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Das Vaterhaus.

Aus den Papieren eines Landpfarrers.

Das Dorf, in dem ich vor zwei Jahren Pfarrer geworden, war einer jener traulich einsamen Erdenwinkel, wie sie nirgends anmuthiger gefunden werden, als in manchen abgelegenen Seitenthälern unsers Vaterlandes. Dem Flusse entlang zerstreuten sich die einzelnen Häuser durch die schmale Thalebene, die auf den ersten Blick von allen Seiten mit waldbewachsenen Höhen umschlossen schien; kam man jedoch näher an das Dorf heran, so wichen nach Osten hin, die Hügelreihen etwas zurück und ließen im Morgen- und Abendscheine die Häupter der Schneegebirge auf das stille Gelände hereinschauen.

Die friedsame Ruhe und Beschaulichkeit dieses Dorflebens hatte mich anfänglich mit um so anmuthigerem Reize umfangen, als ich kaum dem bunten, mitunter wohl auch wilden Treiben und Wechsel des Studienlebens entronnen war; aber allmälig thaten mir's die beweglichen Wasser an, die unter den Fenstern meines stillen Pfarrhauses vorbei das Thal hinabzogen, um weit drunten Städte und Menschen zu begrüßen, mit denen ich einst ein leid- und freudvolleres Leben getheilt.

Wenn sich das Gemüth eine Zeit lang in einsamer Natur- und Selbstbeschauung gesättigt, erwacht in ihm eine erneute Sehnsucht, die gewonnenen Eindrücke und Gedanken einem mitfühlenden Menschengeiste anzuvertrauen, um sie von ihm in erweiterter und veredelter Gestalt zurückzuempfangen. Diese Sehnsucht zu stillen war mir aber in meiner gegenwärtigen Lage gar selten vergönnt. Kam auch bisweilen einer meiner Freunde des Weges gegangen, so zog er rasch wieder von dannen, wie der Zugvogel, der uns in seinem herbstlichen Nebelfluge auf's Neue die vergangenen Sommertage in Erinnerung ruft. Auch bei meinen Dorfgenossen wollte sich keine rechte Vertraulichkeit finden, die mir wenigstens einigen Ersatz für einen früher gewohnten, geselligen Verkehr geboten hätte. Kam ich irgendwo in ein Haus, so wurde ich mit der Achtung und Freundlichkeit empfangen, die diese Leute ihrem Pfarrherrn von jeher zu erzeigen gewohnt waren, sie erzählten von Acker und Haus und wohl auch von ihren Leiden und Freuden, die sonst schon zu Tage lagen; trat ich dagegen etwa Abends unversehens zu einer Gruppe, die nach gethaner Arbeit plaudernd vor dem Hause saß, so war der Faden des Gespräches sicher plötzlich abgeschnitten und all' meine Mühe, denselben wieder anzuknüpfen, vergeblich. Und doch hätte ich gerade da so gerne gelauscht!

Es war mir nämlich nicht entgangen, daß hier noch mancherlei alter Volks- und Aberglaube festgewurzelt war, wie es in dem abgelegenen, von Wald, Gebirge und Strom umfangenen Thälchen fast nicht anders sein konnte. Nicht nur an einsamern Stellen der Umgegend sollten geheimnißvolle Erscheinungen umgehen, selbst manche Häuser im Dorfe hatten ihre geisterhaften Insassen, die bei wichtigen Familienereignissen, bei bevorstehendem Glück oder großem Leid auf irgend eine Weise ihre Theilnahme beurkundeten. Ueber diese Dinge nun, von denen ich wohl wußte, daß sie oft genug ihren Einfluß auf Ansichten und Thun meiner Pfarrangehörigen ausübten, hätte ich gerne Genaueres erfahren, um hie und da einem schädlichen Vorurtheile sicherer entgegentreten zu können, oder auch um mich selbst an der poetischen Kraft und gemüthlichen Tiefe mancher Ueberlieferung zu ergötzen und zu belehren. Aber alles Bemühen konnte mir nichts helfen. Ob ich, das geborene Stadtkind, den rechten Ton ländlicher Zutraulichkeit nicht zu treffen wußte, ob die Leute sich scheuten, ihrem Seelsorger von einem Glauben, der in der Kirche nicht gelehrt wurde, Rechenschaft abzulegen – es mochte wohl beides zusammenwirken.

So war ich denn herzlich froh, als endlich die Heimkehr eines jungen Mannes aus dem Dorfe nahe bevorstand. Er war der Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie, der, ich weiß nicht durch welche Veranlassung, aus dem hergebrachten Geleise getrieben worden und sich den Studien zugewendet hatte. Persönlich kannte ich ihn nicht; aber nach Allem, was ich über ihn gehört, mußte er ein aufgeweckter Kopf sein, der sich durch Fleiß und Talent tüchtige Rechtskenntnisse erworben. Seine letzte Universitätszeit hatte er in jener fröhlichen Neckarstadt zugebracht, an die auch mir sich so manche freundliche Erinnerung knüpfte, so daß ich in dem erwarteten Ankömmling nicht nur einen theilnehmenden Gefährten meiner Einsamkeit, sondern auch einen willkommenen Vermittler zwischen mir und meinen Pfarrkindern hoffen konnte. War er ja doch ein Kind des Volkes und hatte dessen Anschauungsweise mit der Muttermilch eingesogen.

Aber auch im Dorfe selbst wurde der Heimkehr des jungen Mitbürgers mit großer Spannung entgegengesehen. Seit Menschengedenken war kein Dörfler ein »Herr« geworden, denn so bezeichnete der Volksausdruck Jeden, dessen Beruf eine Kleidung von städtischem Schnitte mit sich brachte. Vor Jahren zwar hatte ein junger Bursche den Versuch dazu gemacht und sich ebenfalls den Studien zu widmen begonnen; aber es war bei ihm, der armer Leute Kind gewesen, beim Versuche stehen geblieben. Bald hatten ihm die äußern Mittel zur Erreichung seines Zweckes gemangelt und darüber war er in Mißverhältnisse gerathen, die ihn endlich in die Hände holländischer Werber trieben. Unter den Leuten wurde nur noch mit einer Art Scheu von dem verschollenen »Hochschüler« und seinem sonderbaren Treiben und Wesen erzählt.

