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11.
Der Zug fährt ab

In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen, da ich alles hin und her überlegte. Mir schien, wollte man diese ganze verwirrende Angelegenheit entwirren, so mußte man irgendein Ereignis in der Vergangenheit suchen, das den Anstoß zu all den jetzigen Geschehnissen gegeben hatte.

Soweit die Tatsachen mir bekannt waren, schien die ganze Angelegenheit ihren Anfang bei dem alten Chinesen, Mr. Cheng, den ich im Langham-Hotel kennengelernt hatte, genommen zu haben. Ich versuchte, die einzelnen Tatsachen logisch aneinanderzureihen – selbstverständlich mußte ich mich hauptsächlich auf Vermutungen stützen. Ich folgerte etwa so: Mr. Cheng ist ein einflußreicher chinesischer Großindustrieller; wegen irgendeiner geschäftlichen Angelegenheit kommt er nach Europa, er hat Privatsekretäre und zahlreiche Dienerschaft mit sich genommen. Während seines Aufenthaltes in Paris stiehlt ihm jemand aus seiner Umgebung etwas. Um genau zu sein, dieser Jemand ist, wie ich in Erfahrung gebracht habe, Chuh Sin. Dieser flieht nach dem Diebstahl nach England, er erscheint in Portsmouth, vielleicht ist er von Southampton aus dorthin gekommen, da er wahrscheinlich über Havre gereist ist. Er nimmt sich ein Zimmer in Holliments Pension, und nach einiger Zeit muß er ins Krankenhaus, doch läßt er alle seine Sachen in Holliments Verwahrung. Wie er nun unerwarteterweise aus dem Krankenhaus entlassen wird,« entdeckt er, daß Holliment sich dieses Etwas angeeignet hat. Er stellt ihm nach, sichert sich die Mithilfe einiger Burschen und dringt in Holliments Laden ein. Holliment flieht, und auf irgendeine Weise gelingt es Chuh Sin, Holliment aufzuspüren. Wahrscheinlich hat Chuh Sin englische Freunde in London, auf jeden Fall, irgend jemand auf der Jagd nach diesem Etwas ermordet Holliment und durchsucht seine Kleidung. Dies schien klar, einfach und folgerichtig zu sein. Nun erhoben sich folgende Fragen:

Was ist dieses Etwas? Warum will Mr. Cheng der Polizei nicht mitteilen, was dieses Etwas ist? Haben Holliment, Quartervayne und Neamore zusammen den Diebstahl ausgeführt? Hat Neamore dieses Etwas für zehntausend Pfund an Lady Renardsmere verkauft? Habe ich, ohne irgend etwas davon zu ahnen, dieses Etwas zu Herrn Pennithwaite gebracht? Liegt dieses Etwas, um dessentwillen Mord oder andre schreckliche Dinge begangen werden, jetzt sicher in Mr. Pennithwaites Safe in Lincolns Inn Fields, während ein blutdürstiger Chinese, ohne Zweifel durch englische Komplicen unterstützt, unablässig danach sucht?

Und während ich wach dalag und in die Dunkelheit des Zimmers starrte, wurde es mir klar, daß ich mehr über die ganze Angelegenheit wußte als irgend jemand anders. Die Frage drängte sich mir immer und immer wieder auf, ob ich der Polizei, das heißt Jifferdene, alles, was ich wußte, sofort mitteilen sollte.

Ich wußte nicht, wie ich mich zu dieser Frage stellen sollte. Ich wollte auf keinen Fall, Lady Renardsmere, ohne mit ihr davon gesprochen zu haben, in die Angelegenheit verwickeln. Wenn nur Jifferdene mich nach Renardsmere zurückgehen lassen würde, so könnte ich Lady Renardsmere alles sagen, was ich wußte, alles, was ich über Neamore und seine Verbindung mit Holliment und Quartervayne ausfindig gemacht hatte, und ich würde sie dann bitten, sich selbst mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Denn es war mir jetzt klar geworden, daß Chuh Sin und seine englischen Helfershelfer vor nichts zurückschrecken würden, um dieses Etwas wieder in ihren Besitz zu bringen, und es war durchaus möglich, daß ein Mord in Schloß Renardsmere geschehen könnte. Selbstverständlich würde ich Lady Renardsmere alles erzählen, sobald ich sie sehen konnte. Und auch Peggy Manson; vielleicht würde ich's Peggy doch zuerst erzählen, denn ich kannte ihren gesunden Menschenverstand und wußte, wie klar sie alles beurteilen konnte.

