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1894

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An Martha Freud

Wien IX, Berggasse 19, Donnerstag, 7. Juni 1894

Mein geliebter Schatz

Gestern abends war es schwül bis zur Grenze des Erträglichen. Morgens sechs Uhr wache ich auf, finde das Zimmer licht, denke mir, dieses seltene Ereignis des Frühaufwachens soll man verwerten, klopfe bei Marie an und bestelle mir ein Bad, lege mich wieder nieder. Eine halbe Stunde später wache ich wieder auf, finde das Zimmer (so) finster, daß ich die Uhr nicht sehe, habe rasch die Idee abzuweisen, daß ich blind geworden bin, eile zum Fenster und seh einen Streifen von schwarzem Himmel. Wenige Minuten später geht ein Donnergetöse los, die Straße ist im Nu ganz weiß, Pferde reißen sich los, Schloßen von merkwürdiger Größe schlagen an die Fenster. Ich bin schnell nach rückwärts, aber da war im Studierzimmer das Fenster bereits an drei Stellen durchgeschlagen, der Schreibtisch überschwemmt, die Flügel natürlich weit aufgerissen. Geradezu großartig war es auf der Terrasse, die Türen waren aufgeflogen, und die Schloßen lagen bis zum Ende der Kredenz. Das Gewitter hat eine halbe Stunde gedauert. Die Verwüstungen in der Stadt sind großartig. Auf einer Seite sind fast in jeder Straße (in der Berggasse unser Gegenüber) alle Scheiben zerschlagen, besonders in den oberen Stöcken, reihenweise keine Tafel ganz, als ob Buben mit Kieselsteinen bombardiert hätten; besonders an Straßenecken und wo die Fenster nicht durch Vorsprünge geschützt waren, ist es einfach lächerlich anzusehen. Eine Frau, die mich morgens besucht hat, sagte ganz richtig, die Fenster sehen aus wie die Zirkusreifen, nachdem die Hunde durchgesprungen sind. Andere Straßen sind verschont. Am entsetzlichsten hat es die Bäume hergenommen, in unserem Garten liegt mehr Laub auf dem Boden als oben geblieben ist, und der arme Baum ist zerfetzt, zerschunden, er sieht aus wie mit Peitschenhieben geschlagen und dann von Raupen zerfressen. Was Garten war, muß gut zugerichtet sein. Ich höre, die Fenster – wir sind mit dem einen davongekommen – werden vom Hausherrn gerichtet. Ich möchte gerne wissen, ob es bei Euch irgend ähnlich war, das kann gemütlich geworden sein. Hoffentlich nicht, es war doch lokal.

Sonst nichts Neues. Ich schreibe am Abend, gestern, hoffe auch heute. Beschäftigung recht mittel, heute würde es mehr lohnen, Glaser zu sein als Doktor.

Herzlichst Gruß
Dein Sigmund


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