Anders war's nun mit des Mattenbauern Rudolf bestellt, denn bereits wagten die Dörfler den Namen aus einem gewissen Respekte nicht mehr in das landübliche »Ruedi« abzukürzen. Der Vater war während des Sohnes Aufenthalt in der Fremde gestorben; aber vor seinem Tode noch hatte er den Bau einer eigenen Wohnung für seines Herzens Stolz und Hoffnung begonnen und dieselbe war nun von dem ältern Bruder, der dem Berufe der Väter treu geblieben, und von der guten Mutter beendigt worden. Ob den Vater bei diesem Unternehmen eine klar bewußte Absicht oder nur ein ahnungsvoller Sinn geleitet – das neue Haus war außer der Kirche und dem Pfarrhause das einzige steinerne und mit Ziegeln bedeckte Gebäude im Dorfe, sauber und stattlich ausgeführt und mit allem äußern Zierath eines wohlhabenden Stadthauses; dabei aber hart an die alte Bauernwohnung angebaut, so daß zwischen beiden nicht einmal ein Durchgang offen gelassen blieb und beide Firsten in gleicher Linie fortliefen. Auch der Hofraum war nur in gleicher Breite verlängert und die niedrige Umfangsmauer friedigte die alte und neue Wohnung in gleicher Höhe ein. Freilich stellten sich das braune Strohdach und die regengrauen Holzwände fast demüthig neben die rothen Ziegelreihen und die weißgetünchten Mauern mit den grünen Fensterladen; doch ein gemüthlicher, tiefer Sinn ließ sich nichts desto weniger erkennen in dieser Anordnung. Die beiden Bruderzweige hatten sich wohl verschieden entfaltet und mußten verschiedene Früchte tragen; aber sie waren Einem gemeinsamen Stamme entsprossen und sollten in Freud' und Leid zusammengehören. Bei der Grundsteinlegung des neuen Hauses hatte der vorsorgliche Vater gesagt: »Wenn mein Rudolf heimkommt, kann er gleich seine eigene Haushaltung anfangen, des Oberamtmanns Rosette rüstet sich schon lange darauf; freilich gut ist's, daß meine Alte noch mithelfen kann.« –

Am Abend der erwarteten Heimkunft drängte sich das ganze Dorf des Mattenbauern Hause zu. Schon am Vormittage war der ältere Bruder, die zwei starken Ackerpferde vor das altväterische Bernerwägelein gespannt, fortgefahren, um den Ankömmling in dem einige Stunden entfernten Städtchen abzuholen. Das sehnsuchtsvolle Mutterherz fand in den engen vier Wänden ebenfalls keine Ruhe mehr. Sie trippelte, fast sonntäglich angethan, um das Haus herum, oder ging eine Strecke weit vor das Dorf hinaus, um mit halb thränendunkeln Blicken nach dem Wald hinabzuschauen, von dem die Straße heraufführte. Langsam und zögernd zurückkehrend trat sie in ein Nachbarshaus und klagte, daß der Vater diesen Freudentag nicht mehr habe erleben können, nach dem er sich noch auf dem Todbette so sehr gesehnt hatte. Als am Abend die Dorfbewohner von allen Seiten herankamen, konnte die gute Frau nicht mehr aus dem Weinen kommen.

Ihre Sehnsucht, wie die Geduld der übrigen Harrenden wurden indessen auf eine harte Probe gesetzt. Außerhalb des Dorfes hatte sich auf einer kleinen Anhöhe an der Straße eine Schaar Altersgenossen Rudolfs versammelt, die den ehemaligen Schulkameraden nach herkömmlichem Festbrauche mit Freudenschüssen zu empfangen gedachten. Von diesen erwarteten die im Dorfe Versammelten das Zeichen der Ankunft. Aber es war längst Nacht geworden, die vorher von gemeinsamer Erwartung um das Haus des Mattenbauern zusammengedrängten Dörfler lösten sich bereits zum Heimgehen in einzelne Gruppen auf und noch immer wollte kein Schuß vom Walde heraufknallen. Endlich doch – eins – zwei – es ließ sich das Knattern einer ganzen Gewehrsalve hören und hintendrein donnerten kräftig einige Mörserschläge. Aber sofort war es wieder still und der plötzlich aufgeregten Erwartung folgte die unmuthige Enttäuschung, daß sich die Schützen entweder selbst getäuscht, oder mit den im Dorfe Wartenden einen muthwilligen Scherz haben treiben wollen. Und doch – es ließ sich das Geräusch eines nahenden Gefährtes hören. Es kam langsam, leise die Straße herangefahren. Die Mutter lief ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und rief schon von weitem durch die Dunkelheit: »Ruedeli, Ruedeli, bist endlich da!« – »Nein, Mutter,« antwortete der ältere Bruder mit gedrückter Stimme, indem er vom Wägelchen stieg, »der Rudolf ist nicht bei mir; er will später mit einem Herrn aus der Stadt herausfahren – ich bin allein gekommen.« –

Dieser Vorgang, den ich von Leuten erfuhr, die der Heimweg am Pfarrhause vorbeiführte, konnte seinen bemühenden Eindruck auf mich nicht verfehlen. Einen Bruder, den man Jahre lang nicht gesehen, und der uns jetzt im Drange einer natürlichen Liebe entgegeneilt, allein zurückschicken, um den Weg mit einem andern, wenn auch noch so befreundeten Menschen zu machen – der Gedanke war mir zu seltsam und hart, als daß er die richtige Wahrheit enthalten konnte. Es lag ja nahe genug, der Ankömmling hatte blos beabsichtigt, die zudrängende Menge abzuwehren, um die heilige Stunde der Heimkehr in's Vaterhaus einzig mit seinen Erinnerungen und Denjenigen, die seinem kindlichen Gefühl am nächsten standen, feiern zu können. –

Wer nie in ferner Fremde gewesen, der hat auch nie erfahren können, welch süßen Schauer der Name Vaterhaus in sich schließt; wen nie in weiter Ferne die Trauerbotschaft erreicht, daß uns daheim Vater oder Mutter in's Grab gelegt worden, deren letzter Laut noch unsern Namen gestammelt, der kann nicht ahnen, welch geheimnißvolles Band sich von der Schwelle, über die wir in's Leben getreten, zu jenem Grabe schlingt, in das nun ein geliebtes Leben versunken ist. Ach, wie tauchen mit lächelndem Schmerze die Bilder empor, die vielleicht schon zu lange in unserer Seele geschlafen! – Dort steht ja noch unser erstes Bettlein in der Ecke der braungetäferten Hinterstube; es sind zwanzig und mehr Jahre vergangen, aber wir sehen mit deutlichem Blick, wie die Mutter daran niederkniet und uns die Händchen faltend ein Gebetlein vorspricht; der letzte Abendschein bricht durch das Fenster und spielt mit zitternden Lichtern an der Decke über unsern Häuptern hinweg. Sind das nicht die Engelein, deren Schutze uns die Mutter empfohlen, die jetzt da auf goldenen Schwingen hereinschweben? – Auf unsere müden Augen senken sich alsgemach Kinderträume und der leise Schlafgesang verhallt dem Ohre, wie der verwehende Ton eines fernen Abendglöckleins. – Die Mutter ist nun vielleicht selbst aus dem Leben gegangen, aber drum können wir jenes braune Stübchen doch nie vergessen, in dem sie uns zuerst die Ahnung von einem Ewigen geweckt hat. – Wie sehnen wir uns, es wiederzusehen mit all' den wichtigen Winkeln des Vaterhauses, die einst unsere Kinderwelt gewesen. Und endlich das stille Lager, auf dem Vater oder Mutter die Augen zum letzten Schlafe geschlossen! – Seid mir von fern und nah' gegrüßt, ihr trauten Stätten, auf denen das kindliche Gemüth seine Bündnisse mit dem Vergangenen und Künftigen in heiliger Stille feiert! –

