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Zweierlei Bekenntniss.

Die günstige Jahreszeit für den Aufenthalt in höhern Berggegenden hatte bereits ihr Ende erreicht und die bunte Sommergesellschaft auf Rigi-Scheideck war auf ein kleines Trüpplein zusammengeschmolzen, das nicht allzuweit von der Heimath entfernt, sich noch der letzten sonnenhellen Tage erfreuen wollte. Doch auch diese kleine Schaar hatte soeben wieder eine schwere Einbuße erlitten, indem ein junges Frauenzimmer aus Schwyz und ein Maler, der schon seit Jahren in Luzern wohnte, ebenso unvorbereitet als unerwartet abgereist waren. Man hatte sonst als ziemlich zuverlässig angenommen, die Beiden würden ihren Bergaufenthalt so lange immer thunlich ausdehnen, und der ganze kleine Kreis hatte sich dieser Annahme aufrichtig gefreut, da die junge Dame und der Künstler nicht nur durch gewinnende Liebenswürdigkeit und mannigfache Talente ein Wesentliches zur heitern Geselligkeit beitrugen, sondern auch noch unbewußt manches behagliche Ergötzen bereiteten. Dem Unbefangenen gewährt es immer ein vergnügliches Schauspiel, das heimliche Keimen und Aufknospen einer Liebe zwischen zwei sinnigen und gebildeten Menschen zu beobachten, und die Beiden hatten die schönste Gelegenheit geboten zu einer solchen Beobachtung. Sie hatten sich bei ihrer Ankunft auf dem Berge noch nicht persönlich gekannt; ein Gemälde, das der Maler in letzter Zeit für die Hauptkirche von Schwyz verfertigt und das auf das Frauenzimmer einen besondern Eindruck gemacht, vermittelte die ersten innigeren Anknüpfungspunkte, und die freie Geselligkeit des Bergaufenthaltes kam so günstig zu Hülfe, daß im Stillen allgemein angenommen wurde, die Zwei würden nur als Braut und Bräutigam von Rigi-Scheideck Abschied nehmen. Jetzt waren sie in sichtlicher Verwirrung unversehens abgereist, jedes den Weg nach seiner Heimath einschlagend, ohne irgend eine Mittheilung an die übrige Gesellschaft über die Gründe dieses unerwarteten Scheidens. Um so neugieriger wartete man auf die Rückkehr des jungen Arztes, der dem Maler eine Strecke weit das Geleit gegeben, vielleicht daß der den Schlüssel zu dem Geheimnisse, das natürlich durch das Interesse, welches die zwei Liebenden erregt, an Bedeutung gewann, zurückbringen würde. Und man hatte sich nicht getäuscht; man sah es dem Doktor von Weitem schon an, daß er die Sache erfahren haben mußte; er kam mächtig ausschreitend dahergegangen, während er beständig vor sich hinbrummte, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn ein unangenehmer Gedanke beschäftigte. Aber leider schien er geringe Neigung zu haben, Auskunft zu ertheilen, mit welch liebenswürdiger Vorsicht die Damen auch anklopfen mochten. »Sind Sie Protestantin?« fragte er plötzlich einen der schönen weiblichen Plagegeister. »Sie sind Aargauerin, aus einem paritätischen Kantone und also immer noch zweifelhaft, weß Bekenntnisses?« – »Ach, ich verstehe,« lächelte die Dame; »leider muß ich gestehen, daß ich durch Geburt und Taufe der zahlreichen Ketzerfamilie angehöre; sollten Sie jedoch ihr Geheimniß nur einer Ihrer Glaubensgenossinnen anvertrauen dürfen, so auf einem ungefähren Beichtwege – wer weiß, Herr Doktor, ob Sie an mir nicht eine Convertitin gewinnen könnten. Freilich habe ich bisher nicht gewußt, daß Sie sich auch mit diesem Zweige der Seelenheilkunde befassen, Verehrtester.«

»Dummheiten, Dummheiten,« erwiderte der Arzt eben nicht sehr galant sich abwendend, »Sie lachen und spotten, ohne zu wissen warum.«

Dieses auffallende Benehmen war nun gerade nicht geeignet, die einmal erregte Neugierde zu beschwichtigen, und als nach dem Abendtische die Schwyzerin nicht wie gewohnt sich an das Klavier setzte, und ebenso wenig sich die herrliche Singstimme des Malers mehr erheben wollte, da brach der Sturm von Neuem und mit vereinigten Kräften los gegen den schweigsamen Doktor. Dieser schien jedoch auch jetzt noch trotzen zu wollen, bis einer der Herren mit der kurzen Bemerkung: »Ich glaube das ganze Geheimniß mit ziemlicher Sicherheit in zwei Worten errathen und aussprechen zu können –« den schönen Neugierigen zu Hülfe kam.

»Das wäre ein unschätzbarer Anhaltspunkt für die Diagnose Ihres Divinationsvermögens, mein werthester Friedrich Wolfgang,« rief der Doktor lachend; »nein, soweit würde sich selbst die vereinigte Phantasie Ihrer beiden Pathen nicht verstiegen haben.«

Herr Friedrich Wolfgang, dem in der heitern Gesellschaft diese beiden Vornamen der zwei größten deutschen Dichter seiner schriftstellerischen Neigungen wegen beigelegt worden, ließ sich diesmal gegen seine Gewohnheit nicht einschüchtern durch den ironischen Angriff seines Meinungsgegners. »Möglich ist's schon, daß meine Namensvettern nicht darauf verfallen wären,« erwiderte er ruhig, »die hatten auch anderes zu beobachten als meine blöden Augen; wenn ich nun aber glaube, die Auflösung des Räthsels, um das es sich hier handelt, heiße Zürich und Rom – was wollen Sie darauf erwidern, mein verehrtester Bewahrer der salomonischen Siegel?«

Der Doktor schaute betroffen auf. »Wie denn Professor,« fragte er sich über den Tisch beugend leise, »sollte Ihnen die schöne Gläubige selbst noch gebeichtet haben vor ihrer Abreise?«

»Mir gewiß nicht und andern schwerlich; aber ich habe also doch das Richtige getroffen!«

»Nun ist's gewonnen,« rief die lebhafte Aargauerin, »wo Zwei um ein Geheimniß wissen, müssen sie schon auch den Dritten im Bunde haben. Daneben sind die Dichter auch keine solche Grobiane, wie diese Herren Doktoren da – nicht wahr,« fügte sie mit ihrem schalkhaften Lächeln hinzu, »werthester Herr Friedrich? Ich denke der eine Name genügt, er soll uns Allen das fast gefährdete Reich des Friedens begründen!«

»Nichts da von Verschwörung und Parteigängerei,« fiel der Doktor ein; »Dichter plaudern nur zu oft aus, was sie weder wissen noch glauben, drum will ich mir diesmal selbst das Amt mit Würden und Bürden vorbehalten. Gleichwohl, unser Professor hat es getroffen, Zürich und Rom lautet das Räthsel – wer rathet weiter?«

»Konstantinopel, Jerusalem, Calcutta, oder Bremgarten meinetwegen, das ist die berühmteste Stadt meines Heimathskantons,« rief die Aargauerin; »nur rasch, welche gilt es und was ist damit gemeint!«

»Bremgarten,« sagte der Professor lächelnd.

