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Die Mena bekam, zugleich mit ihrer Beförderung, eine eigene Kammer; das war kein kleines Ereignis! Jetzt nahm sie auch sofort etwas von ihren Ersparnissen und bestellte einen Kasten, einen richtigen Kasten, wie ihn jeder erwachsene Dienstbote hatte. Und was das für ein Kasten war, als er endlich ankam! In zwei Fächer geteilt, links für das Hängen von Kleidern, rechts zwei Abteilungen untereinander, jedes wieder mit einer Schublade, und endlich unten ein Fach, der ganzen Kastenbreite nach. Sie wurde mit dem Bewundern nicht fertig. Jetzt war sie erst ein richtiger Mensch, war eingetreten in die stolze Gemeinde der Beachteten und Besitzenden. Und es konnte im Grunde auch nicht anders sein. Bisher hatte sie sozusagen nur als ein bloßes Naturwesen existiert, wie die Feldblumen, die Falter und die Vögel, war sie, trotz ihrer Arbeit, noch halb zu den Kindern gerechnet worden, hatte keinen eigentlichen Menschenwert besessen. Aber nun war es anders. Sie trat in eine neue Welt und bekam ein neues Selbst. Und sie spürte, wenn sie auf dieses Selbst pochte, daß es hell und metallisch widerklang. Sie verfolgte dies kraftspendende Element zurück bis zu dem Zeitpunkt, wo sie es zum erstenmal kennengelernt. Sie erinnerte sich sehr deutlich daran. In der Erntezeit war es gewesen, daheim, wie der Vater eines Tags beim Heueinfahren kommandiert: »Der Paul zu den Pferden, die Mena zum Futterfassen!« Das Leben hatte gewiß allerlei Ergötzungen, aber jenes Gefühl, mit dem sie damals auf den Leiterwagen geklettert, das war das oberste, der süße Rahm.
Wie sie nun im Vollgefühl ihres neuen Daseins eines Morgens erwachte und die Sonne ihren Kasten mit den gemalten Blumensträußen beleuchtete, rollte es mächtig vor ihrem Kammerfenster. Im schlaftrunkenen Zustand glaubte sie anfangs, es donnerte; aber es war nur das Rollen der Böllerschüsse, die das Echo verzehnfachte. Kann der Herrgott im Himmel donnern lassen, warum sollten wir es ihm nicht gleichtun? dachten die Bauern und freuten sich über den respektablen Donner aus eigener Machtvollkommenheit. 142
Mena schlüpfte in ihren Kittel und lief ins Freie. Es herrschte ein richtiges Kaiserwetter. Ein stahlblauer Himmel schaute auf das Land herab, zahllose Schwalben zogen ihre Schleifen, und von da und dort, von den Hügeln und den Ebenen, von den Wäldern und von der Seeseite rollte der Donner immer wieder, und ihm folgte ein ununterbrochenes Jauchzen. Am Brunnenrand spazierten Tauben, nippten, indem sie den Kopf weit zurücklegten, und bei diesem Anblick kam ihr zum Bewußtsein, daß der Riesenhans bei der heutigen Festlichkeit nicht dabei sein konnte, nirgends mehr dabei sein konnte; und weiter zum Bewußtsein, daß sie damals, vor dem Grab der Eltern, vom Sterben und vom Tod nichts begriffen hatte.
