Johannes Freumbichler
Philomena Ellenhub
Johannes Freumbichler

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Zwischen zwei Ölstöcken

Es ging schon gegen zwölf, als der Haginghofer-Lix der Mena zuflüsterte: »Mena, ich führ dich heim.« Aber dies wollte sie nicht. Um fortzukommen, schlich sie sich hinaus und ging, von der kühlen Nachtluft umfächelt, eiligst davon. Aber plötzlich war er trotzdem an ihrer Seite; sie sollte doch nicht so laufen, sie hätten doch einen Weg. Er war stark angetrunken, voller Faxen, und sie kam die ganze Zeit über nicht mehr aus dem Lachen. – Nein, sie hatte sich vom Lix eine falsche Vorstellung gemacht.

In ihrer Schlafkammer öffnete sie den Pack mit den steifen Zipfelohren und weidete sich an ihren Herrlichkeiten. Sie mußte laut auflachen: die zwei Ölstöcke kollerten heraus und über die rotgewürfelte Tuchent hin. – Nein, wie das nur so hatte kommen können! Sie hätte den zweiten zurückweisen sollen, aber, mein Gott, warum hat der Toni auch so übereifrig eingekauft? – Sie betrachtete den roten Ölstock aus Holz, der ihr ganz gut gefiel, und wandte den funkelnden aus Messing im flackernden Kerzenlicht hin und her. Dann stellte sie die beiden Ölstöcke in den Kasten und ging schlafen. Jedoch der Schlummer wollte nicht kommen. Sie hatte in allen Gliedern ein Gefühl von Glut und Spannung. Sie versuchte, sich in ihre bisherige kühlklare und sichere Empfindungswelt zurückzuversetzen; sie dachte an die Geschwister, betete ihr Abendgebet, aber umsonst. Was ist denn nur in mich gefahren? fragte sie sich. – Bin ich denn durch einen Zauber eine Heidin geworden? – Sie erwog auch, ob sie nicht in den folgenden Tagen zur Krölljule gehen sollte, um sich »anwenden« zu lassen; vielleicht war sie zu vollblütig und man sollte ihr Blutegel setzen.

Aber das Urwesen, das in ihr erwacht war, konnte weder durch Anwenden noch durch Blutegel vertrieben werden. Es gab für sie auf dem Gebiete der Fortpflanzung keine Geheimnisse. Sie vollzog sich seit ihrer Kindheit sozusagen vor ihren Augen. Waren es kleine Geschöpfe, wie bei dem Hühner- und Taubenvolk, erregte die Paarung Gelächter, große, wie bei den Rindern und Pferden, einen 181 tiefprüfenden Ernst, untermischt mit einer Art wollüstigen Schreckens. Es wäre auch wunderlich gewesen, wenn mit dem Ankleiden, Kirchtagkaufen und Mettrinken die menschliche Lust sich erschöpft hätte mit jenen Vierzeilern voll Sinnlichkeit, deren bloßer Reim das Herz in Glück und Tanz hüpfen und springen ließ.

Und wohl in der Meinung, daß dieser Tanz und dies Glück irgendwo draußen mit den leuchtenden Sonnwendkäfern herumflogen, horchte sie angelegentlich in die Sommernacht hinaus. Aus dem Schindermoor kam der Gesang der Unken; er glich einem eintönigen, alle Nerven aufwühlenden Choral. Und aus diesem Choral hoben sich Männerstimmen und sangen ein Lied, in einem Übermut ohnegleichen. Sie kannte die helle Oberstimme sehr wohl: das war der Wildbretschütz und große Singer, der Schindertoni . . .

Ich kenn nur ein Stadterl,
Kenn Gasserl nur eins,
Und ich lieb nur ein Maderl
Und sonst lieb ich keins.

Ich kenn nur ein Kammerl,
Ein Bettstattl nur,
Ich lieb nur ein Nannerl
Und der geh ich zue.

Ein Dirndl so innig,
Findst nit auf der Welt;
Ihr Lieb kauft kein Künig,
Kein Rothschild ums Geld.

Hat Äugerl so helle,
Hat Wangerl rotweiß,
Hat Füßlein so schnelle,
Und Zahnderl schneeweiß.

Hat Handerl so kleine,
Ist schlank wie ein Reh
Wann ich dran denk, so wein ich
Vor Lust und vor Weh. 182

Und trutzdem, kreuzteufel!
Mein Glück hat ein' Riß:
Den Leutn ihr Zweifel,
Ihr kreppsaures Gfriß.

Sie zreißen sich's Göscherl:
Das wär mir ein' Eh!
All zwei habn s' kein Gröscherl,
Was kommt, weiß man eh.

Und wegn dem Getümmel,
Freund, bet ich all Stund:
Gottvater im Himmel
Regn her auf mein Grund!

Regn her auf mei Frettn,
Regn her und regn an!
Daß's Treid auf der Gstettn
In d'Höh schießen kann.

Laß mich und mei Nannerl,
Die lieblichfein Dirn,
Vom siebensündign Kammerl
In Ehstand spaziern!

