Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Epilog

Mit der Mena ging in der folgenden Zeit eine starke Veränderung vor. Sie hatte manches verloren: Ellenhub, den Ähnl, ihr Kind, die Schwester, den Toni, den Bruder; es war inzwischen zur Gewißheit geworden, daß Gang gefallen. Die Beziehungen zu den Menschen, die Geschwister nicht ausgenommen, hatten sich lockerer gestaltet. Auch war sie keine Bäuerin und keine Frau geworden, wie sie früher öfter geträumt; und sie wunderte sich darüber.

Bei dieser Selbstbeschauung stellte sie auch, mit einer leisen Erschütterung, den Umstand fest, daß sie alterte. Sie zählte die Falten in ihrem Gesicht und fragte sich: Was ist das nur, was die Menschen Schicksal nennen? Was und wer macht es? Hab ich eigentlich vom Leben etwas gehabt?

Allmählich befreundete sie sich auch mit dem Altern. Sie fand, wie fast bei allen Dingen, die eine bittere und abschreckende Schale haben, auch hier einen süßen Kern. Sie begriff die unerbittlichen Gesetze, die unsere Welt regieren. Es geschah dabei weiter nichts, als daß ihre kleine, egoistische Vernunft in der großen Allvernunft sich auflöste. Sie erwog, wie lange sie noch arbeiten mußte, um sich ins Altenteil setzen zu können. Arbeit war schön, besonders wenn man jung war; aber sie entdeckte, daß es noch etwas Schöneres gab: frei und ledig zu sein und ganz sich selber zu leben! – Sie hatte es immer gehört: ein »lediger Mensch« hat den Himmel schon auf der Welt!

Zu Maria Lichtmeß mietete sie ein Logis, zu dem eine kurze, überdachte Holztreppe hinaufführte. Eine Bauernstube, wenn auch kleiner, mit jener Einfachheit ausgestattet, die den Menschen so beruhigt, weil sie ihm allein so notwendig ist. Ein Kachelofen, eine Bank ringsum; ein Tisch, ein paar Sessel, vier Fenster mit rotgeblumten Vorhängen, Nelken und Georginen; und ein Ausblick auf den Dorfplatz, wo es immer etwas zu sehen gab. Da stand ihr Kasten; die roten Nelken darauf, die blauen Vergißmeinnicht schienen wirklich aus dem grünen Wiesengrund hervorzublühen. Da 431 war ihr Ölstock; das Messing war ein dankbares Metall; es glänzte immer wieder eine geraume Weile so hell, wie damals an jenem Kirchtag, wo sie ihn, zitternd vor Freude und Glück, in ihren Pack gesteckt hatte. Und neben dem Kasten hing ihre Uhr, für deren Ankauf sie lange gespart. Das Zifferblatt war mit Blumen bemalt, der Perpendikel aus Messing, und an einer ebensolchen Kette hingen gerippte Eisengewichte. Da war weiter ihr geliebtes Spinnrad, und es galt nur noch, die vier Klafter Buchenscheiter zu bestellen, um gelassen das neue Leben beginnen zu können.

In der ersten Zeit überfiel sie mehrmals eine gedrückte Stimmung. Es kam ihr vor, als ob für sie die Jahre begännen, wo der Mensch vom eigentlichen, warmen Leben abscheidet. Von den Männern hatte sie bereits Ruhe; und auch sie empfand umgekehrt gegen das männliche Geschlecht Gleichgültigkeit, ja eine leise Abneigung, die sie aber nicht hegte, sondern wie vieles in ihrem Leben links liegen ließ. Aber was sie auf der einen Seite verlor, gewann sie auf der andern. War sie einstens, als der Tischler ihren Kasten gebracht, in die Klasse der Beachteten und Besitzenden eingetreten, so trat sie jetzt in die noch viel höhere Klasse der Freien und Beschaulichen. Zeit haben, viel Zeit haben, dahin strebte insgeheim jede Faser ihrer Seele, das war so ihr innerster Zug und ihr letztes Sehnen. Dazu kam das Spinnen. Obgleich es sich nicht mehr recht rentierte, liebte sie diese Arbeit besonders. Sie rückte ihr Spinnrad ans Fenster, so daß sie bequem das Dorfleben beobachten konnte.