Dann fing sie an, sich eifrig mit dem kalten Brunnenwasser zu waschen. Plötzlich stand jemand hinter ihr: der Schindertoni, in feiertäglich jägerischer Gala. »Teufel noch einmal«, sagte er und suchte ihr das Band aufzuziehen, das ihr Leibchen um den Hals zusammenhielt, »bist du aber hübsch!« Sie schlug ihm die Hand hinab. Er lachte. »Sei doch nicht so spröd! Glaubst du, wenn ich dich ein wenig antapp, kriegst du gleich ein Kind? – Freilich hab ich gehört, es soll unter euch Ellenhuber Weibsbilder geben, die schon schwanger werden, wenn sie sich im Lanzing auf einen feuchten Fleck mit Gänseblumen setzen.«
Die Mena durchdrang eine Freude und ein Stolz, daß fraglos noch eine zweite Welt von Wichtigkeit ihrer wartete, die Mann-Weib-Welt, von der sie schon viel gesehen und gehört, aber persönlich noch nichts erlebt hatte. War aber seltsamerweise doch wieder froh, daß sie gestört wurden, nämlich durch die Ankunft der brüderlichen Schneider Veit und Fabian. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet, und es fiel besonders auf, daß sie auf ihren Hüten kleine brandrote Hahnenfederchen baumeln hatten. Der Schindertoni trat mit einer spöttischen Gebärde hinter den älteren Bruder und versuchte, das Federchen vom Hut zu zupfen. »Das hast du gewiß einem toten Gockel ausgerissen«, sagte er, »weil vor einem lebenden läuft ein Schneider davon.«
Veit fuhr blitzschnell herum, fing den Hut vom Kopf und zog das Federchen zurecht, während der Toni lachend davonging. Veit trat näher und sagte vertraulich: »Mena, tu dich vor dem Menschen hüten! Der hat was Unheimliches an sich. Darüber haben wir schon viel erzählen gehört. Bei einer Hochzeit haben ihn einmal die 143 Gendarmen gesucht. Da sind die Bluthunde hinter ihm her und haben ihn schon fassen wollen; da hat er aus seinem Hosensack ein Bein gezogen, es war ein besonderes Bein! Und die Bluthunde sind neben ihm hergelaufen wie fromme Lamperln!« Veits Gesicht wurde lang und ernst.
Wirklich eine unheimliche Sache, aber zum Grübeln war jetzt keine Zeit. Sie folgte dem Ruf des Wichtlweibls, das bereits in der Kammer auf sie wartete, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein. Sie sog besonders heftig an den strichdünnen Lippen, schnalzte und gab ihr, weil sie eben Zeugin der Brunnenszene geworden war, Verhaltungsmaßregeln bezüglich der Männer. »Der Pieringertoni ist ein Großtuer und Geldverschwender.« Und daran knüpfte sie ihr Gesamturteil über die Mannswelt. »Büffel sind sie! Die meisten von ihnen haben keine Ehr und kein Gewissen im Leib. Sie schmeicheln sich an uns Weiberleute heran, und wenn sie eins tüchtig abgeklaubt haben, lassen sie sich nimmer anschauen. Im Handumdrehen machen sie einen unglücklich, die Lumpenhunde! Narren, Dummköpf, Fresser und Säufer sind sie! Faulenzer und Schlafhauben. Das Schönste ist der Spruch: Ein Mensch allein ist ein goldner Stein . . . Wann ich ganz aufrichtig sein will, viel besser sind auch die Weibsbilder nicht.«
Und wieder sprang sie auf den Schindertoni zurück. »Ja, ein schöner Mensch ist er! Und Geschichten gibt's über ihn! Der Pfleger zu Neumarkt soll gesagt haben: In meiner Pflegschaft müßte man vor Langweil sterben, wenn wir den Schinderbuben nicht hätten.«
Gott weiß, wie lang diese Belehrungen noch gedauert hätten, wenn man nicht nach der Mena gerufen. Sie mußte in die Stube, um sich bei der Bäuerin anschauen zu lassen. Die zwei Schneider, der Vize, der Schieringhies und der Maler Peregrin saßen um den Tisch; die beiden letzteren befanden sich in einer sehr heiteren Stimmung. Der Maler schwenkte einen gefüllten Geldbeutel hin und her; seit vielen Jahren hatte er nicht so viele Aufträge bekommen, als in den letzten Monaten; Renovierung von Kapellen, Streichen von Haustüren, Fensterläden und Gartenzäunen. Sosehr er auch seine Kunst liebte und zuweilen die feinsten Votivtafeln malte, strich er doch auch, mit der gleichen Munterkeit, seine Farben auf Holz und Blech. Schiering war ebenfalls fröhlich; er hatte für die Kaiseransprache etliche Kronentaler erhalten. Der 144 Lanzenreiter trug sein gewohntes pfiffiges Lächeln zur Schau und behauptete, froh zu sein, daß er nicht der Vorstand war und hübsch weit hinten stehen konnte, mit der Aufgabe, das respektable Parapluie des Bauern bereitzuhalten.
