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10. Kapitel

New York

Er fuhr am andern Morgen nach Hamburg, fragte sich am Hafen zurecht und ließ sich auf der »Lauenburg«, einem kleineren Dampfer der Hapag, neunzehn Mann unter der Back, mit Stückgut nach New York, als Zimmermann anmustern, und schwamm am vierten Tage nach Westen und erreichte am vierzehnten Tage New York. Er hatte dem Kapitän, der ein verständiger Mann war, gesagt, was er Besonderes vorhatte, und bekam gleich Landurlaub und machte sich auf den Weg. Es war ein heißer, blendend sonniger Tag.

Er fuhr nach dem New Yorker Pier hinüber und kam gleich in der ersten Straße in das Gewirr der Menschen und bog in den Broadway ein und ging langsam, mit klopfendem Herzen, die ganze Seele in den Augen, durch das gewaltige Toben des Lebens. Schräg über ihm, in der Mitte der mächtigen Straße, auf machtvollem Eisengerüst, jagten donnernd die Züge dahin, unten auf der Straße sausten ratternd und stoßend in vier bis sechs Reihen die Straßenbahnen, hielten jäh, und schossen wieder weiter, in vier bis sechs Reihen schossen Autos neben ihnen dahin. An den riesigen bunten Läden entlang drängte sich der breite Strom der Menschen, die Männer ohne Hut, die Jacke am Arm, einen schlichten Gürtel um den Leib, glattrasierte, kühne Gesichter mit gestutzten Schnurrbärten, mit den scharfen Linien zu beiden Seiten des Mundes, rasch sich Bahn brechend, gleichmütig, um nichts sich kümmernd, nur weiter, weiter! Junge Mädchen, schlank, fein, frei ... wie sie gehn! ... wie fein ihre Röcke ... wie vornehm ihr Schuhzeug! Aber da ... ein Neger ... eine Negerin ... komisch sonntäglich gekleidet ... da ... ein Italiener, ein Indier, ein Jude, wieder Italiener ... ein ganzer Haufe mächtiger, breitschultriger Neger, mit grauweißem Staub bedeckt, von einem Neubau kommend ... da ein Schutzmann, den weißen Stab in der Hand ... ein schmucker, stolzer Mensch ... Zeitungsjungen springen rufend und schreiend an die Autos, rennen durch die Menschenreihen. Da ... ein totes Pferd ... da noch eins, noch in seinem Geschirr ... da ... ein Mensch stürzt zusammen ... ein gellender Pfiff ... ein Wagen jagt herbei, eine Bahre erscheint ... weg. Da ... ein Auto hängt plötzlich schief; hart stößt es gegen die Bordwand. Die Menschen springen zur Seite, Frauen schreien auf; aus der Elektrischen tönt lautes Rufen und Lachen. Ihre Wagen sind ganz überfüllt; die Menschen stehen in den Türen, hängen seitwärts an den Wagen, ohne Hut, mit geöffnetem Hemd. Sie genießen auf- und abfahrend, immerzu, stundenlang, den Luftzug des Fahrens. Da ... ein Deutscher ... sicher, ein Deutscher! Vielleicht gar ein Holsteiner! Dann wieder die glattrasierten Gesichter mit den scharfen Linien zu beiden Seiten des Mundes. In Scharen, in Stößen schiebt es sich dahin. Wo ein größerer Platz oder eine Haltestelle der Bahn ist, drängen sich Tausende. Und das Menschenmeer murmelt und rauscht, und drängt sich zu Wogen und flutet dahin.

Da war die Nummer der Nebenstraße, die er suchte. Er blieb stehn und sah sich um, und sah die ungeheure Straße, die er gekommen war, die sanft vom Hafen hinaufführte, hinab. Welche Tausende von Menschen! Wie sie wogen und rauschen, wie Wasserfluten! Wie die Bahnen vorwärts schießen, plötzlich stehen sie. Wie die Wagen hin und wieder zucken, wie tausend Weberschifflein! Wie ragen die Häuser, dicht aneinander, Schulter an Schulter, machtvoll, ein Geschlecht von Riesen! Was ist der Mensch, daß er das vermag! Was kann er! Wie treibt er sich um! Und über allem die rasende Sonne, die unbarmherzige! Wie sie brennt! Tief hinein, tief in die Steine und Mauern hinein! Es ist ein Wunder, daß nicht plötzlich, in einem furchtbaren Zucken, all diese sausenden Wagen und Bahnen, all diese gewaltigen Häuser, all diese hunderttausend eiliger Menschen in eine einzige weißglühende Flamme sich wandeln, die bis zur Sonne hinaufschlägt.

