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24.
Der Sattelplatz

Wir kamen in einem der großen Hotels in Northumberland Avenue unter. Obgleich es schon spät war, hatte keiner von uns Lust, sofort schlafen zu gehen, und so setzten wir uns in eine Ecke des Rauchzimmers. Wir waren ganz bestürzt und niedergeschlagen, Peggy aber war vollkommen verzweifelt, und ich wußte, wo ihre Gedanken weilten.

»Natürlich ist alles zwischen Lady Renardsmere und mir aus«, sagte sie plötzlich und unterbrach die bedrückende Stille. »Wenn sie mich aus ihrem Hause wirft, wird sie mich auch als Trainer nicht mehr haben wollen. Es ist alles aus!«

»Aber Kind! Die Frau war ja heute nicht ganz bei Trost!« sagte Miß Hepple. »Sie – sie war vielleicht betrunken, ihrem Benehmen nach. Morgen früh …«

»Nein«, rief Peggy aus. »Ich kenne sie. Sie wird morgen auch nicht anders sein. Sie hat sich einfach darauf versteift, daß die Stute diesen verdammten Rubin tragen soll. Ich kenne sie, ich sage euch, ich weiß, wie sie ist. Sie ist gar nicht verrückt, sie ist nur, was Edelsteine betrifft, wahnsinnig abergläubisch. Seit ich sie kenne, ist sie so. Sie wird diesen Ledergürtel Rippling Ruby morgen um den Hals hängen, ganz egal, was jemand dazu sagt. Und da ich nichts damit zu tun haben will und ihr Vorhaben durchaus nicht billige, bedeutet das das Ende. Von nun an bin ich nicht mehr ihr Trainer. Ich gebe nicht nach! Ich werde niemals zugeben, daß die Stute den Rubin trägt, an dem soviel Blut klebt. Und sie wird auch nicht nachgeben – wenn Medderfield zum Beispiel genau so darüber denken würde wie ich, und sich weigern würde, morgen zu reiten, würde sie ihn auf der Stelle entlassen und einen anderen Jockey engagieren – irgend jemand, selbst einen Stallburschen. Sie wird diesen ekelhaften Stein schon Rippling Ruby umhängen. Und wenn sie das tut –«

»Nun?« fragte Peyton nach einer Pause. »Was dann?«

»Dann wird Rippling Ruby das Derby nicht gewinnen«, antwortete Peggy traurig mit leiser Stimme. »Darauf könnt ihr euch verlassen.«

»Aber«, sagte Peyton, »das ist doch Aberglaube. Sie werden ja genau so schlimm wie Lady Renardsmere.«

»Das ist kein Aberglaube«, entgegnete Peggy. »Ich ahne es, ich fühle es.«

»Diesem Gefühl dürfen Sie nicht nachgeben«, riet Peyton. »Es hat doch gar nichts mit der Stute zu tun. Wenn Lady Renardsmere so abergläubisch ist und darauf besteht, daß Rippling Ruby diesen Stein trägt, warum sollte denn das ihre Chancen beeinträchtigen? Es ist natürlich nicht schön, daran denken zu müssen, daß das Pferd einen Gegenstand tragen soll, der vier Männern den Tod gebracht hat. Aber das hat doch mit dem Rennen nichts zu tun. Wie Miß Hepple schon andeutete, wird Lady Renardsmere vielleicht morgen früh wieder ganz vernünftig sein – sie ist eben impulsiv, und morgen wird sich alles wieder einrenken. Ich schlage vor, wir gehen alle zu Bett und lassen den Mut nicht sinken. Hauptsache ist, daß das Rennen gewonnen wird.«

Einige Minuten später saßen Peyton und ich in seinem Zimmer bei einem Glas Whiskysoda und einer Zigarette. Peyton schüttelte den Kopf und sagte:

»Die alte Frau ist vollkommen verrückt, Cranage. Es hat keinen Zweck, Miß Manson noch mehr aufzuregen. Aber Lady Renardsmere hat da was Schönes angerichtet!«

»Wieso?« fragte ich.

»Lady Renardsmere ist in Epsom – zumindestens ließen wir sie da zurück«, antwortete er. »Und auch der Chinese ist dort. Er wird entweder ihr oder der Stute nachstellen. Vielleicht kommt es zu einer neuen Bluttat.«

»Die Stute ist so sicher aufgehoben wie das Gold in der Bank von England«, sagte ich.