Als die Mena eintrat, richteten sich die Augen dieser Mannsbilder ein halbes Vaterunser lang auf sie. – Was prangte, blühte und lachte da vor ihnen im schneeweißen Kleid mit der himmelblauen Schärpe? – Sie brachen alle in ein »Ah!« der Bewunderung aus. Der Vize aber, dessen Bosheit darauf lauerte, ihr den letzten Schlag zurückzugeben, rief: »Mena, gibt acht! Als Haushüterin freilich, da kannst du dem Teufel selber standhalten, aber vor dem Kaiser! – Der Kaiser hat nämlich die Gewohnheit, eins der weißen Mädchen anzureden, ja, und so ein allerhöchster Herr hat einen feinen Spürsinn und wählt sich eine, die das gescheiteste Aussehen hat, damit er keine dummen Antworten kriegt. Und das bist eben du! Ist's nicht so, Männer?«
Sie bekam Angst; sie sah hilfesuchend von einem zum andern, aber das Blinzeln des Schieringhies löste ihr Lachen aus. Und der Eintritt des Haginghofers machte dieser Szene radikal ein Ende.
Die Hofleute hätten sich gefreut, wenn irgendeine Aufregung an ihm wahrzunehmen gewesen wäre, aber er hatte auch heute die gewohnte Maskenhaftigkeit. Mit einem deutlichen Stich zur Wohlgelauntheit begann er mit jener Ruhe, womit der Riesenhans immer seine Schecken angeschirrt hatte, sich selber anzuschirren, Stück für Stück, wobei er durch Zurufe die beiden Schneider zur Darreichung der Kleidungsstücke aufforderte. Zuerst schlüpfte er in die Hirschlederhose; sie verengte sich nach unten sehr und wurde über den Gelenken mit dünnen Riemen gebunden. Vorn hatte sie ein veritables Türchen, das mit einem blauen Lederzwirn in ornamentalen Linien ausgenäht war. Dann kam der überaus prächtige Gürtel; er war aus feinem gelblichen Leder, schlauchartig, da er bei Viehmärkten und ähnlichen Anlassen zuweilen einen Haufen Geld bergen mußte; vorn durch ein auf die Spitze gestelltes Rechteck, mit Elfenbeinblättchen ausgelegt, geschlossen. Auch das Leibl wurde allgemein bewundert; aus violettem Samt, trug es, knapp nebeneinander, so daß man keinen Finger dazwischenlegen konnte, gebuckelte Silberknöpfe. Den lichtblauen Seidenschlips durfte ihm die Mena binden. Sie tat es, und zwar mit einer flotten Masche nach außen, wie 145 es die jungen Leute trugen; aber der Haginghofer lächelte und stopfte die beiden Enden mit seinem dicken Zeigefinger brummend in den Westenausschnitt. Das Meisterstück war der Rock; lang, wie ein Mantel, von dunkelbrauner Farbe, und von zwei dichten Reihen noch größerer Silberknöpfe besetzt. Wie aber, es ist kaum auszudenken, der Haginghofer hineinfuhr, tat es einen vernehmlichen Krach. Und dieser Krach war so stark, daß nicht nur die Schneider, sondern alle Anwesenden erschraken. Veit und Fabian liefen im Kreis, eifrig spähend, aber es war nicht das geringste zu sehen, und es mußte wohl nur eine innere Naht geplatzt sein. Der Haginghofer brummte: »Der Zwirn wird halt nicht von der besten Sort sein. Die Stiefel, Vize!«
Der Vize gab den beiden mächtigen Röhren eben den letzten Glanz, der mit jeder Art Weltglanz ruhig konkurrieren konnte; er selber glänzte auch über das ganze Gesicht, offenbar war er, der hier eine Art Gnadenbrot genoß, durch seinen Spitznamen nicht beleidigt, sondern eher geschmeichelt. Es lag ja eine besondere Vertraulichkeit darin, wie der Haginghofer, während er in die Stiefel rutschte, fortfuhr: »Und schwanz dich auch fein zusammen, damit du mit dem Parapluie zur Stelle bist! Sollte es aber nicht regnen und sollte ich vielleicht einen Sonnenstich kriegen, dann kannst du mich vorm Kaiser vertreten.«
Die ganze Stube widerhallte vor Lachen; der Vize strahlte vor Vergnügen und Stolz. Vielleicht war ihm bei diesem Avancement am Ende seines Lebens längst die etwas boshafte Erkenntnis zuteil geworden, die bisweilen das Spiel des Lebens durchschaut, fühlt und begreift, ohne es aussprechen zu können, daß der große, aufgetakelte Vorstand und der kleine Vize im Grund genommen dasselbe Maß an Freuden und Leiden zugeteilt erhielten, und daß sie über dieses Maß, sie mochten sich stellen, wie sie wollten, nicht hinauskommen konnten.