Mein Bitt hör, mein Flehen:
Gib Segn und gib Geld:
Die größt Lieb ohne Lehen
Gilt nix in der Welt . . .

Sie lag noch wach und trank die Strophen wie den süßen Kirchtagsmet. Schon im Einschlafen, weckte sie ein Geräusch an der Hauswand: sie sah, wie die Enden einer Leiter sich an den Fensterstock legten und hörte eine flüsternde Stimme. Sie sagte energisch: »Lix, geh schlafen! Euch Mannsbilder kenn ich. Zu mir darf keiner herein.« Dies sagte sie gleichgültig und ernsthaft, wie sie es bei den abendlichen Stubengesprächen gehört hatte. Aber in Wirklichkeit war sie noch mehr berauscht als vom Lob beim Bräu und vom 183 Kirchtagsmet, ein ganzer Aufruhr tobte in ihr: der Lix, der Haussohn! – Jetzt geschah also auch bei ihr das, worüber man unter den Mägden immer so viel tuschelte: es kam einer an ihr Fenster, und was für einer!

Und dieser was für einer bettelte so lange, bis er die Erlaubnis erhielt, sich ans Bett zu setzen und über den Kirchtag zu plaudern. Sie suchte sich zwar einigemal zu besinnen, rief sich die Worte des Ähnls in Erinnerung: Hüt dich, Mena! Aber es flog nur wie ein leichter Schatten an ihr vorüber. Eine unbekannte Schwüle hinderte jedes klare Denken, und so dauerte es nicht lange, bis der Sieger von Dalmatien bei der Kleindirn den Sieg davontrug.

Wenn die Mena in den nächsten Tagen, die Sense auf der Achsel, auf die Wiese hinausging, war es ihr, als ob eine Stimme in ihr rief: »Du bist nun auch so eine!« und das schien ihr eine Weile ganz unglaublich. Aber das Herz begann in der Erinnerung zu hüpfen und zu tanzen. Und wie in dieser Zeit ihr Inneres, so veränderte sich auch mit den Ereignissen ihr Äußeres ungemein schnell. Ihr Körper wurde stark und gedrungen, ihr Gesicht breit und fest, wie eine sich ruhig entwickelnde Landschaft, und ihre Bewegungen glichen denen eines Luchses und wieder denen einer Jungkuh. Nie hatte sie soviel auf den Feldern gejodelt wie in diesen Monaten, und nie so jäh und ohne jede Ursache geweint, wenn sie allein in ihrer Kammer auf dem Bett saß.

Jeden Abend kamen Nachtreiser auf den Haginghof. Die Mena und die Mägde traten ihre Spinnräder. Ab und zu hielt eine inne, um eine Handvoll Werch auf die Gabel zu legen. Die Nachtreiser glichen Gespenstern oder komischen riesigen Nachtvögeln, wie sie so, barfuß, die Röcke über die Achsel gehängt, grinsend in die Stube trotteten und sich an den Tisch setzten. Anfangs führten sie das Gespräch gemäßigt, bis der Haginghofer ins Wirtshaus ging und die Bäuerin verschwand. Jetzt setzten sie mit zweideutigen Reden ein, und die Mägde blieben ihnen nichts schuldig. Auch die Mena wurde nun einer besonderen Aufmerksamkeit gewürdigt, und dies erfüllte sie mit Stolz. Es lag Respekt darin; sie wurde für voll genommen, als geeicht und geweiht für den Sinnendienst der Erde. Sie verteidigte sich, so gut es ging, aber die Angreifer verdrehten ihr die Worte im Mund; sie ärgerte sich, stellte das Spinnrad weg und ging ins Freie. 184

Es war schon finster; dennoch bemerkte sie, daß jemand unter dem Hollerbusch saß. Das Wichtlweibl drehte den Rosenkranz in den gefalteten Händen und betete. »Man hilft seiner eigenen Seel«, sagte sie. »Kann auch für andere beten, und dabei vergeht einem so schön die Zeit.«

Die Mena sah mit einem Male die ganze Verlassenheit der alten Frau. Vielleicht war es nun eine Ahnung, daß auch bei ihr an Stelle der Jugend eines Tags dies traurige Alter treten würde; plötzlich schien ihr alles, was geschehen war, furchtbar. Sie bedeckte ihr Gesicht mit der Schürze und weinte bitterlich. »Sie sekkieren mich so drinnen«, sagte sie.