Das Spiel »Kalt und Warm« ging in ihrem Traum vorbei, der Tambour Sindnochsiebendrin schlug die Trommel, und die Spieldose klang. Sie hörte die singende Stimme des Ähnls: Fiktum, faktum, spricht der weise König Salomon . . . hörte das Krachen der Dachsparren, sah das Flackern der geweihten Kerze bei Gewittern; das Aufblühen der Blumenfelder im Lanzing, hörte die Maultrommel surren, lebte auf dem Haginghof; Lix stieg in ihre Kammer, und Toni. Sie sah die roten und weißen Hahnenfederchen auf den Strohhüten baumeln und versank in die unheimlichen Abende der Kletzlianer.

Manche Gestalten, zu denen sie Zuneigung gehabt, waren verschwunden. Sie wurden grau und krumm, und eines Morgens sagte jemand: »Mena, weißt du schon, der und der ist gestorben!« Sie 432 versank in ein schmerzliches Grübeln, aus dem sie keinen Ausweg zu finden vermochte.

Spaß machte es ihr, als sie eines Tags gewahrte, daß der Haginghofer gerade ihrem Ausguck gegenüber, sein Austraghaus baute. Es setzte dabei viel Ärger ab; der Grund gab immer nach, ja schließlich stießen sie auf eine Quelle, so daß sie den Bauplatz verschieben mußten. Auch gab es viele Zänkereien mit den Handwerkern, und mancher Possen wurde dem Haginghofer von seinen Neidern und Gegnern angezettelt. Wenn er nach dem Bau sah, zündete er sich unter ihrer Altane seine Pfeife an und redete aufgeknöpft: »Grüß Gott, Mena! Ja, so ein Hausbau, das ist ein Problem! – Gelt, du hast dir ein sonniges Logis ausgesucht und bist schon in Ordnung! Da sind wir Nachbarn. Ich glaub, wir werden uns nicht streiten, was? – Dazu sind wir beide viel zu gescheit.« Er lachte; aber dann war es wieder, als ob der unsichtbare Glassturz sich über ihn herabsenkte. Sie begriff auf einmal ganz, daß man zwar in seinen jungen Jahren keinen solchen Glassturz haben durfte, aber später jeder Mensch eines solchen bedarf, damit das feine Gespinst der ureigenen Seele vor dem Zerbrechen bewahrt werde. Und je älter ein Mensch wird, desto mehr verdickt sich dieser Glassturz von selber; die Seele kristallisiert sich langsam ein, für den längsten und tiefsten Schlaf, den Zauberschlaf in der Erde.

Es bereiteten sich indessen größere Dinge vor, die alle ohne Ausnahme angingen. Überall redete es sich herum, daß eine neue Glocke eingeweiht werden sollte. Auch eine Sammlung war im Gang, und man erzählte sich, daß der Bräu hundert, der Haginghofer fünfzig, der Krämer Lambert zwanzig und das Wichtlweibl einen Halbgulden gegeben hätten.

Die Mena dachte eben darüber nach, was sie geben sollte, als auf ihrer Holzstiege ein Gepolter losbrach. Sie hatte sich so eingewöhnt, daß sie immer feststellen konnte, welche Füße da herauftrommelten; aber diesmal ließ ihr Gehör sie im Stich. Es traten ein: der neue Vorstand, ein junger Bauer, der Pfarrer Gries und zwei Ausschüsse. Der Pfarrer sagte: »Mena, laß dich in deiner Arbeit nicht stören! Wir wissen wohl, daß du nicht nur die fröhlichste, sondern auch die fleißigste in der Gemeinde bist. Ja – und jetzt ist also die neue Große Glocke glücklich zustand gekommen. Jedes hat sein Scherflein beigetragen: Aber wir suchen noch eine Glockenpatronin!« 433

Die Mena begriff die Ehre, und es ging ihr des Ähnls Erzählung durch den Sinn, wie die Ähnl im Stuhl der Glockenpatronin gesessen und der Geistliche immer extra seinen Segen dorthin gesandt hatte; aber es fiel ihr auch ein, daß damit eine große Ausgabe verbunden war. »Hochwürden«, sagte sie, »es wird doch noch andere in der Pfarre geben, die für so eine Ehre mehr passen.«

»Vielleicht«, meinte Gries, »aber das Glockenpatronat ist seit undenklichen Zeiten bei den Ellenhubern gewesen.«

Ihr Gesicht wurde ernst. »Dann will ich, in Gottes Namen, die Sach annehmen«, sagte sie.