»Wie unartig – Ihr zweiter Pathe Göthe hätte in Damengesellschaft Besseres zu thun gewußt, als diesen abscheulichen Doktor nachzuahmen, Herr Wolfgang.«

»Nicht doch, schöne Tochter des schönen Aargau's,« entgegnete der Professor in ernsterm Tone, als es seine Worte zu erheischen schienen; »oder sagen Sie mir, ist nicht Ihr Bremgarten zur Reformationszeit eines Morgens noch als gut katholische Stadt aufgestanden, hat sich halb reformirt zum Mittagstische gesetzt, Abends ganz reformirt sich zu Bette gelegt, um am folgenden Morgen wieder römisch-katholisch aufzustehen?«

»Ja wohl, würdigster Schulmonarch,« erwiderte die Dame, »ich entsinne mich, in der Schule etwas so gehört und gelesen zu haben, ohne dadurch damals klüger geworden zu sein, als ich es jetzt durch Ihre hochgelahrte Professorenmiene werde.«

»Er hat Recht, unser Friedrich Wolfgang,« rief der Doktor; »nein bei Gott, die Sache ist bei all' ihrer Sonderbarkeit zu ernst, als daß wir uns länger darüber necken sollten. Auch hat mir mein Freund, der gewiß sobald kein Heiligenbild mehr malen wird, in keiner Weise verdeutet, aus der Ursache seiner plötzlichen Abreise ein Geheimniß zu machen. Die liebenswürdige Schwyzerin hatte es ihm angethan, wie das schon seit vierzehn Tagen für Jeden von uns ein öffentliches Geheimniß gewesen ist; wer die Augen nicht gebrauchen wollte, mußte doch Abends hören, wie sie ihre Duette sangen und zusammen spielten. Nun – heute Morgen ist's zu einer bestimmten Erklärung gekommen.«

»Und er sollte sich getäuscht – sie sollte seine Neigung nicht getheilt haben?«

»Im Gegentheil, sie hat ihm dieselbe frei und unumwunden eingestanden.«

»Und doch diese plötzliche Trennung mit mühsam verhaltenen Thränen in den Augen oder mit noch übler verhehltem Zorn im Gesicht? Also unglückliche Familienverhältnisse oder sonst so was – die armen Leute!«

»Ja freilich, oder sonst so was,« sagte der Doktor langsam; »nachdem sich die Leutchen eine Stunde lang ihres Glückes gefreut, ließ auch das Unheil nicht länger mehr warten. Das Fräulein machte die unerwartete Entdeckung, daß ihr Auserwählter – bei Gott es will mir nicht über die Zunge gehen.«

»Nun, daß er aber trotz seiner schönen Heiligenbilder ein Protestant sei,« ergänzte der Professor.

»So ist es,« erwiderte der Doktor zornig, »und augenblicklich war der ganze Liebeshimmel mit lauter Teufeln angefüllt. Das Eine zog diesseits, das Andere jenseits des Berges hinab, um sich wahrscheinlich ihr Lebenlang auszuweichen, wenn sie einander je wieder begegnen sollten.«

Die ganze Gesellschaft schaute sich gegenseitig betroffen an, ohne daß Jemand sogleich einen Ausdruck für seine Ueberraschung gefunden hätte. Man hatte nun schon so manchen Tag in vertraulicher Heiterkeit zusammen gelebt, wie zu einer Familie gehörend, und außer dem Unterschiede des Geschlechts kaum noch denjenigen des Alters zur Geltung kommen lassen, während man sich um die Verschiedenheit des Standes und Berufes mehr nur zu dem Zwecke bekümmert, dem Einen oder Andern einen scherzhaften Ehrentitel anhängen zu können, als um einen wirklichen Unterschied festzuhalten. Jetzt war plötzlich eine Scheidelinie gezogen, von der Jedes wußte, daß es hüben oder drüben stehen mußte, und wie empfindlich tief hatte diese Linie schon eingeschnitten! –

Das Gespräch wollte lange nicht mehr in Fluß gerathen; es mochte Jedes spüren, daß der Punkt, über den man bisher achtlos weggegangen, bei ernsterer Besprechung tiefere Saiten könnte anklingen lassen, als für ein heiteres, bequemes Zusammenleben wünschbar war, und doch ließ sich die Sache, wie sie nun einmal stand, auch nicht mit einem bloßen Witzworte zur Seite schieben. Sogar die sonst so muthwillige Aargauerin war ernsthaft geworden und sagte endlich mehr für sich hin als an die Uebrigen gewendet: »Seltsam, wahrhaftig, daß heutzutage noch in einer Gesellschaft, die sich an diesem Orte zusammenfindet, so etwas passiren soll.«

»Sie haben ganz recht und werden nun auch etwas billiger verfahren mit Ihren Anklagen gegen meine arme Person,« fiel der Doktor ein; »wir stehen bald am Ende des Heilsjahres 1863; seit einem Jahrzehnt glaubten wir diese Vorurtheile selbst in den untersten Volksschichten überwunden und verspotteten eine pfäffische Unduldsamkeit, die sich gegen unsere toleranten Gesetze über gemischte Ehen und dergleichen noch aufzulehnen wagte. Doch nun plötzlich diese überraschende Erfahrung von einem Frauenzimmer, dessen vielseitiger Bildung und hellem Verstande wir so gerne alle Achtung gezollt! Nein, das will mir nicht zu Kopf!«

»Und doch sollen wir uns durch das Unerwartete nicht zur Ungerechtigkeit verleiten lassen,« bemerkte der Professor; »nach meiner Meinung hat die Schwyzerin gerade durch ihren raschen Entschluß nicht nur scharf blickenden Verstand, sondern auch eine Willenskraft bewiesen, die blos auf einer gediegenen Bildung beruhen kann.«

»Nun, beim Himmel,« rief der Doktor, »das fehlte noch, daß Sie sich als Anwalt eines blöden Vorurtheiles aufwerfen.«

»Das werd' ich wohl bleiben lassen,« sagte der Professor ruhig, »hingegen ist es möglich, daß wir für den Augenblick noch auf verschiedenem Standpunkte stehen, wenigstens dem Anscheine nach. Vor Allem halten wir Eines fest. So lange der Katholizismus und der Protestantismus als allgemeine Glaubensformen bestehen, solange werden auch die Gegensätze im Einzelleben sich geltend machen müssen, und unsere toleranten Gesetze können nicht den Zweck haben, diese Gegensätze geradezu aufzuheben, sondern blos gegebenen Falles ihre Wirkung zu mildern.«

»Das läßt sich recht fein anhören,« entgegnete der Doktor ärgerlich, »nur hätte ich von einem Dichter und Philosophen eine andere Melodie erwartet über diesen Text.«

»Die Melodie darf eben keine willkürliche sein, sondern muß sich dem Texte anpassen, wenn sie die richtige sein will,« sagte der Professor; »Sie hingegen haben einen durchaus falschen Ton angeschlagen mit der Annahme, daß solche Vorurtheile, wie Sie es nennen, selbst in den untern Bildungsstufen unsers Volkes überwunden seien. Ist doch daran selbst in den höchsten und obersten nicht zu denken, weder auf der einen, noch auf der andern Seite. Nein, meine Verehrtesten, die schroffsten Ecken der Gegensätze haben sich wohl soweit abgeschliffen, daß sie im gewöhnlichen äußern Verkehre nicht mehr so störend fühlbar werden, wie es zu andern Zeiten der Fall gewesen; aber sobald tiefere und innigste Beziehungen eintreten sollen, empfinden gerade die feinfühlenderen und bewußtern Naturen, wie schwer, ja wie unmöglich es ist, die Jugendeindrücke und Anschauungen aus unserm Wesen wegzuwischen. Drum ist es auch nur zu gewiß, daß nicht die Hälfte, ja vielleicht nicht der zehnte Theil Derjenigen, die heute in unserm Lande gemischte Ehen eingehen, über die innere und bedeutungsvollste Seite ihres Schrittes nachdenken, sonst würden sie zweimal sich besinnen, bevor sie ihn wagen.«