Sogleich rückte das Wichtlweibl vertraulich näher. Es saugte energisch mit den welken Lippen, so daß sich tiefe Gruben um ihren Mund bildeten, schnalzte kräftig und wisperte: »Mein, du armes Schaf Gottes! Tu nicht röhren! Diese Tröpf, diese Mannsbilder, sind keine einzige Träne wert. Dumme Teufel sind sie. Und was muß man mit einem Teufel tun? – Tratzen, ärgern, zwicken, und macht er's ganz arg, schnell einen Weihbrunn auf ihn spritzen. Das brennt ihn, wie unsereinen das helle Feuer. Ja, Mena, du wirst es schon noch erlernen: In dieser vermaledeiten Welt ist eine dicke Haut notwendig! Sie meinen's nicht bös, beileib nicht! Sie wollen sich alle nur ein bißchen spielen, gleichgültig, ob dabei das Spielzeug zerbricht oder nicht. Drum merke: So wie du dir auch gewiß fest vorgenommen hast, in Gottes Fröhlichkeit und Arbeitsfreud durchs Leben zu gehen, eins darf dir nicht fehlen: du mußt Haar auf den Zähnen haben! Beißen sie, mußt du auch beißen; geben sie dir einen Stich ins Herz, mußt du zweimal zurückstechen.«

Es tröstete die Mena, daß sie eine Vertraute gefunden hatte. Sie redete nun deutlicher und erzählte, daß der Lix, bis vor ein paar Wochen, jede Nacht zu ihr gekommen, plötzlich aber ausgeblieben wäre, was sie sich nicht erklären könne. Die Augen des Wichtlweibls erglühten aus der Dunkelheit. Aber das, was die Mena noch für ein großes Geheimnis hielt, war für die Einlegerin längst offenbar. Sie saugte und schnalzte: »Die Mannsbilder sind grundschlecht!«

Die Mena wollte nun von Lix Aufklärungen verlangen. Mehrmals kam es vor, daß er an ihr vorüberging, aber sie scheinbar nicht sah. Endlich traf sie ihn, außerhalb der Hofweite, auf einem schmalen 185 Fußweg, wo er ihr nicht ausweichen konnte. Aber es begab sich etwas ganz Unerwartetes. Er tat, als ob ihn jemand riefe, schrie gegen das Gehölz hin: »Ja, ja, ich komm schon« und stapfte querfeldein davon.

An diesem Abend konnte sie nicht schlafen. Anfangs war sie voll Zorn, aber allmählich beruhigte sie sich und redete sich selber auf gut Ellenhuberisch zu, wie einem Rößlein, das um sich schlägt und die Planken zertrümmern will.– Bist ja selbst schuld dran! Das hättest du doch im vorhinein wissen können. – Sie grübelte lange: einmal über diese Begegnung und dann über andere Dinge, die näher oder ferner damit zusammenhingen. – Ihr Mannsbilder, jetzt kenn ich euch! sagte sie sich. – Wie seid ihr doch alle grundfalsch, falscher als das falscheste Geld! – Ihr war, als ob von ihrem Kopf aus Linien über das ganze Tal zu allen Menschen hin, die sie bisher kennengelernt, gezogen würden, und alle diese Linien zuletzt wieder in ihr zusammenliefen. Das Leben war ein geheimnisvolles Spiel, und alles, was man tat, sah vorher anders aus als nachher. Man mußte scharf achtgeben. Eins war klar: die Menschen handelten nach bestimmten Regeln, ja, nach einer Hauptregel, die sie aber sorgsam versteckten.

In der Folgezeit lag ihr am meisten daran, Erkundigungen über Lix einzuziehen, wobei das Schwierige war, jemand zu finden, dem sie vertrauen konnte. Daher kam die Nachricht, daß man Lieder einüben wollte, für den Herrn Archivar, wie gerufen.

Der breitästige Hollerbusch überdachte die Menschen, die, so grundverschieden sie auch untereinander sein mochten, dennoch ein gemeinsames Band umschloß. – Auf dem Haginghof singen sie wieder! sagten die Leute, traten vor die Häuser und horchten in die Stille hinaus. In den Obstgärten fielen die Äpfel und Birnen mit einem dumpfen Schall ins Gras, und von den Feldern herein zogen die Krautnebel, die ersten Vorzeichen des Herbstes.

Die Mena liebte ihre Mitsinger geradezu, obgleich sie fast alle etwas Abstoßendes an sich hatten, am wenigsten davon der Schindertoni, am meisten der Kropfjodl, den man nicht ansehen durfte, so gruselig hatte die Natur oder besser die Unnatur ihn geschaffen. Sie fühlte auch, daß die Augen dieser Mannsbilder heute besonders fest an ihr hingen, wenn sie auch tat, als ob sie nichts davon merkte. Denn das hatte sie schon begriffen, das war die erste Kunst: 186 Theaterspielen, und das eigentliche, innere Leben, sein eigenes, und das der andern, unberührt lassen. Die Augen des Schieringhiesen glänzten feucht, als weinten sie innerlich; der Kropfjodl starrte sie an, fast unangenehm; man sah es in seinem Mienenspiel deutlich, daß er insgeheim Bilder schaute, die auszulöschen er nicht die Kraft hatte.

Sie probten fleißig: »A Mensch ohne Lieb«, »'s Wehload« und endlich »Schneider meck, meck«, welches Lied die Mena zum Lachen brachte und so den Bann löste, der sie diesmal fast am fröhlichen Singen verhindert hätte. Trotzdem war es ihr sehr recht, als die Probe beendet und die Mitsinger sich verabschiedeten.

