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Das war nun ein anderes Leben als vor acht Tagen, da er auf der »Lauenburg« östlich von Helgoland in voller Fahrt nach der Elbmündung gestrebt hatte! Nun fuhren sie hier als Vorposten auf See ihren Törn, so ungefähr zehn Meilen auf und ab, und hielten Wache, Tag und Nacht, daß sie meldeten, wenn die Engländer kämen, es sei mit Torpedo- oder mit U-Booten, oder mit ihren Allmächtigen. Zwei Mann standen Tag und Nacht auf der Brücke und einer vorn auf der Back. Aber in diesen ersten Wochen wachten sie fast alle mit, von einer schrecklichen Unruhe wachgerufen, immer wieder gezwungen, mit brennenden Augen das nahe und ferne Wasser abzusuchen, dabei immer und immer, die ganzen vierundzwanzig Stunden des Tages und der Nacht, den fast sichern Tod vor Augen. Denn es war ja ihrer aller Meinung, wie die von ganz Deutschland und der ganzen Welt, und vor allem auch die offen ausgesprochene Absicht der Engländer, daß die ungeheure englische Flotte, alle heimlichen Listen voran, in die deutsche Bucht einbrechen würde. Und dann waren sie die ersten. Kein Mensch, kein Schiff half ihnen; und keiner würde ihrer an dem schrecklichen, großen Tag auch nur mit einem Wort erwähnen oder auch nur mit einem Namen sie nennen! Es würde kurz heißen: ›Nachdem die Vorpostenboote überrannt waren usw.,‹ und weiter nichts! Sie meinten, ihr Posten wäre der schwerste, der allerschwerste von allen Posten, die das deutsche Volk in seiner grausigen Not nun zu bestellen hatte! Ah, die Deutschen sollten nur sehn, wie sie hier in den Wogen der Nordsee herumgeworfen würden und wie weit der Himmel und die wilde See! Wie waren sie verlassen! Wie waren sie einsam! Sechsundzwanzig Mann allein in der Welt! Es war nur gut, daß Deutschland an sie dachte! Ja, das fühlten sie alle deutlich, daß Deutschland an sie dachte! Ja, ganz Deutschland sah nach ihnen! Stand am Strand, auf den Dünen und Deichen! Und in Hamburg auf den Mauern und Häusern, und im ganzen Deutschland auf den Höhen und Gebirgen! Und sah nach ihnen, und wie es ihnen ginge! Und wunderte sich mit ihnen, daß die Engländer immer noch nicht herangejagt kamen, Gischt haushoch vor ihren Allmächtigen, und daß ihr kleiner Kahn immer und immer noch schwamm.
Es war eigentlich immer Alarm, und die Freiwache flog nur so aus den Hängematten und den Bretterkojen. Bei Tage war es bald ein Rauch am Horizont ... sie redeten stundenlang darüber, ob es ein Kriegsschiff sein könnte ...; und sie achteten genau darauf, und stritten darüber, ob die einzelne Rauchfahne auf Verbände hindeutete oder nicht. Bald war es ein Schiff, das sich ihnen näherte, ein deutsches, das den Engländern entging und die Heimat erreichte. Am siebenten Tag, nachmittags, in schönsten Sonnenglanz wie in blanke Watte gehüllt, kam eine kleine Dreimastbark, eine breite deutsche Flagge am Heck, auf sie zu. Die Besatzung, zehn oder elf Mann, standen alle an Deck, die Hände in den Hosentaschen, standen und sahen lange zu ihnen hinüber, redeten miteinander, und sahen wieder nach ihnen hinüber. Der Steuermann fragte mit dem Megaphon hinüber: »Woher?«
»Die Elsbeth von Hamburg ... mit Holz von Kanada.« Dann fragte der Kapitän drüben weiter: »Was in aller Welt macht ihr denn auf dem Fischdampfer, Kaptän?«
»Wir halten Wache! Wißt ihr denn nichts vom Krieg? Deutschland im Krieg mit England, Frankreich und Rußland!«
Der Kapitän drüben schlug die Hand gegen die Stirn, als hätte ihn ein Schlag mit der Axt getroffen, und rief etwas, was sie nicht verstanden. Seine Leute aber ... es war merkwürdig zu sehn ... standen sofort, in einem Augenblick, in zwei Haufen. Die kleinere Hälfte blieb lose stehn, wie sie stand, einer von ihnen, ein Narr, lachte laut auf; einige sprachen wild durcheinander. Die andere Hälfte aber, die größere, stand erst starr und nickte nun langsam mit dem Kopf, wie ein Mensch tut, der etwas Gewaltiges erfährt, und sofort und sogleich die Wirkung wohl ahnt, aber noch nicht enträtseln kann. Das waren die Deutschen. Das Vorpostenboot drehte wieder ab und lief von ihnen fort. Aber sie sahen noch lange zu ihnen hinüber und redeten von ihnen.