So träumte ich, mich in die Empfindungen und Gefühle des erwarteten Ankömmlings versenkend, am offenen Fenster meines Pfarrhauses in die milde Sommernacht hinaus, als über das längst still gewordene Dorf herauf plötzlich das Knallen kräftiger Schüsse erscholl. –

Am folgenden Nachmittage ging ich zu des Mattenbauern, um dem jungen Rechtsgelehrten meine Freude über seine glückliche Heimkehr zu bezeugen. Er hatte am Mittag seinem Freunde aus der Stadt, der ihn wirklich in der Nacht heimgebracht, das Geleit gegeben und war noch nicht zurück. Die Mutter konnte nicht genug Worte finden, wie groß und hübsch der Ruedeli geworden, und so vornehm sehe er aus, daß sie fast Angst habe, ordentlich mit ihm zu sprechen; aber freilich, beklagte sie sich plötzlich zwischenhinein, viel Gelegenheit gab's dazu auch noch nicht. Der Herr aus der Stadt ist ihm keinen Augenblick von der Seite gegangen, so daß wir noch fast nichts reden konnten. Der ältere Bruder hörte den Lobpreisungen der Mutter eine Zeit lang schweigend zu, dann ging er hinaus und schlich langsam, ohne eine Arbeit anzufassen, um's Haus herum.

Bei anbrechendem Abend kehrte Rudolf endlich zurück. Er stellte sich in der That als ein schöner, gewandter Mann dar, dem auch ein feingeübtes Auge kaum angesehen haben würde, daß seine Wiege in einem einsamen Bauernhause gestanden. Nach unserer Begrüßung wollte ich mich mit einer freundlichen Einladung in's Pfarrhaus entfernen, um der Familie einmal Gelegenheit zu ungestörter Herzensergießung zu geben. Herr Rudolf wehrte sich dagegen und bald hatte er mit großer Leichtigkeit ein Gespräch angesponnen, das mir eine Reihe drolliger und ernster Bilder aus der alten Universitätsstadt an der Erinnerung vorüberführte.

Es war unterdessen dunkel geworden in der Stube und die Mutter zündete eben die Lampe an, als hart hinter uns ein gellender Schrei ertönte, der wie der letzte Schmerzruf eines brechenden Lebens durch Mark und Seele ging. Ich sprang entsetzt auf und sah bei dem ungewissen Lichtscheine eine gebückte Gestalt durch die Thüre wanken, die mit ihren langen eisgrauen Haaren und dem fahlen Gesichte dem Grabe entstiegen schien. »Mein Bettlein, Mutter, mein Bettlein,« schrie die durchdringende Stimme noch einmal, indem sich zwei zitternde Hände nach dem Lichte ausstreckten, »mein Bettlein ist gestohlen.« »Ach nein, Großvater,« sagte die Frau begütigend und die Hände des Alten fassend; »aber sieh' da, der Ruedeli ist wiedergekommen – kennst du ihn nicht mehr?« – Der Greis starrte dem Jüngling eine Weile mit blöden Augen in's Gesicht, schüttelte den grauen Kopf und murmelte hastig: »der Runcival, der Runcival.«

Während ich meinen jähen Schreck abschüttelnd mich besann, daß das der alte Vater des todten Mattenbauern sei, der, schon längst an Kindesstatt gekommen, seine Tage in einem Hinterstöcklein des Bauernhauses verbrachte, fragte Rudolf, unwillig über die seltsame Störung: »Wie kommt er daher, wer hat ihn herausgelassen?«

»Ich selbst,« antwortete der ältere Bruder, der unterdessen in die Stube getreten war; »ich wollte ihn ein wenig an die frische Luft führen, als er mir an der Thüre unversehens entsprang und hereinkam. Komm', Großvaterle,« fuhr er den Alten an der Hand fassend fort, komm', wir gehen in den Garten.«

»Mein Bettlein, mein Bettlein,« wimmerte der Greis, indem er sich willenlos fortführen ließ, »der Runcival hat mir das Bettlein gestohlen.«

Rudolf saß eine Weile schweigend, ohne daß die Röthe des Unwillens von seiner Stirne weichen wollte. »Was meint er denn mit dem Bettlein stehlen,« fragte er endlich. »Ach,« erwiderte die Mutter sichtlich bekümmert, wir mußten ihm während des Bauens das Bett in seinem Stüblein an eine andere Stelle rücken, und seither sagt er immer, der Runcival hab' es ihm gestohlen.«

Der junge Rechtsgelehrte konnte seine Mißstimmung nicht bemeistern. Er entließ mich mit dem Versprechen, mich übermorgen im Pfarrhause aufzusuchen, für morgen sei er anderweitig in Beschlag genommen.

Am folgenden Abend, als es bereits dunkelte, wurde bescheiden an meine Thüre geklopft und mit schüchternem Gruße trat Rudolfs älterer Bruder herein. Ich hatte ihn immer als einen stillen, nachdenklichen Menschen gekannt, der sich selten in die laute Lustbarkeit seiner Altersgenossen gemischt; aber jetzt erschrak ich fast über den Ausdruck tiefster Bekümmerniß, der auf seinem Gesichte lag. »Ei, Jakob,« rief ich ihm entgegen, »es wird doch zu Hause nichts Unrichtiges gegeben haben, daß Ihr so betrübt ausseht!«

»Wie man's nimmt, Herr Pfarrer; ich möcht' Euch gerne um Rath und Beistand bitten.«

»Von Herzen gerne, wo und wie ich kann.«

»Ich hatte mich,« begann er leise, »schon so lange auf des Bruders Heimkunft gefreut, vielleicht sogar mehr als der Vater selig und die Mutter. Der Rudolf ist mir, so lange ich nur weiß, das Liebste auf Erden; ich hatte so eine Art geheimen Stolz auf ihn und Gott weiß es, ich würde Tag und Nacht für ihn gearbeitet, gehungert und gedurstet haben, ohne nur ein einziges Mal zu murren.« – Er hielt inne und fuhr mit der schwieligen Hand über die Augen, in die sich große Thränen drängen wollten.