»Nur Schade, daß keine unserer schwarzen Kutten Sie hören kann,« brummte der Doktor, »diese Privatansicht eines unserer freisinnigsten Schriftsteller wäre wahrlich ein herrlicher Fund für eine Kapuzinerpredigt.«

»Vergessen Sie nur nicht, daß ich für meine Meinung weder das katholische noch das protestantische Bekenntniß anrufe.«

»Obwohl ich über solche Dinge nicht gerne nachgrübeln mag und sie lieber im Großen und Ganzen auffasse,« nahm der Gemahl der Aargauerin, ein gebildeter Industrieller, das Wort, »so möchte doch unser Herr Professor nicht so ganz Unrecht haben. Was ich sehe und erfahre gilt mir mehr, als alle allgemeinen Behauptungen, und eine Erfahrung wenigstens habe ich gemacht, die in dieses Gebiet einschlägt.«

»Erzählen Sie.«

»Nun, etwas besonders Interessantes ist es gerade nicht und mir ist's auch blos aufgefallen, weil es einen meiner Freunde betrifft. Dieser ist ein Mann von freiem, kräftigem Wesen, der das Leben frisch anzufassen weiß und lieber handelt als viele Worte macht. Die Welt und die Menschen kennen zu lernen, hat er dies- und jenseits des Meeres reichliche Gelegenheit gehabt, und was seine Ansichten über die politisch-konfessionellen Angelegenheiten unsers Vaterlandes anbelangt, so brauche ich Ihnen nur zu sagen, daß er im Jahr 1845 mit an der Spitze der Freischaaren stand, die Luzern da drunten von den Jesuiten und ihren Beschützern säubern wollten.

»Dieser Freund nun, dessen Name übrigens Ihnen Allen wohlbekannt wäre, wenn ich ihn nennen wollte, hat schon in jungen Jahren eine Katholikin geheirathet, die in seiner protestantischen Vaterstadt geboren und erzogen worden. Dessen ungeachtet hatte ihr Vater ziemlich schroffe kirchliche Ansichten bewahrt und fügte sich dem Drängen der jungen Leute und ihrer Fürsprecher auch nur nach langem Widerstande. Dabei wurde das übliche Uebereinkommen getroffen, daß die Enkel je nach dem Geschlechte dem verschiedenen Glaubensbekenntnisse der Aeltern folgen, die Mädchen katholisch, die Knaben protestantisch getauft und erzogen werden sollten; aber noch am Morgen des Hochzeitstages ließ der alte Mann meinen Freund zu sich kommen und drang mit Bitten und zuletzt mit verschwenderischen Anerbietungen in ihn, auch die Knaben, wenn er mit solchen beglückt werden sollte, in dem Bekenntnisse der Mutter, d. h. katholisch erziehen zu lassen. Mein Freund weigerte sich, aus Furcht, wie er damals meinte, durch eine solche Nachgiebigkeit in eine ungeziemende Abhängigkeit von seinem Schwiegervater zu gerathen, denn über konfessionelle Engherzigkeit dieser oder jener Art glaubte er weit hinweg zu sein, und am liebsten wäre ihm die bürgerliche Trauung gewesen, um jeder kirchlichen Formalität auszuweichen. Nun, die Ehe ließ sich ganz glücklich an, und eine glückliche ist sie auch geblieben bis zur heutigen Stunde, wenigstens haben die beiden Gatten stets in Liebe und Treuen zusammengehalten; aber mancherlei Gerede und nicht geringes Aufsehen erregte es, als mein Freund vor ungefähr zehn Jahren, nachdem ihm zwei Knaben wenige Wochen nach der Geburt gestorben, einen dritten Neugeborenen auf katholischen Ritus taufen ließ. Man munkelte schon von geistlichem Einflusse, von Apostasie und was dergleichen bei solchen Vorkommenheiten immer auf die Oberfläche des Tagesgespräches getrieben wird, und ich selbst – ich war ebenfalls nicht im Stande, mir die Sache zurechtzulegen, zumal ich bestimmt annehmen konnte, daß die Gattin meines Freundes an diesem Schritte keinen maßgebenden Antheil haben konnte. Der Schwiegervater selbst war schon seit vielen Jahren gestorben.

»Mit einer ungebührlichen Neugier mochte ich mich nicht aufdrängen, um so weniger, als mein Freund in allen andern Dingen mir jetzt wie sonst mit dem intimsten Vertrauen entgegenkam, ohne jedoch diesen einen Punkt auch nur mit dem leisesten Worte zu berühren. Inzwischen ward ihm Gelegenheit, das leichtsinnige oder böswillige Gerede durch einen ebenso energischen als siegreich geführten Widerstand, den er in amtlicher Stellung einem übergreifenden bischöflichen Begehren entgegenstellte, Lügen zu strafen, wobei freilich das heimliche Verlangen nach den wirklichen Gründen, die ihn zu jener katholizirenden Taufe bewogen, nicht geschwächt wurde. Auch bei mir nicht; aber es verging ein volles Jahr, bevor mein Freund mir plötzlich, ohne irgend eine Veranlassung von meiner Seite, die Aufklärung gab.«

»Die am Ende auf eine Grille des Mannes hinauslief,« warf der Doktor ein, »mir ahnt so was.«

»Je nachdem – immerhin sehen Sie, daß meine Erzählung in einem Punkte nicht für die Ansichten des Professors spricht,« fuhr der Erzähler fort, »da mein Freund in diesem Falle der Wirkung bestimmender Jugendeindrücke geradezu entgegengehandelt hätte. Gleichviel – am Geburtstage seines frisch und gesund gedeihenden Knäbleins theilte er mir mit, was ihn bewogen, dasselbe nach dem Bekenntnisse seiner Mutter taufen zu lassen. Am Hochzeitsmorgen nämlich hatte ihm der Schwiegervater, nachdem er die schon erwähnten Bitten vergeblich verschwendet, mit Thränen in den Augen zugerufen: »Nun denn, so sehe du zu; ich werde in meiner letzten Stunde noch beten, daß aus meinem Blute kein kirchenfeindlicher Same gedeihe, an dessen Aussaat meine sündhafte Nachgiebigkeit Schuld tragen könnte.« – Diese Worte waren damals scheinbar spurlos vorübergegangen an meinem Freunde; als ihm aber die beiden Knaben wegstarben, während das katholisch getaufte Töchterlein kräftig und munter aufwuchs, da fielen sie ihm mit um so schwererer Erinnerung wieder auf das Herz, als der alte Mann bereits todt und mit übel verhehlter Reue über seine endliche Zustimmung zur Wahl seiner Tochter aus dem Leben gegangen war. Genug, als ihm der dritte Knabe geboren wurde, war sein Entschluß schon gefaßt und bis zur Stunde wenigstens hat er denselben noch nicht bereut. Das Kind ist gesund geblieben und bereits zu einem allerliebsten Jungen herangewachsen.«

»Nun, meinetwegen,« lachte der Doktor, »warum sollte ich mir eine solche Vermehrung meiner Kirche nicht gefallen lassen; doch wird hoffentlich ihr Freund selbst nicht daran denken, daß das Gedeihen des einen oder der Tod des andern Knaben in irgend welcher Beziehung zu ihrer Taufe stünde.«

»Sie werden mir glauben, daß ich nicht wenig erstaunt war über diese Mittheilung,« sagte der Erzähler ausweichend; »gewiß ist es aber, daß mein Freund auch noch weitere Kinder, wären ihm solche geboren worden, auf das katholische Bekenntniß würde haben taufen lassen.«

»Also nur ein neuer Beweis, daß auch dem Klügsten der Verstand gelegentlich durchgehen kann,« brummte der Doktor.