Wie immer, er hinkte jetzt lachend mit dem Ulmerkopf und dem Parapluie herbei, welches zwei ausnehmend schöne Stücke waren. Das Regendach verdiente seinen Namen; der derbe rote Stoff und die messingbesetzten spanischen Rohre versprachen sicheren Schutz vor jedem Wolkenbruch und seine langwährende Dauer. Und die Pfeife aus dunkelbraunem Holz, nach unten wie ein Helmbügel geformt, mit einer Deckelkrone aus gekraustem Silber, einem 146 vielkraneligen Hirschrohr und einem Bündel fadendünner Silberketten blieb in keiner Hinsicht zurück. Diesen formidablen Pfeifenkopf stopfte der Haginghofer, zwinkerte im Rauch und fragte: »Ja, wo bleibt denn die Bäuerin so lang?«
Aber, da war sie schon. »Fein, fein!« sagten die Schneider, und wie ein Echo ging es durch die Stube: »Fein, fein!« Sie trug einen dunkelblauen, weitfaltigen Kittel, dessen Saum fast die Schuhe berührte; eine violettseidene Schürze, die bei jedem Schritt knisterte; über die Büste ein kreuzweise geschlungenes helles Tuch; auf dem Kopf ein schwarzseidenes mit großen Flügeln, und eine vielgliederige Halskette mit einer goldenen Schließe. Das Echo: »Fein, fein!« ließ sich noch einmal hören, als eine Gruppe Bauern aus den Nachbargemeinden eintrat. Sie sagten zur Haginghoferin: »Ja, himmellaudon, du wirst ja alle Jahr jünger, Bäuerin!« Und dann zum Haginghofer: »Was wahr ist, ist wahr: du kannst dich anschauen lassen.«
Die Klänge zahlreicher Musikbanden ließen sich hören, ohne Unterlaß rollten die Böllerschüsse, und auf den Gesichtern der Menschen lag ein Festjubel ohnegleichen. Feste feiern, das war so richtig eins ihrer Hauptelemente; da drin schwammen sie, wie die Fische im Wasser. Der Kornschnitt, von drei Uhr früh an, wo der Schweiß wie ein Brünnlein von der Stirn tropft und die Hemden so naß werden, daß man sie auswinden kann, und dies festliche Nichtstun, Marschieren und Jubilieren, Essen und Trinken, daß man um Mitternacht nicht mehr wußte, ob man ein Männlein oder ein Weiblein war, das war von einem ganz großen Reiz. Der Peter vom Kalkbruch stampfte vorüber. Er trug den Schoßrock vom Bräu und einen flatternden Schlips. »Daß es heut so mirakelhaft schön ist, zum Kaisertag, das ist die ewig Gerechtigkeit selber«, rief er.
Die Mena lachte vor Freude. Während sie so in Gedanken vor dem Haus stand, redete der Schneider Veit sie im Flüsterton folgendermaßen an: »Mena, hör ein wenig auf meine Stimm! Du hast dich heut schön gemacht und geputzt; aber vergiß nicht, daß alles, was du hier siehst, Samt und Seide, Silber und Gold, Fahnen und Bänder, nichts anderes ist, als der gleißende, irreführende, trügerische Mantel des Luzifers, welches Wort deutsch heißt: der ›Lichtbringer‹, der ›Morgenstern‹, merk wohl! – Freu dich immerhin, aber gedenk stets daran: Musik, Prunk, Glanz, Ordenssterne sind nichts als 147 hohles Gepräng, nichts als die leere Eitelkeit der Welt. Gedenk daran stets, daß Harmagedon naht! Harmagedon . . .«
Die Mena blickte mit einem erschrockenen Lächeln auf den Sprecher und seinen Bruder, der vielsagend nickte. Sie bemerkte wiederum die sonderbaren Federn auf ihren Hüten und erinnerte sich an ein Erlebnis, das sie eines Sonntags gehabt hatte. Im Gehölz, auf der Erdbeerensuche, betrat sie eine geschlossene Lichtung und befand sich plötzlich einem halben Dutzend Männer gegenüber, wovon jeder auf seinem Hut das gleiche grellrote Hahnenfederchen trug.
