiter getragen werden. An ihrem Kochherd stand Beate, ihr Vieh versorgte, im Verein mit den Kindern, die junge Kantorfrau. Als sich die hilfsbereiten Gemeindeglieder an der Kirche versammelt hatten, kam Stenger zum Dorf herein. Waldarbeiter hatten Konrads Mütze in der Baude jenseits des großen Holzschlages gefunden.
Vor vier Jahren hatte sich ein noch junges Kind in der Forst verirrt, die sich meilenweit hinzieht. Man fand es erst nach drei Tagen, und zwar derart entkräftet, daß es in eine schwere Krankheit verfiel und derselben erlag. Also auf nach der Forst!
Als der Trupp abzog, wurde die Glocke geläutet, wie sonst nur bei sehr schweren Vorkommnissen: Brand, anhaltender, die wirtschaftliche Existenz der Gemeindeglieder durchaus gefährdender Dürre, Tod. Und welch Dorf immer der Trupp auf seinem Gange passieren mochte, überall kreiste das Krummholz danach.
Kurz vor Einbruch der Dämmerung kehrte Stenger zum zweitenmal heim. Keine neue Spur seines vermißten Kindes war aufgefunden worden. Hätte Konrad einen der Wege, auf welche er ohne Zweifel häufig in der Forst gestoßen war, innegehalten, so mußte er eine Ortschaft, gleichviel welche, erreicht haben, und es wäre alsdann den Seinen Kunde gegeben worden.
Jeder Baum, jeder Strauch bildete dem Blick ein Hindernis, das abgesucht werden mußte. War der Verirrte erschöpft oder gar ohnmächtig zusammengebrochen, so konnten die Suchenden nahe bei ihm vorübergehen, ohne daß er gefunden wurde. Vielleicht half dann nach. Wochen, nach Monaten der Zufall dazu, wenn es nur noch galt, den kleinen Leichnam in die Erde zu bringen.
Sylve war in die Stube gegangen, saß da, die Hände schlaff im Schoß liegend, die Augen blicklos vor sich hin gerichtet und murmelte: »Laß es mir, Herrgott, laß es mir, das Kind, laß es mir!« Und so fort ohne Unterlaß.
Stenger setzte sich erschöpft neben sie hin und sagte: »Wir werden ihn schon finden, Mutter, sei nur guten Mutes! Der Herrgott wird sich erbarmen.«
Aber Sylve glaubte nicht daran. »Den haben die Hirsche untergekriegt«, entgegnete sie aus verzweifeltem Herzen, »oder die Schweine. Mein Kind, mein armer Junge!«
»Ich spanne jetzt an, Mutter«, sagte der Mann und stand auf.
»Willst wohl hinfahren?« fragte sie.
»Ja.«
»Ich komme mit.«
»Und derweile bringen sie den Jungen daher.«
»Den bringt keiner. Ich sag's dir, Vater, laß mich mitfahren jetzund, sonst werde ich verrückt. Hier fortweg sitzen und warten und passen, und es kommt keiner … da werd' ich heil verrückt!«
»Und wenn er nun doch kommt, Mutter?«
»Der kommt nicht!«
Der Mann wußte nicht, was er tun sollte. Schwer hatte es ihm auf dem Herzen gelegen, daß er sein Weib allein wußte mit ihrer Qual. Der kommt nicht! Er glaubte auch nicht, daß der Junge noch kam.
So duldete er es, daß Sylve aufschirrte und anspannte, indes er etwas genoß, ein Stück Brot und einen Schnaps.
Als sie über die holprige Dorfstraße fuhren, lief Schulmeisters Hund hinterdrein, ein Rattenbeißer, mit dem Konrad gespielt und Allotria getrieben hatte, so oft er ihn erwischen konnte. Lux war weder durch Schelten noch durch Peitschenhiebe zurückzutreiben.
»So ich einen Stern sehe, einen hellen, soll es heißen, daß ich meinen Jungen wiederfinde«, dachte Sylve, faltete die Hände und sah in die Höhe. Weit ab glitzerte es, glitzerte so fein und so klein wie ein gülden Stecknadelknöpflein.
Nachher dachte sie: »So wir immer unter dem Geläut dahin fahren bis zum Berg drüben, ist es ein Zeichen, daß mein Kind geborgen ist.« Und sie lauschte angstvoll zurück auf die immer schwächer werdenden Glockentöne. Fast klang es nicht mehr, aber der Wind weht ihr leises Summen entgegen … Geläut – Geläut von dem Dorfe drüben. Je weiter der Wagen vorwärts kam, um so stärker schwoll es an. Als es späterhin aussetze, hörte sie es von anderer Richtung herüberklingen.
