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2.Kapitel

Der Pfeifer

Da geschah es, daß die Eltern durch eine Bürgschaft, die der Vater für einen seiner Verwandten übernommen hatte, eine Summe Geldes verloren, die im Verhältnis zu dem Hof groß war. Sie war so groß, daß sie von nun an schwer an Zinsen zu tragen hatten, ja, jedes Gewitter, das am Himmel aufstieg, jedes Hagelwetter, das sich über den Heidehügeln der alten Küste oder über der See erhob, und vor allem den großen Zinstag, den ersten November, fürchten mußten. Der Vater quälte sich in seiner übergewissenhaften Art unsagbar, daß er den Bitten jenes Verwandten, der sich nun als ein Windhund erwiesen, nachgegeben und darüber das Glück der Seinen versäumt hatte. Es traf ihn auch aufs härteste, daß er durch diese Sache in aller Leute Mund kam, daß sie nun alle sagten – er stellte es sich in seiner empfindsamen Seele ganz deutlich vor, ja, er hörte genau ihre Stimme –: »Es ist schade um den alten Reimer Ott. Er ist so fleißig und er gibt keinen Groschen unnötig aus ... wirklich, er hat es nicht verdient, daß ihm dies geschieht! Aber warum übernahm er die Bürgschaft? Er hätte die Hände davon lassen sollen! Aber er hat so etwas Ungeschicktes und Schwerfälliges gehabt sein Lebelang.« Ja, so sagten sie! Die Mutter, stolz wie sie war, quälte sich auch mit diesem Gerede. Aber viel mehr bewegte es sie, daß ihre Kinder, ihre kleine Herde, ihr Blut und Eigentum, nun fast den ganzen Rest des guten alten Erbes verloren hätten; und sie konnte es in ihrer raschen Art nicht lassen, ihrem Mann zu seinem großen Leid noch Vorwürfe zu machen.

Die Kinder verhielten sich nach ihrer Natur ganz verschieden. Harm, der Zimmermann, der nach seiner Gewohnheit am Sonnabendabend auf seinem blitzenden Rad zum Besuch kam, setzte sich der Mutter gegenüber auf den Herd und redete ihr Mut zu: daß sie ja so viele wären ... jetzt elf; und alle zusammen gesunde Leute ... daß jeder von ihnen sein kleines Glück und kleinen Erfolg haben würde ... ja, der eine oder der andere – er dachte dabei besonders an sich selbst – einen größeren, ja, einen großen ... daß sie alle, zusammenhaltend, den Verlust wohl würden wieder einbringen können. Reimer, der junge Büchermann, kam mit einem Band Schiller – Braut von Messina – aus seiner Kammer, stellte sich zu ihnen, wärmte seine Hände an der Flamme, die langsam um den Kessel spielte, und freute sich an ihrem Spiel, hörte eine Weile zu und meinte dann, daß man sich um Geld doch keine Sorgen machen dürfe. Wären sie nicht gesund? Hätten sie nicht zu essen? Hätten sie nicht Frieden im Hause? »Du glaubst nicht, Mutter, was es für furchtbare, sinnverwirrende Schrecknisse in der Welt gibt! Solche Schrecknisse ... die sind ein Unglück ... aber dies!?« Und er strich ihr liebkosend den Arm und ging wieder in seine Kammer und dachte nicht weiter daran. Seine Seele war ganz auf Hoffnung gestellt und sah hier keine Not.