Der Pfarrer schnupfte und bot die Dose seinen Begleitern, und endlich der Mena, die zum erstenmal in ihrem Leben ihre Nase in Schnupftabak steckte, oder vielmehr den Tabak in die Nase. Sie mußte ein halbdutzendmal niesen. – Der Männer kräftiges »Zum Wohlsein« dröhnte und ihr Lachen hinterdrein. Dann schüttelten die vier Besucher ihr die Hand und tappten durch das Vorhaus und die Stiege hinab.

Als sie gegangen waren, dachte die Mena: es war doch schön, daß die vier angesehensten Männer der Gemeinde eigens zu mir auf Besuch gekommen sind und die Leute in den Fenstern und Türen neugierig die Köpfe gereckt haben.

Der Haginghofer stand vor seinem neuen Haus und steckte eine Miene auf, die er zur Schau trug, wenn ein spöttischer Seitenhieb von ihm zu erwarten war. »Glockenpatronin werden«, hub er an, »das ist eine schöne Sach! Ist aber ein Problem! Weil das dicke Ende gewöhnlich erst nachkommt. Zahlen heißt es, zahlen, bis man schwarz wird! Dreihundert Gulden sollen noch ungedeckt sein.« Er blickte lauernd in Menas Gesicht, welchen Eindruck diese Eröffnung wohl auf sie machte. Aber sie blieb ruhig. »Das hab ich mir gleich gedacht«, sagte sie. »Bin ja auch kein heuriger Hase mehr. Aber ich denk mir so: Mich hat ja nie im Leben ein besonderes Unglück getroffen; hat nun der Herrgott so viel für mich getan, kann ich auch etwas für ihn tun.«

Der Haginghofer hatte sich eine kleine Seelenweide holen und sich über ihren Schreck belustigen wollen, sich aber verrechnet. Er sagte: »Ja, ja, der Stolz regiert die Welt! Aber, Mena, sei vorsichtig! Der stolze Mensch kriegt leicht einen Dämpfer, sogar der Kaiser hat einen abgekriegt!« 434

Sie rief ihm nach: »Schön Dank für den Rat!« und dachte: – Den Dämpfer hast auch du bekommen, damals, wie dein Lixl in die Geldtasche gegriffen hat.

Soweit wär alles gut gewesen, wenn die Sorge um den Bruder nicht auf ihr gelastet, bis eines Tages der Herr Archivar in die Stube trat und ihr ein Zeitungsblatt mit der Amnestie überreichte. Er wußte auch, daß Vestl, nach dem Zusammenbruch der Bewegung, seine Zuflucht beim Förster Purgstaller gefunden hatte. Ihre Freude hierüber war groß. Sie machte sich auf der Stelle marschfertig, um den Archivar bei der Überbringung der Botschaft zu begleiten.

Es war am zweiten Sonntag nach Josefi, ein selten schöner Märztag, als beide die Hügel hinanschritten. In den Ställen brüllte das Vieh. Die Miststätten dampften in der Morgenfrische. Man hörte Sensendengeln und Juheien. Die Erde schien sich wenig oder gar nicht um die Nöte der Welt draußen zu kümmern. Mit ihren Farben und Quellen und Singvögeln und segelnden Wolken nahm sie an nichts teil, ja, es dünkte einem zuweilen, als ob sie sich, je höher der Menschenjammer unten stieg, desto köstlicher hier oben entfaltete. Hie und da standen an den Hausseiten, wo das Kleinholz aufgeschichtet war, ein alter Bauer, eine Bäuerin oder Kinder; sie atmeten nicht nur mit der Lunge, sondern mit jeder Pore des Körpers die sonnenwarme Lanzingluft ein. Sonst begegneten sie keinem Menschen. Der Wind bauschte Menas Röcke; alles wallte und hob sich an ihr, und ein seltsames Lächeln, das sich wohl auf ihren Begleiter bezog, verschönte ihre Züge. – Jung bin ich nimmer, dachte sie, aber alles, was ich seh und hör, freut mich.

Auf der Anhöhe trafen sie die Ewig-Gerechtigkeit. Sie ging mit stumpf bohrendem Blick den Wiesenrain entlang; wahrscheinlich suchte sie Märzenveilchen. Sie war, wie die Mena zu ihrer Erschütterung feststellte, schneeweiß und sichelkrumm geworden. – Wie geheimnisvoll ist das Leben! Daß jener Peter noch lebte, der einst, in ihrer trübsten Stunde, vor ihr getanzt hatte! – »Lebst du auch noch?« fragte sie.

Peters Mund umspann ein Lächeln. »Die Ewig-Gerechtigkeit kann nicht gar so leicht sterben«, sagte er.