»Woher wissen Sie das?« sagte er. »Rippling Ruby war sicher, wollten Sie sagen. Sie können doch gar nicht wissen, ob nicht die verrückte Besitzerin sie schon längst aus dem Stall herausgeholt hat. Ich sage Ihnen, was auch Miß Manson über Lady Renardsmeres Aberglauben sagen oder denken mag, die alte Dame ist vollkommen verrückt – sie ist irrsinnig. Und niemand weiß, was eine Verrückte noch anstellen kann.«

»So viel Vernunft hat sie noch, daß sie sich von zwei athletischen Kerlen beschützen läßt«, sagte ich. »Ich bin gar nicht so sicher, daß sie wirklich verrückt ist.«

»Sie haben mich nicht ganz verstanden«, sagte er. »Sie mag in vielem vollkommen normal sein, aber in einer Hinsicht, und zwar in bezug auf den Rubin, ist sie hoffnungslos verrückt. Daß ich unten sagte, sie würde vielleicht morgen bei Verstand sein, war nur, um Miß Manson aufzumuntern. Ich persönlich glaube es nicht. Sie wird der Stute den Stein umhängen lassen – und dabei treibt sich der Chinese, der nach ihrer eigenen Aussage ein fanatisches Mitglied einer asiatischen Sekte und darum doppelt gefährlich ist, in ihrer Nähe herum!«

Ich rauchte und überlegte mir noch einmal alles.

»Hören Sie mal zu«, sagte ich plötzlich. »Scotland Yard ist hier ganz in der Nähe. Ich schlage Ihnen vor, wir beide suchen Jifferdene auf und erzählen ihm von dem Chinesen. Vielleicht hält er es für angebracht, nach Epsom zu fahren und noch einige Detektive mitzunehmen.«

»Gut«, sagte er. »Ich bin jederzeit dazu bereit. Aber es wird furchtbar schwierig sein, den Chinesen in der Menschenmenge herausfinden zu können.«

»Das wird wohl kaum gelingen«, sagte ich. »Wenn, wie Sie sagten, der Chinese es auf Lady Renardsmere oder das Pferd abgesehen hat, muß er sich aber doch an sie heranmachen.«

»Weder ich noch Sie wissen, was dieser überaus schlaue Kerl im Schilde führt. Na, auf jeden Fall kann es nichts schaden, Jifferdene aufzusuchen.«

Sobald wir gefrühstückt hatten, gingen wir nach Scotland Yard und prallten gleich am Eingang mit Jifferdene zusammen. Wir starrten ihn an. Er trug einen tadellosen Cutaway und Zylinder, ein Feldstecher hing ihm von der Schulter – kurz, er war ganz wie die Mode es für Epsom vorschreibt, gekleidet.

»Gar nicht nötig, Sie erst zu fragen, wohin Sie gehen, Jifferdene«, sagte ich. »Man sieht's Ihnen ja sofort an.«

»Ich gehe dienstlich nach Epsom, Mr. Cranage«, sagte er. »Einige Kollegen auch noch, aber nicht so aufgetakelt. Sollten Sie mich irgendwie brauchen, so finden Sie mich auf dem Sattelplatz. Aber, was führt Sie hierher?«

»Jifferdene!« sagte ich. »Der Chinese ist in Epsom!«

Ich erzählte ihm, daß dieser durch das Fenster gesehen hätte, und berichtete, was sonst noch geschehen sei. Er hörte aufmerksam zu.

»Lady Renardsmere ist dort geblieben?« fragte er, als ich geendet hatte.

»In Marengo Lodge«, antwortete ich. »Wir wissen natürlich nicht, ob sie die Nacht über dort geblieben ist. Wahrscheinlich hat sie es getan, obgleich einer ihrer Wagen draußen auf sie wartete, als wir abfuhren. Jedenfalls ließen wir sie dort mit ihrer Leibwache zurück.«

»Das wollen wir gleich heraushaben«, sagte er und nahm den Telephonhörer ab. »Ich hörte bereits spät gestern nachmittag von Lady Renardsmere und ihrer Leibwache. Sie hat die vergangenen zehn Tage in Great Central Hotel mit ihrer Zofe und einem Diener gewohnt. Außerdem hatte sie noch zwei Privatdetektive zum persönlichen Schutz da. Ich werde sofort anrufen und fragen, ob sie noch dort ist.«

Fünf Minuten später hängte er den Hörer an.

»Lady Renardsmere ging spät gestern abend nach Epsom«, sagte er. »Sie kehrte nicht zurück. So, dann können wir annehmen, daß sie noch dort ist. Das vereinfacht die Sache.«

»Inwiefern?« fragte Peyton.