»Blos zu diesem Beweise habe ich nun freilich den Vorgang nicht erzählt,« lächelte der Industrielle; »indessen braucht man hinter demselben nicht mehr zu suchen, als er auf den ersten Blick schon zeigt, nämlich eine neue Bestätigung der alten Erfahrung, daß jeder Mensch sich das ausschließliche Recht nimmt, seine eigenen Lebensereignisse auf seine Weise zu deuten und sich hiebei um die Ansichten Anderer um so weniger kümmert, je näher ein solches Begegniß sein innerstes Leben berührt. Und das ist es im Grunde wohl auch, was unser Herr Professor behauptet hat. Durch das Glaubensbekenntniß, in dem wir erzogen worden, wird ohne Zweifel ganz unbewußt eine Hauptgrundlage für die Betrachtung des Gemüthslebens geschaffen, woraus denn in einer gemischten Ehe auch bei allem übrigen Einklänge der Gatten die unerwartetsten Konflikte entstehen können.«

»Und hiefür könnte ich der Gesellschaft den Beleg ebenfalls in einer Geschichte geben,« sagte der Professor, »die mir auf meiner Herreise mitgetheilt worden ist.«

»Bitte, erzählen Sie,« riefen mehrere Damen.

»Der Gegenstand hat mich derart interessirt, daß ich ihn etwas ausführlicher niedergeschrieben habe. Mit Ihrer Erlaubniß werde ich Ihnen die Blätter vorlesen. Sie tragen die Aufschrift:

 

» Blind geboren.«

Das Bad Schwarzenberg, hart an der Grenzscheide zweier Kantone in einem einsamen Waldthälchen gelegen, hat seit Menschengedenken als neutraler Boden gegolten für die beidseitigen Grenzbewohner, so sehr diese auch gelegentlich durch konfessionelle Reibungen gegen einander in Harnisch gebracht wurden. Es wird in der Gegend noch heute eine Anekdote erzählt, die das Altherkömmliche dieser Eigenschaft des Hauses recht anschaulich beweist. Im Religionskriege von 1712 nämlich ergriff der Badewirth vor einem drohenden Einbruche der benachbarten Luzerner die Flucht, wobei er jedoch seine Kuh und ein paar Ziegen nicht mitnehmen konnte. Er verbarg sie in der Eile in die bedeckte Grube, die er im Garten zur Aufbewahrung von Rüben und Kohl angelegt hatte. Ein streifender Luzerner Haufe rückte wirklich einige Stunden darauf an und führte alles Vieh, das er auf den benachbarten Höfen fand, als gute Beute über die Grenze zurück; als jedoch der Badewirth nach vorbeigezogener Gefahr nach seiner verborgenen Lebwaare schauen wollte, fand er sie nicht mehr in der Grube, sondern fein säuberlich im Stalle an die mit frischem Futter versehenen Krippen gebunden. In der Gaststube selbst stand ein geleertes Weinfäßchen auf dem Tische, aber daneben die Zeche, bis auf den Kreuzer ausgerechnet, in einem Teller zusammengelegt. Die Feinde hatten den Preis des Getränkes, mit dem sie sich in friedlichern Tagen in diesem Hause erquickt, getreulich im Gedächtnisse behalten.

So ungefähr wurde es in Schwarzenberg auch zu andern Zeiten gehalten. Hier tanzte und trank das junge Volk an Sonntagen neben einander, ohne daß es um des Glaubensunterschiedes willen je zu feindlichen Thätlichkeiten gekommen wäre. Dagegen hatte auch in den ruhigsten Zeiten dieser Verkehr stets eine eigenthümlich unterscheidende Färbung beibehalten, und obwohl z. B. die jungen Burschen sich durchaus in der Tracht durch nichts von einander unterschieden, hatte man doch auf den ersten Blick heraus, zu welcher Partei der Einzelne gehörte. So schwang der handfeste Luzerner wohl etwa lachend und schäckernd ein feines reformirtes Kind im Langus oder künstlich verschlungenen Ländler herum, oder es walzte ein Reformirter mit einer drallen Luzernerin die Tanzstube hinab; aber sobald Geige und Klarinett verstummten, schieden sich die Gruppen wieder streng aus einander und nie sah man, daß ein Mädchen nach dem Tanze von einem Burschen der andern Partei zum Weine geführt worden wäre. Die Möglichkeit eines ernsthaftern Verhältnisses zwischen zwei Angehörigen der freundnachbarlichen Gegenfüßler nun gar – ja die lag vollständig außerhalb des Denkkreises und Vorstellungsvermögens dieser Leute, und gewiß war es, daß seit Menschengedenken, wohl so lange im Bad Schwarzenberg die paritätische Tanzmusik schon erklungen, noch nie etwas Derartiges vorgekommen. Es war in dem Unterschiede des Glaubensbekenntnisses den einfachen Dörflern schon gegen das leiseste Ankeimen einer Herzensneigung eine unübersteigliche Scheidewand errichtet, obwohl sie sich in allen übrigen Dingen durchaus billig und bequem verhielten, so lange keine weitergreifenden Einflüsse hinzutraten.

Um so bedenklicher war das Aufsehen, als der junge Wynemüller das altgefestete Herkommen in Schwarzenberg mit einem Schlage über den Haufen warf. Er hatte zwar von jeher etwas Appartes gehabt, des Wynemüllers Rudolf; aber er war als einziger Sohn und vermöglicher Erbe zu Manchem berechtigt, was einem Andern nicht durchgegangen wäre. Sobald in dem über anderthalb Stunden entfernten großen Dorfe eine »Hochschule« errichtet worden, wie die Leute eine dortige höhere Schulanstalt nannten, hatte der Rudolf sie besuchen müssen, und obwohl er damals bereits siebzehn Jahre zählte, hieß es bald allgemein, er wolle nun Doktor oder gar Pfarrer studieren; er lerne jetzt schon Worte auswendig, die einen ganzen Mannsfinger lang seien. Doch wurde trotz dieser schwerwiegenden Gelehrsamkeit, mit der es sein richtiges Bewenden haben mochte, nichts aus dem »Studieren«; der Rudolf ging, nachdem er die Schule mit Eifer und erfolgreichem Fleiße einige Jahre besucht, zwar in die Fremde, aber dennoch wolle er bei der Müllerei bleiben, wenn er wieder zurückkomme. Bis dahin vergingen nun freilich wieder einige Jahre, während denen man auf den benachbarten Höfen herum von dem Abwesenden bald nur noch sprach wie von einem Menschen, der eine Reise in den Mond angetreten. Wie es am Meere aussehe, habe er in einem langen Briefe heimgeschrieben, hieß es einmal; aber nicht an dem Meere, über das die Auswanderer nach Amerika fahren müßten, sondern an einem ganz andern und noch viel gefährlichern. Trotzdem kam er endlich wieder zurück in die einsame Wynemühle; aber wie? – Daß er feiner und vornehmer aussehe, als irgend ein Stadtherr, und mehr zu erzählen wisse, als ein halbes Dutzend Pfarrer zusammen, darüber war nur eine Stimme, wobei freilich ebenso einstimmig, wenn auch leiser ausgesprochen der Zweifel unterlief, ob der Rudolf bei alledem auch noch in die alte Mühle passe und ein rechter Müller werden könne. Eine besondere Meinung machte sich noch unter den Töchtern und selbst den jüngern Frauen geltend, die unverhohlen behaupteten, er wäre der Schönste weit und breit, wenn er nur den großen, garstigen Schnauzbart wegschneiden würde.