Aber diese ekelhafte Gerichtsverhandlung!

Ich verabscheute so was. Ich hatte noch nie in meinem Leben als Zeuge ausgesagt; ich wußte gar nicht, was sie mir nicht alles entlocken konnten. Ich vermutete – da ich in solchen Sachen ganz unerfahren war – daß die Polizei auf jeden Fall irgend etwas damit zu tun hatte. Vielleicht, nein, ganz sicher hatte Jifferdene dem Richter bereits angedeutet, daß ich ziemlich viel wüßte. Ich befürchtete, Lady Renardsmere erwähnen zu müssen, ich wußte nicht, was für Fragen an mich gerichtet werden könnten, und wenn ich irgend etwas über Lady Renardsmere und Neamore erwähnen würde, würde Jifferdene mir Vorwürfe machen und wissen wollen, warum ich ihm dieses verschwiegen hätte. Und wie ich mich hin und her wälzte, sagte ich mir, daß ich weit mehr wußte, als Jifferdene annahm, und ich wünschte von ganzem Herzen, dies wäre nicht der Fall.

Ich war durch all dieses Nachdenken übermüdet und schlief länger als sonst. Es war schon nach neun Uhr, als ich zum Frühstück hinunter ging. Als ich schon fast damit zu Ende war und einen Bericht über den Holliment-Mord las – er war sehr kurz und äußerst vorsichtig abgefaßt, offenbar von der Polizei inspiriert und machte den ganzen Fall noch geheimnisvoller, als er wirklich war – wurde ich an das Telephon gerufen. Jifferdene war am anderen Ende; er sagte mir, er sei wegen der Gerichtsverhandlung heute nachmittag in Paddington sehr beschäftigt und würde mich in den nächsten zwei, drei Stunden nicht sehen können, ob ich wohl im Hotel zwischen halb eins und ein Uhr zu sprechen sein würde. Ich bejahte dies und fragte ihn dann, ob er irgend etwas Neues wüßte.

»Nein«, antwortete er, »aber es ist möglich, daß ich bis heute mittag etwas erfahren habe. Übrigens, bleiben Sie ja zu Hause, gehn Sie nicht spazieren, und vor allem sprechen Sie mit niemand darüber!«

»Schön«, sagte ich. »Also dann treffen wir uns hier gegen halb eins.«

Ich hängte den Hörer an, bevor er noch etwas sagen konnte. Denn mir war während unsres Telephongesprächs der Gedanke gekommen, etwas Detektivarbeit auf eigne Faust zu versuchen. Jifferdene brauchte mich bis zur Mittagszeit ja nicht, und so hatte ich zwei freie Stunden. Ich ging zurück und beendete mein Frühstück, und dann führte ich mein Vorhaben aus.

Ich wollte zum Ritz-Hotel gehen, ich hatte etwas ganz Bestimmtes vor. Damals, als Lady Renardsmere Neamore in ihrem Auto nach London fuhr, hatte ich gehört, wie sie Walker befahl, nach dem Ritz zu fahren. Ich wollte wissen, ob Neamore mit ihr dort gewesen, und was noch wichtiger war, ob sie dort mit noch jemandem zusammengetroffen war. Denn es schien höchstwahrscheinlich, daß diese Zehntausend-Pfund-Geschichte sich dort abgespielt hatte, vielleicht mit Hilfe einer dritten oder vierten Person, deren Namen ich mir schon denken konnte.

Ich ging zum Ritz und konnte durch eine kleine List den ersten Oberkellner sprechen. Es war ziemlich wahrscheinlich, daß er sich entsinnen könnte, wer vor drei Tagen im Hotel zu Mittag gegessen hatte. Ich gebrauchte eine von Jifferdenes Visitenkarten – er hatte sie mir grade vor kurzem gegeben. Diese zeigte ich mit gut gespielter Geheimnistuerei dem Kellner, als ich ihn beiseite zog.

»Ich möchte etwas von Ihnen erfahren«, sagte ich. »Streng vertraulich, und natürlich bleibt alles ganz unter uns. Kennen Sie Lady Renardsmere?«

»Von Park Lane?« antwortete er sofort. »Gewiß!«

»Hat sie hier vor drei Tagen zu Mittag gegessen?« fragte ich.

»Ja, das tat sie«, antwortete er.