Lux, der am Wagen emporgewinselt hatte, saß jetzt zwischen ihr und ihrem Mann, spitzte seine Ohrstummel und sah grell durch die Haarbüschel, die über seinen Augen hingen.
An dem Punkt, wo die Forst sich dem Wege auftat, stand eine Anzahl Männer beisammen, Beatens Oberknecht unter ihnen. Konrad war noch nicht gefunden worden. Die Männer schickten sich an, nach Hause zurückzukehren.
»Wo mein Kind noch nicht gefunden ist!« schrie Sylve auf,
»Frau«, sagte ein Alter, »in der Heide ist es dunkel wie in einem Sack. Das hat jetzund keinen Zweck, da herumzustochern. Am Ende findet er sich auch allein. Beine hat er ja wohl. Wir haben noch schwer eine Stunde zu laufen, bis wir heimkommen.«
»Und derweilen kommt mein Kind um!«
»Morgen wollen wir schon wieder helfen«, sagte ein anderer.
»Gern«, versetze der Alte. »Da sind auch noch Stücker dreißig Mann in der Heide. Wo der Junge in der Nähe ist, bringen ihn die noch. Nichts für ungut.« Und setzte seine Pfeife in Brand für den Nachhauseweg.
Stenger dankte und schüttelte jedem einzelnen die Hand, Dann blieb der Oberknecht bei dem Wagen, und er trat mit Sylven in den Forst.
Sie gingen durch die Bäume, nur so weit voneinander entfernt, daß sie sich durch Zurufe verständigen konnten. Aber sie waren erst eine kurze Strecke vorgedrungen, als sie von Dunkelheit ganz umfangen wurden. Durch die dichten Kronen schimmerte selten ein Stern oder ein Stückchen Himmelblau.
Je weiter sie vorwärts kamen, um so seltener klangen die Stimmen der anderen Suchenden zu ihnen herüber, bis schließlich nur ihr eigenes Rufen weithin hörbar durch die Heide schallte.
»Die sind alle heim«, sagte Sylve mit tonloser Stimme, da eine dichte Schonung ihnen endlich gebot umzukehren, und Stenger an ihrer Seite stand.
»Und wir kehren auch um.«
»Vater!«
»Das ist kein Suchen, Mutter, das ist ein Tasten jetzund. Am Ende ist der Junge anderswo herausgekommen, ist daheim und hat nun Angst auf uns und verläuft sich aufs neue.«
Nebeneinander fanden sie sich langsam zu ihrem Gefährt zurück. Keine Glocke klang ihnen mehr entgegen. Nacht war es, Ruhezeit.
Der Oberknecht gähnte, strängte das Pferd an, kletterte vom Wagen aus auf sein eigenes und ritt ab.
Sylve warf sich laut weinend seitwärts zur Erde ins junge Gras. Sie sollte heim, heim – ohne ihr Kind gefunden zu haben! Da erbarme sich Gott!
»Ich geh schon noch«, sagte sie, als sie sich endlich aufraffte und mit beiden Händen über die Stirn strich, als gebe es da etwas fortzuwischen. »Ich kann nicht so sitzen und mich ziehen lassen, da erwürgt's mich. Wo ist das doch arg eingerichtet auf der Welt, daß eine Mutter nimmer so weit eine Stimme hat, daß ihr Kind sie hört, wo es selbst in der Erde läge. Nun vermeine ich einen so starken Willen zu haben, daß ich selbst den Herrgott bezwingen könnte, und kann mein eigen Kind nicht heranzwingen.«
»Weib, lästre nicht!« sprach der Mann.
»Das klingt dieweil nur so, wo ich es doch meine wie ein Gebet. Ich habe gebetet daher schon auf aller Art Weise.«
Der Wagen fuhr langsam; Sylve hielt Schritt, die Hand auf die Leiter gelegt. Der Hund lief neben ihr.
Jetzt aber spitzte er die Stutzohren, stand still und schlug an. Zur Seite hob sich ein Hügel empor, mit einzelnen Dornbüschen bewachsen. Hinter einem dieser Dornbüsche raschelte es, als Lux wütend kläffend darauf zulief. Dann aber wandelte sich sein Kläffen in ein Geheul, er sprang vorwärts mit gleichen Füßen, kehrte unschlüssig um und duckte bellend den Kopf, als wolle er Sylven auffordern, näher zu kommen, auf seine Pfoten nieder.
Als er dann umkehrte, fuhr er mit einem durchdringenden Freudenschrei an der Gestalt in die Höhe, die hinter dem Dornbusch hervortaumelte.
