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Was ist das für eine Versammlung in der Kirche von Altensiel, wenn sie gut besucht ist! Welche Erscheinungen! Welche Persönlichkeiten! Welche Gedanken gehen einem da durch den Kopf! Es ist nicht zu verstehen, daß die Menschen nicht an jedem Sonntag oder doch an jedem zweiten in die Kirche gehen, zumal wenn sie geborene Altensieler sind oder doch lange Jahre da gelebt haben! An diesem hellen, sonnigen Herbsttag waren im Hauptteil alle Bänke vollbesetzt. Es waren nicht allein diejenigen da, die immer zugegen sind und die den Gottesdienst überhaupt zu einem Gottesdienst machen, z.B. der Schuster Ehlers, den sie den Heiligen nennen, der sich nach alter Sitte immer verneigt, wenn der Name des Heilands gesagt wird, und der alte Schmied Jörs mit dem schönen weißen Kopf und der wundervollen Haltung – wie ein alter Baum, der sich zur Erde neigt und bald stürzen wird – der in seiner ganzen Erscheinung allein schon eine Predigt ist, und was für eine; und die alte Antje Teut, die im ersten Kriegsjahr ihren Sohn, den Lehrer, verlor, für den sie ihr hübsches, kleines Haus das ganze Jahr hindurch so blitzblank hielt, immer in dem Gedanken an die kurzen vierzehn Tage, da er mit seinen Kindern von Altona herüberkam und ihr geehrter und geliebter Gast war; und der alte Thoms Thedens, der noch immer von seiner Frau in die Kirche geschickt wird – während sie die Suppe kocht und an ihn denkt – bloß, weil er in seiner Jugend ein übermütiger und überkräftiger Mensch war, und sie wunderlicherweise immer noch im Sinn hat, daß er, wie in seinen Jugendtagen, auch jetzt noch nach allen Seiten ausbrechen und ausschlagen könnte, und der Kirchgang also für ihn nötig sei, obgleich er nun vierzig Jahre lang das ruhigste Leben eines Tagelöhners führt und über siebzig Jahr alt ist und ein alter, guter und stiller Vater und Großvater; und die junge fünfundzwanzigjährige Tochter von Rudolf Anders, die immer unter einer rötlichen Wolke einhergeht und nicht weiß, was es ist, und wie und warum sie anders ist als die andern Mädchen. Sie arbeitet vom frühen Morgen bis in die Nacht auf dem Feld und im Haus ihres Vaters, und spricht nur das, was zur Arbeit gehört, und sitzt Sonntags still und stumm in der Kirche wie ein Schaf, das träumend und von selber in seinen Stall geht. Nicht allein diese waren da, die immer kommen; sondern es waren auch die da, die nur alle drei, vier Wochen kommen, und auch diejenigen, die nur drei- oder viermal im Jahr erscheinen. Was sah man da für Gestalten! Welche Naturen! Welches Leben! Da ist der Sattler Rohde, der sich immer so setzt, daß zwischen dem Pastor auf der Kanzel und ihm eine dicke Holzsäule ist, aus keinem anderen Grunde, weil er einmal als Kind ein Fünfgroschenstück vom Ladentisch gestohlen hat und sich deswegen heute noch plagt, und fürchtet, daß der Pastor plötzlich das Wort Sünde nennt, wobei er nicht allein heftig errötet, sondern auch zusammenzuckt. Da ist der lange, dünne Heinrich Thode, von draußen im Feld, der vor dreißig Jahren als Lateinschüler in der Stadt ein feiner, gewandter Junge und als freiwilliger Alan in Hannover fast ein Geck war; aber allmählich wurde er immer einfacher an Kleidung und auch an Geist und Seele, und ist jetzt von allen Bauern in Leben und Art der simpelste, ja fast ein Anstoß. Die Leute sagen, es sei nichts als Bequemlichkeit; in Wirklichkeit aber – man merkte es an seinem bedächtigen, langsamen und kritischen Wesen – war es wohl so, daß er in dem ganzen Getu der