»Nun ja, Jakob,« sagte ich von der Aeußerung dieser anspruchslosen Liebe ergriffen, »der Bruder wird das aber gewiß auch anerkennen und Gleiches mit Gleichem vergelten.«

»Ich weiß nicht,« fuhr er den Kopf leise schüttelnd fort, »vielleicht nehme ich Manches anders auf, als er's meint, und dann kann ich mich auch nicht so ausdrücken wie mir's um's Herz ist. Aber soviel ist nun schon wahr, die langgehoffte Herzensfreude auf das Wiedersehen ist mir zu Wasser geworden und – wenn's nur nicht weiter kommt.«

»Ihr habt doch keine Uneinigkeit gehabt mit einander?«

»Ach, ich habe gleich gemerkt, daß wir's ihm mit dem Bauen nicht recht gemacht. Nun ist heute auch noch seine Braut, des Amtmanns Rosette da gewesen, die ihn noch mehr mag aufgereiset haben. Als er vorhin fortging, um sie heimzubegleiten, hat er zu mir gesagt, es bleibe nichts Andres übrig, als das alte Haus abzubrechen … wenn das der Vater im Grabe wüßte!«

Diese Worte, die in tief klagendem Tone gesprochen waren, überraschten mich; ich ahnte, welchen Weg die Gedanken und Gefühle des einfachen, guten Mannes einschlugen und konnte meinen Unwillen über die rasche Rücksichtslosigkeit des Bruders nicht sofort bemeistern. Nach einigem Besinnen jedoch sagte ich: »Nun freilich, Jakob, der Bruder, der Vieles gesehen in der Welt draußen, wird eben finden, daß sich das alte Haus neben dem neuen nicht gar stattlich ausnehme; aber Ihr seid ja wohlhabend und könnt' Euch bequem ein ebenso hübsches bauen, als das Eures Bruders selbst ist.«

Der Mann senkte das Gesicht einen Augenblick, dann erhob er sich und sagte bekümmert, aber fest: »Das ist's nicht, Herr Pfarrer, und am Geld hab' ich nie so sehr gehangen; aber mit meinem Willen soll mein elterliches Haus, in dem wer weiß wie viele der Unsrigen glücklich gelebt und selig gestorben, nie von Menschenhand zertrümmert werden. Mir wär's, als müßt' ich den Sarg des eigenen Vaters zerbrechen helfen.«

»Ein Haus ist auch nur Menschenwerk,« erwiderte ich zögernd, »und muß wie alles Irdische vergänglich sein.«

»Ja wohl,« sagte der Andere bewegt, »durch Gottesgewalt, durch Alter, Feuers- oder Wassersmacht; aber, wie der Menschenleib, soll es nicht durch Menschenhände zerbrochen werden.«

Ich sah den Mann erstaunt an, der sonst blöde und schüchtern, jetzt mit fast beredtem Munde Worte so tiefer Empfindung sprach. Unwillkürlich mußte ich ihm mit warmem Drucke die Hand reichen und versprach, von Herzen gerne mein Möglichstes zur Abwehr des befürchteten Unfriedens anzuwenden. Wie und was ich indessen werde thun können, darüber mußte erst eine nähere Kenntniß des Wesens und Charakters des jungen Rechtsgelehrten entscheiden.

Rudolf kam am folgenden Nachmittage, wie er versprochen, zu mir. Unter mancherlei Gesprächen, in denen sich der ebenso scharfe Verstand als der ergötzlichste Humor meines Gastes wiederspiegelte, war schnell der Abend herbeigekommen und wir beschlossen, noch einen Gang in's Freie zu machen. Nachdem wir einige Schritte schweigend am Flusse hingegangen, sagte er: »Ich habe ganz und gar vergessen, mich über die unangenehme Störung zu entschuldigen, die der kindische Großvater vorgestern Abend veranlaßt hat. Es ist eben immer fatal, mit solchen Unglücklichen in einem Hause leben zu müssen; so lange indessen der Staat nicht für zweckdienlichere Anstalten sorgt, läßt sich's nicht wohl ändern.«

»Mir ist dabei eingefallen,« entgegnete ich, »daß manche Völker dieser Art von Geistesschwachen eine ganz besondere Verehrung erweisen und sie als durch Prophetengabe Geheiligte ansehen.«

»Besser wär's immer, der Himmel würde sich ihrer erbarmen und sie in die Zahl seiner wirklich heiligen Bewohner aufnehmen.«

»Am Ende wohl,« sagte ich, »von dem halbspöttischen Tone meines Begleiters nicht eben angenehm berührt, und doch bieten sie uns das vollkommenste Bild menschlichen Daseins. Als Kinder betreten sie das Leben, als Kinder verlassen sie dasselbe.«

»Drum kann auch nur, was zwischen diesen Enden liegt, zum eigentlichen Leben gerechnet werden,« entgegnete Rudolf.

Ich hatte keine Lust, gegen diese Auffassung des Verstandes dem Räthsel, das allen Anfang und alles Ende umschließt, seine Bedeutung zu wahren und fragte daher nach einigem Besinnen: »Was wollte wohl der Großvater mit dem Worte Runcival, das er mit so besonderem Ausdrucke wiederholte?«

»Ach,« antwortete der junge Rechtsgelehrte, »das ist auch eine von den dummen Geschichten, über die ich mich so oft geärgert habe. Es soll in unserm Hause von Alters her ein Geist hausen, dem sie jenen Namen geben und der sich vor jedem Unglücke, das die Familie bedroht, bemerkbar mache.«

»Glauben die Ihrigen an das Vorhandensein eines solchen Wesens?«

»Außer mir hat gewiß noch Niemand daran gezweifelt,« sagte Rudolf lachend.

»Mir ist's,« entgegnete ich, »ich habe das Wort schon in der Bedeutung von Unglück oder Nachtheil überhaupt aussprechen hören und dabei kam mir unwillkürlich das vielbesungene Thal Ronceval in den Sinn, in dem Kaiser Karl der Große seinen Siegesruhm und seine besten Helden mit Roland verloren.«

»Könnte sein, daß das zusammenhinge … aber was würd' es uns nützen?« sagte Rudolf leichthin.