In der Nebenstraße war es etwas ruhiger. Sprengwagen ziehn vorüber; Kinder in leichter Leinenkleidung werfen sich zur Kühlung darunter. Auf dem Pflaster hocken und liegen in Haufen Italiener, bessern daran, klopfen, schlafen darauf; einige ihrer Frauen in bunten Kopftüchern sitzen bei ihnen. Ein Eiswagen klingelt näher, die Menschen stürzen mit Schüsseln und Eimern herbei, der Kutscher stößt sie roh zurück; sie lassen es sich gefallen. Drei Skandinavier, hohe schöne Gestalten im ruhigen Gespräch ... ein fein gekleideter Yankee mit seiner Dame; sie achten nicht, was um sie her vorgeht. Auf den Balkonen werden Lager für die Nacht bereitet; Kinderchen stehn schon im Nachthemd am Gitter.

Er fand das Haus und stand eine Weile sich besinnend. Welch ein fremdes Leben! Wie gewaltig! Hier in diesem Leben sollte sein Bruder hausen? Er stieg hinauf, und fand am Ende eines dunklen Ganges an einer schiefhängenden Tür den Namen Rebekka Pein und klingelte. Das Herz klopfte ihm; er meinte die Nähe des Bruders zu spüren. Aber die alte freundliche Frau, die ihm öffnete, sagte: »O, Sie sind sein Bruder? Ja ... ja, ich sehe es! Kommen Sie herein! Ihr Bruder ist leider weggefahren, vor zwei Tagen. In eine kleine Stadt; er meint, er könne da in einer Gärtnerei mehr verdienen. Ja ... ja! Ihr Bruder ist hinter dem Gelde her wie der Böse hinter einer armen Seele.« Sie führte ihn in die Stube und war eine Weile verschwunden.

Er sah sich in dem kleinen Raum langsam um, und war gleich heimisch, denn er war genau so eingerichtet wie die kleinen Stuben der Häuser, die in der Heimat im Schutz der Deiche stehn: die Möbel von braunblankem Holz, darauf die weißen gehäkelten Decken, an den Wänden und auf den Kommoden die viel zu vielen Bilder von Verwandten und Bekannten; alles klein, alles übervoll, alles sauber. Es war ihm, als wenn er plötzlich in der Heimat in irgendeiner Stube bei Brunsbüttel oder daherum stände, nicht tausend Meilen fern in dem riesengroßen wilden New York. Er trat an die Wand und besah die Bilder, und sah lauter Gesichter, die ihm bekannt und vertraut waren.

Nun kam die Alte wieder, in einer schönen schwarzseidenen Schürze, die sie ihm zur Ehre angetan hatte, genau wie die Frauen in der Heimat es tun. Sie lächelte, da sie ihn vor den Bildern stehn sah, und sagte: »Ja, die sind Ihnen alle bekannt, alle aus dem Kirchspiel St. Margarethen; aber fast alle schon im Grab. Ich bin vor sechzig Jahren als junges Ding nach New York gekommen. Ja, ja! Ich begegnete ihrem Bruder ... es ist gut ein Jahr her ... hier unten in der Straße, als er die Häuser hinaufstarrte und sich ein Stübchen suchte. Ich sah ihm an, woher er war, und nahm ihn mit, und seitdem haust er bei mir. In spätestens drei Tagen kommt er wieder. Er ist aufs Land gefahren zu einem Hamburger, der eine Gärtnerei hat.«

Der junge Harm Ott war sehr glücklich, daß er seinen Bruder bei dieser alten Frau fand. Er setzte sich in den großen Stuhl am Fenster und sagte: »Ich bin froh darüber, daß mein Bruder so ordentlich lebt!«

»O,« sagte die alte Frau, »er ist fast allzu ordentlich! Er arbeitet tagsüber in einer Gärtnerei und abends hilft er noch beim Aufräumen in einer großen Werkstatt. Und in der übrigen Zeit treibt er, wo er geht und steht, englisch, sogar des Abends mit mir. Und er geizt mit jedem Penny, und sagt, er muß der reichste Mann in ganz Deutschland werden.«