»Wir haben vor, uns unauffällig in der Nähe von Lady Renardsmere und auch der Stute zu halten«, sagte Jifferdene. »Wenn der Chinese versucht, eine oder die andere anzugreifen – na, kapieren Sie es nun? Sagen Sie mir also genau, wo Marengo Lodge liegt, und wo die Stute untergebracht ist, und in einer Stunde werden ich und meine Leute beide aufs schärfste überwachen. Wir werden schon vor Ihnen dort sein!«

Wir beschrieben ihm alles ganz genau, dann verabschiedeten wir uns und gingen in unser Hotel zurück. Es war kurz vor zehn. Eine Viertelstunde später saßen wir in Peggys Wagen und fuhren nach Epsom. Die übliche Völkerwanderung hatte schon eingesetzt; es war ein wundervoller Morgen, und nach der Menge Automobile, die wir von Westminster Bridge südwärts fahren sahen, zu urteilen, mußte die heutige Besucherzahl eine Rekordziffer erreichen. Ich befürchtete schon, wir würden nur langsam vorwärts kommen können, aber Peggys Chauffeur, ein alter Londoner, kannte die Strecke sehr gut. Er nutzte jede mögliche Abkürzung aus, und so konnten wir kurz nach elf Uhr vor der großen Tribüne in Epsom halten. Während er den Wagen parkte, gingen wir vier nach Rippling Rubys Stall. Wir waren noch nicht ganz nahe herangekommen, als wir schon sahen, daß etwas vorgefallen sein mußte. Die Privatdetektive, die Lady Renardsmere unter Robindale nach Manson Lodge geschickt hatte, waren vor dem Stall versammelt. Etwas von ihnen entfernt stand Bradgett, vollkommen aufgelöst, und sprach mit dem Jockey Medderfield, der ganz ratlos zu sein schien. Hinter ihnen, und tatsächlich mit Tränen in den Augen, stand Rippling Rubys Pfleger, und sah trostsuchend von einem zum anderen. Einige Schritte entfernt stand Jifferdene, als müßiger Zuschauer, mit noch einigen Männern zusammen.

Peggy ging sofort auf Bradgett zu. Als Rippling Rubys Pfleger sie sah, schluchzte er.

»Na, Bradgett, was ist denn los?« fragte Peggy und nickte auch Medderfield zu. »'raus mit der Sprache.«

Bradgett schüttelte den Kopf, er machte ein langes Gesicht und sah ganz niedergeschlagen aus.

»Ich weiß nicht, was los ist, gnädiges Fräulein«, antwortete er. »Niemand weiß, was los ist. Ich weiß nur, daß um neun Uhr heute früh Lady Renardsmere, begleitet von zwei großen Kerlen, die nicht von ihrer Seite wichen, hierher kam, und mich und meine Leute aus dem Stall warf. Dann schloß sie ihn eigenhändig ab, stellte diese Kerle da als Wache auf und teilte mir mit, Sie wären nicht mehr ihr Trainer. Sie sagte auch, wir sollten ja nicht versuchen, in die Nähe von Rippling Ruby zu kommen. Ich denke, sie muß verrückt geworden sein, oder irgend so was – auf jeden Fall war sie in furchtbarer Laune. Was sollen wir tun, gnädiges Fräulein?«

»Wo ist Lady Renardsmere jetzt?« fragte Peggy.

»Weiß ich nicht«, erwiderte Bradgett. »Sie und die beiden Männer sind in die Richtung nach dem Stall von Major Camperdale hin gegangen. Sie hat den Schlüssel zum Stall in ihrer Tasche.«

»Was hat das alles zu bedeuten, Miß Manson?« fragte Medderfield neugierig. »Ganz merkwürdige Geschichte, nicht wahr?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Medderfield. Lady Renardsmere …«

»Die gnädige Frau kommt zurück!« rief plötzlich der Stallbursche. »Ich sehe sie! Einige Männer begleiten sie.«

Wir drehten uns alle um. Lady Renardsmere, ihre Leibwache ihr zur Seite, kam über den Platz auf uns zu, hinter ihr drei Männer, augenscheinlich Stallburschen. Neben ihnen ging ein großer, soldatisch aussehender Mann, den ich für Major Camperdale, mir dem Namen nach als Trainer bekannt, hielt. Ich ahnte schon, was nun kommen würde.

»Kommen Sie, Peggy«, flüsterte ich. »Keinen Zweck, hier zu bleiben. Lassen Sie sie doch tun, was sie will.«

Aber Peggy rührte sich nicht vom Fleck.

»Nein«, sagte sie. »Hier stehe ich und hier bleibe ich. Ich will sehen, was geschieht.«

Lady Renardsmere und ihr Gefolge kämm näher. Sie schritt voran und hielt ihre Augen fest auf den Stall gerichtet, plötzlich sah sie zur Seite und bemerkte uns. Ihre Augen funkelten vor Wut, und sie drohte uns mit einem Schlüssel.