Der Hauptgedanke und ihre Hauptsorge waren die U-Boote. Sie hatten sich in den Kopf gesetzt, daß die Engländer sie mit Torpedo- und U-Booten aufs kürzeste erledigen würden und dann, nachdem auf diese Weise eine Lücke in die Reihe gemacht, durch diese Lücke einbrechen würden. Also standen sie wie die Jäger, die eine große und weite Feldmark mit einem Kieker nach irgendeinem Wild oder einer Wildspur absuchen, und suchten mit ihren Gläsern die ganze ungeheure Wasserfläche ab, jeden Wellenberg, der sich höher als die übrigen zu erheben schien ... ist es ein Bootsrücken? ... jeden dunklen Strich, der sich beim Hinauf- und Hinabwogen jählings bildete ... ist es ein Sehrohr? ... jeden Gischt auf den Höhen ... ist es ein Torpedo? ...
Wenn es dämmerig wurde und die Nacht herankam, waren sie erst recht nichts als Augen. Wenn Harm Ott zuweilen, wenn er nicht schlafen konnte, in der Nacht heraufkam, sah er immer dasselbe Bild – und das wird eins der Bilder sein, die er nie vergessen wird – auf der Brücke der Wachthabende, der Rudergänger neben ihm, vorn im Mantel der Ausguck, das Doppelglas auf der Brust, und hier und da an der Reling einer oder der andre, den die Erregung, die Erwartung, die Unruhe nicht schlafen ließ, und rund um das kleine dahinziehende Ding das ungeheure wogende Meer in der Sommernacht, bald im Sternenschein, bald unter wolkenverhangenem Himmel, dunkel und farblos. Einmal fand er um Mitternacht, als auch er heraufkam, die halbe Besatzung oben; und es war nichts weiter zu sehn, als daß fern am nördlichen Horizont ein Scheinwerfer mit langsamem ungeheuren Gleiten das weite rauschende Meer bestrich. Zwei Stunden standen sie da in der graublauen Nacht und starrten hinüber, und dann wieder hier und da hin auf jede Stelle des unendlichen Gesichtsfeldes, und horchten auf den Schrei eines Vogels, und meinten, schießen zu hören, und spähten nach allem, und hörten nichts weiter als das ewige eintönige Rauschen. Immer, Tag und Nacht, waren sie gewärtig, ja fast gewiß, daß plötzlich und jäh der Tod käme. Aus dem Meer würde er plötzlich auftauchen, und sie zerschmettern und in die Tiefe reißen.
Das ewige Aufpassen und Aufhorchen erregte sie, da sie ja fast alle aus einem stillen und langsamen Lande und Leben kamen und Brüder von Regen und Wind, Sonne und Wogen waren, die nach ihrem Wesen langsam sind, Und sie wurden alle mager und hohläugig, und einige wurden unruhig. Dazu litten viele unter der Seekrankheit. Das kleine Ding von Boot war ja beständig in wilder Bewegung, die noch dazu immer verschieden war, denn sie fuhren bald mit dem Wind und den Wellen, bald, indem sie kehrtmachten, dagegen an. Mehr als einer brach sich fast die Seele aus dem Leibe. Zwei von ihnen mußten das Schiff verlassen, da sie völlig entkräftet waren.