Er sagte verwirrt: »So, das sagt er? So ... in Deutschland! Warum denn wohl?«

»Ja,« sagte sie, »das weiß ich nicht! Und es paßt ja gar nicht zu ihm! Er hat so was Frisches in seinem Gesicht, so etwas, das in den Tag hineinleben möchte; und er ist ja noch so jung, noch keine zwanzig. Aber er sagt, er will reich werden ... zum Verrücktwerden reich, sagt er ... und zwar bald. Und so gibt er mir denn auch keine Miete.«

»Er wohnt umsonst hier?«

Sie lächelte: »Nicht umsonst. Er sagte eines Tags zu mir: Mutter Pein, Sie haben Ihre kleine Rente, mit der Sie das Jahr hindurch gut 'rumkommen können; und den Platz in der Ecke, in der ich schlafe, den brauchen Sie auch nicht, wenn ich nicht da bin; also wozu gebe ich Ihnen Geld? Kann ich es nicht mit etwas anderm gutmachen?« Sie lächelte wieder: »Wir, ich und mein Mann, sind keine Amerikaner geworden. Nein, wir sind keine Amerikaner geworden! Sehen Sie, ich mochte ihn leiden, und so sagte ich: ›Ich hörte dich neulich am Sonntag abend ein Lied singen. Wenn du mehr solcher Lieder kannst, so sitz' den Sonntag bei mir und singe mir vor. Wegen meiner alten Augen kann ich nicht mehr lesen; und ich habe es mein Leben lang entbehrt, daß ich nicht singen kann.‹«

»Ja,« sagte Bruder Harm, »singen und pfeifen, das kann er.«

»Ja ... und nun sitzen wir denn jeden Sonntag abend beieinander: da, wo Sie sitzen, sitzt er; und ich da auf dem Sofa; und dann sagt er: ›Nun wollen wir eins singen, Mutter Pein.‹ Und wenn mir dann über die alten Lieder und das Heimweh und die Gedanken an all die Toten an den Wänden die Augen überlaufen, dann steht er auf und singt und flötet gegen die Wand an und weint auch ... denn er hat auch Heimweh; und tut dann, als besähe er die Bilder, Bild nach Bild.«

Harm Ott saß eine Weile verstummt und traurig. Er wußte nicht recht, ob er ihr sagen durfte, warum der Bruder so jung in die Fremde gezogen wäre.

Aber da sagte sie schon: »Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht; ich habe in meinem Alter ja nichts anderes mehr zu tun, als mir Gedanken zu machen ... warum er so gern und gierig reich werden will, obgleich es eigentlich von Natur nicht in ihm steckt, und warum er so leere Augen machte, wenn ich ihn im Anfang nach seinem Elternhaus und der Heimat fragte ... nachher ließ ich es ... aber seit einer Stunde kann ich es mir zusammenreimen. Sieh, er hat diesen Brief hier liegen lassen, den er vor vier Wochen bekommen hat. Lesen Sie ihn!«

Er nahm den Brief und sah, daß er von Höbke Suhl war und las:

Lieber Eggert Ott!

Ich bestätige Dir die Ankunft von achtundvierzig Mark, die ich nicht dem Herrn Peter Reimer Ott, Landmann in Altensiel, sondern Deiner lieben guten Mutter gegeben habe, die sie für Dich aufbewahrt. Wenn Du zu Harm und Reimer in Deinem Zorn gesagt hast, ich wäre eine alte Schachtel, so sage ich Dir, Du bist ein junger Esel. Denn als man Dir an die Ehre ging, mußtest Du da nicht grade hier bleiben, um für sie zu sorgen? Wer soll sonst für Deine Ehre hier sorgen? Ich tu' es freilich, ich trete für meinen jungen Nachbarn ein, wo ich kann, und viele glauben meinen Worten. Auch Deine Geschwister treten für Dich ein und mein alter Peter auch. Aber das Beste wäre, Du wärst selbst hier, und schlügst jedem ins Gesicht, der Dich schief ankuckte. Es ist selbstverständlich, daß Du nicht bei Deinen Eltern wohnen könntest; aber was ist im Wege, daß Du bei mir wohnst? Du kannst das ganze Jahr bei mir pflügen, säen und füttern. Aber eins freilich müßtest Du mitbringen: die Erkenntnis, daß Du auch nicht ohne Schuld bist. Nein, mein lieber Eggert, das bist Du nicht! Du warst unfreundlich und oft wunderlich. Aber was mich angeht, so mag ich Dich nun mal so, wie Du bist. Komm wieder her, Junge, und sei bei mir! Wir wollen die besten Freunde sein und uns um die Menschen nicht kümmern.