»Nun, nützen gerade nicht viel,« meinte ich; »immerhin aber wäre es ein neuer Beleg, mit welcher liebevollen Zähigkeit das Herz des Volkes an dem Hergebrachten, an, wenn auch halbverklungenen, Erinnerungen festhält.«

Unter diesem Gespräche hatten wir eine kleine Anhöhe erreicht, als eben der Mond in seiner ganzen Herrlichkeit über dem Walde emporstieg. Hinter uns in der Tiefe hatte sich über Thal und Fluß ein rasches Dunkel gelagert, während die bleichen Lichtwellen mit unsäglichem Frieden um die still emportauchenden Baumwipfel spielten. Die Häuser blieben unter den weitschattigen Kronen verborgen und das ganze Gelände schien blos mit leiswehendem Buschwerk bedeckt; nur zu unterst im Dorfe erhoben sich immer heller die noch freistehenden weißgetünchten Mauern des neuen Mattenhauses, bis sie sich zuletzt fast silberschimmernd gegen den schwarzen Waldhintergrund abhoben und einen dämmernden Wiederschein zugleich auf das daranstoßende Strohdach warfen. Schweigend betrachteten wir das liebliche Lichtbild, bis ich endlich sagte: »Seht, Herr Rudolf, Euer neues Haus da drunten erscheint wie ein angezündetes Ehrenlämplein, das sein Licht auch auf das dunkle Vaterhaus zurückwerfen muß.«

»Da hat sich Euch ein bedenkliches Bild dargeboten, Herr Pfarrer,« erwiderte mein Begleiter, »seit dem ersten Augenblick meiner Heimkehr hab' ich mich geängstigt, es könnte in dem alten hölzernen Hause Feuer ausbrechen und so dem neuen eine frühe Todesfackel angesteckt werden.«

»Wie seltsam! Das alte Haus ist doch wohl schon Jahrhunderte glücklich an dieser Gefahr vorübergegangen. Und auch sonst hat es, wie ich gehört, fast seit Menschengedenken nie gebrannt im Dorfe.«

»Was lange ausgeblieben, kann jeden Augenblick eintreffen,« sagte Rudolf; »ich werde deshalb das alte Strohhaus abbrechen und ein anderes, dem neuen anpassendes an die Stelle setzen lassen.«

Der bestimmte Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, ließ mir wenig Hoffnung, den Wünschen des Bruders förderlich sein zu können. Unsicher, was ich entgegnen sollte, da ich an den angeführten Grund der Feuersgefahr weder gedacht, noch auch wußte, wie ernstlich derselbe gemeint war, sagte ich nach einer Weile: »Mich hat neben allen sonst wohlerkannten Uebeln des Ahnenstolzes doch immer jene Sorgfalt angesprochen, die edle Geschlechter auf die Erhaltung des verwitterten Trümmerhaufens verwenden, von dem einst ihres ›Stammes Hoheit ausgegangen.‹ Es liegt in diesem Bestreben wenigstens ein rührendes Bekenntniß der Zusammengehörigkeit mit den Vorangegangenen, ein Handreichen über Zeit und Grab hinweg, das sich gewiß nur dem eigennützigen Verstande in eitlen Stolz verkehren kann.«

»Recht schön gesprochen, Herr Pfarrer,« rief der Rechtsgelehrte, »aber zum Glück ist uns Republikanern der Ahnenstolz schon von vornherein untersagt, obwohl jeder froh sein mag, einen rechten Ehrenmann zum Vater gehabt zu haben.«

»Was nach Ihrer Meinung dem Einzelnen untersagt ist, nimmt das ganze Volk dafür um so unbehinderter in Anspruch; denn wirklich wüßt' ich kein ahnenstolzeres Volk, als gerade das unserige, und das hat gewiß zur Kräftigung des Gefühles seiner Zusammengehörigkeit nicht wenig beigetragen. Sehen Sie nur, wie sich dies im Einzelleben oft so rührend zeigt. Die Kinder eines Hauses zerstreuen sich weit umher auf den verschiedensten Lebenswegen. Nur Eines ist im Vaterhause geblieben; aber Alle kehren oft genug von der nämlichen Sehnsucht getrieben wieder dahin zurück und finden da den Knoten, der die ursprünglichen, durch's Leben vielleicht gelockerten Bande auf's Neue fester zieht. So ist das Vaterhaus der Tempel, in dem das ewige Lichtlein der Familienliebe brennt, und drum vergeistigt auch die Sprache das Wort Haus so tiefsinnig in den Begriff der Familie selbst. Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen.«

»Nun, Herr Pfarrer,« erwiderte mein Begleiter, »ich muß Ihnen zu meinem Leidwesen gestehen, daß ich seit Jahren ein schlechter Kirchgänger geworden bin. Aber im Ernste gesprochen: in meiner Lage habe ich nur vorwärts und nicht rückwärts zu blicken; gerade deshalb will ich für mich und die Kommenden ein sicheres Haus gründen, wie ich eines wünsche. Und gewiß – bei Ausführung dieses Vorhabens werde ich jeden allfälligen Widerstand zu beseitigen wissen.«

Das war deutlicher gesprochen, als für mich gerade nothwendig gewesen wäre. Am Pfarrhause angekommen, sagten wir uns kühler »gute Nacht«, als wohl Beide am Mittage erwartet hatten. –

Eine unerwartete amtliche Angelegenheit nöthigte mich, nach der ziemlich entfernten Hauptstadt des Kantons zu verreisen. Die Geschäfte hielten mich einige Zeit daselbst zurück und mußten meine ganze Thätigkeit in Anspruch nehmen. Um so lebhafter traten mir die Verhältnisse meines Dorflebens wieder entgegen, als ich bei der Rückkunft, von der breiten Thalstraße ablenkend, den stillen Seitenweg einschlug, der zwischen Gebüsch und dunklem Tannenwald nach meiner Einsamkeit hinaufführte. Natürlich war es zunächst wieder der studierte Sohn des Mattenbauern, der mein stilles Sinnen in Anspruch nahm. Es beschlich mich ein nicht abzuwehrendes, wehmüthiges Gefühl der Vereinsamung, als ich an die freundlichen Hoffnungen und Pläne dachte, die ich an seine Heimkehr geknüpft hatte. Ich fühlte, daß etwas zwischen uns lag, das kein recht trauliches Zusammenleben erwarten ließ; und doch, redete ich mir wieder ein, wird es sich wohl ausgleichen, ist erst einmal diese Hausangelegenheit beseitigt und die Angewöhnung an heimische Luft und Erde festgewonnen. Der Mann hat in der Fremde im gelehrten Formenkram der Schule die ursprünglichen Wurzeln verloren, aus denen sein natürliches Wesen aufgekeimt; aber schon sein klarer Verstand wird sie ihn wieder suchen lehren und dann auch sein Gemüth an den neuen Quellen sich erfrischen. –

Unter solchen Gedanken und Träumereien war ich langsam meines Weges gegangen, kaum beachtend, daß sich mir der Mond schon lange als Begleiter zugesellt. Als ich aus dem Walde trat, lag das Dorf bereits in tiefste Ruh' versunken, kein Lichtlein, kein Laut, nur das Rauschen des Flusses machte sich vernehmlicher durch die nächtliche Stille; ein ununterbrochenes Schlaflied, das Thal und Wald in Schlummer gelullt. Unwillkürlich trat ich selbst leiser auf, um den ruhevollen Frieden, der mir durch die Sinne in die Seele zog, mit vollen Zügen einzuathmen.