Menschen, ja vielleicht der ganzen Schöpfung, wie man so sagt, >ein Haar gefunden hat<, und sich nun vorgenommen hat, es gewissermaßen in seiner einfachsten, simpelsten Form notdürftig und schlicht durchzuführen und sich weiter nicht mit ihm einzulassen und zu befassen. In einem katholischen Lande wäre er ein Mönch geworden. Und der Hirte Adolf Bohlen war da, der Vetter von Pastor Bohlen, der hinter jeder Strophe des Gesangs eine Schleife singt, ganz allein, die durch die ganze Kirche klingt. Einige sagen, er macht es so, weil er in seiner Kindheit bei Lehrer Gramm in Wulsenhusen in die Schule gegangen ist, der noch ein selbstgelehrter Schulmeister war; andere sagen, er tut es, weil es ihm so paßt, wie ja denn alle Schäfer so etwas Rechtloses und Übergreifendes, ja so etwas Eigentumwidriges haben. Aber es ist wohl anzunehmen, daß es das Meer ist und sein langsames, schweres Rauschen, das Tag für Tag an sein Ohr schlägt, und die Welle, ausrauschend, diese Schwingung und Schleife an sich hat. Diese und viele andere waren da. Und oben vor der Orgel saß Lehrer Martens, der Stellvertreter für den richtigen Organisten, der als Leutnant in Flandern im Felde lag. Er hatte die eine Hand breit auf die Lende gespreizt und die andere schon an der richtigen Stelle auf den Tasten. Er war kein geborner Spieler. Daß er hier saß, war sein tapferer und treuer vaterländischer Hilfsdienst. Er probte frühmorgens, er probte abends, er probte nachts im Schlaf; er probte immer, und immer in Ängsten. Er probte leider auch, während Pastor Bohlen predigte, und vergaß sich in Eifer und Not und drückte zu tief auf; und es fuhr ein Orgelstoß heftig und drohend, wie das Gericht Gottes andeutend, durch die Kirche. Und zuletzt waren auch zwei verspätete Schwalben da, die auch noch dazu gehörten; denn das eine Fenster stand den ganzen Sommer hindurch allein ihretwegen offen. Sie waren da, damit die Kleinen, die die Predigt nicht begriffen, aber durchaus in die Kirche gewollt hatten, außer der ihnen ganz rätselhaften und wunderbaren Erscheinung und dem seltsamen Getu von Pastor Bohlen noch eine besondere Augenweide hätten. Sie saßen da zwischen den Großen, fast alle mit weißlichem Haar; und man sah, wie ihre Köpfchen sich nach den Schwalben richteten und welch ein Aufsehn es bei ihnen gab, als sie einmal nebeneinander am Altar auf der goldnen Stange des Kriegsknechtes saßen und gar hübsch aufzwitscherten.
Alle diese waren da und noch viele andere. Viele viele von ihnen waren schwarz gekleidet und hatten schon angefangen zu weinen, als sie den Raum betraten und die Kränze sahen; denn rundum an den blauweiß gekalkten Wänden hingen siebenunddreißig schlichte Eichenkränze für die Gefallenen. Sie waren aufgehängt, so wie sie gefallen waren oder wie die Bestätigung ihres Todes angekommen war, der Reihe nach; nur Reimer Otts Kranz hing ein wenig besonders, nämlich an der Wand von Pastor Bohlens Stuhl. Das hatte der Pastor Bohlen so bestimmt, weil er ihn besonders lieb gehabt und ihn unterrichtet hatte, und weil er von den Gefallenen der Jüngste war, fast noch ein Knabe.
Pastor Bohlen kam; und ging mit seiner großen mächtigen Gestalt den Gang entlang; alle wandten das Gesicht, wie er so langsam in tiefen Gedanken, den großen Kopf gebeugt, den Gang entlang kam. Dann ließ er singen, nach seiner Gewohnheit eins von den altbekannten, sichern, feurigen Liedern; diesmal ›Allein Gott in der Höh sei Ehr'‹, und hielt dann in ruhiger, würdiger Haltung und Form den Altardienst. Dann kam der Predigtgesang.