Wenn sie einige Tage so verbracht hatten, kam die Ablösung, und sie fuhren nach Wilhelmshaven und kohlten ... Nachmittags gab es dann Landurlaub. Dann machten sie sich schmuck, rasierten sich, zogen ihr Sonntagszeug an und wanderten durch die Straßen der Stadt oder saßen mit Bekannten bei einem Glas Bier oder liefen ins Kino, und sehnten sich nach Hause. Am dritten Tag fuhren sie dann wieder hinaus auf ihren Posten.
Das Verhältnis unter den Kameraden war gut. In den ersten Wochen waren die Gemüter so erregt, daß die Ecken und Schwierigkeiten der Naturen noch nicht hervortraten. Man sprach vom Morgen bis zum Abend aus der großen Erregung heraus, die der Ausbruch des Krieges in jedes Herz geworfen hatte, immer über dieselben Dinge: daß England schuld wäre an diesem Krieg, und warum in aller Welt sie nicht kämen! Sie hatten doch so unsagbar gehöhnt und geprahlt! Und dann die Begebenheiten an den Landfronten! Lüttich ... welch wunderbare Überraschung! Welch auffliegender Jubel! Unsere Heerführer haben einen Plan, und einen gewaltigen, einen stürmenden! And dann Tannenberg! Und dann Antwerpen! Es war klar ... ja, soviel war klar: man hatte da oben wahrhaftig den Kopf nicht verloren, trotz des plötzlichen und ungeheuerlichen Überfalls! Nein, man war da oben sehr klar! Man führte die gewaltigen Kräfte und den mutigen Willen des deutschen Volkes auf den rechten Weg! Aber diese großen Dinge sprachen sie vom Morgen bis zum Abend.
Aber allmählich, so in der fünften Woche ... als die Engländer immer noch nicht kamen und Stunde so an Stunde sich reihte, und das Boot immer noch nicht länger war als vierzig Meter und das Logis immer noch der kleine schmale Tischkasten, und die Freiwache immer noch nicht größer als sechs Mann, da kam auch das zutage, was jeder zu Hause zurückgelassen hatte. Ganz schüchtern erst und langsam schoben sich die kleinen, mühsamen Dinge des einzelnen stärker zwischen die großen, die ungeheuren Begebenheiten des Krieges, so wie tausend kleine Krabben neben einem Walfisch dahintreiben, immer in Gefahr, alle miteinander, in einem Zuge, von ihm verschluckt zu werden. Jeder hatte seinen kleinen, aber runden Kreis von Dingen, die ihm gehörten, zu denen seine Seele immer wieder zurückkehrte, wenn sie von Flandern oder den masurischen Seen oder den englischen Häfen zurückkamen ... die sie mit ganzer Seele immer wieder durchlebten. Mancher hatte viel Gutes zu erzählen, sehr viel: er sprach von einem lieben, ordentlichen Anwesen, voll Lobes von einem Weibe ... »so recht ein Kamerad, weißt du!« ... von netten, gesunden Kindern, und zog mit vielen Umständen ein Bildchen aus der Brusttasche der Jacke, holte sich Kammer und Nägel und schlug es mit vorsichtigen, sorgfältigen Schlägen in die Bretterwand über der Koje, und erzählte von schönen Lebensplänen und litt bis zur Verzweiflung unter den Qualen: »Und das mußte ich verlassen; und muß nun hier am Tor des Todes Wache stehn!