Als ich gegen das Haus des Mattenbauern herankam, meint' ich einen schwachen Lichtschimmer zu bemerken. Nein, ich hatte mich getäuscht – und doch, es zeigte sich wieder ein Flimmer zwischen den Bäumen hindurch. Unter Neugierde und Besorgniß trat ich von der Straße ab, dem Hause zu; vielleicht daß sich die Bewohner in traulichem Beisammensein den Schlaf verkürzten, vielleicht – oder es konnte auch Eines krank geworden sein, bei dem Nachtwache gehalten werden mußte. Aber ein lauter Ausruf der Ueberraschung entfuhr meinen Lippen, als ich endlich an das Hofgemäuer gekommen das Wirkliche ersehen konnte. Es brannte kein Licht im Hause; nur waren im Innern die Wände niedergeschlagen, Fenster und Thüren herausgehoben und durch ihre leeren Höhlen fiel der Mond in die öden Räume, mit gespensterhaftem Flimmern durch das Chaos irrend, als suchte er vergeblich die stille Heimlichkeit, die vor Kurzem noch hier gewaltet hatte. Es weht ein seltsames Grauen um solch ein Haus, an das sich die Hand der Zerstörung gelegt, wie um eine Leiche, deren klaffende Wunden einen gewaltsamen Tod verkünden, deren stummer Mund aber das geheimnißvolle Siegel des Todes nicht mehr zu lösen vermag. Während ich unbeweglich die unheimliche Erscheinung anstarrte, erhob sich langsam gerade vor der Thürschwelle eine dunkle Gestalt, die sich auf dem falben Hintergründe in's Uebermenschliche emporzustrecken schien. Ein kalter Schreck rieselte mir durch die Glieder, bis eine tiefe Stimme fragte: »Wer ist da, was willst du?« – Ich kannte diese Stimme und hochaufathmend erwiderte ich: »Nur ich bin's, Andres, sei ohne Sorge.«

»Ach, Ihr seid es, Herr Pfarrer,« sagte der alte Knecht näher tretend, »ich bin da vor der Thüre fast eingeschlafen, glaube ich.«

»Aber sag' mir, was hat's denn hier gegeben, was soll das zu bedeuten haben?«

»Nicht viel Gutes, fürcht' ich,« erwiderte Andreas wehmüthig; »der Herr Rudolf geht rasch zu Werk. Das alte Haus muß sogleich bis an die Bescheurung niedergerissen werden, damit an seiner Stelle ein neues noch vor dem Winter unter Dach gebracht werden könne.«

»Aber der Jakob, dein Meister, mein' ich, und die Mutter, was sagen denn sie dazu?«

»Ach, die Mutter hat anfänglich wohl geweint, es war ihr gar nicht recht; aber dem Rudolf kann sie doch nichts abschlagen. Und der Meister – nun der sagt auch nicht mehr viel.«

»So gibt er sich zufrieden?« fragte ich rasch zwischen Furcht und Hoffnung.

»Das möcht' ich nicht behaupten, Herr Pfarrer,« erwiderte der alte Mann nachdenklich; »anfänglich hat er sich stark gewehrt; er hat auch geweint, ich kann's Euch wohl sagen – ja, es wollte mir fast das Herz zersprengen. Er lag droben hinter'm Heustocke verborgen und hat dort geweint wie ein Kind. Freilich als er wieder herunterkam, sah man ihm nichts mehr an. Er war still und hat seitdem nicht mehr viel gesagt.«

»Und die Leute,« fragte ich bange, »wo sind sie denn jetzt?«

»Die Mutter mit den beiden Mägden schläft heute zum erstenmale im neuen Hause drüben; der Meister mit dem Großvater ist zur Base in's Dorf hinaufgegangen, und ich, nun Ihr seht ja, ich will diese Nacht noch einmal da Wache halten. Morgen früh beginnt der Abbruch von der First herunter – es sind an dreißig Mann bestellt.« –

Voll unruhiger Bekümmerniß wünschte ich dem treuen Knechte, der seines Herrn Haus nicht verlassen wollte, bis es in einen Haufen russiger Balken zusammengeworfen war, gute Nacht, um mich heimzubegeben. Aber trotz aller Ermüdung konnte ich lange keine Ruhe finden, und schon dämmerte ein bleicher Morgenschein, als mir endlich der Schlaf die Augen schloß.

Ich mochte etwa zwei Stunden geschlummert haben, als an meine Thüre geklopft wurde, und die wohlbekannte Stimme des Andres draußen bat, ich solle doch schnell zu des Mattenbauern hinunterkommen. Rasch sprang ich aus dem Bette, um zu fragen, was vorgefallen sei; aber Andres hatte sich auf meine erste Antwort schnell entfernt und bereits hörte ich ihn die Thüre des Pfarrhauses hinter sich zuziehen. Ueber dem Ankleiden dachte ich, der ältere Bruder werde vor dem Beginne des vollen Zerstörungswerkes noch einen Widerstandsversuch gemacht und der gute Andreas mich zu dessen Beistand heimlicherweise beschieden haben. Der Gedanke war mir nicht angenehm, da die häusliche Angelegenheit nun ohne Zweifel vor vielen unnützen oder gar schadenfrohen Menschen verhandelt werden mußte; aber doch war ich bald entschlossen, dem jüngern Bruder mit aller Entschiedenheit die Schonung und Rücksicht entgegenzuhalten, die der ältere von ihm verlangen konnte. Als ich indessen auf die Straße gekommen, sah ich bereits viele Menschen das Dorf hinuntergehen und auf meine Frage wurde mir geantwortet, es habe bei des Mattenbauern ein Unglück gegeben.

Zur Stelle gekommen, bot sich mir ein erschütternder Anblick dar. Auf der Schwelle vor dem alten Hause saß Jakob, von einem dichten Gedränge Männer und Weiber umstanden, das Gesicht unbeweglich vorwärts gebeugt in beide Hände gestützt; in seinem Schoße hielt er fast verborgen das Haupt des alten Großvaters, der kaum halbbekleidet regungslos dalag. Zu seinen Füßen kauerte laut weinend die Mutter und neben ihr stand scheinbar ruhig, aber mit todtbleichem Gesichte Rudolf, der junge Rechtsgelehrte. –

Es gibt Lagen, in denen sich auch das wohlgemeinteste Trostwort in's Herz zurückdrängen muß, wenn es nicht, statt den vorhandenen Schmerz zu lindern, eine neue Wunde schlagen soll. So sah ich bald, daß auch hier weder ein Arzt der Seele noch des Leibes helfen könne – das Unvermeidliche mußte eben mit der Jedem verliehenen Kraft getragen werden.