»Mit einem jüngeren, etwas geckenhaft gekleideten Mann?«

»Stimmt.«

»Kannten Sie ihn?«

»Nein! Kann mich nicht besinnen, ihn jemals hier oder anderswo gesehn zu haben.«

»Hat sich noch jemand anders mit an ihren Tisch gesetzt?«

Er nickte, anscheinend konnte er sich gut daran erinnern.

»Als sie in Lady Renardsmeres Auto ankamen, bestellte die Dame einen Tisch für vier Personen. Dann ging der junge Mann ans Telephon. Darauf warteten beide in der Halle. Gegen halb zwei kamen zwei Männer herein; der Mann, der mit Lady Renardsmere gekommen war, stellte sie vor. Dann speisten sie alle zusammen.«

»Könnten Sie die beiden Männer beschreiben?« fragte ich.

»Nun ja«, antwortete er zögernd. »Ich möchte sagen, verstehen Sie mich, es waren keine besseren Herren. Gut angezogen und mit guten Manieren – aber doch – Sie wissen ja. Ich nehme an, daß sie Buchmacher waren; natürlich kennen wir alle Lady Renardsmere und wissen, daß sie eine bekannte Rennstallbesitzerin ist; ihre Stute, Rippling Ruby, wird sicherlich das Derby gewinnen. Ich dachte mir, diese Männer wären wegen irgendeiner Rennangelegenheit zu Ihrer Ladyschaft bestellt.«

»Aber wie sahen sie aus?«

»Einer war ein großer, dicker Mann mit gerötetem Gesicht, der andre war auch dick, aber kleiner. Jeder trug einen grauen Tweed-Anzug – es waren ganz neue Anzüge – und beide hatten graue Schlapphüte mit einem schwarzen Band auf. Der Mann, der mit ihr hierher kam, trug einen Cutaway und einen Zylinder.«

»Sahen Sie, ob sie irgend etwas Geschäftliches erledigten, etwa daß einige Papiere unterschrieben wurden oder so etwas?« fragte ich.

»Ja«, antwortete er, »wie ich ihnen den Mokka und Likör brachte, sah ich, wie Lady Renardsmere an einem Nebentisch einen Scheck ausschrieb. Diesen gab sie dem Mann, der zuerst mit ihr hergekommen war.«

»Nichts mehr?«

»Nein, das war alles.«

»Sind sie alle zusammen fortgegangen?« fragte ich.

»Nein, die drei Männer gingen sofort weg, als Lady Renardsmere den Scheck ausgestellt hatte; sie selbst blieb hier, bis ihr Wagen sie um drei Uhr abholte.«

»Sie sehn doch immer viele Menschen«, bemerkte ich. »Können Sie sich erinnern, jemals einen dieser drei Männer gesehn zu haben?«

»Nein«, antwortete er bestimmt. »Niemals. Die drei sind mir vollkommen unbekannt, und ich habe ein gutes Personengedächtnis!«

Ich ging fort und wußte nun, daß Neamore Holliment und Quartervayne mit Lady Renardsmere im Ritz-Hotel zusammengebracht hatte, und sie aller Wahrscheinlichkeit nach diesen dreien jenes Etwas abgekauft hatte, jenes Etwas, das Holliment von Chuh Sin gestohlen hatte, und das dieser seinem Herrn, dem alten Cheng, entwendet hatte. Was war es nur? Und warum wollte Mr. Cheng uns nichts davon erzählen?

Ich ging in mein Hotel zurück und beschäftigte mich mit all diesen Fragen. Um halb eins kam Jifferdene, der offensichtlich verärgert war.

»Das ist eine nette Bescherung!« rief er aus und ließ sich neben mir in einen Klubsessel fallen. »Der verdammte alte Chinese ist verschwunden!«

»Mr. Cheng!« sagte ich.

»Er und kein andrer! Hat sich gestern abend aus dem Staube gemacht, kurz nachdem wir bei ihm waren. Hat den Nachtzug nach Paris genommen. Verflucht noch einmal! Meine ganze Arbeit von heute früh ist umsonst.«

»Wieso?« fragte ich.