Deine Nachbarin und Freundin

Höbke Suhl.

Er ließ den Brief sinken, und erzählte der alten Frau kurz die ganze Geschichte.

Die sah ihn eine Weile stumm an und nickte nach der Weise des Alters, so als wenn sie dachte: ›Ja ... ja ... schwer ... schwer! ... wirr, ... wirr! ... wie alles Leben!‹ Dann sagte sie: »Warum will er denn so rasch und gierig reich werden?«

Bruder Harm sagte zornig: »Weil er eines Tages, und zwar recht bald, so auf einige Stunden, im besten Anzug, mit blendendweißem Kragen und goldener Uhrkette, und womöglich im Extrawagen von Hamburg her ... in der Heimat erscheinen will und allen Leuten, die ihm begegnen, frech ins Gesicht starren und wenn sie ihn grüßen und sagen: ›Sieh da, Eggert Ott!‹ so tun will, als wenn sie Mondkälber sind, und dann wieder davongehn! So möchte er es alle fünf Jahre machen ... immer reicher, immer kälter ... immer hochmütiger! Ja, so ist er! Eine einfache Sache ist das nicht, Frau Pein. Er ist verrückt vor Zorn und Überhebung.«

»Er ist ein lieber guter Junge,« sagte die Frau.

»Weiß ich,« sagte er, und es schoß ihm in die Augen. »Das ist ja grade das Unglück, daß er beides ist: verrückt und gut. So was haben wir häufig bei uns.«

»Ja, ja,« sagte sie. »So ist es ... so ist es immer: ... das Schicksal ruht nicht eher, als bis es uns zwischen zwei Steinen hat; dazwischen werden wir dann gerieben, bis wir mürbe sind ... Bleibt Ihr Schiff hier drei Tage? ... In drei Tagen wollte er wiederkommen ...«

»Gewiß,« sagte er. »Wir bleiben. Ich komme übermorgen wieder, nach ihm zu sehen. Vielleicht kommt er ja auch eher wieder, als er angenommen hat. Ich komme eines Abends so gegen neun Uhr, daß ich ihn zu Hause finde. Aber sagen Sie ihm nicht, daß ich hier bin und komme.« Damit ging er.

Er war sehr zufrieden mit seinem Besuch und ging nicht wenig stolz, daß er diese große Reise, dies große Wagnis, unternommen hatte, seines Weges. ›Sie werden mich zu Hause sehr bewundern,‹ dachte er. ›Und im Hause meines Onkels auch, wenn es auch dem Onkel nicht recht sein wird, daß ich hinter dem Bengel hergelaufen bin. Aber im Herzen wird es ihnen doch gefallen. Und das Mädchen ... das lange, niederträchtige ... wird auch denken: Er tut, was er will!‹ In solchen großen und schönen Gedanken ging er dahin und achtete nicht viel auf das, was vorging, und kam wieder auf den Broadway in das ungeheure Gewoge. Ohne Dämmerung und Dämmerstunde war es plötzlich Abend und Nacht geworden, und was noch vor einer Stunde in weißem Sonnenglanz gelegen, lag nun unter dunkelblauer Tiefe. Aber aus den riesigen Häusern, aus unendlichen Fensterreihen, aus ungeheuren Läden, aus zahllosen Bahnen, von hohen Kandelabern herunter schlugen hunderttausend Lichter und durchschossen das ungeheure Treiben, daß es fast schattenlos, wie ein böser Geisterspuk, dahinglitt und brauste. Er ging langsam seines Wegs, mit Augen und Ohren bei dem Bilde, aber mit der Seele bei sich und den Seinen.