Aber in Eggert, dem Barfüßer, wie seine Geschwister ihn nannten, wurde der Widerspruchsgeist, der schon lange in ihm lebte, nun sehr lebendig und tätig. Die jähe, zornige Natur der Mutter, die er in sich hatte, die in der Mutter durch die Liebe des Blutes gebändigt, ja versöhnt wurde, in ihm aber jung, ohne Maß und ohne Zucht war, brach wild aus ihm heraus. Rasch und ungerecht, hielt er des Vaters innere Ungeschicklichkeit für unmännliche Schwäche und Trägheit. War der Vater nicht schlaff? Sah man es nicht schon an seinem Gang, seiner Haltung, seiner langsamen und seltenen Rede? Genug, die erste maßlose Männlichkeit des Siebzehnjährigen wallte auf und knurrte gegen den Vater, redete altklug über Menschen und Dinge und murrte harte Vorwürfe. Hätte er noch damit aufgehört, nur die eine Handlung des Vaters, die Übernahme der Bürgschaft, zu tadeln, so wäre es erträglich gewesen; denn der Vater war hart genug gegen sich, ja überhart, und bekannte in sich selbst sein Unrecht und war gern bereit, sich selbst von einem halbwüchsigen Knaben einen Vorwurf bieten zu lassen, ja, es freute ihn wohl gar, da er in seinem Sohn den feurigen, zugreifenden Geist erkannte, den er selbst nicht hatte und darum an seiner Frau so heiß verschwiegen liebte. Da der Knabe aber in Maßlosigkeit der Jugend das ganze Wesen und Leben des Vaters angriff, so als wenn er kein rechter Mann wäre, konnte er es nicht ertragen. So grausig es seiner ernsten vornehmen Natur war, er mußte ihn hart anfahren und ihm Gehorsam gebieten, solange er noch unmündig in seinem Hause wäre. Der Junge duckte sich; und es schien äußerlich, als wenn er gehorchte. Aber der Mutter zeigte er in raschen hitzigen Ausrufen, als er in der Küche mit ihr allein war, wie verbittert und trotzig sein Gemüt war; und abends, nach dem Essen, sprang er barfuß aus seinem Kammerfenster, lief über die Felder nach dem Deich, und saß da die halbe Nacht bei Mundharmonika, Kartenspiel und Geplauder. Es geschah dort nichts Unrechtes; auch hetzte man ihn nicht gegen seine Eltern; aber man bestärkte ihn doch in seinem Wesen, das sich in ihm umtrieb und nach einem eigenen, absonderlichen Weg und Wesen eine Tür suchte.

So verging die Zeit bis Mitte Januar hin. Einige redeten zum besten, die andern schwiegen. Auch Eggert verhielt sich wieder stiller. Und es schien fast, als wenn der Streit einschliefe und alles wieder in die alte, ruhige, etwas langweilig dumpfe Ordnung hineingeriete. Da geschah eines Tages folgendes.

Eines Tages, im Januar, an einem besonders frühen Abend, als die Magd und der junge, fremde Knecht, den der Vater kurz vor Weihnacht gemietet hatte, in der Dämmerung zusammen auf der Tenne Heu wegschafften, das sie vorher vom Boden herabgeworfen hatten, kam von dem großen, dunkeln Boden herab ein heller, fast schriller, langgezogener Pfiff. Die Magd fuhr erschrocken, ja entsetzt zusammen, und starrte den Knecht an. Dieser, der einige zehn Schritt von ihr entfernt war, stand auch still und starr, und sah nach dem Boden hinauf und horchte. Dann sagte er langsam: »Was war denn das?« und hinkte – er hatte in Folge eines schweren Oberschenkelbruches ein etwas gekürztes Bein – an den Fuß der Leiter und sah nach oben und horchte wieder, und sagte dann leichthin in seinem fremden alemannischen Dialekt: »Das wird der Eggert sein, der macht sich ein Späßle mit uns.« Aber die Magd behauptete, Eggert wäre in der Scheune, und forderte in wachsender Angst den Knecht auf, er möchte doch mit der Laterne hinaufgehen, ob er dort jemanden fände. Er wollte aber nicht; stand noch und lehnte es ab. Indem kam Ott selbst von der Küche her nach der Diele; und die Magd sagte es ihm, und der Knecht fügte nachlässig hinzu: es wäre wohl der Eggert gewesen, der sich einen Spaß mit ihnen gemacht und nun über den Backhausboden nach der Scheune gegangen wäre. Als der Vater nachfragte, und erfuhr, daß an dem Pfiff kein Zweifel wäre und in dem Halblicht der Diele sah, wie schwer erschrocken das Mädchen war, stellte er sich an die Leiter und rief hinauf, ob da jemand wäre; der solle sich melden. Aber es kam kein Laut vom Boden herunter. Da holte er die Laterne und steckte sie an und ging die Leiter hinauf und leuchtete alles ab, vom Kornboden unter den Vorderfenstern bis auf den niedrigen Boden über den Pferdeställen und den Gang nach dem Backhaus; aber er fand nichts und kam wieder herunter und sagte, sie müßten sich beide getäuscht haben, oder es wäre ein Laut eines Tieres gewesen; und ging nach der Scheune hinüber, wo Eggert war, fand ihn bei seiner gewohnten Arbeit, ging um ihn herum, tat irgendeine Frage und ging wieder nach dem Hause zurück und in die Stube zu seiner Zeitung.