»Gott Vater!« schrie Sylve mit gellender Stimme auf und stürzte dahin. »Mein Kind, mein Kind! Gott erbarme sich, daß ich nicht wirre werde! Mein Junge, mein Kind! Red' daher ein Wort, mein Kind, daß du lebst, wo es nicht dein Geist nur ist! O, du Gott im Himmel, wie danke ich dir, ich danke dir! Gott im Himmel höre, wo ich hier zu dir schreie: ich – danke – dir!«
Stenger sah, wie sie ihr Kind an sich riß, ließ den Kopf auf den Wagenbaum fallen und stöhnte auf, stöhnte, als sei eine neue Last zu der alten auf seine Brust gesunken.
Sylve sprach in Stößen, wie wenn jedes Wort von einem Herzschlag herausgetrieben würde. Dazwischen schallte Konrads Schluchzen, der sich streichelnd und küssend an die Mutter hängte. Und Lux lief beiden bellend vorauf, sprang hoch und faßte Stengers Rockzipfel mit den Zähnen. Das Tier wollte, der Mann solle sich auch freuen.
Stenger machte sich an dem Pferde zu schaffen. Als Konrad laut weinend zu ihm kam und sagte: »Vaterchen, verzeih' mir doch!« und sonst nichts vor Tränen herausbrachte, strich er, abgewendeten Auges, über des Jungen Haar und sprach: »Laß sein bis nachher! Steigt auf, daß wir heim kommen. Wein' nicht, Junge!«
»Steig auf!« flüsterte Sylve mit einem Blick auf den Vater. In ihrem Mann arbeitete noch der Groll über die erduldete Angst; aber der verflog wohl auf der langen Fahrt.
So saßen Konrad und Sylve hinten im Wagen wie in einem Nest und flüsterten miteinander, und Stenger saß vornübergebeugt allein auf dem Strohbund und schlug hin und wieder leise mit den Leinen: das Pferd solle schneller laufen. Mitunter fühlte er Sylvens Hand streichelnd auf seinem Rockärmel und nickte dann.
Es war elf Uhr, als sie heimkamen. Die Kinder waren schon zu Bett gebracht, und die jungen Kantors saßen in der Vorderstube.
Als der Wagen hielt, kamen beide heraus.
»Gott sei Dank!« sagte Hildebrandt. »Wo hat denn der Bengel gehangen? Das ist ja wirklich, um auf Akazien zu klettern!« Sylvens Hand, die er mit kräftigem Druck faßte, klopfte er, den Jungen, der hilflos an ihm emporlangte, schüttelte er bei beiden Ohren. »Die Kinder schlafen, Brot und ein Stück Wurst stehen auf dem Tisch, heißer Kaffee auf dem Herde. – Wir kommen morgen früh her; dann erzählen Sie uns alles. Jetzt tut Ihnen allen, so viel Sie sind, Ruhe not. Bedanken Sie sich doch nicht, wir haben ja nichts für Sie getan.«
Als er hörte, daß Lux den Vermißten gefunden habe, rief er den Hund heran, streichelte ihn und legte ihn seiner Frau in den Arm: »Von dem laß dir alles ganz ausführlich erzählen, Klärchen, wenn du deine Neugierde bis morgen nicht bezähmen kannst. Luxchen, Schnuxchen, Bibiluxchen!« Er sah so freundlich und lustig aus, daß man ihm gut sein mußte.
»Er wird Hunger haben«, sagte Stenger zu seiner Frau und wies mit dem Kopf auf Konrad. »Gib ihm nur gleich zu essen. Ihnen«, wandte er sich an den Lehrer, »Ihnen dank ich, dank' ich vielmals. Ihnen auch«, sagte er zu der jungen Frau.
Das war sein ganzer Dank; aber dem Schulmeister drückte er die Hand, wie wenn er sie ihm zermalmen wollte. Und bäuerisches Handgeben ist sonst, drucklos Finger gegen Finger schieben.
Stenger fuhr auf den Hof, spannte aus und fütterte sein Pferd. Hildebrandt kam zu ihm und wünschte ihm gute Nacht.
»Seien Sie froh, daß Sie den Jungen wieder haben«, sagte er begütigend, »Onkel Stenger! Der Bengel hat mehr Angst ausgestanden wie manch anderer in seinem ganzen Leben aussteht. Er ist noch jetzt mehr tot wie lebendig.«
»Sie können rechnen, das Kind ist Ihnen aufs neue vom Herrgott geschenkt worden«, fügte die junge Frau weich hinzu.