Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Landschaft, worin unsere Erzählung wurzelt, bildet ein Tal, flankiert von Wäldern, fast noch so dicht wie in den Zeiten, wo Hirsch und Eber darin hausten, und von Höhen bis über tausend Meter; doch weil das Gebirge dahinter Felsen aufweist, bis zu zwei- und dreitausend, nennt man es das »Flachland«. Dies Flachland ist in Bauerngüter geteilt, in größere, in Lehen, in kleinere, in Huben und Fretten, wo man notdürftig ein paar Kühe füttern kann, und endlich in Kleinhäusler, die sich mit einer Kuh oder gar mit etlichen Geißen begnügen müssen.
Auf einem der großen Lehen nun saß das Geschlecht der Ellenhuber, seit uralten Zeiten.
Von dieser Scholle, von ihren Söhnen und Töchtern zu reden, scheint noch der Mühe wert, etwa in der Dunkelstunde, wo das wilde Gejaid ums Haus stürmt und die Buchenscheiter im Kachelofen krachen. Das Geschlecht der Huber war ein vielverzweigtes; die Hölzlhuber saßen an einer Waldinsel, wie sie vielfach hier, wohl als Rest der Urwälder, stehengeblieben waren, die Blümelhuber inmitten einer Wiese mit Dotterblumen, eine Herrlichkeit, ganz wunderbar anzuschauen; die Bachhuber hockten natürlich am Bach, die Forsthuber am Wald, die Leitenhuber an einem Hang, die Brunnhuber an einer Quelle, die niemals versiegte, war die Dürre noch so groß, und die Talhuber hausten schon gegen die Mühlen zu, in einem feuchten Grund. Diese Huber brachten immer wieder einen Menschen hervor, der das höchste Sakrilegium beging: die Selbstzerstörung. – Der Herr sei ihm gnädig! sagten die Leute in einem solchen Fall und bekreuzigten sich. Weiter waren da die Kornhuber und Feldhuber, die Kleinhuber und Großhuber und die besondere Menschenart der Sinnhuber. Endlich die Simplhuber, mit denen der Teufel einen bösartigen Schabernack trieb. Sie lebten eine gute Weile still und manierlich für sich, wie andere gesittete Leute, bis sie eines Tages der Rappel befiel und der Blödsinn in hellen Flammen ausbrach. Kam in der Simplhub ein Kind zur Welt, ein 8 tölpisches Wesen, mit einem knolligen Erdäpfelgesicht, so sagten die Leute: »Das hab ich mir gleich gedacht, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
Aber es liegt nicht in unserer Absicht, von der Simplhub zu reden und von dem, was da an Dummheit und Aberwitz, von der Großhub und dem, was da an Eitelkeit und Hochmut geschah, denn beides könnte zu keines Menschen Ergötzung dienen – nein, es lag da ein Hof, mit einem eigenen Geschlecht, mit Menschen, eine Freude, sie kennenzulernen, und nützlich, mit ihnen umzugehen. Das waren die Ellenhuber.
Wer die Berglehne, die dem Auge nur als ein schmaler Teppich, mit Wiesen und Äckern, mit Gehölzen und Lehen erscheint, weiter hinansteigt, findet, daß dieser Saum wieder eine Landschaft birgt, mit Feldern, Hainen, Forsthäusern und grünen Kuppen, und auf einer dieser Kuppen, nach vorn steil abfallend, durch eine sanfte Lehne mit dem Hochwald verbunden, lag Ellenhub, wie eine Bruthenne auf ihrem Nest.
Da die Ellenhuber in vieler Beziehung in der Gemeinde weit voraus waren, wurden die Männer kurzweg »Köpfe« genannt. Und es waren auch Köpfe, und sie hatten auch entsprechende Gesichter, Spiegel des Lebens und seiner Geheimnisse. Und da, wie sich denken läßt, diese Köpfe in ständiger Bewegung waren, kam es zu den mannigfaltigsten Reibungen und Konflikten, bald scherzhafter, bald blutig ernsthafter Natur, und dies hielt im Grunde die Ellenhuberische Menschenmühle im Gang, wenn auch sonst kein direktes Ziel zu erblicken war. Nach Hochzeit, Kirchtag und Rekrutenball hieß es: »Ja, die Ellenhuber!« Und wenn ein Bericht aus dem Welschland die Ruhmestaten der Kaiserlichen meldete, sagten die Leute wiederum: »Ja, die Ellenhuber!« Im Guten und im Schlechten, stets umgab sie ein Hauch von Besonderheit, und der Herrgott, der die Blumen auf den Wiesen und die Disteln an den Feldrainen wachsen, die Nachtigallen schlagen und die Geier in den Lüften schreien läßt, wird wohl gewußt haben, was er plante, als er dies Geschlecht im Mutterboden Wurzel schlagen ließ. Es ist wahr, sie bezeigten ihm keine übermäßige Dankbarkeit, im Gegenteil, sie machten ihm viel zu schaffen, brachen ungescheut in den Garten seiner Zehn Gebote, kamen wohl auch ins Geheg der sieben himmelschreienden und öfters sogar in das der Todsünden, ja, es gab auf Ellenhub 9 Zeiten, wo es schien, als ob der Böse selber den Kopf hervorstreckte: das Laster des Jähzorns konnte eine Höhe erreichen, daß es bisweilen auf Leben und Tod ging.