Das neue Bahnhofsgebäude war reich beflaggt; zu beiden Seiten standen in endlosen Reihen die Veteranen, die Schützen, die Schulkinder, Männer und Frauen, Pfarre an Pfarre. Die Schulmeister und Gemeindevorsteher gingen die Menschenmauer entlang, um hie und da noch etwas in Ordnung zu bringen. Alle waren gekommen, die Männer und die Weiber, die jungen Leute und die Kinder, die ganz Alten nicht zu vergessen, von Seeham und Neumarkt, Hallwang und Sirting, Seewalchen und Weng und den vielen anderen Ortschaften, deren Namen schon fremd klangen und deren Trachten und Sprache schon etwas abwichen, obgleich sie kaum einige Gehstunden getrennt waren.
Die Männer standen ernst und wichtig; die Veteranen blickten unter den federgeschmückten Hüten voll Stolz; die Frauen hatten sich samt und sonders in einer wunderbaren Weise verjüngt, welche Kunst bekanntlich nur ihnen eigen ist. Den Kindern war die Welt sichtlich ein heiliger Dom, der blaue Himmel drüber seine Decke, die Lerchen, die drin schwebten und tirilierten, Singvögel Gottes, ausgesendet, den Tag des Kaisers zu verherrlichen. Man sah viele grünsamtene Westen, Uhrketten aus massivem Silber, Doppelreihen von Silberzwanzigern auf den Röcken, eine seltsame Mode, gleich einen Beutel besten Silbergeldes an sich zur Schau zu tragen. Aber es war eben damals eine Zeit, wo man sehen ließ, was man hatte; wo man, in allem ehrlich und offen, Widerwillen gegen jede Art von Heuchelei empfand; und wo den wahren Grund des Lebens, aller Müh und Plag zum Trotz, die Freude bildete. Das war kein Volk, was man meist so unter diesem Namen versteht, das waren lauter geborene große und kleine Edelleute vom Acker und vom Weizenfeld. 148
Weiter rückwärts hatten sich Leute angesammelt, eine merkwürdige Zwischengattung von Mensch, die außerhalb der angesehenen bäuerlichen und dörfischen Kreise standen und bei festlichen Anlässen, wo jeder zeigte, was er war und was er hatte, nur halb oder gar nicht mittun konnten.
Es erfüllte die Mena mit Stolz, daß ihrem Bauer und ihrer Bäuerin nicht leicht jemand das Wasser reichen konnte. Insbesondere der Haginghofer zog alle Blicke auf sich. Sein Gehaben, und wie er dastand, und in der Rechten seinen funkelnden Ulmerkopf hielt, wie alles an ihm ohne einen Funken törichten Hochmuts sprach: Das bin ich, das hab ich! ließ spüren, daß man schon in ihm etwas wie einen kleinen heimatlichen Kaiser vor sich hatte. Da er natürlicherweise von vielen Seiten begrüßt wurde, konnte sie seine Art des Grüßens bewundern, die sehr vielfältig war. Er hob die rechte Hand mit der Pfeife, und danach, wie hoch er sie hob, in vier oder fünf Abstufungen, konnte man den Bedankten einschätzen, auch wenn man ihn nicht sah. Bei einem Tagwerker zuckte er nur ein wenig, bis hinauf zum Krämer und Zimmermeister, wo er den Ulmerkopf wie ein Zepter hochschwang. Den Pfarrer und den Bräu begrüßte er mit Hutrücken, aber so, daß es buchstäblich nur ein kaum merkliches Rücken war.
Hatten die Böller während der Zeit, wo die Mena Beobachtungen machte, geschwiegen, so setzten sie jetzt mit verdreifachter Gewalt ein, und eine allgemeine Bewegung entstand: er kommt! Man hörte das Rollen von Rädern, sah auf den blanken Schienen ein eisernes Ungetüm daherbrausen, sah blumengeschmückte Wagen und Uniformen in den Fenstern. Der Tambour Sindnochsiebendrin hob beide Schlegel, die Trommel begann zu wirbeln; viele andere Trommeln fielen ein, vielfach zerschlissene Fahnen neigten sich rauschend auf die kiesbestreute Erde.
Ein Offizier in weißleuchtendem Waffenrock stieg mit einem kleinen Gefolge aus.