Den Hies hielt sie zurück und saß nun nachdenklich, während er schweigend in seinem Buche mit den hölzernen Deckeln blätterte. In die Stille, die in diesen Minuten um die beiden Menschen gebreitet war, kam der Gesang eines Vogels, so grundseltsam, daß die Mena keinen Atemzug mehr tat, in der Furcht, ihn zu verscheuchen. Dieser Gesang wirkte doppelt eigentümlich in der Dämmerung und in Angesicht des Mondes, der groß wie ein Pflugrad über den Bäumen stand. Er hob und senkte sich nur um einige Noten, verstummte, schwoll von neuem an, und es war eine ausgesprochene, gramvolle Klage, die eintönig aus einem der abendlichen Büsche drang.

»Der Kummervogel!« sagte der Schieringhies leise.

Auf Menas Gesicht erschien ein ungläubiges Lächeln. »Gibt's so einen?«

Der Reimer blickte mit großen Augen auf die Fragerin. Dann machte er mit der Hand eine kreisende Bewegung und hub an, das Wesen des geheimnisvollen Sängers zu beschreiben. Dabei hatte seine Stimme selber einen Ton, nicht unähnlich dem des Vogels, der noch immer unermüdlich fortsang. »Alleweil um diese Zeit«, erklärte er, »meldet er sich; so zwischen Sommer und Herbst, wenn Regenwolken überm Tal hängen, wenn die Welt einer Höhle gleicht, ohne Trost, ohne Glück, ohne Licht und ohne Stern. Dann hört man aus schwarzem Tannengrund einen Gesang, der so klingt wie unterirdisches Kindesweinen. Die alten Leut, die viel mehr wußten und viel mehr sahen und hörten wie die heutigen, sagten dann: Horcht, der Kummervogel singt! und bekreuzigten sich. Jetzt ist er selten geworden. Die Menschen haben sich geradezu verschworen, ihn auszurotten. Alles tut heut so lustig, alles lacht und 187 lacht, alles will zeigen: Schaut, wie glücklich wir sind! Aber – es gibt keinen Menschen auf Erden, und wär er noch so reich, dem's nicht guttät, zwischen Lustbarkeit und Lustbarkeit den Kummervogel anzuhören.«

Sie saßen lange stumm, bis die Mena endlich fragte: »Hies, was sagen denn die Leute seit dem Kirchtag über mich?«

»Hm, was werden sie sagen? – Sie lassen ja an keinem Menschen ein gutes Haar. Aber vom Lix hat es mir nicht gefallen, daß er in den Wirtshäusern herumredet und mit seinem Glück bei den Weibern großtut. – Mein Gott, hat er geprahlt, so ein Bettmensch nimmt man ja nur für ein paar Nächt.«

Die Mena brachte kein Wort hervor. Wenn der Blitz in einen nachtschlafenen Hof mit seinen finstern Räumen und Böden schlägt, mag es nicht anders aussehen, als wie jetzt in ihrem Herzen. Eine grelle Lohe beleuchtet alles taghell. Und draußen, in einem der dunklen Büsche, sang der Kummervogel: Tui, tui, tü, tü, tü . . .

Das Wort vom Bettmensch, das man sich nur für ein paar Nächte nimmt, ging ihr eine Weile nicht mehr aus dem Kopf. Sie versuchte, den Inhalt dieser Worte auszuschöpfen, und dabei arbeitete sich in ihrem Innern allmählich eine andere Stimme empor, jener urtümliche Zorn, der stets eine gesunde Quelle im Menschenherzen aufstößt. Sie nahm den hölzernen Ölstock und betrachtete ihn: Warum hat der reiche Lix so ein hölzernes Trum gekauft? Sollte es bei ihm vielleicht so sein, wie es ja öfter vorzukommen pflegt: reich und filzig? – Sie trat ans Fenster, schwang den Arm weit zurück und warf den Ölstock in hohem Bogen hinaus. Er kollerte über einen Abhang und sprang mit einem Salto in den Bach, der unten vorüberlief.

Inzwischen ging auf dem Haginghof das Leben unbeirrt seinen Gang, freilich mit einigen kleinen, aber kaum merkbaren Veränderungen. Die Haginghoferin zog sich noch mehr als bisher von der Arbeit zurück; sie ging jeden Samstag in demselben seidenen Tuch, der silbernen Halskette, dem Samtmieder mit den gekräuselten Silberknöpfen und einem großen Gebetbuch unterm Arm zur Beichte und Kommunion. Jeden Samstag, das war schier unbegreiflich! Mit dieser Frömmigkeit wuchs auch die Sorgfalt für ihr Äußeres, und die boshaften Dorfzungen nannten sie die »fromme Statue«, womit sie, vielleicht nicht so unrichtig, ihr Wesen zu bezeichnen glaubten. 188 Freilich, eben nur ihr äußeres Wesen; denn ins Innere des Menschen einzudringen, ist schwer und bekanntlich mit vielen Irrtümern verbunden. Manche behaupteten, sie wäre heimlich schwermütig, und zwar deswegen, weil der Lix beständig zur Übergabe drängte und sie nun bald von ihrem vieljährigen Hausregiment Abschied nehmen müßte.