Die andern im Hause achteten der Begebenheit zuerst wenig, da sie es nicht mit erlebt hatten. Da aber die Magd eine ziemliche Begabung der Darstellung hatte und ein lebhafter Mensch war, und mit großem Eifer und immer wachsender Angst davon sprach, ob der Pfiff sich wiederholen würde, und ihn wieder und wieder, in Küche, Kammer und Stall heimlich nachmachte, wurden sie allmählich alle mitbewegt und beredeten die Sache. Besonders die Kleinen kamen in große Unruh.

So verging eine ziemliche Reihe von Tagen, wohl zehn oder zwölf, in denen nichts geschah. Da stand eines Abends der Knecht mit der Magd bei eben derselben Arbeit; denn ungefähr alle zehn Tage wurde Heu vom Boden heruntergestoßen. Da kam von oben herab derselbe Pfiff. Der scharfe, feine, lange Laut, der wie ein langgezogener, aber jäher Degenstoß durch den ganzen Raum zuckte, war kaum zu Ende, da stand die Magd schon mit gesträubtem Haar vor der Mutter am Herd und sagte: sie könne es in diesem Hause, in dem es spuke, nicht mehr aushalten, sie würde keinen Augenblick mehr sicher sein, daß jener Pfiff ihr wieder quer durch die Brust fahre; sie bäte um ihren Lohn und wolle gehn. Die Eltern kamen beide heraus und fragten den Knecht und die beiden Kleinen, die zufällig auch auf der großen Diele gewesen. Die bestätigten alle drei die Tatsache. Ja, es wäre ganz deutlich und genau so wie das vorige Mal gewesen, und sicher von oben herab, und zwar schiene es ihnen, es sei von der Seite, wo über den Kälberställen das viele Gerümpel läge, heruntergekommen, oder vielmehr: es sei von jener Stelle her ausgegangen und hätte sich dann über den ganzen Boden verbreitet. Da ging der Vater mit langen Schritten durch den Pferdestall nach der Scheune hinüber und fand Eggert dort bei seiner gewohnten Arbeit und redete ihn an, wie das vorige Mal, doch so, daß er ihn diesmal fragte, ob er vielleicht einen Menschen hätte über die Hofstelle laufen sehen. Der schüttelte aber den Kopf, und wie der Vater ihm sagte, daß jener Pfiff vom Boden her sich wiederholt habe, hob er die Schulter, als wenn er sagen wollte: darüber kann ich nichts sagen – oder: das weiß der Teufel – und fuhr in seiner Arbeit fort. Da kehrte er ins Haus zurück und sie gingen alle – die Magd aus lauter Angst, damit sie nicht allein unten bliebe, auch mit – die Leiter hinauf, durchsuchten den ganzen Boden und fanden nichts. An demselben Abend verließ die Magd das Haus. An ihre Stelle trat eine, die an den Ohren und an der Seele halbtaub war, und, wie es schien, die Welt für noch tauber hielt; denn sie ging stumm und teilnahmlos ihrer Arbeit nach und kümmerte sich um nichts weiter.