Jenseits der Luzerner Grenze, die sich kaum einen Büchsenschuß weit hinter der Mühle hindurchzog, schienen jedoch zwei hellbraune Augen, die mit seltsamer Lieblichkeit aus einem rosenfrischen Gesichte hervorleuchteten, nicht einmal diese Bart-Operation für nöthig zu halten, um den Heimgekehrten schön zu finden. Denn am Erntesonntag gab es wenige Gäste im Bade Schwarzenberg, die nicht bemerkten, mit welch glückseliger Fröhlichkeit die Tänzerin des jungen Müllers nur an ihm hing und fast mit offenem Widerwillen kaum etwa einmal mit einem Andern tanzte; und gewiß ging kein einziger dieser Gäste fort, ohne den Kopf darüber zu schütteln, daß auch der Wynemühle-Rudolf nur mit ihr getanzt und sie an einem besondern Tischlein den ganzen Nachmittag und Abend zum Wein gehalten. So etwas war noch nicht vorgekommen, da ja ein ordentlicher Bursche nur dasjenige Mädchen zum Weine führte, auf das er ernste und ehrliche Absichten hatte. Wie sollte aber das beim jungen Wynemüller möglich sein, dessen Tänzerin Niemand anders war als die älteste Tochter des Chäppeli-Bauern? – Zwar war dieser der nächste Nachbar der Wynemühle jenseits der Grenze, und die beiden großen Güter stießen zusammen an mehrern Punkten, in Wald und Feld; auch war er in der weiten Umgegend als ein rechtschaffener, billiger Mann in Handel und Wandel bekannt, und gegen seine Tochter, die freundliche und freigebige Seppe, konnte selbst der ärgste Feind nichts Böses sagen. Ebenso wußte man, daß die beiden Nachbarn von je in allen großen »Werken« und unvorhergesehenen Fällen einander redlich mit Rath und That beigesprungen, wie billig, und daß der Chäppeli-Bauer wenigstens ebenso viel von seinem Getreide in der reformirten Wynemühle mahlen lasse, als in der benachbarten Chorherrenmühle von Bero-Münster; aber gerade deswegen mußte das Benehmen der beiden jungen Leute an diesem Erntesonntag um so auffallender erscheinen, denn ein ächtes und gerechtes Verhältniß konnte und durfte doch nicht stattfinden zwischen ihnen. Darüber war man auf beiden Grenzen einverstanden und besprach die Sache mit gleichmäßigem Kopfschütteln.

Aber noch vor Anfang des Winters kam bessere Belehrung, und bis in den abgelegensten Berghof der Gegend ging wie ein Blitzschlag die Kunde, der Wyne-Rudolf und die Chäppeli-Seppe werden auf Neujahr Hochzeit halten.

Ueber diese Neuigkeit, so mächtig sie auch wirkte, machten die Leute viel weniger Worte, als über den Vorgang vom Erntesonntag. Wer sie zum erstenmal vernahm, stand eine geraume Weile schweigend da, dem Erzähler wie erschrocken in's Gesicht schauend, und meinte dann nachdenklich: »Was du nicht sagst – das kann nicht gut gehen; was die denken mögen.« »Das mein' ich auch,« erwiderte der Andere und ging davon, oder man sprach von andern Dingen. Auch der alte Wyne-Müller sagte auf leises Befragen Jedem mit bekümmertem Gesichte: »Ich fürcht', es wird nicht gut kommen; aber was will ich machen? Der Rudolf ist mein einziges Kind und so vermag ich's nicht zu erwehren.« Der Chäppeli-Bauer dagegen fuhr anfänglich Jedermann unwirsch an, wenn er über die Sache befragt werden wollte. »Will schon sehen, wer Meister ist,« brummte er, und daß wenigstens in seinem Hause seine Herrschaft zur Geltung gebracht wurde, davon gaben die oft verweinten Augen Seppeli's hinlängliches Zeugniß. Allmälig jedoch wurde der Mann ebenfalls stiller und sagte: »Wie soll ich's allein hindern, wenn mir der alte Wyne-Müller nicht helfen will und der junge, der alle Schlich und Gesetz besser kennt, als der beste Advokat, selbst drinnen im Chorherrenstift Fürsprecher gefunden hat? Die Heiligen verzeihen's ihnen – ich bin unschuldig, komme was wolle.« – Mit der angedeuteten Fürsprache im Chorherrenstifte mochte es nun freilich nicht viel auf sich haben, wenigstens war Seppeli eines Abends, als sie zu Rudolf zur kleinen Kapelle kam, von der das Gut ihres Vaters seinen Namen trug, mehr denn sonst ängstlich und unruhig, und so oft sie den Mund zum Sprechen öffnen wollte, kamen ihr die Thränen in die Augen. Endlich erzählte sie, daß sie bei den Chorherren gebeichtet, aber für einmal die Absolution nicht empfangen habe, und fügte leise weinend hinzu: »Aber lassen kann ich nicht mehr von dir, Rudolf, und wenn meine arme sündige Seele für Zeit und Ewigkeit Schaden nehmen müßte.«

»Dieses elende Kirchengesindel!« rief Rudolf unmuthig; »sieh', Seppeli, wenn du mir auch nicht so lieb wärest, wie du es bist, du müßtest mein werden nur diesen heuchlerischen Schwarzröcken zum Trotze.«

Das Mädchen wendete das Gesicht bei diesen heftigen Worten plötzlich nach der kleinen Halle der Kapelle zurück, vor der sie jetzt wie schon so manchen Abend zusammen standen. Es war eine gar stille und heimliche Stelle, ganz nahe am Waldrande, an dem die väterlichen Güter an einander stießen. Eben war der Mond über dem dunkeln Walde emporgestiegen und warf einen unsichern, zitternden Schimmer auf das Muttergottesbild, das in der Kapelle stand. »Heilige Jungfrau,« rief Seppeli, den Geliebten ängstlich am Arme fassend, »was hast du gethan, Rudolf!«

»Was hast du denn?«

»Sie hat deine Schmähung gegen die geweihten Priester gehört, sie hat sich bewegt, Rudolf.«

Er folgte der Richtung ihrer Augen und sah, wie dieselben starr an dem Bilde hingen. Der Mondschein flimmerte heller um die Krone der Himmelskönigin, von der ein röthliches Licht auf ihr Antlitz herabfiel, das eine Weile lang ganz deutlich jeden einzelnen Zug erkennen ließ. »Die dort,« sagte er, die Hand ausstreckend, »die sollte mich gehört und sich bewegt haben?«

»Und warum denn nicht, Rudolf,« erwiderte das Mädchen mit leiser Stimme; »warum sollte sie nur meine Gebete und nicht auch deine Schmähung hören? Ach, mir war's immer noch ein rechter Trost, daß ich jedesmal leichtern Herzens von ihr heimgehen konnte – nun wird das vielleicht anders werden.«

Rudolf schwieg einige Augenblicke; dann sagte er nachdrücklich und langsam: »Hör', Seppeli, bete du, wo und wann du willst; aber für so blind hätte ich dich doch nimmer gehalten.«