Über die Herkunft des Hofnamens waren mehrere Erklärungen im Schwang. Als die Einwanderer von dem Lande Besitz nahmen und es verteilten, gab der Hofgründer sich, als ein wahrhaft frommer und bescheidener Mensch, mit dem dichtesten Wald und dem kleinsten Stück Wiese zufrieden, gleichsam nur mit einer Handvoll, so daß die andern gutmütig spotteten: »Die Ellen-Hub!« Oder war es so, daß jener Siedler der Schwächste gewesen, und da die Starken seit jeher sich auf Kosten der Schwachen bereichern, hatten sie ihn in den äußersten Waldwinkel gedrückt und zur vollbrachten Beraubung die Verachtung dazugegeben: »Der Ellen-Huber!« Endlich behaupteten einige, ein Vorfahr habe gern von seinem steinigen Acker her den Leuten zugerufen: »Elle vor Elle! Nur nicht nachgeben!«, und die Spitzzüngigkeit, die hier so recht daheim ist, soll daraus den Hausnamen gemacht haben.
Aber sei dem wie immer, man kann ruhig annehmen, daß dieser Hof seit undenklichen Zeiten auf der Hügelkuppe lag, die Front dem Sonnenaufgang zugekehrt, geduckt, breit, einladend, zweckmäßig vom Eckstein bis zum Giebel, mit seinem Obstgarten, seiner Waschküche, Brechelstube und Bienenhaus. Und wenn man glaubte, hier wär es mit Stall, Scheune und Strohöse zu Ende, so kroch aus ihnen wieder Dach an Dach hervor und schützte notwendiges Lebensgut, Schindel und Scheiter, Knüttel und strohgebundene Bündel gelbleuchtender Scharten. Dieser Hof war zweifelsohne nicht anders aus der Erde gewachsen als etwa die Buchen und Eichen seiner Umgebung, alles an ihm diente seinem bestimmten Zweck, und darum ging wohl auch solche Ruhe und Befriedigung von ihm aus. In den Fenstern leuchteten Pelargonien und Levkojen.
Über dem Eingang stand zu lesen: Dieses Haus haben neu erbaut Jakob und Brigitta Ellenhub 1830 anno domini.
An dem Zeitpunkt, da unsere Geschichte anhebt, stand der Zeiger der Sonnenuhr an der Hauswand auf der Zahl zehn. Etwas Verschlafenes lag über dem Hof. Auf der Hausbank, längs der Vorderseite, lehnten Zinngeschirre; sie glänzten, als wären sie aus Edelmetall. Vor dem Tenntor drehten sich Schopftauben, mit gleißenden Flügeldecken, silberfarbene Lerchtauben marschierten, in 10 aufgeblähter Eitelkeit, auf der Göpelstange hin und wider, und unter den Obstbäumen gingen Hühner mit leisem Singen durch das Gras. Und über diesem Singen lag das feine, metallene Schwirren honigsammelnder Bienen und das rebellische Gebrumm großer Waldhummeln.
Eine weibliche Gestalt, die jetzt unter die Haustür trat, sah scharf in den Sommermittag hinaus. Sie konnte nicht viel älter als zwölf oder dreizehn Jahre sein. Aber etwas Eigenes war um sie, das im Gegensatz zu ihrer Jugend stand, nämlich ein tiefer Ernst.
Sie nahm ein großes Zinnschaff und stellte es unter den Wasserstrahl, der aus einem plumpen Holzrohr mit einer eisernen Zunge floß. Da Hochsommer war, lief der Brunnen sehr klein. Das Dirnlein holte also eine Schüssel mit einem Brotlaib, setzte sich auf die Bank und zog mit einem Messer papierdünne Schnitten herab.