Einige Tage nach diesem zweiten Pfiff kam eine Tochter, Emma, fünfzehn Jahr alt, aus einem andern Kirchspiel, wo sie ein Jahr lang bei einer Hausfrau in Küche und Kinderstube Dienste getan – um Unterschied kennen zu lernen, wie man zu sagen pflegt – ins Elternhaus zurück und wirtschaftete darin zwischen Mutter und Magd. Sie war der Zwilling von dem Bruder Reimer, dem Büchermann, und war hager, doch wohlgeformt, und hatte bei schlichtem blonden Haar und dunklen schöngebogenen Brauen und langem Gesicht wunderschöne Farben, aus denen ihre Augen wie eine sanfte, schöne und stille Flamme friedsam und rein in die Welt sahen. Sie war nämlich wie ihr Bruder Reimer, ihr Zwilling, ein zartes Gemüt. Ihre kleine Seele wurde immerzu von schönen, sanften Bildern bewegt, die sie in der blauen Luft, im Grau des Regendunstes, im Feuer des Herdes und im schwärzesten Dunkel des Winterabends vor sich sah. Als sie ein kleines Kind war, so sieben Jahr alt, fand einer der Brüder sie an einem dunklen traurigen Regentag, wie sie auf der Steinbrücke am Hause kauerte und einen mittelgroßen Frosch gegen die Wand warf ... einmal ... zweimal ... dreimal ... und dazu murmelte. Sie fragten sie verwundert, was sie da mache. Sie sagte, sie wolle mal sehen, ob dieser Frosch nicht ein König oder doch ein Prinz wäre. Wenn sie ihn gegen die Wand würfe, und es wäre ein Prinz in ihm, würde er sich verwandeln. So lebte sie von Bildern, die sich außerhalb der Wirklichkeit vor ihren inneren Augen bewegten, und war vor diesen Bildern still und sah ihnen verwundert und sinnend nach. Und allmählich, da diese Bilder immer seelisch blieben, nie Wirklichkeit wurden, kam eine leise Schwermut über sie, so in dem Gefühl, als wäre sie irregegangen und in einer verkehrten Welt. Diese Schwermut blieb aber den Augen der Menschen noch verborgen, da sie ja noch in junges Jahren war, da der Mensch noch nicht sicher und völlig in seinem Wesen haust und die Großen ihn auch noch überwältigen und ihm und seinem Wesen in ihm zu schweigen gebieten. Sie schien sich aus der Geschichte von dem Pfeifer – so nannte man im Hause das Wesen, von dem jener Ton ausging – die man ihr natürlich sofort und mit schon unruhig gewordener Seele erzählte, nicht viel zu machen. Aber nach einigen Tagen, als sie in den Nachbarhäusern umher ihre früheren Schulgefährtinnen begrüßt hatte, kam sie doch unruhig nach Haus. Und als am Sonntagvormittag darauf ihr Bruder Harm, der Zimmermann, nach Hause kam, suchte sie mit ihm allein zu kommen und ihn zu fragen. Sie traf ihn, wie er in der kalten frischen Frühlingssonne neben der Haustür stand, und erzählte ihm, daß die Magd, die fortgegangen war, wo sie ginge und stände von dem »Pfeifer« spräche, und meinte, daß es doch eine unheimliche Begebenheit wäre und völlig rätselhaft. Er sah sie von der Seite an und sah, daß ihr Gesichtlein ein wenig größer geworden war und einen weichen Schwung bekommen, und fühlte, wie sehr sie unbewandert war in der Welt und ihrer Ängste und sich vor der ersten Angst fürchtete, und redete ihr gut zu und meinte: es wäre wohl irgendeine Naturerscheinung gewesen und würde nun wohl nicht wieder geschehen, und sie würde sich denn bald beruhigen. Sie hörte ihm mit großen, nach allem in der Welt fragenden Augen zu, und hing sich an sein Wort und beruhigte sich.