Und nun stand er da auf der Kanzel und wartete, daß der Gesang zu Ende ging und die Schleife seines Vetters, des Hirten. Er stand da sehr gebeugt. Aber das war ja auch richtig, da er jede Predigt aus der Tiefe aufbaute, und also erst in der Tiefe wühlte und grub, und dann erst allmählich, wenn er die Predigt höher und höher baute, sich aufrichtete und straffte und wieder jung wurde wie ein Adler, der über Welt und Meer fliegt. Er sah über die Gemeinde hin und nahm mit seinen scharfen, flimmernden Augen jeden einzelnen wahr. ›Da sitzt Thiessen vom Haferweg ... hat viel zu viel Steckrüben gebaut ... und wenn es noch die rechte Sorte wäre! Aber verdienen! Verdienen! ... Da sitzt Klaus Thun, hat Urlaub ... er fährt da draußen einen Wagen mit Brot, nun schon zwei Jahr lang! Wie er sich wohl nach seinem hübschen kleinen Gewese sehnt! Da sitzt die Witwe von Jarren Peters ... in Polen begraben auf einem Hügel dicht überm Njemenfluß ... da sitzt die arme Mutter Blaas ... zwei blühende Söhne liegen in Flandern ... da sitzt Reimer Ott mit Harm, dem Zimmermann, auf Urlaub von Wilhelmshaven; er muß heute Mittag wieder abreisen ... das große blonde Mädchen neben ihm ist Lisbeth Thomsen ... Und da hinten, neben meinem Vetter, dem Hirten, sitzt auch Eggert, der an der Schulter und ach, an der Seele schwer Verwundete, der Hochmütige, der Starke, der Kranke ... hilf Gott, daß er heute gesund wird!‹ Das Herz klopfte Pastor Bohlen so, daß er die Hand drauf legte ... Dann begann er zu predigen.
Es lag seinen Predigten keine Kirchenlehre zugrunde, überhaupt keine Lehre oder gar ein System; es lag ihr nichts weiter zugrunde als der Glaube an den mühsamen, großen, heiligen Sinn der Welt, und der Schöpfung. Er betete diesen großen heiligen Sinn der Welt an; und der Glaube daran war ihm sein ein und alles, sein Halt in seinem Leben. Ja, sonst würde er versinken! Aber er sah diesen großen guten Sinn der Welt mehr, wie er in der großen, weiten Natur und im Menschenleben in Erscheinung trat, als wie er in der Bibel stand. Ja, wenn die Bibel gegen die Natur anging oder auch nur anzugehen schien, dann nahm er keine Rücksicht. Nicht, daß er wie ein Narr gegen sie anstürmte! Nein, er bog sie; er verschob sie; und nur wenn es gar nicht anders ging, schob er sie ganz zur Seite. Die Natur und das Leben, das sie zeigte, das ging ihm über alles! Er war denn auch ein großer und heißer Anhänger Goethes, und las ihn immer wieder, diesen großen Ausweiter und Erheller unseres inwendigen Menschen. Wenn das gütige, mitleidige, deutsche Gemüt Fritz Reuters seine heilende Arbeit an seiner verwundeten Seele getan hatte, dann ging er zu Goethe. Und er predigte denn auch im Wesen und Sinn Goethes. Natürlich war da ein großer, großer Unterschied! Nicht allein, daß es soviel kleiner war, was er sagte – obwohl Goethe auch zuweilen Mäuse und Essig gepredigt hat, nach seinem eigenen Geständnis – sondern es war auch dunkler. Man merkt ja auf allen Seiten bei Goethe, daß er als wohlhabender Leute Kind gut und weich und geliebt aufwuchs; Pastor Bohlen aber hatte bis tief in den kalten rusigen Herbst neben seines Großvaters Branntweinflasche barfuß durchs Watt getrabt. Und wenn Goethe die Gabe der Gesundheit und des schönen Maßes mitbekommen, so hatte Pastor Bohlen die schlimme Krankheit mitbekommen. O, es war ein großer Unterschied! Und so, wenn er auch von Natur Goethisch fühlte und auch predigte ... so war es eine besondere Art Goethe; es war ein mühseliger und ein dunkler.