Der Archivar klopfte ihm auf die Schulter und ließ dabei geschickt einen Silbergulden in seine Rocktasche gleiten. »Was hältst du von den letzten Ereignissen, Peter?« fragte er. 435

»Ja, mein Gott, Herr Archivar, die letzten Tage sind in meinem Steinbruch die Schnecken im Gänsemarsch angerückt; da kommt allemal ein Landregen.«

Der Archivar lachte. »Ich meine die Weltereignisse, die Revolution!«

Der Kalkbruchpeter blickte finster. »Komödie und Narretei!« sagte er. »Die Leut meinen, sie könnten die ewig Gerechtigkeit betrügen, Kummer und Not aus aller Welt schaffen und ein Schlaraffenland gründen? – Der Bräu, der Lambert, der Haginghofer: jeder hat seinen Nagewurm! Der Herrgott gibt jedem sein Teil. Der Pfau hat ein Prachtgewand, aber seinen Gesang hält kein Teufel aus. Die Nachtigall ist grau wie ein Spatz, aber wer sie singen gehört hat, vergißt es sein Leben lang nicht.«

Die Ewig-Gerechtigkeit humpelte weiter, und der Archivar sagte: »Das ist ein Mensch, von einer Art, die hier nicht selten ist. Eine Wortverbindung, vielleicht nur ein Wortklang, haben es ihm fürs Leben angetan. Solch ungeheuerliche Einfältigkeit ist ein Rätsel.«

Das Forsthaus lag inmitten eines bachdurchflossenen Waldtals. Unregelmäßige Flecken von Schneeglöckchen leuchteten auf den Wiesen, und die Bäume widerhallten vom Gesang der Vögel. Silvester fütterte unter den Obstbäumen ein zahmes Reh. Der Archivar reichte ihm das Zeitungsblatt. »Ich laß dich mit deiner Schwester allein«, sagte er. »Ich bin nämlich, in zweiter Linie, wegen eines Kaiserbildes gekommen, das hier bei einem Bauern hängen soll.«

Bruder und Schwester gingen in die Flur hinaus. Sie fragte nach seinem Befinden. – »Ich habe keine rechte Freude mehr am Leben«, meinte er. »Bin müde geworden, so müde, daß ich nichts sehnlicher wünschte, als das zu sein, was meine Vorfahren waren: ein Ellenhuber!« Sie suchte ihm Trost einzureden, spürte aber, daß es ihr nicht recht gelang. Er erkundigte sich nach den Geschwistern, Verwandten und Bekannten, und sie kam ins Erzählen. Mit diesem Erzählen und der bäuerlichen Welt, die sie wiedergab, schien sich auch seine Verbitterung zu lösen. Er fragte und fragte, und sie kamen vom Hundertsten ins Tausendste.

Der Förster mit dem Archivar holte sie ein. Er ging auf die Mena zu und drückte ihr warm die Hand. Der Archivar sagte: »Ellenhub, weißt du, daß ich deine Bauerndynastie in meiner Chronik ausführlich erwähnt hab? – Das Leben eines jeden Geschlechts ist ein 436 ununterbrochen abrollendes Band, mit tief bedeutsamen Bildern, und der große Weber beugt sich von Zeit zu Zeit nieder, um zu prüfen, was aus seiner Arbeit geworden ist. Eben haben wir auf dem Weg hieher die Ewig-Gerechtigkeit getroffen und gelacht, wie alle über diesen Menschen lachen. Aber es ist durchaus noch nicht ausgemacht, ob nicht hinter allem Leben trotzdem jene Waage steht, von der in einem Lied Schierings die Rede ist, jene Waage, auf der Leid und Freud allen Menschen sorgfältig abgewogen und zugemessen wird, ohne Beigabe und Abzug; nach einem Mysterium, das wir zwar ahnen, das sich aber unserem Verstande entzieht und vielleicht ewig entziehen wird.«

»Gesetzt also«, fragte der Förster, »der Kalkbruchpeter hätte recht und das Lied hätte auch recht: was wär dann?«

»Dann ist die Menschenseele unsterblich«, sagte der Archivar. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Und dann steht der Welt ein neues Menschenreich und ein neues Gottesreich bevor.« Er wandte sich herum. »Was sagt unsere Mena zur verflossenen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?«

Sie meinte: »Ich hab dieser Sache nie recht getraut. Wann ich meinem Herrn gut dien, muß er mich gut halten; kein Mensch kann seinen eigenen Schaden wollen. Wenn ich seinen Nutzen und seinen Schaden wahrnehm, als ob's mein Nutzen und mein Schaden wär, möcht ich sehen, ob's mir gut oder schlecht geht in der Welt.«

Der Archivar blickte von einem zum andern. »Da habt ihr die ganze Zeitfrage in einer Haselnuß.« Es berührte Silvester schmerzlich, daß immer wieder sein eigenes Blut sich in seiner Lebensanschauung entgegenstellte, und er äußerte dies auch.