Da sah er wohl tausend Meter vor sich ein besonders dichtes und unruhiges Gewoge von Menschen und ein wildes Eilen und Jagen dahin, und wurde hellwach und neugierig, und ging eiliger, um die Sehenswürdigkeit, die da etwa des Weges zog, noch zu Gesicht zu bekommen, ehe sie davonliefe. Aber als er die Stelle erreichte und sich nun schon mitten in dem eilig dahinflutenden Strom der Menschen befand, sah er vor sich ... die Straße senkt sich nach dem Hafen hinunter ... die ganze gewaltige, breite Straße, mit all ihren Bahnen und Wagen, vollgepfropft von tausenden und aber tausenden Menschen, die alle fuchtelnd, schreiend, große, weiße Papierblätter schwingend, nach der hohen Wand eines Hauses hinaufstarrten, auf der in riesigen, flammenden Buchstaben etwas geschrieben stand; ein wildes, schweres Gedröhn wie aus ungeheurem Raum, wie von Donner, der aus der Erde kam, füllte den ganzen weiten Platz. Er dachte, es wäre etwa die Anzeige von einem Eisenbahn

- oder Schiffsunglück, irgendwo im Innern des Landes, oder irgendeine große innerpolitische Begebenheit; denn er hatte irgendwo mal gehört oder gelesen, daß in den Vereinigten Staaten ganz anders als in Deutschland, die Masse der Bürger die Politik macht und sich täglich darüber aufs Äußerste erregt. In dem Augenblick – er war noch keine Minute in dem Strom der laufenden und eilenden Masse – hörte er das Wort: »Krieg! ... Krieg in Europa! ... Deutschland!« Es irrte durch seine verstörte Seele: ›Krieg? ... Wer? ... mit welchem Volk? ... Österreich? ... der Mord von Serajewo? Rußland?‹ Er biß die Zähne zusammen und schüttelte in schrecklicher Not und Sorge immerfort heftig den Kopf. Da war er schon näher gekommen und las an der Wand die glühenden Worte: «Ganz Europa vorm Krieg! Deutschland von Feinden umstellt und verloren!« Und hörte es um sich wogen und schreien: »Die verdammten Deutschen! Natürlich ... die Ruhestörer! ... Natürlich ... Ihr Kaiser! ... Nun bekommen sie ihre Bezahlung!« Ein Haufe von jungen Leuten, gut gekleidet, aber in ihrem Benehmen von Verderbtheit zeugend, in einer Wolke von süßlichem Zigarettendunst, schlug sich auf die Knie und auf die Arme und schrie sich Wetten zu: »I bet you, I bet you!« Er wußte nicht, wie ihm war. Es war ihm, als wenn die Welt und sein eignes Leben plötzlich alle Ordnung verloren hätte. Als müßte er hier nun stehn bleiben oder, wenn er fortginge, wäre es einerlei, wohin er ginge; denn die ganze Welt hatte weder Nord noch Süd, weder Heimat noch Fremde, weder Sinn noch Verstand. Es wurde ihm schlecht wie von einem eklen Geschmack; und er mußte schlucken.

Als er noch so stand, völlig betäubt, und ein Haufe von Leuten, Franzosen und Italiener, auf die Deutschen und den deutschen Kaiser schimpften und schrien: »England geht auch mit gegen sie! ... Sicher! ... Dann gehn sie zu Grus und Mus ... Ho ho ... Natürlich geht England mit! ... Aber selbstverständlich!« und mit wildem Gelächter: »Es wird sich doch den fetten Bissen nicht entgehn lassen!?« ... da hörte er hinter sich eine ruhige Stimme auf plattdeutsch knurren: »Na, lat di man Tid!« ... er wandte sich um und sah einige deutsche Matrosen hinter sich stehn und zog sich unauffällig so weit zurück, daß er zwischen ihnen stand; und war plötzlich, ohne ein Wort, nur da sie sich ansahen, einer der ihren. Gleich darauf sagte einer von ihnen: »Kommt nach unseren Schiffen! Wer weiß, was noch geschieht!« Und sie drängten sich zurück und gingen die Straße wieder hinunter, kamen an den Pier und setzten über. Sie sprachen auf dem ganzen Weg kein Wort miteinander, gingen bleich und still dahin, kauten an den Lippen, wußten nicht wohin mit ihren Armen und Händen, atmeten schwer und stöhnend, und dachten nach Hause; und hatten eine ungeheure Angst um etwas, das sie vorher eigentlich nicht gekannt, obgleich es immer schon dagewesen und so groß und gewaltig war, daß man es wohl sehn und erkennen konnte; aber sie hatten es doch nicht gesehn und nicht gewußt: Deutschland, das Vaterland! Was ihnen bisher fast ein leerer Begriff gewesen war, ein Wort, ein Ausdruck, eine Gleichgültigkeit, das war nun plötzlich eine einzige große, gewaltige, zuckende Seele. Und diese Seele war die ihre. Sie wußten mit einemmal, daß sie ein Vaterland hatten und eine Heimat; und das Herz stockte ihnen in Angst und Liebe darum.