»Nun, die Geschichte ist so«, antwortete er. »Ich hatte mich gestern abend noch entschlossen, ihn zur heutigen Gerichtssitzung als Zeugen vorladen zu lassen. Was er freiwillig uns nicht erzählen wollte, hätte er als Zeuge aussagen müssen. Darum habe ich mich heute morgen mit dem Kronrichter des Paddington-Distrikts in Verbindung gesetzt und ihn veranlaßt, Mr. Cheng als Zeugen vorzuladen. Ich selbst ging mit dem Gerichtsvollzieher hin, um ihm die Vorladung zuzustellen. Als wir ins Langham kamen, war der Vogel schon ausgeflogen. Und da sitzen wir nun. Denn meiner Meinung nach kennt Mr. Cheng die ganzen Zusammenhänge.«

»Wie meinen Sie das?« fragte ich, da ich gern erfahren wollte, was Jifferdene dachte.

»Ich denke mir das so«, antwortete er. »Mir scheint es unstreitig, daß Holliment durch den Chinesen, den Mr. Cheng ermittelt haben möchte, ermordet wurde, ich glaube auch bestimmt, dieser Chinese stahl Mr. Cheng etwas, das ihm dann Holliment raubte. Ich glaube, der Chinese hat Holliments Kleidung so genau durchsucht, um dieses Etwas zu finden. Verstehen Sie?«

Da ich schon längst im Bilde war, verstand ich ihn nur zu gut.

»Nun, ich wollte Mr. Cheng dazu zwingen, uns zu sagen, was dieses Etwas ist«, sagte er. »Es hätte die Sache vereinfacht, aber, wie ich sagte, er ist verschwunden!«

»Glauben Sie, daß es Mr. Shen weiß?« fragte ich.

»Nein!« entgegnete er. »Wir gingen sofort zu ihm, nachdem ich erfahren hatte, daß Mr. Cheng abgereist war. Mr. Shen war diesmal mitteilsamer, und er versicherte mir, daß die Gesandtschaft keine Ahnung hätte, warum Mr. Cheng diesen geheimnisvollen Chinesen ermittelt haben wollte. Sie weiß nur, daß er ganz erpicht darauf war und keine Ausgaben in der Angelegenheit scheute.«

»Dann wissen Sie nicht viel mehr als vorher«, sagte ich.

»Verdammt wenig!« brummte er unzufrieden. »Bis jetzt haben wir die Tatsachen, die Sie auch schon kennen.«

»Wann ist die Gerichtsverhandlung?« fragte ich.

»Heute nachmittag um drei Uhr«, antwortete er. »Es wird nur eine reine Formsache sein. Der Schutzmann, der Holliment fand, der Gerichtsarzt und Sie werden vernommen werden. Dann wird der Richter die Verhandlung um eine bis zwei Wochen vertagen. Augenblicklich kann er ja nichts weiter tun.«

»Wird man viele Fragen an mich stellen?« erkundigte ich mich.

»Heute jedenfalls nicht«, sagte er. »Sie werden ihn nur als einen Mann namens Holliment, den Sie in Portsmouth kannten, identifizieren müssen. Später, wenn wir mehr Einzelheiten über den Fall wissen, werden Sie erzählen müssen, was sich in Holliments Laden abgespielt hat. Aber heute fast gar nichts. Es ist sowieso nur Formsache, Wir wollen jetzt etwas zu Mittag essen und dann nach Paddington fahren und sehen, ob Birkem was Neues festgestellt hat.«

Birkem, den wir später in der Polizeiwache des Paddingtonbezirks trafen, hatte etwas herausbekommen. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß ein Fremder in einem Hause in Delaware Road zwei bis drei Wochen lang sich eingemietet hatte und an dem Tag nach Holliments Ermordung plötzlich abgereist war. Da er vorhatte, diese Spur weiterzuverfolgen, gingen wir mit ihm zu einem Hause, in dessen einem Vorderfenster ein Schild hing: ›Zimmer frei für bessern Herrn.‹ Wir konnten die Wirtin sofort sprechen, und sie war nur zu bereit, den Kriminalbeamten alles zu erzählen, was sie wußte. Ein Herr, der sich Carr genannt hatte, hatte ungefähr drei Wochen bei ihr gewohnt. Er war ein großer, stattlicher Mann gewesen, der anscheinend vermögend war, und der immer gut essen und trinken wollte. Er war nicht viel ausgegangen, nur ab und zu des Abends. Er las immer viele Zeitungen, besonders die Sportblätter. Er hatte einen ganzen Haufen davon zurückgelassen und außerdem eine Menge Bücher über Pferderennen. Er schrieb viel Briefe und erhielt immer sehr viele Telegramme, die meist um die Nachmittagszeit zwischen halb drei und sechs Uhr ankamen.