Es war ein Glück, daß er heute nicht in seiner Einleitung, wie sonst oft, irgendein Tier aus Watt, Feld oder Heide abmalte und vorführte, genau, gründlich, lehrhaft, ein wenig zu umständlich – ganz wie der alternde Goethe – sonst hätte dieser Gottesdienst für ein schlichtes Gemüt gar zu viel Aufenthalt, Anstrengung und Auflegung gebracht, sondern nichts weiter vorbrachte, als eine Tagwerdung, einen Sonnenaufgang, wie er ihn einst als Knabe im Boot, draußen im Watt erlebt hatte. »Zuerst,« sagte er mit seiner ruhigen, gütigen, eindringlichen Stimme, die den Zuhörer immer neugierig erhielt, »als ich im Boot erwachte, lag noch die Nacht auf dem Meer und auf der Erde. Ich sah nichts, was davon redete, daß ein Tag werden würde; ja, es war so still und so ohne Leben und so dunkel, daß man den Glauben, daß es noch einmal Tag werden würde, von sich wies. Aber dann kam als erstes ein Wind auf, der wehte von Osten her und berührte das Herz wie ein Hauch und eine Vorahnung einer andern Zeit; aber es war mehr eine Warnung als eine Verheißung; denn der Wind war hart und kalt und tat einem eher weh als wohl. Danach kam eine Möwe, die mit einzelnen Schreien, hoch oben und ganz allein, auch nach Osten zu flog. Aber ihr Schrei war hart und klang heiser und verloren, und fast feindlich über die weite, tote Schöpfung. Danach entstand das erste Grau, fern im Osten, über den Wäldern und Heiden. Aber obgleich es da nur niedrig und geduckt stand, mühsam wie ein blasser Schild, grünlich, fast feindlich ... kam doch ein Gefühl ernster Erwartung über mich, und ich stand im Boot auf und sah dahin. Danach kam das Brüllen einer Kuh vom Deich her und dann das erste Schreien vieler Vögel. Und so dunkel und grau, kalt und leer noch alles war ... das ganze ungeheure Rund der Natur um mein Boot ... ich wurde doch ein wenig froh. Es schien mir die erste Stimme, die zu mir sprach; denn die Nacht hatte nicht zu mir geredet. Danach kam das Aufstehn der Tierscharen, der tausende Möwen und Tüten, Kiebitze und Enten und aller andern Vögel; und die Welt und das Meer wurden sichtbar, auftauchend aus der Nacht wie einst am ersten Schöpfungsmorgen. Da wurde mir das Herz froh und sicher, und ich sah es alles an; und es war, als wenn ich tausend Augen hatte. Und dann kam eine Stille, eine große, heilige Stille, und dann, fern vom Osten her überm Wald, der erste Gruß des Tages, der erste Strahl der Sonne. Da wogte es in mir, dem kleinen Knaben, von großen Gefühlen des Wunders. Und ich suchte nach Worten, und brach, da ich eigne nicht fand, im verborgenen in die Worte aus, die ich in der Schule gelernt, und die wir nun eben gesungen haben, die vor hundertfünfzig Jahren der alte fromme, andächtige Professor in Leipzig gedichtet hat: ›Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre ...‹ und ich sagte das Lied vor mich her. Und diese Verse waren das erste Mal in meinen jungen Jahren, daß etwas Schönes, Wahres und Großes, das ich von Menschen überkommen, mir ins Gemüt schlug, und sich mit meinem Gemüt verband und an meiner Bildung sein Teilchen beitrug. Möge es auch heute so sein ... für manchen von Euch. Möge das Wort eines wahrhaften, guten und klugen Menschen, das ich nun vorlesen will, an seinem Teil unser Gemüt erbauen ... das so leicht, so leicht in Trümmern und zerrissen liegt.«
Und dann las er aus dem gefährlichen und schönen, auch für Pastor Bohlen so gefährlichen und schönen achten Kapitel des Römerbriefes die trostreichen schönen letzten fünf Verse vor: »Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal, oder Angst, oder Verfolgung, oder Hunger, oder Blöße, oder Fährlichkeit, oder das Schwert? Wie geschrieben steht: Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe! ... Aber in dem allen überwinden wir weit, um deswillen, der uns geliebt hat ... Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur ... mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.«
Und dann legte er los, aus der Tiefe seiner eigenen armen, mühsamen, vergrübelten Seele, seiner kranken Seele, seiner mitleidigen, seiner in der Tiefe stürmischen Seele. Er sprach zuerst von dem vorhergehenden Wort des achten Kapitels: von dem Bangen und Seufzen der Kreatur. Er sprach von dem Schrei der Möwen und dem Brüllen des Viehs und der Angst der Hasen und Füchse. Aber nicht anders, sagte er, ist die Not der Menschheit. Auch sie ist ein Stück der Kreatur! Wie mühsam sei ihr Weg gewesen durch Jahrtausende: im Kampf mit wilden Tieren und wildem Wasser, mit Pest und Schwindsucht, mit Feuer und Schwert! Und so wäre es bis auf die heutigen Tage. Die Menschheit hätte wohl viele Jahre lang gedacht, es wäre nun Friede und