Der Haginghofer schritt über den Platz. Menas Augen waren starr auf die beiden Menschen mitten in dem sonnenbeglänzten Kreisrund gerichtet; und nicht ohne heimliche Angst, wie der Haginghofer wohl die Sache formen und ob er nicht sich selber und mit ihm alle in Schande bringen würde. Aber wie er den Hut abnahm, wie er seinen dicken Quadratkopf, den er gewohnheitsmäßig ein 149 wenig hoch trug, neigte, ganz in der Art, wie bei Prozessionen, wenn das Allerheiligste vorübergetragen wurde – das alles hatte Form und konnte sich ruhig sehen lassen. Und wie er dann wieder hoch aufgerichtet stand und den Kopf nach rückwärts warf, als wollte er sagen: genug gekatzbuckelt! und anhub, zu sprechen, so seelenruhig und weithin vernehmbar, als ob er nur vor einem Pfarrer oder Prälaten stünde, das machte sie stolz. – »Eure Majestät! Gnädigster Kaiser und König! Wir Bauern und Landleute haben es vernommen, daß Eure Majestät die Fertigstellung der neuen Eisenbahn benützen wollen, um Euer Land und Eure Untertanen zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen. Das hat uns alle mit großer Freude erfüllt, und wir sind hierhergeeilt, Eurer Majestät unsere Ergebenheit und unverbrüchliche Treue zu Füßen zu legen. Die Zeiten sind hart; kein richtiger Frohsinn, keine richtige Freude gibt es mehr in der Welt. Sintemalen der Zankapfelbaum in der herrlichsten Blüt steht. Mensch und Mensch, Bruder und Bruder, Stand und Stand leben in der Hadergassen. Es ist etwas aus der Welt gewichen, es hat etwas die Welt verlassen, es hat sich etwas auf einen andern Stern zurückgezogen – und dies Zurückziehen, dies Verlassen, dies Weichen verfinstert Land und Stadt und Reich. Aber – wenn alles wankt, wenn alles bis in die innersten Grundfesten erschüttert wird, drei Dinge müssen feststehen, weil sie das Fundament der Welt sind: Gott, Kaiser und Bauer! – Item, Eure Kaiserliche und Königliche Majestät wollen geruhen, sich unserer öfter zu erinnern und mit der Hand, der kaiserlichen, zu winken, falls die Großen und Mächtigen uns allzu harte Lasten auferlegen; aber sich unserer auch dann zu erinnern, wenn der Feind Land und Reich bedroht, damit wir hingeben unser Blut für Gott, Kaiser und Vaterland.«
Der Kaiser reichte dem Redner die Hand. »Ich danke euch allen«, sagte er und seine Stimme war über den ganzen Platz vernehmbar. »Dieser Tag wird mir stets in der schönsten Erinnerung bleiben.«
Der Haginghofer hob den Ulmerkopf so hoch, wie er ihn nie in seinem Leben gehoben hatte: »Seine Majestät, unser geliebter Kaiser und König, Vivat hoch!«
Das dreimalige Hoch scholl gewaltig; denn die Bauern hatten starke Lungen. Und während der Zug sich bereits wieder langsam in Bewegung setzte und die weiße Hand des Kaisers wohl ein 150 dutzendmal an die Kappe fuhr, intonierte die Musikkapelle die Volkshymne, und einige tausend Männer, Frauen und Kinder sangen sie mit:
Gut und Blut für unsern Kaiser,
Gut und Blut fürs Vaterland . . .
Nun sang natürlich auch die Mena aufs kräftigste mit; aber mittendrin brach ihr plötzlich die Stimme und, zu ihrer eigenen Scham, schossen ihr die hellen Tränen in die Augen. Vielleicht war es die Wirkung des seltenen Erlebnisses, vielleicht auch die Freude, der ganzen Schönheit nun doch im letzten Augenblick teilhaftig geworden zu sein, kurzum, jedenfalls ging von dem Vorgang eine starke Wirkung aus, durchdrang die Menschenherzen und versetzte sie in Begeisterung und Glückseligkeit. Denn so ist es ja: nur was alle erfreut und alle betrübt, das allein hat Wert im Leben. In der großen Verlassenheit, worin jede Menschenseele, sei sie arm oder reich, atmet und wohl atmen muß, worin sie sich bald schwächer, bald stärker, ja zuweilen ganz vernichtet fühlt, mag es ein Trost sein, daß es eine solche Allmacht gibt, hoch über allem Hader und Streit, eine Allmacht, die Schutz und Frieden gewähren und den Mächtigsten wie den Geringsten in den Staub werfen kann. Alle irdischen Dinge, sagt ein Weiser, sind Abbilder der ewigen, und der Zipfel eines solchen ewigen Dings, in dieser Minute etwas gelüftet, mochte es gewesen sein, was die Kleindirn zum Weinen gebracht hatte. 151