»Renndepeschen«, murmelte Jifferdene. »Bekam er manchmal Besuch?«

»Nur ein einziges Mal, und das war vorgestern abend«, antwortete die Wirtin. »Es war schon ziemlich spät, fast zwölf Uhr, als zwei Herren kamen. Ich wollte gerade zu Bett gehn, als sie klingelten.«

»Haben Sie sie gesehn?« fragte Jifferdene.

»Ich öffnete ihnen selbst die Tür«, antwortete sie. »Der eine war ein kleiner, wohlbeleibter Herr, der andre war jünger. Sie fragten nach Mr. Carr, und ich führte sie in sein Wohnzimmer. Sie waren vielleicht zehn Minuten zusammen, dann gingen alle drei aus.

»Hat Ihnen Mr. Carr gesagt, er wollte noch ausgehend«

»Nein, er hatte einen Hausschlüssel«, antwortete die Wirtin. »Ich hörte, wie er um drei Uhr in der Frühe nach Hause kam.«

»Allein?«

»Ja, allein!«

»Hat er Ihnen später etwas davon gesagt, warum er noch so spät ausging«

»Nein, er kam ganz leise herein, er war überhaupt ein netter anständiger Herr mit feinen Manieren.«

»Und er sagte nichts über seine Abreise?« fragte Birkem. »Er ist doch ganz plötzlich abgereist, nicht wahr?«

»Ja, ganz plötzlich, gestern nachmittag. Er erzählte mir, er müßte geschäftehalber nach dem Kontinent. Er packte seine Sachen und fuhr zwanzig Minuten später in einer Autodroschke ab. Vielleicht möchten Sie sein Wohnzimmer sehn? Es ist noch genau so, wie er es verlassen hat.«

Die beiden Detektive durchsuchten das Wohnzimmer auf das genaueste. Ich weiß nicht, ob ihre geübten Augen mehr wahrnahmen als meine. Was ich sah, war ein ziemlicher Haufen von Sportzeitschriften und ein Haufen Telegramme, die sorgfältig geordnet auf einem Nebentisch lagen. Carr mußte während seines zurückgezogenen Lebens in Delaware Road sich damit die Zeit vertrieben haben, auf Pferde zu setzen. Manchmal hatte er gewonnen, manchmal verloren.

»Das war selbstverständlich Quartervayne«, bemerkte Jifferdene, als wir wieder auf der Straße standen. »Wenn wir ihn doch nur fassen könnten! Schon wieder der Kontinent! Nun, die Gerichtsverhandlung wird gleich beginnen.«

Die Verhandlung, die mir soviel Gedanken gemacht hatte, war eine reine Formsache, ich wurde überhaupt nicht als Zeuge vernommen. Die Haushälterin von Holliments Pension war, sobald sie von seiner Ermordung gehört, schleunigst nach London gekommen. Sie war irgendwie mit ihm verwandt, und sie identifizierte ihn. Ich hätte ebensogut fortbleiben können.

»Aber das nächstemal, Mr. Cranage, wird man Sie vernehmen«, sagte Jifferdene, nachdem der Richter die Verhandlung um zwei Wochen vertagt hatte. »Dann werden Sie alles erzählen müssen, und vielleicht wird sich dabei etwas Neues herausstellen.«

»Na, jedenfalls darf ich wohl jetzt abfahren«, fragte ich. »Ich kann grade noch den Fünfuhrzug vom Vitoriabahnhof erreichen.«

Wir trennten uns, und ich ging fort, froh darüber, vorläufig mit all dem nichts mehr zu tun zu haben. Ich wollte so rasch als möglich nach Renardsmere zurück, um Peggy Manson alles zu erzählen und sie um ihren Rat zu bitten. Die Zeit war knapp, und ich erreichte den Victoriabahnhof grade zwei Minuten vor Abgang des Zuges. Ich wollte grade einsteigen, da hörte ich meinen Namen rufen, und wie ich mich umdrehe, sah ich Jifferdene über den Bahnsteig auf mich zulaufen und mir zuwinken, nicht einzusteigen. Ich blieb stehen, und der Zug fuhr ab. Jifferdene kam ganz außer Atem an.

»Quartervayne«, keuchte er, »Quartervayne ist in Eastend aufgefunden worden. Ermordet!«


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