Was den Haginghofer anbelangte, so griff er noch immer täglich ein paar Stunden bei den Arbeiten zu, hielt nach dem Mittagessen sein Schläfchen, brannte dann seine Pfeife an und ging mit der Regelmäßigkeit einer Uhr den schmalen Feldweg zum Egelsee hinüber. Gewöhnlich nur ein Sumpf und ein Tümpel, reichte er in der Regenzeit bis in die Ackerfurchen und Wiesen. Auf seiner silberglatten Fläche blühten die prächtigsten Blumen; und auf seinem Grund spiegelten sich die Schäferwölkchen und der blaue Himmel. Um diese Wasserlache zu verdrängen, hatte er auf der einen Seite ein paar tiefe Gräben ziehen, auf der andern Schutt abladen lassen, Fuhre auf Fuhre; aber obgleich er hiezu jede lässige Zeit benützt, maß der angeschüttete Erdstreifen kaum mehr als eine Tischbreite und eine Hoflänge.

Auf diesem Streifen blieb er stehen, besah die Gräser und Blumen, die schüchtern drauf wuchsen, und suchte dann auszutüfteln, wie vieler Fuhren es wohl noch bedurfte, bis der Tümpel endgültig verschwunden wäre und an seiner Statt eine saftige Wiese grünte. Der zweite Punkt, den er bei diesem Tagesgang in Augenschein nahm, war das Pieringermoor. – Wie schön wär die Landschaft, dachte er, wenn einem nicht dieser schieche Grund und diese verdammte Keusche vor den Augen läg! Wahrhaftigen Gottes, wegbrennen sollte man sie! – Er sprach von den Schinderischen nie anders wie von einem Ungeziefer. Das war nun freilich kein christlicher Gedanke, stieg ihm aber an dieser Stelle jedesmal todsicher in den Kopf, quälte ihn, bis er ihn, gleichsam wie einen bissigen Hund, an eine Kette legte, und diese Kette hieß: Problem! – Ganz genau wußte er selber nicht, was es war, aber er hatte das Wort vom Pfarrer Gries gehört, es gefiel ihm ausnehmend gut, und er spürte, es war etwas, eine Art Rätsel, das man mit Geduld bei sich herumtragen und im Lauf der Zeit wohl einmal auflösen würde. Im Wirtshaus bediente er sich dieses Ausdrucks mit Vorliebe. »Ja, du, das ist ein Problem!« und wenn der eine oder der andere fragte: »Was ist 189 das ›ein Problem‹?«, lächelte er überlegen und tat einen langen Zug aus dem Bierkrug. »Die Politik, mein Lieber, das ist eine gefährliche Sach! Besser ist's, wenn man sich gar nicht damit befassen tut.«

Das Lebensgesetz der beiden Haginghofer Eheleute war, wie bei allem, was unter der Sonne wächst, ererbt. Im Genuß ihrer gesunden Körper und der Sicherheit ihrer Existenz schwammen sie nebeneinander wie zwei silbergepanzerte, rotäugige Fische in der blaugrünen, reinlichen Flut, die ihnen durch ihre Vorfahren geschaffen worden war. Ihre Gedanken und Gefühle bewegten sich innerhalb eines kleinen Kreises, und es fiel ihnen nicht im Traum ein, darüber hinauszuwollen. Ohne einander etwas Besonderes zulieb oder zuleid zu tun, trachteten sie danach, sich keine unangenehmen Empfindungen zu machen, jedem, auch nur möglichem Ärger oder Verdruß aus dem Weg zu gehen, Künstler in allen jenen hundert Kniffen, womit man sich erfahrungsgemäß die Lebensübel vom Leibe hält. Diese Klugheitsregel befolgten sie mit einer bewunderungswürdigen Stetigkeit, und wo sich etwa noch Blößen zeigten, frierende, ungeschützte Stellen, da hängten sie Mäntelchen hin, mit vielerlei bunten und krausen Mustern, welche Drapierung ihnen gewisse sanktionierte Maskenleihanstalten lieferten. Freilich hatte sich im Lauf der Zeit auch etwas von der Kaltblütigkeit jener Silbergepanzerten angesetzt; ihr ganzes Wesen strömte ein Fluidum aus, das in vielen Fällen zu ganz eigenartigen und sogar höchst schreckhaften Endresultaten führte. Beide waren gute und wohlwollende Menschen; aber es gab einen Punkt, wo es mit diesen Tugenden jäh zu Ende war: nämlich, wenn jemand zufällig oder absichtlich an die Glasglocke stieß, unter der sie wandelten.