Ein riesengroßer Schatten, ungestalt, als stamme er von einem Urwelttier, fiel über den blumenbestickten Plan, und ein Pferd, ein leichter, fast zierlicher Brauner, stapfte auf die kleine Hausmutter zu. Sie tätschelte ihm den Hals, aber der bezottete Kopf drängte an ihr vorbei gegen die Schüssel und zog mit den schwulstigen, behaarten Lippen einige Brotschnitten in sein Maul. »Geh, Bräunl«, sagte sie und zog die Schüssel weg. »Tu grasen! Das Brot ist für die Menschen.«
Das Wasser schoß in dünnen Wellen über den Rand des Schaffes, und das Mädchen trug es ins Haus. Es kam gleich wieder, mit einer ahornen Schüssel, ließ einen Lockruf hören und streute Weizenkörner aus. Von allen Seiten lief die Tierwelt des Hofs herbei, sich überstürzend, fallend, und selbst die fremde, die der Spatzen, Amseln und Finken, war über die Bedeutung dieses Rufs nicht im Zweifel. Es war ein richtiges Wettlaufen und so komisch anzusehen, daß die kleine Bäuerin in ein Gelächter ausbrach. Besonders die Enten waren keine tüchtigen Renner, sie fielen, überkugelten sich, den Hühnern ging es nicht viel besser, bis nach einer aufregenden Minute das ganze Geflügelvolk versammelt war. Die Hennen zeigten sich schamlos gemein; gefräßig blieben sie mit ihrem Schnabel am weizenbesäten Boden kleben, während der prächtige Hahn sich nur ab und zu beugte, um dann den Kopf sofort wieder in seine unvergleichlich stolze Haltung zu erheben. – Nein, dieser Hahn! Diese Federpracht, diese Farben, und leibhaftig zum Bücken und 11 Fressen zu stolz! – Eine Handvoll Körner prasseln gerade vor seinen Füßen nieder; er pickt zwar, aber mit zuckenden Bewegungen, als müßte er, wider seinen Willen, sich dazu zwingen. Unter den Tauben, wo auch die Täubinnen ein sanftstolzes Wesen beibehielten, war ein Paar schneeweiße; davon setzte die eine sich auf die Schulter der Fütterin, und die andere faßte gar auf dem Schüsselrand Posto.
Dies Bild wurde durch ein mörderisches Geschrei zerstört. Ein Kind kam über den Anger gelaufen, hielt eine Hand mit solchem Entsetzen von sich, als ob's von einer Natter gestochen worden wär, und schrie: »Mena! Mena!« Es hatte sich aber nur einen Schiefer eingezogen, und der Schmerz davon setzte es außer Rand und Band. Sein Brüllen lockte ein Kind nach dem andern herbei, bis die Schüsselträgerin von einer ganzen Gruppe kleiner Menschlein umgeben war. Aber nun die Blessur behandeln lassen, das war rein unmöglich, ja, wenn es nur den Finger herzeigen sollte, brach es schon wiederum in ein Angstgeheul aus. Versprechungen auf der einen Seite, Aufbauschung der Gefahr auf der andern, Himmel und Hölle wurden in Bewegung gesetzt, um die jüngste Ellenhuberin für die unerläßliche Operation standhaft zu machen. Aber während noch alle auf den wehen Finger sahen, hielt die Mena schon triumphierend die Nadel mit dem winzigen Holzsplitter in die Höhe. Und da sie das »große Dirndl« wegen ihrer »tapferen Haltung« liebkoste, hätte auf einmal jedes irgendein Wehtum gehabt, an allen möglichen Stellen, wenigstens sollten das Zopfband gebunden oder die Hosenträger gerichtet werden, die immer falsch eingeknöpft waren.
Plötzlich wandte sich der ganze Haufen dem Eingang zu. Ein winziger Bub in einer überweiten Hose schleppte ein paar Röhrenstiefel, fast größer als er selber, über das Pflaster. Ein Schreck durchfuhr die Geschwister. Die Mena packte die Stiefel und warf sie durch das offene Fenster in die Stube hinein.
Auf der Straße unten klapperte ein Weiblein in Holzschuhen vorbei, das Wichtl-Weibl, eine alte Bauerndirn, und wie sie der Kinder ansichtig wurde, krähte sie: »Mein Herr und mein Gott, neun arme Waisenkinder! Gott steh euch bei!«
Der Stiefelträger flüchtete auf den Schoß Menas. Diese saß eine Weile starr und unbeweglich. Sie hatte früher öfter schon irgendwo die paar Wörtlein gehört: Die armen Waisenkinder! Doch waren sie 12 ihr, und was etwa Dunkles dahinterstecken mochte, nicht anders erschienen als ein Spiel, eine Neuheit im Alltag. Aber nun kam ihr der Inhalt zum vollen Bewußtsein: sie selbst war es und ihre Geschwister! Woher kam auf einmal dieser Schreck? – Die Natur rings konnte es nicht sein; da war ein Blühen und Prangen, ein Sonnenspiel und Farbentanz, nein, die Ursache dieses Schreckens kam aus dem eigenen Innern, aus dem Blut. Und von diesen Blutschauern überrieselt, schluchzte sie plötzlich auf. Die Geschwister standen verwundert. Es schien ein härterer Fall zu sein als der vorige mit dem Schiefer, das merkten sogleich alle; sie schmiegten sich furchtsam an die große Schwester. Ein dunkler Fittich streifte fühlbar die Ellenhuberische Nachkommenschaft, ein grausamer, herzerschütternder . . . 13