»Blind – sagst du, und warum?«

»Weil du glaubst, daß ein aus Holz geschnitztes, armseliges Bild sehen, hören und sich gar bewegen könne. Ja wahrhaftig, da weiß ich auch nicht, warum wir mit sehenden Augen geboren werden, um uns dann doch mit solcher Blindheit schlagen zu lassen.«

Sie zuckte bei diesen Worten mit dem Arme, der in dem seinigen lag, und sagte ängstlich: »Komm, wir wollen gehen; begleite mich noch ein wenig – ich fürchte mich allein am Walde hin.«

Rudolf ging diesen Abend seinen Heimweg nachdenklicher, als es sonst der Fall war nach einem heimlichen Wiedersehen des lieben Kindes. »Also morgen wieder um diese Zeit,« hatte er beim Abschiede gesagt, und sie darauf rasch erwidert: »Ja, aber nicht droben bei der Kapelle; ich will dir an den Bach hinunter entgegenkommen.« Zum ersten Male empfand er deutlicher, daß die Hindernisse, die er um seiner Liebe willen zu bekämpfen hatte, nicht blos in dem Herkommen und in den Meinungen seiner Umgebung lagen, sondern daß sich zwischen ihm und Seppeli selbst noch eine geheime Kluft aufthat. Er hatte dieselbe bisher ausgefüllt geglaubt durch die entschlossene Liebe, die ihm das Mädchen entgegenbrachte; denn diese konnte ja doch nur aus einem vorurtheilslosen Gemüthe hervorgehen; jetzt fühlte er dunkel, daß seine Hoffnung zu weit gegangen. Doch dieser Eindruck ging nur wie eine schattenhafte Ahnung an ihm vorüber, und der junge Mann hielt seinen Willen so kräftig aufrecht, daß auf Neujahr schon wirklich die Hochzeit gefeiert wurde.

Aber es war eine stillere Hochzeit, als sie in der Gegend jemals stattgefunden. Kein heiteres und glückwünschendes Gedränge auf der Straße und kein Mörserknall auf der Anhöhe, wie es sonst an dem hohen Feste auch armer und geringer Leute Sitte war. Die beiden Brautleute fuhren, nur von der Schwester Seppeli's begleitet, davon, um sich in einem entfernten Dorfe einsegnen zu lassen, und die Leute, die ihnen schweigend aus den Fenstern nachschauten, schüttelten die Köpfe mit den stehenden Worten: »Das kann nimmermehr gut kommen – wir werden's erleben.«

Aber es kam vorerst besser, als die Unglückspropheten erwartet hatten. Es verging kein halbes Jahr und der Wyne-Müller erklärte am offenen Wirthstische in Schwarzenberg: »Es dünk' ihn, er sei ein Narr gewesen mit seinem Kummer um die Heirath des Sohnes; eine bessere und liebere Sohnsfrau hätte er unter allen Reformirten nicht bekommen.« Auch der Chäppeli-Bauer war versöhnt und sprach sich in ähnlicher Weise aus über seinen Tochtermann, und wirklich hatte dieser nun selbst im Chorherrenstifte freundliche Stimmen gewonnen. Denn nicht nur kam er gar oft an schönen Sonn- und Feiertagen in Begleit seiner jungen Frau zum Besuche des Gottesdienstes in der Stiftskirche, er hatte sogar zu einem bereits zu diesem Zwecke vorhandenen Vermächtnisse aus freien Stücken die noch benöthigte Summe beigelegt, um vor dem Marienbilde in der Kapelle oben am Walde ein ewiges Lichtlein zu stiften. Wer konnte wissen, was weiter werden mochte? Am Ende gelang es dem Einflusse des schönen Weibleins wohl noch, ihren Mann in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen, was in jenen Tagen einer neubeginnenden Bewegung auf dem kirchlichen Gebiete eine hochwillkommene Erscheinung gewesen wäre für die Chorherren. Seppeli selbst jedoch machte sich keine solchen überflüssigen Gedanken und es fühlte recht gut, wie es das Benehmen seines Mannes auszulegen habe. Als es ihn voll freudigen Erstaunens gefragt, was ihn zur Mitstiftung des ewigen Lichtleins bewogen habe, hatte er lächelnd geantwortet: »Nun – damit dich das alte Bild nicht mehr erschrecken soll, wenn du es im hellern Lichte statt im bloßen Mondscheine sehen kannst.« Seppeli hätte lieber eine andere Antwort gehört, und schmerzlich ging ihm dabei die Erinnerung durch die Seele: bei all' seiner Liebe hält er mich doch für thöricht und blind, wie er's damals gesagt hat. Rudolf mochte vielleicht die Wirkung seines raschen Wortes ahnen und er fügte deshalb hinzu: »Nein, Seppeli, ich will dir meinen wahren Grund schon sagen; ich glaube dadurch deinem Vater einen unerwarteten Gefallen zu erweisen und ihn dir und mir freundlicher stimmen zu können; das wäre ja die kleine Summe wohl werth.« Seppeli erröthete über diesen Aufschluß, der die Empfindung in ihm weckte, als sei ihm eben ein Schuldbekenntniß abgelegt worden; aber doch konnte es den lieben Mann, der so sorglich an den Familienfrieden dachte, nicht tadeln, und es selbst freute sich am meisten, als es sich bald erzeigte, daß Rudolf seine Absicht wirklich erreicht hatte. Der Chäppeli-Bauer saß nun bald ganze Abende lang in der Wyne-Mühle und schien mit dem einmal Geschehenen seinen vollen Frieden gemacht zu haben.

So gewann das Leben der jungen Eheleute viel schneller eine ungestörte und freundliche Gestalt, als selbst Rudolf zu hoffen gewagt hatte. Und noch vor Verlauf des ersten Jahres sollte auch der letzte Wunsch seiner Erfüllung entgegengehen, da Seppeli dem Gatten ein süßes Geheimniß anvertraute. »Wenn du mir ein Büblein schenkst,« rief Rudolf, das erröthende Antlitz seines Weibes an seine Brust ziehend, »so soll deine liebe Gottesmutter droben in der Kapelle auch noch einen Altar bekommen zu ihrem Lichtlein; ich versprech' es dir.«

»Und für ein Mädchen – stiftest du da nichts?«

»Nun, das müßt' ja selbst eine kleine Kirchenheilige werden, wie du es bist, Seppeli. Aber nein, ein Büblein hätt' ich doch lieber zuerst.«