Freude für sie da ... all Fehd' hätt' nun ein Ende! Aber nun wüßten wir: wir wären immer noch ›Kreatur‹, immer noch ›Geschaffenes‹, in Trübsal und Angst, in Hunger und Blöße, in Fährlichkeit und Schwert! O, welch eine Not in diesen Jahren! Und nun sprach er in herzbewegenden Worten von der Not dieser Zeit. Wie wir uns quälten in unserm Gewissen, daß die ganze Menschheit gegen uns stände und wir wüßten nicht warum. Hat Gott uns das gute Gewissen gegeben oder der Teufel? Das hat Gott getan! Er sprach von den Gefallenen, den Verwundeten und Leidenden, von der Angst und Qual derer, die unterm Feuer ausharren. Er nannte die Namen der jungen Witwen und der weinenden Mütter. Er sprach mit solcher schlichten, selbstverständlichen Güte und Ergriffenheit, ohne alles Gerede und Getue; er nannte die Namen mit solcher Weichheit der Stimme, mit solcher Liebe; er umgab die Namen und Menschen mit so großem Mitleid im Herzen, daß sie alle an seinen Augen hingen. Man hörte nur dann und wann ein Schluchzen und ein schweres Atmen. Sie standen nun alle unter der Not. Sie empfanden sie nun alle; auch die, die noch verschont geblieben waren. Sie fühlten nun alle mit den Leidenden, den Geschlagenen, den Erschlagenen, den Weinenden. Selbst die Kinder vergaßen die Schwalben und sahen unentwegt mit großen stillen Augen zu ihm auf. Sie sehnten sich nun alle, alle, groß und klein, alt und jung, nach einem Ausweg ... sie sahen nun alle zu ihm auf in dem Gedanken ... ›Nun, komm! bald ... komm bald mit deinem Trost, wenn du einen weißt!‹
Und er wußte einen! Ach, nur ein Mensch, der wirklich die Qual des Menschenlebens erfahren hat, nur ein Weinender, ein Jammernder, ein Zerschlagener sollte ein Prediger sein! Nur sein Klagen ist echt; nur sein Lachen ist echt! Ach, Pastor Bohlen brauchte ja selbst einen Trost! Wie hätte er sonst leben können, er mit seiner Not und Sünde, mit seiner Krankheit, die er immer wieder Sünde nannte, darum, weil er so starke Arme hatte, daß er sie nach seiner Meinung hätte überwinden müssen! Ach, er kannte ja das Grauen in der Nacht im öden, wilden Watt und die Not eines weinenden Herzens!
Also sprach er von der Liebe, die Gott zu uns hat! Er begann von alten Zeiten her. Wie trotz aller Not und allen Grauens die Menschheit doch immer an einen guten, tiefen Sinn des Lebens geglaubt! Wie die besten Geister darum gerungen haben ... um dies ›Trotz alledem‹, um dies ›Dennoch‹! Wie dies »Dennoch«, dieser Widerspruch und Gegensatz, das große, schaurig schöne Geheimnis der Menschenseele und, noch dem großen, mitleidigen Glauben des Apostels Paulus, das Geheimnis aller Kreatur, der ganzen Schöpfung, wäre. Die Spannung, die Sehnsucht, das trotzige, Dennoch: das ist das Leben der Schöpfung! Die ›Dennochleute‹: das waren die großen Heiligen der Menschheit! Die gesagt: ›Und ob mir auch Leib und Seele verschmachtet ... dennoch bleibe ich stets an dir!‹ Solche ›Dennoch‹-Leute waren die vornehmsten aller Heiden und auch die alten Propheten gewesen. Aus der Tiefe heraus glaubten sie an den Gott und an einen großen heiligen Willen! Solch ein ›Dennoch‹ – Mann war auch der Heiland gewesen, er der größte von allen, weil der größte und reinste in diesem Glauben! Solche ›Dennoch‹-Leute waren auch alle großen Deutschen! Ja, das gehörte immer zu einem großen Deutschen, anders bekam er nicht diesen Namen im deutschen Volk: wenn er nicht ein ›Dennoch‹-Mann gewesen, wie Luther und Lessing es waren, und Herder und Goethe, und Friedrich der Große, und der alte Kaiser und Bismarck! Und dann sagte er – mit bebender Stimme – wie er ... Pastor Bohlen ... nicht leben wolle ... nicht einen Tag ... wenn er nicht diesen Glauben hätte! Er, Pastor Bohlen, wisse, was Not wäre und was das Seufzen der Kreatur sei! Aber er wisse auch, was Glauben und Glaubens Segen sei! Und er ermahnte sie mit großer Bewegung des Herzens, mit den gütigsten Worten, mit den ungeschicktesten, rührendsten Bewegungen seiner großen Hände: sie möchten doch alle diesen ›Dennoch‹-Glauben haben, dies Eigentümlichste und Beste am deutschen Wesen, diesen Glauben an Gottes heilige Liebe ... trotz alle dem! Nicht sitzen, sagte er, wo die Spötter sitzen! Nicht sitzen, wo die Zweifler sitzen! Ob einer wenig von der Qual des Lebens wisse, ob einer unsagbar schwer geschlagen sei, ob einer ein Kind wäre oder ein Greis: jeder möchte diesen hohen heiligen Glauben im Herzen tragen, als sein bestes und heiligstes Besitztum: daß über den Sternen ein Gott einen feinen, schönen, reinen Sinn der Welt in seinen Händen habe, den wir zwar noch nicht erkennten ... doch unsere Toten erkennen ihn ...; und über den Sternen da wird er einst tagen!