Der Archivar lachte: »Die Weisheit der Bauern ist meist die Weisheit der Natur, also, mit Verlaub zu sagen, doch wohl Gottes Weisheit. Für mich ist's daher kein Wunder, daß die revolutionären Ideen hier, in den endlosen Räumen der Felder und Wälder sich wirkungslos verflüchtigten. Was hätten sie aus den hochgepriesenen Großstadtimporten machen sollen? Wo doch alles hier, angefangen von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, von Winter und Sommer, Geburt und Tod, seinen unabänderlichen Gang geht, und aus allem deutlich eine Stimme spricht: Lasset uns ruhig und gottergeben atmen, essen und trinken, arbeiten und rasten, beten und lieben, leiden und dulden und sterben.« 437

»Du hast Anlage zum Prediger«, schmunzelte der Förster.

»Und was tut der Welt heute mehr not, als predigen? Nicht wer ein Volk am besten aufzuregen versteht, sondern wer ihm die heilige Ruhe gibt, der es zu seinem Wachstum bedarf, gibt ihm das größte Geschenk. Ein Volk hat keine andere Wahl, als eine mit Haß und Auflehnung oder eine mit Liebe und Ergebenheit erfüllte Magd zu sein. Alles andere ist Torheit.«

Sie waren inzwischen beim Oberhauser Lehen angelangt. Drei solche Herren auf einmal zu empfangen, wäre für den Alt-Oberhauser zuviel gewesen, wenn nicht die Mena sich auf seine Seite gestellt hätte.

Freilich, bei der Frage nach dem Bilde wurde er beinahe grob. »Ist nicht feil!« sagte er. »Anschauen lassen, das schon.«

»Besonders wertvoll ist es nicht«, sagte der Archivar. »Aber ich möcht es gern für mein Museum haben. Oberhauser sag einen Preis!«

»Da hängt's und da bleibt's hängen!« war die Antwort.

Der Förster lachte laut.

Der Archivar aber zuckte mit keiner Wimper. Dann sagte er: »Behalt's, Oberhauser!«

Die Besucher bewunderten die Bienenstöcke, die Obstbäume, lobten auch den Trunk selbstgemachten Apfelmostes, den er ihnen auftrug, und gingen dann mit der Mena schweigend den Hügel hinab, bis zu einem Punkt, der eine weite Fernsicht bot. Von hier aus übersah man einen Großteil des Landes.

Der kaiserliche Revierförster Purgstaller lachte nochmals über den eigensinnigen Bauernschädel. Aber der Archivar blieb ernst. »Ich sage zu dem Alt-Oberhauser und seinem Kaiser ja«, redete er. »Hier wird er hängen, mit dem Goldenen Vlies und der purpurnen Schärpe, so lang, bis die Zeit des Jammers vorbeigegangen ist, die Zeit, an der niemand eine Freude hat, nicht die, die mitwirkten, sie zu schaffen, nicht jene, die sie über sich ergehen lassen müssen. Da wird er hängen, sage ich, bis der große Tag anbricht. Denn für mich gibt es keinen Zweifel: Wenn auch die Bewegung augenblicklich zum Stillstand gekommen ist, die Menschen ruhen nicht, bis sie eine bestehende Idee in die Wirklichkeit übergeführt haben. Der Wechsel beherrscht alle Dinge; als ein Einfaches und doch wieder so Vielgestaltiges, als ein kinderleicht Verständliches und wieder ganz und 438 gar Unergründliches. Der Mensch fühlt das köstliche Entzücken, das er birgt; aber, ein rechter Tor wie er ist, achtet er den grandiosen Wechsel der Schöpfung gering und schafft sich einen künstlichen. Sogar ein Zwergengeschlecht kann eines Tages den unterhöhlten Baum des deutschen Kaisertums fällen. Aber seine Wurzeln sind göttlichen Ursprungs, reichen bis zum Mittelpunkt der Erde. Der Volksmythos läßt sich bekanntlich seinen Kaiser auch durch den Tod nicht rauben; er versetzt ihn ins Innere eines Berges, aus dem er einst hervortreten wird als Retter und Befreier. Dieser Mythos ist tief gegründet: Der Mensch kann nur an den Menschen, nicht an ein System oder an eine Theorie glauben – der Mensch ist sein Held und sein Gott.«