Seppeli wußte sich keine Rechenschaft zu geben, warum diese Worte, die in freudigem, liebevollstem Tone gesprochen waren, ihr so seltsam schwer aufs Herz fielen. Daß die meisten Männer als Erstlingskind gerne einen Knaben haben, war ihr bekannt genug, und ebenso wußte sie ja auch schon lange, daß ein Knabe dem Vater, ein Mädchen ihr, der Mutter, in Taufe und Glauben folgen sollte. Oder war es vielleicht gerade das, was ihr wie eine geheime Stimme zurief: Du selbst darfst nicht wünschen, daß diesmal der Wunsch deines Mannes in Erfüllung gehe – besser wäre es ja, wenn du niemals einen Knaben bekommen würdest! – Seppeli wehrte sich anfänglich mit aller Macht gegen diese Gedanken, sie kamen ihm sündhaft an dem lieben Manne vor, und oft auch wußte es sich mit dem versprochenen Altare für die Jungfrau zu trösten – vielleicht mochte durch eine solche Stiftung die noch nicht vergessene Sünde von jenem Abend, da Rudolf die Himmelskönigin frevelhaft verhöhnt hatte, wieder gesühnt und verziehen werden; denn daß dies durch das ewige Lichtlein noch nicht erreicht worden, fühlte Seppeli im tiefsten Herzensgrunde; sie konnte noch immer nicht mit der vertrauenden, freudigen Andacht in der Kapelle beten, wie in frühern Tagen, und oft, wenn die Beterin ihre frommen Augen zu dem Bilde erhob, war es ihr, als ob es wie verneinend mit einem kalten abweisenden Blicke auf sie herabschaue. Aber wie – konnte die beleidigte Gottesmutter versöhnt werden durch einen Altar, der ihr nicht aus Liebe und Glaube, der ihr fast zum Spotte von unreinen Händen errichtet wurde? – Seppeli erschrak zuerst über diese Worte, die ihr, wie von einem unsichtbaren Munde zugeflüstert, leise auf die Zunge getreten waren; aber sie kehrten unwillkürlich wieder zurück, und in der Seele der werdenden Mutter begann ein verschwiegener Kampf, der mit jedem Tage, der sie dem Augenblicke, an dem sie einem neuen Wesen das Dasein geben sollte, näher brachte, unruhiger und peinvoller wurde. – Als man Seppeli nach diesem schweren Augenblicke die Kunde mittheilte, sie habe einen hübschen, gesunden Knaben geboren, verbarg sie das bleiche Antlitz in die Kissen und brach in heftiges Weinen aus. Der glückliche Gatte glaubte, es sei die Erfüllung sehnlicher Hoffnungen, die aus der Wöchnerin weine, und dabei fiel ihm das Versprechen ein, das er ihr an jenem Tage, da sie diese Hoffnungen auch in ihm erweckt, gegeben hatte. So traf er augenblicklich im Geheimen Vorsorge, daß sie den neuen Altar bei ihrem ersten Ausgange schon vor dem Frauenbilde errichtet finden könne, und so geschah es auch. Aber ach, als Seppeli diesen ersten Gang that, warf sie sich in trostlosem Schmerze in der kleinen Vorhalle der Kapelle auf die Knie nieder, ohne zu wagen, ihr Gebet an dem neuerstandenen Altare selbst zu verrichten. Es war auch kein Gebet, das sie verrichtete, es war nur ein stummer, verzweifelnder Schmerzensschrei, der sich ihrem Innern entrang. Denn schon wenige Tage nach der Niederkunft hatte es sich gezeigt, daß ihr Knäblein – blind geboren war.

Von dem Augenblicke dieser Entdeckung an, der das mitleidige Achselzucken der herbeigerufenen Aerzte nichts von ihrer bittern Hoffnungslosigkeit benahm, gewannen die verworrenen, widerstreitenden Empfindungen in der Brust der armen Mutter einen festen Stütz- und Ausgangspunkt. Sie hätte wohl ihr letztes Herzblut ausweinen mögen, wenn sie Rudolf so still und traurig an dem Bettlein des Kindes stehen sah; aber zugleich sprach es laut und vernehmlich in ihr: das ist der Sündenlohn, die blindgescholtene Jungfrau hat uns ein blindes Kind gegeben. In ihrem gläubigen Gemüthe sah sie nur noch einen Hoffnungsschimmer; aber sie fühlte sich zu schwach, demselben Raum zu einem hellern, erquickenden Lichte zu gewähren. Als der Tag der Taufe herannahte, zog sie einmal den betrübten Gatten in ihre Arme und flüsterte angstvoll: »Rudolf, ich hab' eine Bitte, eine schwere Bitte an dich; willst du sie erfüllen – mir, deinem armen Seppeli?«

»Wie kannst du so etwas fragen; warum sollt' ich nicht, wenn es in meinen Kräften steht?«

»So laß unser Kind auf meinen Glauben taufen – du kannst das, Lieber.«

Er richtete sich auf und schaute sie betroffen an, während sie ebenso unverwandt zu ihm emporblickte; aber sein Gesicht überzog nur ein trübes Lächeln, vielleicht weil er die Angst in den Augen seines Weibes nicht verstand oder aber noch eher sich scheute, sie näher um die Gründe ihres unerwarteten Begehrens auszufragen. »Nein, Seppeli,« sagte er endlich, »das kann und darf ich nicht, schon der Leute wegen nicht, die jetzt schon sagen, ich sei schuld am Unglücke unsers armen Kindes. Ich thät's aber auch sonst nicht – in diesem Punkte bleibt's bei unserm Versprechen, Seppeli. Die Knaben mir, die Mädchen dir.«

»Und was sagen die Leute,« rief sie leise, »woher wissen sie etwas von deiner Schuld?«

»Aus ihrem Unverstande wissen sie es,« erwiderte er, ohne den eigentlichen Sinn der letzten Frage verstanden zu haben; »aber ärgern muß man sich doch darüber.«

»So sag' mir's doch – ich bitt' dich drum, Rudolf; andere Leute haben manchmal mehr recht mit ihren Meinungen, als wir glauben.«

»Diesmal nicht, Seppeli,« entgegnete er, sich abwendend; »später will ich dir's schon sagen, was es ist.« Er ging schweigend zur Thüre hinaus; aber noch vor Sonnenuntergang wußte die Wöchnerin durch die Hebamme, was die Leute sagten. Das Kind sei blind zur Welt gekommen, weil der junge Wyne-Müller selbst schon mehr als zur Hälfte ein blinder Katholischer geworden. Das sei die Strafe für Früheres und dann gewiß für das ewige Lichtlein, das er in die Kapelle gestiftet. »So dumme Geschichten schwatzen sie,« schloß die Hebamme ihren Bericht; »aber freilich Euerm Mann dürfen sie's nicht in's Gesicht sagen, und drum allein hab' ich's Euch erzählt, damit er auch erfahre, wie es seine nächsten Nachbarn meinen mit ihm.«

Seppeli, die sich während dieser Erzählung ein wenig von ihrem Lager erhoben hatte, legte sich wieder langsam auf die Kissen zurück. »Und was ist denn das Frühere, wovon die Leute sprechen und wofür Rudolf vom Himmel so hart bestraft werden soll?« fragte sie endlich leise; »ich habe doch nie Böses über ihn reden hören.«

»Ach, das sind die alten Geschichten,« erwiderte das geschwätzige Weib; »die Leute sagten in ihrem Unverstande schon vor Eurer Heirath, es werde nicht gut kommen und jetzt meinen sie Recht gefunden zu haben. Aber du mein Gott, wie manches blinde Kind hab' ich schon empfangen in meinem Berufe, und Eures ist gewiß auch nicht das Letzte; drum müßt Ihr Euch trösten, Fraueli.«

Nach solchen Mittheilungen mochte nun freilich diese Ermahnung zum Troste wenig wirken auf das arme, geängstigte und verwirrte Mutterherz, über das im Gegentheil eine unsägliche Bitterkeit kam. Statt alles Andere von sich zu werfen und in der Liebe Rudolfs einzig die feste Stütze zu suchen, empörte sich das verletzte Gefühl zuerst gegen die Nachbarn, die ihm nichts Besseres denn eine ruchlose Rotte erschienen, die es mit Ueberlegung und Plan auf das Verderben eines Unschuldigen abgesehen. Aber einmal auf diesem Wege, konnte Seppeli nicht bei den Nachbarn stehen bleiben, ihr Groll mußte sich auch gegen ihren Schwiegervater, ja selbst gegen den Gatten wenden, der sich von solcher Bosheit umgarnen lasse und darüber das einzige Mittel versäume, durch das vielleicht das Unglück des armen Kindes noch gewendet werden könnte. »Ach hätt' ich meinem Vater und all' denen, die mir's wehrten, gefolgt,« seufzte die arme Frau, den Kopf in die Kissen drückend; »gnadenreiche Jungfrau, vergib mir, was ich gethan habe.«