Als der Bruder fortgegangen war, da die Mutter ihn rief, und sie da noch stand, kam der junge Knecht ums Haus und blieb in einer Entfernung von ihr stehen und sah übers Land. Da verharrte sie, wo sie stand, und redete dies und das mit ihm. Sie hatte gleich bei ihrer Rückkehr ins Haus erfahren, daß er fleißig und in allem seltsam gewandt war und ein immer freundlicher und hilfsbereiter Mensch. Besonders die Kleinen liebten ihn, weil er ihnen allerlei Schnurren und Geschichten erzählte. So hatte er einmal, als er am Backhaus einen dicken Ast durchsägte, gesagt: sie sollten sich mal alle um ihn versammeln, er würde ihnen gleich etwas zeigen, was noch niemand auf der Welt gesehen hätte. Als sie ihn fragten, woher es denn erscheinen würde, in der Luft oder von der Scheune her oder vom Hause oder gar aus der Erde, hatte er gesagt, das wolle er nicht so genau sagen, damit ihre Überraschung, wenn es plötzlich da wäre, um so größer wäre. Und hatte sie, ohne im geringsten zu lügen, so neugierig gemacht, daß sie mit Augen wie Teetassen um ihn gestanden hatten; und da hatte er denn, als der Ast durchgesägt war und auseinander fiel, auf die beiden Schnittflächen gezeigt: das wäre es ... das hätte noch kein Mensch auf der Welt gesehen! Ein andermal hatte er gesagt: ob sie das große Tier kennten ..., das Manteltier ... haushoch ... ja, das sähe er ganz deutlich, je nachdem, wie er sich hinstelle ... Ja ... wenn er so stände ... dann sähe er es nicht ... aber wenn er sich so stelle, dann könne er es sehen ... und er stellte sich so, daß er an der alten Scheune vorübersah. Ja, es hätte sechs Beine ... ja ... natürlich auch Augen, ein bißchen trüb freilich. Und er malte es alles aufs genaueste aus und sah an der alten Scheune vorbei. Sie aber sahen nichts und verschworen sich, daß er lüge und phantasiere, und nachher war es die alte Scheune selbst, die ihnen nun in der Tat plötzlich ... mit ihrem ungeheuren Schindeldach fast bis auf die Erde und ihren schweren Mauerrippen, sechs an jeder Seite, und den trüben Fenstern wie ein großes Tier erschien. Solche Scherze kannte er und machte er viele mit ihnen, indem er das Nächste und Natürlichste ins Rätselhafte, ja auf das Gebiet des Wunderbaren versetzte, und sie dann, indem er es plötzlich wieder an seiner ordentlichen, hellerleuchteten Stelle auftauchen und erscheinen ließ, in Verwunderung setzte. Er mußte seine Geschichten immer wiederholen und wußte immer neue, und sie wurden nicht müde, ihm zuzuhören, und er nicht, ihnen zu erzählen. Alles das hatte sie von ihm gehört und es hatte ihrer freundlichen kleinen Seele gut getan. Dazu hatte seine Figur, zwar unter Mittelmaß, aber behende und hübsch, seine klare, edle Stirn und südlichfreundliche Sprache ihr seltsam gefallen. Zuletzt – diese Dinge kann kein Mensch bis auf den Grund erkennen – mochte ihre Seele davon erregt werden, daß er dies leichte Hinken hatte, das ihrem phantastischen Gemüt wie eine Verstellung, wie eine Verkleidung, oder doch, bei seinem feinen Wesen, wie eine Erniedrigung erscheinen mochte. Zuletzt hatte sie, eine kleine Eva wie alle, wohl gemerkt, daß er klare, fragende, suchende Augen, gewissermaßen wie aus der Ferne, auf sie richtete, sobald er ihrer ansichtig wurde. Kurz, sie war ihm, in ihrem kindlichen, jungfräulichen Herzen leise zugetan und war guter Dinge, fröhlich und glücklich, wie sonst nicht, wenn sie mit ihm sprach und ihn ansah, und sah, wie er kuckte; und war des allen völlig unbewußt. Also erzählte sie ihm nun, was die Nachbarn redeten.