Und dann sprach er zum dritten: Wenn es denn nun so wäre, wenn denn nun das deutsch wäre, diesen Glauben zu haben, und sie alle, weil sie aus alten deutschen Geschlechtern wären, ihn wie von selbst im Herzen trügen: so sollten sie auch danach leben, vom Morgen bis zum Abend. Als die, welche an den guten Sinn des Lebens glauben: lächelnd, freundlich! Als die an den reinen Sinn des Lebens glauben: reines Herzens! Als die an den heiligen Sinn des Lebens glauben: andächtig und ernst! »Seht unsere Gefangenen!« sagte er, »wie sie unter uns leben: wie sie still und friedlich ihres Weges gehn, wie sie lächelnd oder ernst uns grüßen, wie sie mit unsern Kindern spielen und freundlich sind, obgleich sie doch alle, alle, voll heißer Sehnsucht nach der lieben Heimat sind ... so wollen auch wir, die Gefangenen des Lebens, die Sehnsuchtsvollen, die Wandrer, miteinander immer gütig sein, immer freundlich, immer mitteilsam, immer einsichtig, immer vergebend, und wenn wir gefehlt, Abbitte tuend ... als die da fühlen und wissen: sie wandeln vor den heiligen, sehenden Augen Gottes, vor dem Liebenden, vor dem Sinner des Lebens, der uns zu sich zieht, der uns hier zeitlich und dort ewig bei sich haben will, da, wo alle Not der Kreatur, des Geschaffenen, des noch Werdenden, ein Ende gefunden, und die Erlösung eingetreten ist!«
Als er endete, war er trotz seiner großen Stärke müde und stützte sich schwer auf seine Hände. Aber er ließ zur Verwunderung aller den großen Kopf nicht sinken, um still für sich zu beten; sondern er behielt ihn aufgerichtet und sah nach dem Ende der Kirche, nach dem Ottschen Stuhl.
Und da geschah etwas Erschütterndes. Sie hörten ein Geräusch ... hörten jemand aus der Bank treten, und als sie, von unerklärlicher Macht gezwungen, sich umsahen ... die ganze Kirche ... da sahen sie den alten Reimer Ott da stehen, in seiner schweren, hageren, gebeugten Größe, mit einem rührend unbeholfenen, aber leuchtenden Ausdruck in seinem großen Gesicht. Er sagte langsam und deutlich: »Ich habe meinen Sohn Eggert beschuldigt ... beschuldigt ... ich will Abbitte tun ...«
Als er so weit war, sprang sein Sohn Harm, der sah, daß er schwankte, an ihn heran, und ließ den Fallenden auf die Fliesen gleiten.
Pastor Bohlen atmete schwer und sagte mit zitternder Stimme: »Er hatte es mit mir abgemacht, daß er Abbitte tun wollte, damit sein Sohn wieder Frieden mit den Menschen mache und wieder glücklich würde ...«
Er konnte nicht weiter sprechen. »Wir wollen nun auseinandergehn,« sagte er. Und er sprach den Segen, der seit uralten Zeiten rund um den Erdball gebeugte und stürzende Menschen getröstet und gehoben hat.