« Aber andre hatten mehr von Sorgen zu erzählen. Ach, einige von unerträglichen Sorgen! Ach, wenn der Krieg ihre einzige Not gewesen wäre! Wie furchtbar war der Krieg! Ein wie böses, sinnloses Ding. Wie gegen alle Natur und wie gegen alle Vernunft! Aber der Krieg, so sehr er sie hier draußen auf der Nordsee in seinen Klauen hatte, er war doch nicht die größte Not! Der eine hatte schwere Schulden, der andre ein schweres Gewissen, der dritte ein krankes Kindchen und der vierte ein schlechtes Weib. Und diese letzten waren, besonders unter vier Augen, die Redseligsten. Sie wurden allmählich eine Not, eine Bedrückung. Mit den meisten von diesen hatten sie Mitleid, saßen neben ihnen auf der Seekiste, oder ließen sie bei der Arbeit neben sich stehn und hörten alles ruhig an und gaben verständnisvolle Antwort, die diesen bedrückten Herzen wohl gut tun konnte. Aber einem, der immerfort über seine Frau klagte, daß sie so gar nicht wirtschaftlich wäre, daß sie ihn wohl auch mit einem andern betrüge, sagte der Unteroffizier Hagedorn, der immer etwas kurz, sachlich und geradeaus war, daß er zu weit ginge; er zöge sie ja aus vor ihren Augen; das müsse er nicht tun. Da schwieg er traurig. Ein andrer, ein Heizer aus der Gegend von Emden, langweilte sie damit, daß er in einer wunderlich starren und stieren Weise immer wieder erwog und erörterte, wo wohl dieser und jener seiner Dorfgenossen infolge der Mobilmachung hingeraten sein könnte. Er schilderte jeden einzelnen nach Wesen, Haus und Familie genau und wie die Mobilmachung grade auf seine Seele gewirkt haben möchte, und trieb diese Erwägungen so ins einzelne, daß zuletzt die ganze Besatzung jeden einzelnen seiner Dorfgenossen genau kannte. Auch dieser ging ihnen zu weit und sie mußten ihm sagen, er könne nicht verlangen, daß sie alle für sein Dorf dasselbe Interesse hätten wie er; er müsse es bei seinen vier nächsten Nachbarn bewenden lassen. So schliffen sie sich aneinander ab und waren und blieben ein Herz und eine Seele, alle eins in dem Gefühl, darüber sie aber weiter kein Wort sagten, daß sie hier ehrlich ihren Mann stehen und aushalten, und den Engländer erwarten sollten, wenn er käme, und sinkend und sterbend melden müßten: »Nun kommen sie! ... nun kommen sie! ... nun wach, Helgoland! nun wach, Deutschlands Flotte! Nun, Deutschland, sei auf deiner Hut!« Denn das war ihrer aller Glaube: der da über die Wogen heran ankam, der wollte sie an Volk und Vaterland, Ehre, Recht und Eigentum schädigen; und aus keinem andern Grunde als aus Neid, Geiz und Gier.
Im Laufe des Oktobers wurden sie etwas sicherer, da sie trotz Englands ungeheurer Flotten, U-Booten und Minen immer noch schwammen und lebten. Sie wurden ein wenig munterer und freier. Die Spannung löste sich. Sie hatten einen guten Harmonikaspieler an Bord, einen kurzen, großköpfigen Pommer, der in den ersten vier Wochen schweigsam und dumpf unter ihnen hingelebt hatte, so als könne er nicht sprechen und noch weniger lachen. Dann stellte es sich aber heraus, daß ihm nur der Krieg und das fremde Leben und die fremden Menschen aufs Herz gestoßen waren, so daß er völlig verbaast war und gemeint hatte, im Kriege mache man keine Musik, und daß ein entsetzliches Heimweh nach seiner Harmonika und überhaupt nach der Musik ihn beinahe um den Verstand gebracht hätte. Es stellte sich heraus, daß er, obwohl er wenig von der Welt gesehn, sondern sein ganzes Leben – er war nicht mehr jung – da an seiner stillen Küste zugebracht hatte, alle Volks- und Seemannslieder kannte, von denen, die klingen wie der Grabgesang, mit dem man ein schönes, junges Mädchen zu Grabe trägt, bis zu denen, die klingen, als wenn das schönste und liebste Mädchen einem, ich weiß nicht was, verspricht. Wenn er auf seiner Kiste