Unter Thränen erzählte mir der alte Andres den traurigen Vorfall, mit dem der Tag seinen Anfang genommen. Lange nach Mitternacht hatte ihn auf seinem Posten ein leiser Schlaf beschlichen, als er plötzlich meinte, es sei eine flüchtige Gestalt an ihm vorübergehuscht; aber drinnen im öden Hause war's still, nur daß hie und da ein lose gewordener Balken erkrachte; draußen herrschte tiefe Stille und der Mond war eben hinter'm Tannenwalde niedergegangen. Andres dachte, es habe ihn ein Traumbild geneckt – oder dann war's ein Wesen, dem doch keine Menschenhand Halt gebieten konnte, wenn es noch einmal die langbewohnten Räume durchschreiten wollte. Erst als nach Tagesanbruch der Meister aus dem Dorfe herabkam und angstvoll erzählte, der Großvater sei in der Nacht aus dem nicht genugsam verwahrten Stübchen verschwunden, fiel es Andres ein, das möchte vielleicht die nächtliche Erscheinung gewesen sein. Man suchte, man rief – vergeblich. Aber als die bestellten Arbeiter gekommen waren und Einer droben an der Firstecke die erste Oeffnung in's Dach gebrochen hatte, rutschte er pfeilschnell und lautschreiend wieder die Leiter hinunter und erzählte schreckenbleich: droben auf dem obersten Dachbalken über dem alten Fruchtboden sitze der Runcival, der mit grinsendem Gesichte und aufgehobenen Fäusten nach ihm gedroht habe.

Im nämlichen Augenblicke ließ sich unter'm Dache herab ein so schrilles Gelächter hören, daß auch den muthigern Männern der Schreck über die Glieder fuhr; Jakob aber stürzte in's Haus hinein und rief mit bittender, schmeichelnder Stimme: »Großvater, Großvaterle, halt dich fest und bleibe stille, ich komme zu dir.« Jetzt, da das Licht durch die gebrochene Dachlücke hereinfiel, konnte man's sehen; hoch droben, fast unter der First saß rittlings auf einem Balken der vermißte Großvater. Kein Mensch konnte begreifen, woher er die Kraft genommen, da hinaufzuklettern.

Man legte Leitern an und Jakob rief alle Schmeichelnamen, mit denen er sonst den kindischen Greis begütigt hatte. Umsonst, dieser rutschte vor den Herannahenden mit großer Behendigkeit auf dem Balken hin und her, bis er mit einem erschütternden Aufschrei in die Tiefe stürzte. –

Zwei Tage später wurde die Leiche des alten Mannes zu Grabe getragen. So lange ich im Dorfe gewesen, hatte ich kein solches Todtengeleite gesehen. Alt und Jung folgte dem Sarge und über alle Gesichter schienen die Schauer einer geheimnißvollen Geistermacht hinzuwehen.

Nach beendigter Feier kam mir Jakob in's Pfarrhaus nachgegangen, um tiefgerührt für die Worte zu danken, die ich am Grabe gesprochen hatte. Dann reichte er mir die Hand und sagte bewegt: »Und nun lebt wohl, Herr Pfarrer; der Himmel mög' es Euch vergelten. Wenn's die Mutter einmal nöthig haben sollte, so wird sie bei Euch wohl Trost und Hülfe finden.«

»Wie, Ihr werdet uns doch nicht verlassen wollen, Jakob?«

»Ich geh' in die weite Welt, Herr Pfarrer.«

»Aber bedenkt doch,« versuchte ich ihm zuzureden, »jetzt mag ja Alles noch gut werden. Gewiß wird nun nach dem betrübenden Unglücksfalle der Bruder nicht mehr so hartnäckig auf seinem Vorhaben bestehen und dann, glaubt es mir, wird die Zeit auch bald ihre heilende Hand auf die empfangene Wunde legen.«

»Es geht nicht mehr,« erwiderte er mit leisem Kopfschütteln; »ich gehe ohne Groll und ohne Jemandem an dem Vorgefallenen Schuld zu geben. Der Himmel walt' es, daß es meinem Bruder wohlergeht und die Mutter in ihren alten Tagen Freude an ihm erlebt. Aber in dem Hause könnt' ich nicht bleiben; ich müßte Tag und Nacht das sterbende Gesicht des alten Großvaters sehen.«

Der arme, in allen seinen langgehegten Hoffnungen geknickte Mann ging und ich habe ihn nie wiedergesehen. Später hieß es, er habe sich einen Theil seines Vermögens nachschicken lassen und sei damit nach Amerika gegangen. –

Die Zerstörungsarbeit an dem alten Hause hatte durch diese Vorgänge begreiflicherweise eine Unterbrechung erlitten und ich glaube, sie wäre wohl nicht weitergeführt worden, wenn der ältere Bruder die Heimath nicht verlassen hätte. Herr Rudolf wurde still und nachdenklich und es war deutlich bemerkbar, daß ihn die unvorhergesehenen Ereignisse tief ergriffen hatten; aber es fehlt im Leben nie an Verhältnissen, die fast wider Willen zur Ausführung eines einmal gefaßten unglückseligen Gedankens drängen.

Dem jungen Rechtsgelehrten konnte nicht entgehen, daß die günstige Stimmung, mit der die Dorfbewohner seine Heimkehr erwartet und begrüßt, nun plötzlich in ihr Gegentheil umgeschlagen hatte. War diese Beobachtung wohl geeignet, ihn zu verstimmen, so glaubte er einem weitern Gerede der Leute um so weniger Rechnung tragen oder gar Nahrung geben zu sollen; denn alsbald hieß es: Rudolf wage den Abbruch des Hauses gar nicht mehr fortzusetzen; seit dem Tode des alten Großvaters gehe der alte Hausgeist allnächtlich um, so daß der junge Herr sich nach eingebrochener Dunkelheit nicht mehr vor seine Thüre getraue. Wenn dem nicht so wäre, so würde das halb zertrümmerte Haus bald niedergerissen sein, das ja überhaupt nicht mehr nöthig sei, seit der arme Jakob in die weite Welt gegangen.

Herr Rudolf wollte diesem böswilligen und abergläubischen Gerede, wie er sagte, nicht länger Recht geben. Er mochte sich nicht denken, daß das Volk in diesem »Aberglauben« nur ein allgemeines Gefühl der Pietät gegen ein hergebrachtes, dem einfachen Gemüthe theures Vätererbtheil ausspreche, und so sollte das Zerstörungswerk einmal zu Ende geführt werden. Aber siehe da, im ganzen Dorfe war auch nicht ein einziger Taglöhner aufzutreiben, der nunmehr Hand dazu bieten wollte. Herr Rudolf bot zweifachen, dreifachen Lohn, es fruchtete nichts, und jetzt verschwur er sich, in seinem Stolze beleidigt, hoch und theuer, er würde das elende Pack künftig eher verhungern lassen, bevor er ihm in der Noth mit einem Kreuzer aushelfe. Das Werk, das er sonst wohl nur noch als peinliche Nöthigung beendigt hätte, wurde ihm nun zum Mittel, den mühsam verhaltenen Groll seinen Dorfgenossen in's Gesicht zu schleudern. So weiß das Verhängniß seine dunklen Netze unter allen Gestalten auszuwerfen.