Mit einer Handbewegung ins Tal hinaus, fuhr er lebhaft fort: »Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr werde ich darin bestärkt, zu diesem einfältigen Bauern, zu diesem Land und seinem Volk ja zu sagen. Das Leben geht hier seinen Gang, geordnet nach Herkommen und Jahreszeiten; nach Regeln, die aus einer Erfahrung von Jahrtausenden stammen; denn, was sind die Sprüche, Redensarten und Reime, die sich hier von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen, andres als solche Jahrtausendweisheit? – Und wer würde den nicht für einen Erznarren halten, der ein erprobtes Werkzeug darum wegwürfe, weil es schon so lang im Gebrauche sei? – Kann man nicht hier, wo das Leben sich wie in einer großen Familie abspielt, jeden Tag sehen, daß jene, die danach leben, ihren Weg in Heiterkeit und Sicherheit hinwandeln, während andere, die dünkelhaft das alte Weisheitsgut beiseite schieben und auf ihren eigenen Kopf bauen, elend zugrunde gehen. Wir stehen hier auf heiligem Boden. Getrieben durch Hunger, gequält durch Hitze und Kälte, geängstigt durch wilde Tiere, irrte der Mensch durch die Wälder, bis er zu sich selber sprach: Hier wirst du dir vier feste Wände bauen und darin wohnen. Und als der Urwald gelichtet, die Quelle gefaßt war, der erste Weizen reif stand; als der Mensch das Heraufziehen der Wolken sah, das Zucken der Blitze, das Zerreißen des dunklen Vorhangs und den strahlenden Sonnenfächer – in solcher Stunde tat sich sein Mund auf und er sprach ein Wort: Gott! Das hieß soviel als Wunder und Geheimnis. Nicht die Furcht, wie die Neunmalweisen behaupten, die Schönheit zwang den Menschen in die Knie und ließ ihn staunen, das heißt beten. Zum andernmal ließ 439 er ihn staunen, das heißt beten, als er schneeweiß geworden, in die Augen seiner Enkel sah. Keiner seiner Handgriffe, die er im Leben getan, keine Mühe und Plage waren umsonst; von der Vergangenheit geleitet, für die Gegenwart bestimmt, auf die Zukunft gerichtet. Die Menschen hier haben in ameisenartiger Mühe die Erde gefurcht und gekämmt, gefüttert und getränkt, haben Millionen Steine von ihr gelesen, haben sie zu ihrem Ruhebett, Milchbrunnen und Apfelbaum gemacht; und sie wieder, die Göttliche, hat in heimlicher Weise listig an ihnen geformt und gebosselt, und sie so geschaffen, wie sie selber war und ist: warm und weich und kräftig, und wiederum wundersam hart und starr und erbarmungslos. Und – wenn jegliches Ding, lebend oder tot, Mensch und Tier, Wolke und Luft, Stein und Pflanze, ja das Aas am Wegrand, geheime Ströme ausatmet und auf alles, was es umgibt, einwirkt, wie muß dann diese Natur, durch ungemessene Zeiträume, auf die Menschen hier eingewirkt haben? – Und drum ist das, was der Bauer seit urewigen Zeiten am meisten haßt: die Unruhe, der Wirrwarr und der Betrug; und was er seit urewigen Zeiten am meisten liebt: die Ruhe, die Ordnung und die Gerechtigkeit. Er schaut eine Weile dem Spektakel zu, zimmert dann einen handfesten Eichenstuhl, setzt einen tüchtigen Kerl drauf und schreit aus voller Lunge: Vivat unser König und Herr! – Das Königtum wird aus dem Bauernvolk stets aufs neue wiedergeboren. Was mich anbetrifft, hab ich keinen Zweifel, daß aller Leben Inbegriff hier ist, auf diesen Bergen, in diesen Tälern, hinter jenen steinbeschwerten Schindeldächern. Ich sehe schon die Zeit heraufkommen, wo die neue Wunderblüte sich entfaltet, merke schon die ersten Anzeichen; die Urkraft des Lebens, vielfach angekränkelt, kehrt in ihrem Drang zur Gesundheit an die Quelle zurück.«