Am folgenden Tage schon – Harm Ott konnte nicht zum zweitenmal nach der Wohnung seines Bruders gehn ... er sandte ihm nur einen Brief – fuhren sie auf Order, die von Hamburg gekommen war, von New York ab. Sie waren, trotz der Order, ruhiger geworden, und waren guter Hoffnung, da im Augenblick ihrer Abfahrt noch wieder friedlichere Nachrichten gekommen waren. Sie sprachen aber natürlich von nichts anderm, als vom Krieg. Zwei oder drei der Jüngsten freuten sich auf den Krieg; es leuchteten ihnen die Augen, wenn sie daran dachten; aber die andern alle wollten den Krieg nicht. Sie hatten ein deutliches Gefühl für seinen Jammer, seine Schrecken und Verwüstungen, und sie hatten alle schon einen Plan, wenigstens für die nächsten vier oder fünf Jahre, und in diese Pläne paßte ein Krieg nicht hinein. Sie wollten ihren stillen, ruhigen, ernsten Lebensweg gehn; sie wollten erst das, dann das, dann das. So haben Millionen von Deutschen gedacht: von Jütland bis an die Alpen, ach, viele, viele Millionen auf der ganzen Erde ... und haben von ihren Plänen lassen müssen.

Aber am siebenten Tage, gegen Mitternacht – Harm Ott hatte die Wache auf der Back – überholte sie ein großer Bremer Personendampfer; er fuhr abgeblendet und in rasender Fahrt Deutschland zu; sie sahen in der hellen Sommernacht, wie der hohe Gischt vor seinem Bug sich bäumte und überstürzte, und wie eine lange, schimmernde Welle hell beleuchtet das Schiff entlanglief. Die Brücke war voll von Menschen, und auch in den Laufgängen standen trotz der Nacht unzählige Menschen. Von seiner hohen Brücke kamen Morsezeichen zu ihnen herüber. Harm Ott fragte den dritten Offizier, der herantrat, und erfuhr: Krieg mit Rußland und Frankreich ... ! und sie sollten wach sein und eilen, so sehr sie könnten.

»Also doch! So ... so! Also doch!« ... Einer der Jüngeren, der Koch, war wie besessen vor Freude. »Was ist das Leben,« sagte er, »wenn man nicht mal einen Krieg mitgemacht hat? Ich melde mich bei den Einunddreißigern in Altona. Zu Schiff mag ich nicht. Zur See wird ja nicht viel geschehn!«

Es waren nun auch unter den Ältern einige, die sich freuten, ja sogar unter den Verheirateten. »Es ist gut,« sagten sie ernst und ruhig, »daß es so kommt. Wir haben ja auch nicht geglaubt, daß es zum Kriege käme; aber da er nun da ist, so ist es wohl gut. Die Luft in Europa war stickig geworden, Und am Ende: man erlebt mal was Besonderes!«

Harm Ott konnte sich nicht freuen. Vielleicht kam es daher, daß er trotz seiner eifernden Mutter kein kriegerischer Geist war, vielleicht, daß von seinem stillen, schwermütigen Vater her eine natürliche Anlage in ihm war, das Traurige, das Schreckliche zu sehen: den hunderttausendfachen Tod der Besten, die Qual und die Tränen von Millionen. Vielleicht hatte es sein guter Lehrer in ihn gelegt oder doch in ihm gepflegt, daß der Mensch zuerst der Menschheit gedenken soll, dann des Vaterlandes, danach seiner selbst. So stand er denn in diesem Gefühl die drei Tage, die sie noch fuhren, auf der Brücke; denn da er besonders gute Augen hatte, wurde er bestellt, Ausguck zu halten. Am Tage in der Sonne, bei Nacht im dunkelblauen Schein der Sommernächte, dachte er bald an all die Tausende, die sich nun gegenseitig den Tod geben sollten, bald mit Angst an sein Vaterland, ob es auch mit innern Kräften und mit Waffen gerüstet wäre, den furchtbaren Ansturm auszuhalten, bald an seine Eltern, daß sie ihn nun ziehen und verloren geben müßten, bald an sich selbst, daß er tapfer seinen Mann stehn und sein Vaterland verteidigen wolle. Und es erschien ihm schön und edel, daß er es mit verteidigen sollte, darum, weil er wußte, daß es eine reinliche Sache hatte; und er knirschte mit den Zähnen, da er an die dachte, die sein Land in den Krieg geführt, an die, die ihm und seinem Volk diese Not angetan hatten, an diese Großen in Rußland und diese Führer des französischen Volkes; und er stieß mit dem Fuß auf, daß der Kapitän ihn von der Seite ansah.