vor seiner Koje saß und, leicht sich wiegend, die halbgeschlossenen Augen vor sich auf dem Boden, spielte, waren sie alle ohne Bewegung und Gedanken. So schwerfällig sie alle an Seele waren und obgleich sie alle die großen, schweren Transtiefel anhatten, wurden sie doch aufgehoben, und schwangen sich sanft und schön, je nachdem, was er spielte, bald fröhlich und munter, bald tieftraurig, ja so traurig wie ein Grab, in dem eine Mutter mit ihrem Kindchen liegt, und glitten zuletzt sanft wieder zur Erde, wenn er aufhörte. Er spielte alles, was sie ihm leise und unsicher vorsangen. Selbst das Lied, das der dicke, scheue Westpreuße im Herzen trug, das er aber nicht singen konnte, da er keinen Ton in der Kehle hatte, enträtselte er. Er nahm ihn eines Morgens, da er beim Deckscheuern war, hinter dem Schornstein beiseite und ließ es sich von ihm in knurrenden Lauten andeuten, und den Takt, den er auf keine Weise herausbringen konnte, durch Schläge mit der Pfeife gegen den Schornstein markieren. Am andern Tag spielte er es ihm vor, nachdem er vorher, wie immer, gesagt hatte, was er spielen würde: »Tedje's Lieblingslied!« Sie hörten wie immer, andächtig zu, der Westpreuße überrot vor Scham, Freude und Angst und was man sonst in solchen Augenblicken empfindet; und er war durch und durch glücklich, als sie es lobten und sagten: »Wirklich, Tedje ... das ist wahr, das ist ein gutes Lied!«
Ja, dieser Mann mit seiner Harmonika war ihnen unendlich viel wert! Ja, man konnte ruhig von ihm behaupten, daß er dem hagern und hintersinnigen Peter Söht von Büsum das Leben gerettet habe. Es tat ihnen allen leid, daß der Steuermann ihm das Fischen verbot, wozu er unsagbare Lust hatte. Aber der Steuermann sagte, es gehöre nicht zu einem Kriegsschiff, daß man ein Schleppnetz hinterherziehe, und wenn er es noch einmal sähe werde er das Ding kappen. So stand er denn in der Freiwache, und starrte ins Wasser, und sah ja wohl zahllose Fische, und biß an seiner Pfeife und sann, weiß Gott was für verzweifelte Dinge. Wenn er aber Musik hörte, kam er ins Logis und saß da bei ihnen, und man konnte sehn, wie sein Gesicht sich löste und der Glanz seiner Augen, der hart und scharf gewesen war, sich milderte. Ja, dieser dicke, großköpfige Pommer mit seiner Harmonika, der sonst eigentlich wenig bedeutete, war wirklich unbezahlbar!
Neben ihm kam kein anderer in Frage. Es war da freilich noch einer, der ihnen viel Freude machte, aber während sie sich klar bewußt waren, daß sie dem Musiker dankbar sein müßten, und seine Harmonika, wenn sie in ihre Nähe kamen, wie ein kleines Kind ansahen und vorsichtig anfaßten, hatten sie gegen den sommersprossigen Telegraphisten nicht das geringste Gefühl des Dankes, obgleich der kleine Mensch mit seinem kurzen, roten Spitzbart jeden Abend etwas anzugeben wußte, worüber sie mit lautem Lärmen lachen mußten. Er hatte seine Kindheit als Sohn eines deutschen Kellners in Rotterdam verbracht und ahmte den dicken Wirt aus der Willemskade nach, bei dem er in schlimmen, jungen Jahren Liebkind gewesen war, mit all seinen Gebärden, mit der halbdeutschen Sprache und mit den fetten und sicheren Ansichten, die dieser Ehrenmann gehabt hatte; aber sie ehrten ihn darum nicht, wie sie den Musiker ehrten. Der Künstler ist der Menschen Freude und Notwendigkeit; der Kritiker nur ihre bittre Notwendigkeit.