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« rief sie. »Gehen Sie alle fort! Ich bin mit Ihnen fertig, Peggy Manson! Sie sind nicht mehr mein Trainer! Ich verlange unbedingten Gehorsam, von jedem, der in meinen Diensten steht. Machen Sie, daß Sie alle miteinander fortkommen! Nur Medderfield, Sie bleiben. Ich habe einige Befehle für Sie.«

Sie ging weiter, Peyton stieß mich am Ellbogen an.

»Gehen Sie nur«, sagte er. »Bringen Sie die beiden Damen irgendwo nach hinten. Die alte Frau ist ja vollkommen verrückt. Keinen Zweck, sie noch mehr aufzuregen.«

Ich bat Miß Hepple und Peggy, doch mit mir zu kommen, und wir stellten uns einige zwanzig Meter weiter entfernt auf, Bradgett und der Stalljunge folgten uns. Was ich befürchtet hatte, trat ein. Lady Renardsmere schloß den Stall auf, ihre Leute gingen hinein, einige Minuten später führten sie Rippling Ruby heraus. Umgeben von ihrer irrsinnigen Besitzerin, sämtlichen Privatdetektiven und den neuen Stallburschen und Pflegern, wurde sie nach Major Camperdales Stall geführt. Peggys Gesicht wurde ganz rot, dann plötzlich ganz weiß, Bradgett fluchte leise, der Junge zog ein buntes Taschentuch heraus und heulte. Jifferdene, der tat, als ob er uns nicht kannte, schlenderte mit seinen Leuten hinter Rippling Ruby und ihrem Gefolge her.

Bis jetzt hatte Medderfield sich überhaupt nicht gerührt. Jetzt sah er auf und blinzelte mir mit seinem linken Auge zu, und ich ging zu ihm hin.

»Schraube los, Mr. Cranage?« fragte er und deutete mit dem Kopf nach Lady Renardsmere.

»Lady Renardsmere und Miß Manson haben eine Meinungsverschiedenheit gehabt, Medderfield«, sagte ich. »Lady Renardsmere läßt nur ihre eigene Meinung gelten. Aber, das ist ja kein Grund, daß Sie Rippling Ruby heute nachmittag nicht reiten sollten.«

»Oh, ich werde sie reiten, Mr. Cranage«, sagte er bestimmt. »Ganz unter uns, Ihre Ladyschaft hat mir, falls wir siegen, fünftausend Pfund versprochen. Aber wirklich scheußlich für Miß Manson! Ihr gebührt der Ruhm – die ganze Geschichte heute früh ist nur dann verständlich, wenn die Alte verrückt ist. Wie gesagt, Geschäft ist Geschäft. Ich werde mal gehen und sehen, was sie eigentlich will. Sehe Sie wohl nachher auf dem Sattelplatz.«

Er ging auf den Stall von Major Camperdale zu, und ich ging zu Peggy und den anderen zurück. Peggy schien die Sprache verloren zu haben, sie stand ganz ruhig und blaß da, und sah Rippling Ruby nach. Erst als die Stute nicht mehr zu sehen war, schien sie ihre Umgebung zu bemerken.

Miß Hepple legte eine Hand auf ihren Arm und sagte:

»Peggy! Wollen wir nicht lieber nach Hause gehen?«

Die Farbe kehrte in Peggys Gesicht zurück, und ihre Augen funkelten. Sie wandte sich an Miß Hepple.

»Nach Hause?« rief sie. »Nach Hause? Ich denke nicht daran! Nein, ich bleibe hier! Schließlich habe ich sie doch trainiert!«

Wir brachten es wenigstens fertig, Peggy von dort fortzubekommen, wir erreichten es sogar, daß sie etwas zu Mittag aß. Die Zeit verstrich, wir versuchten, an allem, was um uns vorging, Anteil zu nehmen. Wir sahen uns die beiden ersten Rennen an. Nichts interessierte uns. Nur eins wollten wir – wir wußten alle, was das war. Endlich standen wir auf dem Sattelplatz, unter all den Damen und Herren, die den Favoriten sehen wollten. Es hatte sich schon herumgesprochen, daß etwas vorgefallen war; ich hörte, wie die Leute flüsterten, hörte Bemerkungen fallen. Die Aufregung stieg mit jeder Minute.

Endlich wurde sie auf den Sattelplatz geführt, und alles drängte sich näher, um das prachtvolle Rassepferd zu sehen. Um den wundervoll geschwungenen Hals hing der hellgrüne Ledergürtel mit dem verfluchten Rubin.


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