Am ersten Tag, nachdem sie die Nachricht bekommen hatten, sahen sie trotz des klaren Wetters wenig Schiffe. Sie hatten Weisung bekommen, mit nordöstlichem Kurs die Südspitze von Norwegen anzusteuern. Gegen Abend begegnete ihnen ein kleiner, englischer Kreuzer, der von Osten kam. Er beleuchtete sie mit seinem Scheinwerfer und fuhr vorüber. Während er so in ungefähr vier Kilometer Entfernung vorüberglitt, sprachen sie wieder auf der Brücke über das Thema, das den ganzen Tag nicht schwieg: »Was wird England tun?!« Der Kapitän, ein älterer Mann und in seiner Jugend viel auf englischen Schiffen befahren, zog wieder die Schultern hoch und hielt für möglich, daß England gegen uns ginge. Er war aber der einzige an Bord, der so dachte. Der zweite Offizier, ein Flensburger Lehrerssohn, sagte ungeduldig: »Kaptän, wie können Sie nur so etwas für möglich halten! England müßte doch einen Grund haben! Haben wir England je etwas Böses angetan? Und dann steht es ja so, daß unsre Gegner jetzt schon stärker sind als wir. Bedenken Sie: das ungeheure Rußland! Da sollte England sich auch noch auf uns werfen? Verzeihen Sie . .. aber da denken Sie zu gering von England; zum Donnerwetter, wenn sie auch scharf aufs Geld sind ... es sind doch vornehme Leute!« So sagte er; und Harm Ott stimmte ihm zu, oder besser gesagt, gab ihm schon recht, ehe er gesprochen hatte.

Sie jagten Norwegen zu die Nacht hindurch und den Tag und wieder die Nacht und trafen weiter nichts als norwegische Dampfer und norwegische Fischer. Am dritten Tag gegen Mittag sahen sie fern im grauen Nebel die kahle, steile Küste, und nahmen südlichen Kurs, und sahen gegen Abend in der Abendsonne die Dünen von Sylt. ›Heimat! Heimat! Wie mochte es da aussehn in jedem Hause! In jedem Herzen! Abschied ... Abschied! ... Qualen namenlos! ... Kein Haus, kein Herz, von Jütland bis in die hohen Alpen, das nicht in Not und Qual war!‹ Und wieder endeten seine Gedanken damit, daß ein wilder Gram und Zorn sein ganzes Herz erfüllte. Sie sollten fühlen, was das deutsche Volk vermochte, wenn es einig war! >Mit Österreich zusammen ... über hundert Millionen Menschen! Ah! Sie sollten ihren Lohn haben!< Dann gingen die Gedanken wieder nach dem Haus hinterm Deich. >Mutter denkt in diesem Augenblick an mich ... sie denkt in jedem Augenblick an mich, Tag und Nacht. Denn ich bin dasjenige von ihren Kindern, das jetzt schon in Gefahr ist und das mit in den Krieg ziehn muß. Gott sei Dank, daß ich der einzige bin! Der Vater denkt auch an mich, immer in seiner stillen Weise, bei seiner Arbeit in Feld und Stall! Und Reimer denkt an mich über all seinen Büchern! Wie er wohl verstört ist! Er, mit seinem ewigen Frieden! ... Die Mädchen, die wissen nicht recht, was Krieg ist ... Gut, daß ich keine Liebste mehr habe! ... Das süße, böse Mädchen ... Herrgott, wie lieb ich sie habe ... heute noch!< ... So sann er, und war traurig um sich und die Seinen; und voll Zorn gegen die, welche sein Land nicht in Ruhe ließen und ihm den stillen Lebensweg zerstörten und die Seinen in Leid brachten.

Gegen Morgen erreichten sie glücklich die Elbe und fuhren hinter einem großen Hapagdampfer her, der von England kam und bis an die Toppen voll von Reservisten war. Die Ufer bei Blankenese waren ein einziges Geflatter von weißen Tüchern.

Gegen Abend um fünf Uhr machten sie am Petersenkai fest.


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