Auch Harm Ott bedeutete nichts Besonderes unter ihnen, schon weil er einer der Jüngsten war. Da sie aber merkten, daß er mehr gelernt hatte als sie und mehr nachgedacht, und eine aufrechte, vornehme Natur ahnten, und er sich in keinem Stück über sie erhob, behandelten sie ihn mit einer Art leisen Achtung. Er aber fühlte sich wohl unter ihnen; und wenn denn Krieg war, so war es ihm recht, daß er ihn so verbringen mußte, hier auf der Wacht gegen England, unter diesen schlichten, wackern Gesellen. Schlimm nur, daß er immer noch kein Ende nahm ... daß es nun Winter wurde, und der Krieg nun schon bald ein halbes Jahr dauerte, und daß sie so gar nichts erlebten! Nein ... rein gar nichts! War Krieg in Deutschland? Ja, im ganzen Europa? ... Sie merkten nichts davon! Am Weihnachtsabend hingen vier Gänse, die sie durch den Unteroffizier Peter Hagedorn hatten besorgen lassen, an einer Leine, die vom Mast nach dem Steven führte, im Winde. Sie mochten Peter Hagedorn sonst eigentlich nicht gern, weil er so was Unfreundliches, Buffiges hatte und seine Worte herausstieß, als wenn er ihnen schon gram war, ehe er sie gesagt hatte; aber er hatte eine kleine Fischhandlung in Altona und war der weltgewandtste unter ihnen, und war, was in diesem Fall auch in Betracht kam, eine durch und durch ehrliche Haut; und hatte dann auch einen guten Handel zustande gebracht. Den Neujahrsabend verbrachten sie bei Punsch und Paketen von zu Hause in großer Gemütlichkeit. Und als der Vergnügteste und Redseligste unter ihnen, der Hamburger Ewerführer, schon Mitte der Dreißig, eine Rede hielt und, von seinen Worten noch hingerissen, die er dem großen Vaterland gewidmet hatte, auf die Gesellschaft im Logis der »Alten Liebe« überging und behauptete, daß ihre Kru die beste wäre, nicht allein auf der Nordsee, sondern überhaupt auf der ganzen Welt ... »soweit Winde wehn und Sterne scheinen« ... nickten sie ihm alle zu und gaben ihm völlig recht.
Am ersten Tag im neuen Jahr fuhren sie wieder wie jeden vierten Tag zur Ablösung nach Wilhelmshaven.
Jedesmal, wenn Harm Ott nach Wilhelmshaven kam ... es waren nun schon viele Male ... war sein erster Gang nach der Kaserne, seinen Bruder Reimer zu sehn. Er traf ihn immer guter Dinge. Er lobte alles, was er sah und hörte: wie sie alle freundlich und nett wären, Offiziere wie Mannschaften, und wie sie sich alle bemühten, das Nötige möglichst rasch zu erlernen, um möglichst bald nach Flandern an die Front oder aufs Schiff zu kommen. Als er vier Wochen da war, erzählte er, daß er schon zwei Gleichgenossen getroffen hätte: einen Lehrerssohn aus Hessen und einen Kaufmann aus Hamburg. Sie stimmten in allem überein und er wäre sicher, daß er in diesen beiden für alle Lebenszeit treue Freunde gefunden hätte.
Ungefähr vier Wochen später, als er die Kaserne verlassen und auf ein Torpedoboot gekommen war, war er in großer Aufregung. Mit strahlenden Augen erzählte er: »Weißt du ... das, was wir drei, die beiden Kaufmannskinder und ich, da am Deich neben Schäfer Harders Schilfhütte uns ausgedacht haben ... weißt du ... das über Gott, Volk und Zukunft: das haben schon viele ... andre junge Leute, wohl hunderttausend in Deutschland, sich ausgedacht! Es gibt schon viele Vereine durch ganz Deutschland ... besonders die Wandervögel ... die diesen hohen, reinen und feinen Glauben haben ... weißt du: das von Gott, ... daß er mehr in der Natur wirkt und lebt, als wir bisher dachten, und daß wir mehr auf Natur sehn und von ihr lernen müssen, so wie Goethe es auch gemacht und in seiner Jugend bekannt hat ... und daß wir sorgen müssen, daß unser ganzes Volk an den Wundern, Kräften und Genüssen der Natur teilhaben soll! Und sie sind auch ganz mit meiner besondern Ansicht einverstanden ... erinnerst du dich? ... daß man den Kindergeist untersuchen muß, mit besonders klugen Methoden, daß man erfahre, welcher Art grade diese kleine Pflanze ist und sie in den richtigen Boden setzt und richtig verwendet. Wenn der Krieg zu Ende ist ... im nächsten Frühjahr ..., will ich sofort einen solchen Verein gründen! Wer weiß ... denk es dir bloß mal aus ... was aus Deutschland noch einmal werden wird, wenn wir, diese hunderttausend, nachher älter geworden sind und alles durchsetzen können, was wir uns ausgedacht haben!« So sagte er mit strahlenden Augen und lief ins Logis und holte den jungen Hamburger und den Lehrerssohn, damit sein Bruder sie kennen lernte. Und sie gingen zusammen durch den frischen Herbstwind; und er hörte still an, was die jungen Propheten sagten, die sich vor dem Zimmergesellen nicht genierten, da sie ihm an Wissen überlegen waren.