Dies Anstoßen sollte diesmal die Mena besorgen. Sie hatte sich ziemlich beruhigt und sich allerlei Pläne zurechtgemacht, wenn er wieder ans Fenster kommen sollte, aber der Stammhalter vom Haginghof kam nicht mehr. Jeden Abend holte ihn ein Schwarm guter Freunde ab, die es sich angelegen sein ließen, ihn durch hundert Narrheiten bei guter Laune zu erhalten. Sein Saufen und Singen in den Wirtshäusern war im Mund aller Leute. Der Haginghofer selber drückte ein Auge zu und sagte: »Die Jugend muß sich austoben. Wenn sie sich die Hörner abgestoßen hat, wird sie schon richtig.«

Eines Samstags, dem usuellen Gaßlgangtag, klopfte es trotzdem. 190 Es war aber nicht der Lix, sondern der Toni. Er hatte eine besondere Freude für sie mitgebracht; aber auf dem Fensterstock, wo er saß, konnte er jeden Augenblick entdeckt werden. Kaum war er drinnen, so wickelte er aus einem rosa Papier etwas, das der Mena einen lauten Ausruf des Staunens entlockte: eine silberne Halskette, wie die reichen Bauerntöchter sie trugen, der Wunsch der Wünsche! Die feinen Kettchen gleißten im Mondlicht und die goldene Schließe funkelte. »Echt!« versicherte der Toni. – Und die sollte ihr gehören, ganz ihr?

Der Ölstock aus Messing, es gab nichts Schöneres, die Halskette, das war das Herrlichste, und der Toni der fescheste Mann in der Pfarr! – Sie sprachen die Kirchtagserlebnisse durch, wobei der Toni immer wieder auf ihre verfrühte Heimkehr kam. Er machte Späße, sogar einen wirklichen Schwur mußte sie leisten, und, die beiden Schwurfinger erhoben, schwören, in Zukunft ihn allein zu lieben und ihm treu zu sein. Und diese Wortspielerei ging weiter zu jener Menschenspielerei, wobei man sich herzt und küßt . . .

Es ist selbstverständlich, daß die guten Geister in der Mena noch eine Weile Widerstand leisteten, aber sie konnten in der Folgezeit nicht mehr aufkommen. Das wilde Gejaid kommt von Zeit zu Zeit in das Herz des bestgearteten Menschen und muß wohl dorthin kommen. Jetzt brauste es in Menas Blut; dies war im Grund ein feuerflüssiges, hatte etwas von einem uralten und ganz jungen Wein an sich: es gärte und polterte und gab dem Leben Tiefe und Schönheit. Ihre Lust steigerte sich, als sie eines Nachts, von den Obstbäumen her, Lärm und unterdrückte Stimmen hörte und zwei Gestalten beobachten konnte, die aufeinander losschlugen: der Lix und der Toni! – Es war ihr zumute, wie am Kirchtag, wo sie rasch aufeinander zwei Gläser Met getrunken hatte. – Was war das nur? – Nichts anderes als die Hatz. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, die Vögel singen; man arbeitet, weil man muß, trinkt das Brunnenwasser, weil man Durst hat, ißt, weil man hungert, aber – das genügt dem Herzen nicht. Durch die Wälder trabt die Hirschkuh; die Sonne scheint, die Quelle läuft, Futter gibt es die Fülle, aber – das genügt der Hirschkuh nicht! Erst wenn die Nebenbuhler aufeinander losgehen, wenn die Geweihe splittern und das Blut fließt – das ist prachtvoll, das ist das Ein und Alles in der Hirschenwelt!

Und daß der Lix am nächsten Tag zahlreiche Schrunden im 191 Gesicht hatte, die er sich fleißig mit Milch wusch, tat der Mena wohl und sie ging fröhlicher an ihre Arbeit.

Übrigens bekam sie den Toni vom Herzen gern; sie verstanden sich gut miteinander. Es wurde den beiden eine glückliche Liebeszeit zuteil. Das Schlimme war, daß er oft, ganz plötzlich, wochenlang ausblieb. Man sah dann vom Dorf herauf, von Weiler zu Weiler, die Gendarmen mit den Fanghunden gehen, und die Mena hätte niemals geglaubt, daß diese Schergen, die, ihrer Meinung nach, vom Faulenzen lebten, niemand andern zu fangen versuchten als den Toni, ihren Schatz, wenn es ihr nicht das Wichtlweibl ernsthaft bestätigt hätte.

Die Wichtlin strickte ihre graue Wolle, so dick wie eine Zuckerschnur. »Ja, mein lieber Gott, da dreh ich die Hand nicht um. Die Mannsbilder sind alle gleich. Jeder hat seinen Rappel. Aber wegen dem Toni brauchst du dich nicht zu ängstigen; den fangen sie nicht! Der wechselt, wie die Hirsch', über die Waldschneid hinüber. Da müssen die Lattenträger früher aufstehen.«

Wenn sie auch keine besondere Sorge um ihn hegte, so wurde sie doch dadurch vereinsamt. Es klopfte niemand mehr an ihr Fenster. Aber eines Nachts klopfte es; doch war das ein ganz anderes Klopfen: es kam aus ihrem eigenen Leib. Ein Schreck durchzuckte sie. Sie legte die Hand auf jene Stelle und horchte: Was ist das? Ein Tier? Wenn ich meine Faust stark niederfallen laß, ist es dann tot? – Das Mondlicht fiel in die Kammer, die Grillen feilten, und der Brunnen lief. Gespenstische Bilder zogen vorüber; Eltern, Geschwister, Liebesszenen, seltsam und unwirklich, und dann wiederum schüttelte sie jähe Angst: Bin ich schwanger?