Er kam mit seinem leichten Hinken näher an sie heran und sagte: »Ja ... es ist etwas merkwürdiges und rätselhaftes ... wer kann es raten? Auch ich zerbreche mir den Kopf, was es wohl sein könnte, was da etwa herausschauen könnte. Erst dachte ich, es wäre irgendein Mensch, der sich einen Spaß machte; ich dachte an den Eggert, der ja so gut maultrommeln und flöten kann, und ich merkte wohl, daß der Meister .. so nannte er den Vater – dasselbe dachte. Aber der Eggert ist es nicht; der Eggert war beidemal in der Scheune, er ist auch viel zu ernst dazu, um einen solchen Possen zu spielen. Nein, dazu gehört ein Schelm, und was für ein gewandter! Nein ... wir hier alle im Hause ... wir haben es nicht getan; wir sind ja fast wie die lieben Heiligen, die auf den Altären stehen und nicht ein einziges Wörtlein schwätzen. Und so denke ich wie Harm: es ist vielleicht ein Vogel gewesen, ein seltener, der sonst zur Winterzeit wegfliegt, aber diesmal, weil er sich in der Zeit verrechnet, hier im Lande geblieben ist, und im Wintertraum und weil es ihm gar zu langweilig ist, diese Töne ausstößt. Was meinst du dazu?« Und er lächelte und sah sie mit seinen schmucken, lebhaften Augen an.

Ihr gefiel das Wunder, und seine Augen noch mehr; sie hatte sie noch nie so nahe gesehen. Er hatte überhaupt noch nie so allein bei ihr gestanden und mit ihr allein geredet. Es wurde ihr gar warm ums Herz; und sie meinte: das könne es wohl gewesen sein.

»Was geschieht nicht alles?« sagte er. »Es geschehen die wunderbarsten Dinge. Als ich vor zwei Jahren im Winter um diese Zeit auf einem Bauernhof in Ostfriesland diente, wo zwei ältere wunderliche Leute wohnten, da geschah auch was Merkwürdiges. Da wurden, denke dir, die Kühe wunderlich! Es fing in allen Ecken des Stalls, ja in den Bäuchen der Kühe, an zu rumoren und zu murmeln. Es geschah immer beim Abendmelken, im Dunkeln. Ich habe es selbst oft genug gehört; denn ich war meist dabei. Es war zuweilen wahrhaftig so, als wenn die Kühe redeten. Du kannst dir denken, wie die beiden Mädchen, die ein wenig dumm und taprig waren, jedesmal aufkreischten, wenn es losging und was es überhaupt für einen Lärm und ein Gerede gab.«

Sie hatte atemlos zugehört, die sanften, gläubigen Augen voll auf seinem Gesicht, »Und was wurde daraus?« sagte sie.

»Ja, was wurde daraus?! Es gab viel Aufsehen und Geschwätz da auf dem Hof und im ganzen Kirchspiel. Die meisten lachten und machten sich über den Hof ein wenig lustig, der so ein bißchen verschimmelt war, so ein bißchen langweilig, weißt du, und schläfrig. Genug, es gab eine ordentliche kleine Hetz. Ich ging dann weiter und weiß nicht, was daraus geworden ist.«

Er sah sie forschend und fragend an, so als ob er sagen wollte: Verstehst du mich?