Drüben, aus dem Amtsorte wurde ein Werkmeister beschieden, der den völligen Abbruch des Hauses mit einer tüchtigen Schaar Gesellen rasch zu Ende führen sollte. Es war ein feuchter, nebliger Herbstmorgen, als sie die Arbeit begannen; aber noch war es nicht Mittag, als sich wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus die Sage verbreitete, bereits sei die Hälfte der Gesellen krank und untüchtig geworden und die übrigen weigerten sich fortzufahren. Alsbald wallfahrtete eine müßige Menge das Dorf hinab, des Mattenbauern zu, und Mancher ging mit, der sonst weder zu den Müßigen, noch Schadenfrohen gehörte. Der Zug nach dem Wunderbaren, Geheimnißvollen ist in jeder Seele mächtig.

An Ort und Stelle erzeigte sich's, daß das Gerücht, wie gewöhnlich, übertrieben hatte. Freilich waren zwei Gesellen unwohl geworden und hatten die Arbeit einstellen müssen; aber die andern hieben und sägten rüstig fort, als ob sich ein kleines Unpaßsein von selbst verstünde. In anderer Lage würde es wohl auch für Jeden selbstverständlich gewesen sein. Die im alten Strohdache erstickte Luft, der aus dem zusammenstürzenden Balkenwerke aufwirbelnde russige Qualm mußten auch der gesundesten Lunge gefährlich werden; aber hier reichte das Vorgefallene hin, um die Menge, die sich freilich in scheuer Entfernung hielt, festzubannen und ihr eine feste Zuversicht auf neue, geheimnißvolle Erscheinungen einzuflößen.

Herr Rudolf wurde durch dieses Zudrängen, dessen Ursache ihm bekannt und dessen Zweck ihm nicht verborgen bleiben konnte, auf's Neue erbittert. Vor der Einfahrt zum Hofe hatte er ein Fäßchen Wein aufstellen lassen, an dem sich jeder der Arbeiter nach Bedürfniß und Belieben erquicken durfte. So oft einer derselben heraustrat, sprach er ihm zu, sich rüstig zu halten; er werde ein hübsches Trinkgeld nicht ansehen, wenn die unangenehme und schmutzige Arbeit rasch beendigt werde. Voll unruhiger Hast ging er, selbst schon von Staub und Ruß bedeckt, vor dem niedrigen Hofgemäuer auf und nieder, jeden Balken, der innen zusammenstürzte, mit einer Art zorniger Freude begrüßend. Da warf der Meister selbst die letzte Dachlatte herab. Froh, daß nun der beschwerlichste und widrigste Theil des Werkes vollbracht, mochte er ihr einen kräftigern Schwung gegeben haben. Das lange, zähe und schwanke Stück fiel mit seinem Vordertheile auf einen Balken nieder, ohne daß die empfangene Schwungkraft gebrochen worden wäre. Es federte und schoß wie eine geworfene Lanze über die Hofmauer. Gerade zur Stelle hatte Rudolf gestanden. Ein kurzer, halberstickter Aufschrei – dann lag er bewußtlos, mit Blut übergossen an der Mauer dahingestreckt.


Seit diesem Unglückstage sind nun nahe an zwanzig Jahre vergangen. Unter Beihülfe vielvermögender Freunde konnte ich die mir unheimlich gewordene Pfründe bald mit einer andern vertauschen. In dem Dorfe hat sich seitdem wohl auch Manches verändert. Ein neues Geschlecht ist herangewachsen und vieles Alte, Gutes und Uebles in Glaube und Unglaube, Sitte und Unsitte, dahingegangen. Aber ein Wahrzeichen ist bis auf den heutigen Tag geblieben.

Sobald man vom Walde die nun auch breiter und bequemer gebaute Straße herabkömmt, liegt gerade am Anfange des Dorfes linker Hand ein Haus, das sogleich unsere Aufmerksamkeit erregt. Es ist von ansehnlicher, stattlicher Größe und Bauart, aber sein Aeußeres scheint schon seit Langem der nöthigen Sorgfalt und Pflege entbehrt zu haben. Auf dem Dache liegen ungezählte, zerbröckelte Ziegel umher; der Mauerwurf ist an manchen Stellen herabgefallen und läßt die nackten Steine hervorschauen. Sommer und Winter, bei Tag und Nacht sind die regenverschossenen Fensterladen zugemacht. Was aber das Unheimliche dieses Hauses am meisten vermehrt, das ist ein großer, dunkler Platz, der sich neben demselben ausdehnt und auf dem aus einem Haufen schwarzmodernden Holzwerkes noch da und dort ein Balkenstrunk emporstrebt. Geht man daran vorüber, steigt die steinernen Staffeln hinan und läßt den eisernen Klopfer auf die Thüre fallen, so schlurft durch den Gang, hüstelnd und gebückt, ein altes Mütterchen herbei, das auf die Frage nach dem Hausherrn gewöhnlich zur Antwort gibt, er sei heute nicht zu sprechen.

Geht man aber wieder die Staffeln hinunter und wirft einen raschen Blick zurück, so kann man unter einem leise geöffneten Fensterladen wohl ein narbiges Antlitz bemerken, das einäugig nach uns niederstarrt.

Das ist die Wohnung Herrn Rudolfs, des Sohnes des Mattenbauern.

Die letzte Latte des väterlichen Daches, die der Werkmeister an jenem Herbsttage herabgeworfen, hatte ihn ohnmächtig niedergestreckt. Erst nach monatelangem Schmerzenslager konnte er das Bett wieder verlassen; das eine Auge war verloren und das früher so blühend schöne Antlitz durch eine tiefe Narbe entstellt. Schlimmer war's, daß der empfangene Stoß eine Gehirnerschütterung bewirkt hatte, und nun, wenn auch nur kurzdauernde, doch periodisch wiederkehrende Geistesstörung folgte.

So war der vor Kurzem noch so hoffnungsreiche Mann, der im Vertrauen auf die eigene Kraft das Vorangehende glaubte abwerfen und aus sich selbst eine Zukunft erbauen zu können, bald ein armseliges, von aller Welt verlassenes Menschenkind, dem einzig das Mutterherz Liebe und Treue gehalten.


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