Ihre Angst war begreiflich. Der Unterschied zwischen den beiden Klopfen war kein kleiner: bei jenem hatte einer hereinwollen, bei diesem wollte einer heraus; beim ersten war sie übermütig aus dem Bett gesprungen, beim zweiten griff sie nach dem Waschbecken und brach, als ob sie Tollkraut gegessen hätte. So war also, trotz des Johanniskrauts, der Satan hereingekommen, und nicht nur in die Kammer, sogar bis ins Bett.

Und dann ging's schnell. Der heimliche Kummer war ihr bald vom Gesicht abzulesen. Sie selbst meinte zwar, wenn sie weiterhin tapfer die lustige Kleindirn spielte, könnte noch lange nichts aufkommen; aber sie rechnete nicht mit den scharfen Menschenaugen, 192 wenn es gilt, Glück und Unglück des Nächsten festzustellen. Sie tat immer noch tüchtig ihre Arbeit, und niemand redete darüber ein Wort, bis eines Tags die Haginghoferin bei ihr eintrat.

Neben Menas Bett stand ein Sessel; hierher setzte die Bäuerin sich, mit einem leisen Seufzer, und sagte mit gleichmütiger Stimme: »Du bist in der Hoffnung? – So jung! Nun, mich geht das nichts an. Ich denk, du tust deine Arbeit, solang du kannst, und schaust dich dann um einen Platz für die Niederkunft um. Wird der Kindesvater zahlen?«

Die Mena sagte erstaunt: »Warum soll er denn nicht zahlen? – Ist doch der Lix!«

Die Haginghoferin wollte etwas sagen, aber die Lippen flatterten nur; und die Mena genoß sekundenlang einen eigenartigen Triumph. Aber Lixens Mutter faßte sich schnell. »Du lügst!« rief sie, äußerst erbost darüber, daß man in einer so unglaublichen Weise an den Glassturz stieß. »Ich hab meine Zeugen; der Toni kommt an dein Fenster! Aber weil du so lügst, gehst du auf der Stell aus meinem Haus!«

Die Mena widersprach mit keinem Wort; sie war wie betäubt. An diese Möglichkeit hatte sie nicht gedacht. Ihr Unglück, ihre Armut und Verlassenheit kamen ihr auf einmal voll zum Bewußtsein. Sie saß wohl eine Stunde, starr und unbeweglich, und plötzlich stand ein Bild vor ihr, das Bild des Tümpels im Kalkbruch. Eine Hand legte von jenem fünfklaftertiefen Loch bis zu ihrem Herzen schwarze Bänder. Sie erhob sich keuchend, um sie zu zerreißen, um zu fliehen, aber die schreckliche Hand webte immer weiter. Sie hüllte sich in ihr Umhängtuch, das noch von der Ähnl herrührte, und trotzdem es regnete, lief sie in der einbrechenden Dämmerung gegen das Dorf hinab. Der Sturm zerrte an ihren Kleidern und klatschte ihr das Wasser ins Gesicht. Um niemand zu begegnen, strebte sie quer über die Wiesen, stolperte und fiel; der schwere Unterleib hinderte sie am richtigen Ausschreiten.

Als die Wand des Kalkbruchs aufleuchtete, erschauerte sie und blieb einen Augenblick stehen. Es ist, Berichten nach, nicht ganz sicher, ob sie zu dem schrecklichen Schritt völlig entschlossen gewesen war, aber soviel ist gewiß: sie strebte, nach einer kurzen Atempause, energisch in der Richtung des Tümpels weiter, als sich plötzlich etwas um ihre Beine legte und der blecherne Schall einer 193 Kuhglocke laut die Nachtstille durchdrang. Zugleich ergoß sich ein Lichtstreifen in die Finsternis, schwere Stiefel trabten und kraftvolle Arme faßten sie unter.

Die Ewig-Gerechtigkeit stand in dem schwach beleuchteten Hüttenraum vor ihr und jammerte: »Nein, aber nein! Wie kann man bei so einem höllischen Wetter um die Weg sein? Bist wohl in der Finsternis abgeirrt? Und in meinen Steinbruch gekommen?« Er blinzelte. »Hätt leicht ein Malheur geschehen können. Der Tümpel ist glatt voll. Aber ich hab meine Schnur gespannt.« Er lachte, in einer kindlichen Freude, als ob ihm ein besonderer Streich gelungen wär. »Die Dorfbuben, die Lumpen, treiben immer Unfug; wenn mir einer in den Tümpel kugelt, hab ich die größten Scherereien. Aber so: kling, klang, und ich hab die Kerle beim Frack.«

Er nahm das pritschnasse Umhängetuch, hing es über die Trockenstange und schürte das offene Feuer. Dann redete er: »Ja, ich kenn's wohl, das Tuch; deine Ähnl hat es allweil getragen, wenn sie in die Frühmess' gegangen ist. Das war ein gottesfürchtiges Leut! Und was die alles durchgemacht hat im Leben! Du mein Gott und Herr! Achtzehn Kinder hat sie auf die Welt gebracht! Denk's, o Mensch!« Er brannte mit einem Span seine Pfeife an.