Danach, wenn diese großen Dinge genug beredet waren, kam er auf das Elternhaus zu sprechen; und dann wurde seine Stimme sachter und unsicher. Ob wohl die Mutter den Kopf immer tapfer oben hielt!? »Auf die Mutter kommt es an, Harm, die hält den ganzen Kram zusammen! Die soll es machen! Eggert hat also immer noch nicht geschrieben! Was meinst du? Hältst du für möglich, daß er Vater zeitlebens gram bleibt und nie wiederkommt? Harm, es kann ja nicht sein! Denk nur ... der Krieg! Wie er wohl an uns denkt! Er denkt Tag und Nacht an uns!« Zuweilen fing er an – der Achtzehnjährige sehnte sich sehr nach Hause – auszumalen, was grade in dieser Stunde im Hause vor sich ginge: Vater tut dies und das, und Mutter dies und das ...; und sie stritten sich darum. Und Reimer ruhte nicht, bis er recht behalten hatte. Denn er war ein Eiferer wie seine Mutter. Aber Eifern und Rechthaben gehört ja auch zu einem guten Propheten.
Im letzten Brief der Mutter war hinter Kühen, Kälbern und Milcheimern und den blonden Köpfen der kleinen Geschwister die Gestalt des Vaters und Emmas aufgetaucht: »Ich und Emma sind sehr gut mit ihm; aber was hilft es? ... Er glaubt ja immer noch, daß er ein verlorenes und verdorbenes Kind hat; und das ist das entsetzlichste auf Erden.«
Eines Tages berichtete ihr Brief, daß es nun sicher wäre, daß der Verlobte von Lisbeth Thomsen gefallen wäre. Er wäre in der Marneschlacht geblieben, unter den vielen Tausenden.
Harm Ott vernahm es und war traurig ihretwegen. An sich selbst dachte er nicht. Es war ihm so, als wenn sie jenem, dem sie im Leben gehört, auch nach dem Tode noch angehörte.
So verging der Winter und es kam das Frühjahr. Die Brüder an Land kämpften bei Dixmuiden ... o, die Jungen, tapfern, todesmutigen! und in Sturm und Schneewehen in Masuren ... o, die treuen Männer, manche schon im grauen Haar, bis an die Knöchel im Schnee, stöhnend unter der Last der Tornister! Und die Brüder zur See schlugen sich an der Küste Südamerikas und in der Nordsee; sie gingen der englischen Übermacht gegen die Zähne, und wurden zermalmt und starben. Deutschland hielt der gewaltigen Übermacht noch immer stand! Deutschland stand fest! Ja, Deutschland siegte! Ja, es siegte! Aber es konnte nicht durchsiegen! Wie lange soll der Krieg noch dauern? Wie lange sollten sie noch hier in der Nordsee hin und herschaukeln, und auf die englischen Allmächtigen warten und auf den Tod?
Allmählich, da das Leben Woche auf Woche, Monat auf Monat so weiter ging, den ganzen Winter hindurch, bildeten sich, obwohl sie alle untereinander gute Kameraden blieben, so zwei, drei Haufen unter ihnen. Die Heizer waren sowieso mehr für sich. Aber auch die übrigen teilten sich etwas, nicht in der Kameradschaft, nicht in der Treue, aber im Verkehr, im vertrauten Umgange. Und die Backbordwache unter ihren Häuptlingen, dem Unteroffizier Peter Hagedorn und Harm Ott, zu dem der Fischer Söht, der kleine, dunkle Westpreuße, der Träumer, und der Pommer, der Musikant, gehörten, dazu noch der Lübecker und der Ewerführer und Peter Knudsen, der Tagelöhner, hielten am treusten zusammen.