Aber das Mägdlein war in diesem Augenblick ganz anders befangen; es klang ihr gar zu sanft, daß er sie du nannte, zumal er das Wort gewissermaßen mit reiner, vorsichtiger Stimme aussprach, und es war ihr gar heimlich und wohlig, daß sie nun auch ihn so nennen konnte. »Du bist wohl weit umhergekommen,« sagte sie ... »wohl durch ganz Deutschland? Wo ist deine Heimat?«

»Ich bin ganz oben vom Rhein,« sagte er, »aus den Bergen an der Schweizer Grenze; aber meine Großmutter war vom Niederrhein und der bin ich ähnlich und habe von ihr die Liebe zum ebenen Land; und so bin ich in diese Gegend gekommen, erst zum Onkel nach Köln und daherum, und dann immer weiter bis hierher.«

»Was war dein Onkel, der dich aufnahm?«

Er sah sie mit einem langen Blick an, in dem ein vornehmes und ein wenig banges Bitten und Fragen lag, so daß ihr kleines Herz so recht in die Stimmung kam, in der es war, als sie den Frosch an die Wand warf, und gewärtig war, er wäre im allernächsten Augenblick ein Prinz, und es ganz warm und über die Maßen froh wurde. »Ich sage es sonst keinem,« sagte er, »aber dir möchte ich es freilich sagen. Es ist nichts Schlimmes ... daß du das nicht denkst! Aber es ist ein Beruf, der besonders bei den Bauern verachtet ist. Mein Onkel zog weit umher, von Markt zu Markt, von Köln bis nach Jütland hinauf, und ich zog mit, und es ist nicht unmöglich, daß du mich schon mal auf eurem Jahrmarkt gesehen hast ... Mein Onkel« – er sagte es zögernd und unsicher – »hatte eine Wunderbude.«

Sie staunte und wurde langsam rot, daß sie hier mit einem Menschen stand, der ein Leben geführt hatte, das ihr so fremd, ja so unheimlich war. Aber sogleich, im selben Augenblick, während sie errötete, gewann wieder das andere Gefühl bei weitem die Oberhand und wurde deutlicher: daß dieser feine Mensch so niedrig hatte leben müssen, so daß sie nun noch einmal errötete, aber nun vor Freude, daß sie ihm helfen und gut mit ihm sein sollte. Unwissend, daß Liebe sie verführte, umgab sie ihn im Nu mit allem Schimmer ihres guten phantastischen Herzens. Sie sah ihm mit einem unsäglich schönen, verwirrten Glanz in den Augen an und sagte leise, als wenn sie das heiligste Geheimnis trug: »Du kannst dich darauf verlassen, daß ich es niemandem sage,« und mit zartem Eifer setzte sie hinzu: »Und auch du mußt es keinem Menschen sagen. Die Leute verstehen hier so etwas nicht.«

Die Süßigkeit ihrer Stimme und ihrer Augen überwältigte seine lebendige rheinische Natur. Er holte jäh und tief Atem und sagte mit feuchten Augen und mit Zittern in seiner hübschen, weichen Stimme: »Ich bin immer, von Kind an, unter fremden Leuten gewesen. Du bist der erste Mensch, der wirklich gut mit mir ist. Als ich ein Kind war, war die heilige Anna lieb mit mir, die in unserem Dorf in der Kirche am Altar stand. Der bist du ähnlich, und ich habe dich so lieb, wie ich jene hatte.«

Sie war völlig verwirrt, da sie solchen Gefühlsausbruch durchaus nicht kannte, und das heilige Wesen, das er ihr genannt hatte, ihr völlig fremd war, und sagte mit stockender Stimme, während ein Gefühl seliger Freude durch ihr kleines Herz fuhr: »Ich hab' es wirklich so gemeint, wie ich es gesagt habe!« Und da sie weiteres nicht ertragen hätte, sagte sie: »Und nun will ich hineingehn ... es wird kalt hier draußen.« Und ging.