Die Mena sah sich neugierig in der Hütte um; ein paar Pfannen an der pechglänzenden Wand, auf einem Brett einige braunlasierte Schüsseln, ein Lager aus Birkenstämmen, mit Heu ausgefüllt, und daneben Stöße alter Zeitungen.

Und die Ewig-Gerechtigkeit, die viele für einen Halbnarren ansahen, redete ganz vernünftig: »Mena, soviel sag ich: Daß ein Weibsbild ein Kind bekommt und austragt, ist die allernatürlichste Sach von der Welt. Das ist die ewig Gerechtigkeit selber! – Das arme Kindel, der Hansl oder der Hiesl oder der Mirtl, der unter deinem Herzen klopft, der will heraus, will ans Taglicht, will um keinen Preis in den Tümpel – Himmellaudon, kreuzfixdonnerstrahl!« Er spuckte ins Feuer, daß es laut aufzischte.

Die Mena fragte: »Wirst du etwas erzählen?«

»Kein Sterbenswörtl! Aber wohin willst du jetzt?«

»Ins Dorf. Die Krölljule vermittelt Stellen.«

Wie sie in die Dorfstraße einbog, hatte der Sturm sich bereits gelegt, und der Mond und die Sterne erhellten die Nacht. Die Fensterläden der Häuser waren geschlossen, und man sah kein lebendes 194 Wesen. Beim Kirchsteig bog sie ab und kniete eine Minute später vor dem Grab der Eltern. Wie sie so kniete, sah sie plötzlich mit hellster Deutlichkeit etwas, das sie bisher niemals im richtigen Sinn gesehen: unter diesem regenfeuchten Boden lagen Vater und Mutter, ein Raub der Würmer. Ein unbekanntes Gefühl breitete sich in ihrer Seele aus, so etwa, wie am Fronleichnamstag über den rauhen Weg Teppiche gelegt werden, zum Empfang des Allerheiligsten. Das Geheimnis: Leben und Tod, erschütterte sie. Und während ihre Tränen reichlich flossen, bewegten sich ihre Arbeitshände, als ob sie das Unkraut jäten wollte, aber wider Willen gruben sich ihre Finger in die weiche Erde.

Ganz wohl war ihr nicht zumute, als sie sich dem Kröllschen Haus näherte. Alle Dorfleute hatten für sie etwas Fremdes, ja Abstoßendes an sich; der eigentliche Mensch, das war der Bauernmensch, seine Welt die eigentliche Welt, die selbstverständliche und allein wirkliche, und alles andere mehr oder minder ein Spuk. Und über die Kröll-Leute gingen besondere Gerüchte um.

Der Schuhmacher Kröll saß bei einem winzigen Öllicht, über ein dickes, zerlesenes Buch gebeugt; seine Frau strickte. Die Kröllin begrüßte sie freundlich, warf zugleich auf den lesenden Mann einen strengen Blick und sagte: »Alleweil dies Buch und alleweil dies Buch! Das fliegt noch einmal in den Ofen.«

Kröll nahm wortlos seinen Hut vom Haken, blies mit einer feierlichen Miene auf ein kleines, grellrotes Hahnenfederchen, das lustig floderte, und ging dann hinaus. Die Augen seines Weibes folgten ihm; dann tat es einen so tiefen Seufzer, daß die Mena erschrak. Wie sie gewahrte, daß ihre Kleider naß waren, setzte sie sich zu ihr auf die Bank und jammerte, wie sie nur, in diesem Zustand und bei diesem Wetter, den weiten Weg habe machen können! – Sie heizte geschäftig den Ofen, kam dann wieder und gab nicht nach, bis sie ihre Kleider ablegte, um sie zu trocknen. Ja, sie zog ihr die Schuhe und Strümpfe selber von den Füßen. Wie die Mena, im Hemde, zerkrümmelt auf der Ofenbank saß, gab sie sich noch nicht zufrieden; sie zwang sie, einen Kittel und ein Leibchen von ihr anzuziehen. »Bist ja schon hoch dran«, sagte sie. »Da muß man besonders vorsichtig sein!«

Die Sache wegen eines Dienstplatzes sollte aufs beste besorgt werden. Die Kröllin stellte mit einem leichten Keuchen Milch und 195 Kaffee zu und redete in einem fort, und mit solcher Offenheit, von der Schwangerschaft und von dem, was drum und dran war, daß die Besucherin mehrmals errötete. Bot ihr auch für die Niederkunft ein Hinterstübchen in ihrem Haus an, und was das zu erwartende Kleine anbelangte, wollte sie mit der Kinderkathl reden; dort sei es am besten aufgehoben.

Der Mena war auf einmal ganz anders zumute. – Will mein Kindel recht gern haben, dachte sie, ist ja mein Kind und geht sonst niemanden was an . . . 196

 


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