»Du bist ja ein wahrer Prophet«, rief der Förster lachend. Dann schritten alle vier eine ziemliche Weile schweigend durch die Landschaft. Menas Gesicht verklärte ein schöner Ernst, obgleich sie die Worte nur wie eine Melodie vernommen und vom eigentlichen Sinn kaum etwas verstanden hatte. 440

 

Die Zeit der Aufregungen war vorüber und die Vorbereitungen zur Weihe der neuen Großen Glocke in vollem Gang. Gruppen von Männern und Burschen bildeten auf dem Kirchenplatz Kringel und riefen zu den offenen Fenstern hinein: »Die Ellenhuber-Mena ist Glockenpatronin! – Beim Bräuhausbau soll eine Mauer eingestürzt sein; da haben die Maurer wieder zu tief in den Maßkrug geschaut. – Der Krämer Lambert hat zehn Gulden für das Vergolden des Kirchenhahns gespendet; der kann so was tun. – Dem Pfarrer Gries soll ein Fackelzug gebracht werden!«

Die Mena erwartete zum Fest ihre Geschwister. Und sie kamen auch. Jedes, das allein oder schon mit einem ziemlichen Anhang beim Postwirt in die Gaststube marschierte, wurde mit einem aufrichtigen Jubel begrüßt. Alle waren sie hier; das Brigei, die Lena, der Vestl, der Paul, der Jörgei und der Naz, der wohlbehalten aus dem Krieg heimgekehrt war. Ihre Zurufe schossen wie wilde Tauben durcheinander: »Grüß dich Gott, Mutter Mena! – Grüß dich Gott, Harmonika-Brigei! – Grüß dich Gott, Haginger-Ruschl!« Sie waren es und waren es nicht. Das Alter hatte seine Runen in ihre Gesichter geschrieben. Doch zeigte sich darauf ein Abglanz jener Glückseligkeit, wo sie füreinander nichts, als Mena, Jörgei, Brigei und Naz gewesen waren.

Die Mannsbilder tranken Bier; die Frauenzimmer gesüßten Wein. Eine tiefinnere Freude quoll empor, wie aus einem Urschacht. Es machte die Mena stolz, daß ihr Tisch Aufmerksamkeit erregte. »Ja«, sagten sie, »die Alt-Ellenhuber Leut, das waren rare Menschen! Sind aber lange schon abberufen. Der dort, der Schmalgesichtige, Bleiche, das ist der Ellenhuber Vestl; der hat auf den Barrikaden in Wien kommandiert. Und die neben ihm sitzt, die Breitgesichtige, das ist seine Schwester, die Mena; die war Großdirn beim Bräu. Und der Hagere, mit dem blonden Schnauzbart, das ist der Naz; der war mit dem zehnten Jägerbataillon auf dem Friedhof von Santa Lucia!«

Die Mena gewahrte eine steinalte Bäuerin, die suchend zwischen 441 den Tischen nach hinten ging. Eine Weile wußte sie nicht, wo sie das Weiblein in ihrem Gedächtnis hintun sollte, bis es seinerseits den Tisch der Ellenhuber entdeckte. Es steuerte drauf zu und schrie laut: »Ja, seid ihr's denn wirklich und wahrhaftig? – Grüß euch Gott! Ich bin die Hartinger Bas!«

»Freilich, freilich«, riefen sie und machten ihr Platz, obgleich sie sich nur dunkel an sie erinnern konnten.

Volle vier Stunden war sie über die Waldschneide gewandert, über neunzig Jahre alt. Und jetzt ging ihr Blick die Gesichter entlang.

Dann sagte sie mit einem tiefen Atemzug: »Einmal, vor meinem Absterben, wollte ich noch die Kinder meines leiblichen Bruders sehen.« Und dann hub sie in einem klagenden Ton von dem »armen Gang« zu reden an. Sie holte aus der Tiefe des Kittelsacks eine Geldbörse und sagte: »Fünf Gulden gebe ich zu einer Votivtafel; die sollen mich nimmer gereuen.«

Die Unterhaltung ging gedämpfter. Sie erzählten sich untereinander von ihrem Leben, ihren Familien und ihren Sorgen. Der Mena schien, als ob sie für nichts außerhalb ihres Kreises Interesse hätten, im Gegensatz zur Kinderzeit, wo ihnen jedes Ding und jedes Wesen Staunen und Ergötzen bereitet hatte. Eine Verlegenheit, die sie sich nicht zu deuten wußte, tat sich zwischen ihnen auf. Die Schwestern schienen mit ihren Männern zu prahlen; es war, als ob sie sagen wollten: Siehst du nicht, was wir für Kerle haben, und du? – Mehrmals gab es ihr einen scharfen Stich ins Herz; sie war nicht mehr die Mutter Mena und der geschwisterliche Ring hing scheinbar nur noch lose zusammen.