Nach etwa einer Woche, während nichts vorfiel, waren der alte Tagelöhner, der seit dreißig Jahren auf dem Hof arbeitete, und der Knecht im halbdunkeln Stall dabei, die Pferde zu striegeln, während Emma unter einer Kuh saß, die gekalbt hatte, und melkte. Ganz am andern Ende des Stalls stand Reimer, der eigentlich den Fohlenstall streuen sollte, an dem kleinen halbblinden, spinnenverhangenen Fenster und las in einem Buch deutscher Sagen. Da tönte von oben herab wieder der Pfiff.

Reimer, am Ende des Stalls, aus der Tiefe seines Buches jäh aufgeschreckt, schrie laut auf; auch der alte Tagelöhner stieß einen Ruf des Schreckens aus. Der Knecht, nur zwei Pferde von ihm, stand aufrecht und wartete einen Augenblick ... so, als wenn er weiteres erwartete. Als aber alles still blieb, sprang er aus dem Futtergang und suchte nach der Stelle zu sehn, wo Emma bei den Kühen war, sah hin, und rief in plötzlicher, schrecklicher Angst den Tagelöhner und lief den Gang entlang.

Das junge Ding stand aufrecht und hielt mit der linken Hand wie im Krampf die Latte, die etwa in der Höhe der Kuh nach dem Gang zulief; die rechte drückte sie fest aufs Herz. In ihrem todbleichen, verängsteten Gesicht und ihren starrenden Augen sah man, wie sie sich mühte zu schreien und zu gehen, und wie groß ihr Entsetzen war, daß sie es nicht vermochte. Der Knecht, als er sie sah ... schrie mit lautem Wehruf auf, sprang hinzu und faßte sie an. Nun liefen auch der alte Tagelöhner und Reimer heran. Sie nahmen sie in die Mitte und brachten die Willenlose mit vorsichtigem Drängen aus dem Stall über die Diele nach der Schlafstube, wo sie unter dem Wehklagen der Mutter und dem schmerzvollen Gesicht des Vaters aufs Bett gelegt wurde.

Diesmal machte sich nur der alte Tagelöhner die Mühe, den Boden zu durchsuchen. Als er die Leiter wieder herunterkam, stand der Bauer da an der offenen Tür der Diele und sagte mit heiserer Stimme: »Du ... wo ist Eggert? Meine Frau sagt, er ist nach der Mühle –; aber ich seh' ihn nicht auf dem Weg ... wo ist er?«

Der Alte sagte, er wisse es nicht anders, als daß er zur Mühle gegangen wäre ... »Ich will mal nach der Scheune hinübergehn und nachsehn,« sagte er.

Er trabte hinüber und kam gleich wieder und meldete: »Er ist noch da und beim Füttern ... er will gleich nach der Mühle sehn.«

Da kam ein Zug unendlichen Leides und Wehs über das stille, lange Gesicht des Bauern; er wandte sich ab und ging wieder nach der Stube zurück und setzte sich an das Bett seines Kindes, das zwischen Ohnmacht und Halbschlaf in wirren Träumen zuckte, und blieb da die Nacht, die kleine, immer wieder bebende Hand in seiner großen Arbeitshand. Wenn seine Frau ihn anredete und etwas sagen wollte, sah er sie mit abwesendem Gesicht an.

Am andern Morgen standen die Kinder in Haufen verstört in der Küche. Der Knecht steckte alle halbe Stunden den Kopf in die Küchentür und fragte, wie es stünde. Sein hübsches Gesicht war totenblaß und in seinem Auge Verzweiflung. Wenn er hörte, daß sie noch immer so läge, traf es ihn wie ein Schlag, und er ging wieder. Sie wunderten sich weiter nicht darüber, da es zu seinem ganzen Wesen paßte, daß er, wie er mit ihnen gelacht hatte, nun mit ihnen in Not war.


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