Dieser Stimmung machte das Verlangen nach den Sängern ein Ende. Die Mena glaubte, damit könnte nur ihre Singergruppe gemeint sein; aber dies war ein große Täuschung. Es hatte sich inzwischen eine neue Singergruppe gebildet. Sie hatten einen Pfeifer, einen Klarinettisten und einen Trommler bei sich, die den Gesang begleiteten.

Der Mena fielen die Stunden ein, wo sie mit den wunderlichen Haushütern unter dem Hollerbusch gesessen und die ersten Lieder eingelernt hatte.

Das »Lied von der goldenen Waag der Gerechtigkeit« weckte sie aus ihren Sinnen. Sowie die Alleinstimme gedämpft anhub: 442

»O Mensch, gib acht:
Der Herrgott lacht . . .«

verbreitete sich Stille. Die Mena und die Geschwister erkannten sogleich neidlos, daß die Sänger ebenso mächtig an die Herzen der Zuhörer rührten, als seinerzeit sie selber es getan hatten.

»O Mensch, gib acht:
Der Herrgott lacht.
Hoch über Mensch und über Zeit
Hängt leuchtend d' Waag der G'rechtigkeit.

Das ist die Waag,
Die Tag für Tag
Wiegt d' Mensch'n außer Welt und Zeit,
Die goldne Waag der G'rechtigkeit.

Geduld und Fleiß,
Das schafft den Preis,
Und Schritt für Schritt, schön langsam, stad,
Wird's allergrößte Feld abg'maht.

Und wie das Feld
So ist die Welt;
Viel Unkraut wuchert, wo viel G'treid,
Und wo viel Freud, da ist viel Leid.

Und Leid und Freud
Hat Maß und Zeit:
Genau so hoch die Waagschal steht,
So tief die ander niedergeht.

O Mensch, gib acht:
Der Herrgott lacht.

Hoch über Mensch und über Zeit
Hängt leuchtend d' Waag der G'rechtigkeit.' 443

Die Geschwister gingen die Dorfstraße hinauf. Eine Weile war es, als ob ein unsichtbares Band sie hinderte, sich zu trennen. Sie redeten von der Ähnl, und es erfüllte sie mit Stolz, daß morgen wieder eine Ellenhuberin Glockenpatronin wurde.

 

Am anderen Morgen, wie der erste Böllerschuß übers Dorf rollte, legte die Mena ihren besten Feiertagsstaat an. Heute nahm sie auch jene Halskette, mit dem schweren Silberkreuz, die seit langem in ihrem Kasten lag; sie hatte es nie recht gewagt, sie öffentlich zu tragen. Für eine Magd schien dieser Schmuck zu kostbar. Aber heute trug sie ihn. Sie erinnerte sich wohl, wie die Haginghoferin sich für den Kaiser ausstaffiert hatte, und sie sollte es nicht wagen, sich zu schmücken für den höchsten Herrn?

Der blumenbekränzte Landauer bewegte sich mit ihr zur Kirche. Hier stand die neue Glocke. Sie war von einer Masse festlicher Menschen umgeben. Man redete über ihr Gewicht, über den Herstellungspreis und las immer wieder laut die Inschrift: »Ich künde Gott wiederum.«

 

Die Mena hörte das Gebet des alten Pfarrers: »Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes . . .« sah, wie die Glocke sich zum Turmfenster hob und darin verschwand. Sie hörte, wie sie anschlug, einmal, zweimal. Dann regelmäßig und endlich voll und ganz. Es schien ihr, als ob sie nicht hier, unter den vielen freudigen Menschen stünde, sondern daheim auf Ellenhub wäre, umgeben von Vater, Mutter, Ähnl, Geschwistern und Geschwisterkindern, umgeben von allen ihren Vorfahren, weit zurück, und mit ihnen auf die Klänge der neuen Großen Glocke lauschte. Etwas Leuchtendes ging durch ihre Seele, vielleicht die Erkenntnis, daß dieser Glockenturm das wahre Lied der Lieder sang, dessen Text lautete: Erhebet eure Herzen und glaubet daran: das Leben ist einfach, liebreich und gut.

 


 


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