Mit diesem Ausrufe war dem jungen Weibe plötzlich der ganze Widerspruch scharf und klar vor Augen gerückt, in den sie durch ihre Ehe gegen ihre Vergangenheit, gegen all' ihr früheres Empfinden und Glauben gerathen war. Sie hatte denselben wohl schon geahnt, zuweilen auch einen hellsehenden Blick in den dunkeln, tiefen Abgrund geworfen; aber die starke Hand der Liebe hatte sie bisher aufrecht gehalten, daß sie festen Fußes vorüberschreiten konnte – doch jetzt? – Als am Sonntag Morgen die Glocken über den Schwarzenberger Wald heraufklangen und von der Mühle weg ein Trüpplein Leute thalabwärts zog, das den Knaben zur Taufe trug, fiel die unglückliche Wöchnerin, sobald sie allein war, in tiefster Seelenangst auf die Knie und gelobte der heiligen Jungfrau, daß ihr das Kind dennoch geweiht werden solle.

Es gibt Dinge im Leben, die, der Seele einmal klar geworden, nie mehr vergessen werden; sie können auf lange Zeiten wieder zurücktreten vor andern Erscheinungen und Eindrücken, aber sie bleiben so zu sagen mit offenen Augen im Grunde des Herzens liegen, jeden Augenblick bereit, wieder an's Tageslicht heraufzusteigen. Und so erging es Seppeli mit den Empfindungen und Gedanken, die in diesen trüben Tagen seiner Seele klar geworden. Es kamen wohl auch wieder mildere, freundlichere Stimmungen, in denen sich die arme Frau Vorwürfe machen mußte. Du versündigst dich an deinem Manne, der dich doch so treu und herzlich liebt, wie immer, rief es oft vernehmlich in ihr, und dann nahm sie sich wohl vor, das Vergangene vergangen sein zu lassen und mit neuer Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Aber jedesmal, wenn sie das still und fein heranwachsende Büblein anblickte, wie es sinnend, mit unbeweglichem Augenlide in irgend einem Winkelchen saß, ging es plötzlich wieder wie ein kalter Nachtfrost über ihr Herz, und schweigend nahm sie das Kind bei der Hand, um mit ihm nach der Kapelle hinüberzugehen. Das war von der Zeit an ihr liebster und bald fast ihr einziger Weg, besonders nach vollbrachtem Tagewerk, am Abend, wenn die Welt still geworden. Sie trug das Kind auf den Armen oder führte es, als es größer geworden, an der Hand. Anfänglich wollte Rudolf sie begleiten, aber sie suchte es jedesmal unter irgend einem Vorwande abzulehnen, oder wenn dies nicht wohl anging, blieb sie lieber selbst zu Hause. Rudolf schien dies Thun weiter nicht zu beachten, wenigstens sagte er nichts darüber, und Seppeli freute sich sogar, als er allmälig nie mehr den Wunsch äußerte, sie auf ihrem einsamen Gange zu begleiten und seine eigenen Wege ging. Die arme Frau! Sie überdachte zu wenig, daß sie beide von da an in jedem Sinne auf verschiedenen Wegen gingen und so an entgegengesetzten Zielen ankommen mußten, während ihnen doch nur Eines zu verfolgen geboten war! – Wenn sie so einsam in der dämmernden Abendstille in der Kapelle auf den Knien lag und die Himmelskönigin inbrünstiglich anflehte, sie möge ihr Kind in Gnaden aufnehmen und mit dem Glaubenslichte dereinst auch das Licht der irdischen Augen verleihen, konnte sie überhaupt alles Andere vergessen, oder kam ihr wenigstens gering vor, woran sonst ihr Herz gehangen hatte. Harre aus, meinte sie den Ruf einer innern Stimme zu vernehmen, harre aus in Glaube und Gebet und du wirst erhört werden. Und als nun gar das Kind mit seinen ersten Lauten die Gebete zur Gebenedeiten nachzustammeln anfing, fast noch bevor es den Vaternamen auszusprechen verstand, kam es mit wonnevollem Schauer über die Mutter, daß ein Gnadenwunder im Nahen sei. Sie ließ sich nicht im Geringsten beirren, daß dieses zwei, drei Jahre ausblieb und sich an dem blinden Kinde keine andere Veränderung zeigte, als eben die Zeit mit sich brachte; denn festgläubige Hoffnung ist geduldig, wie die Liebe, aber wohl auch, wie diese, blind für Alles, was außer dem Bereiche ihres Gegenstandes liegt. Wäre dies nicht der Fall, so hätte Seppeli nicht in dem Grade achtlos an dem auffallend veränderten Benehmen ihres Mannes vorübergehen können, wie sie es wirklich that. Zwar sah sie wohl, daß er gar oft schon am Vormittage vom Hause wegging und erst am späten Abend, selbst lange nach Mitternacht heimkehrte; es entging ihr auch nicht, daß er dann zu häufig in einem Zustande sich befand, der deutlich verrieth, auf welche Art er die Zeit verbracht hatte; aber das arme Weib fand schnelle Beruhigung in dem Gedanken: das wird Alles anders werden und aufhören, wenn ich den Ruedeli einmal mit sehenden Augen aus der Kapelle zurückbringe; der arme Mann, daß er in seiner Verstocktheit den Trost und die Hoffnung nicht findet, auf die ich bauen kann!

Eines Abends, als das Büblein das erste Kränzlein von Frühblumen des neuen Jahres auf den Altar der Gnadenjungfrau gelegt, und die Mutter sich mit inbrünstiger Andacht vor ihr auf die Knie niederlassen wollte, sagte das Kind: »Meine Blumen gefallen ihr; siehst du, wie sie mich anlächelt?«

»Wer denn?« fragte Seppeli mit angehaltenem Athem, »wer lächelt dich an?«

»Wer sonst, als die heilige Jungfrau, Mutter!«

»Siehst du sie denn,« erwiderte Seppeli mit stockender Stimme, »kannst du sie sehen?«

»Ganz gut kann ich sie sehen, Mutter,« erwiderte der Knabe; »sie trägt ein Kränzlein auf dem Kopfe und in den Armen hält sie ein Jesuskind – es ist noch fast kleiner als ich, glaub' ich; aber herrlich sind ihre Kleider, die ihr bis über die Füße hinabreichen.«

»Und das siehst du Alles?« schrie Seppeli in einen Thränenstrom ausbrechend und das Kind an ihr Herz pressend; »gebenedeite Jungfrau, nun will ich gerne sterben, da du mich diesen Tag des Heiles und der Gnade hast erleben lassen.«

Voll heiligen Bangens und unnennbarer Seligkeit hob sie das Büblein an allen Gliedern zitternd in die Arme und stürzte mit ihm den Weg abwärts der Mühle zu. An der Waldecke angekommen, erblickte sie von Weitem ihren Mann, der schon seinen Gang nach dem Bade Schwarzenberg auf dem schmalen Fußweg dem Bache entlang eingeschlagen hatte. »Rudolf, Rudolf,« schrie sie mit bebender Stimme, »komm zurück – unser Kind ist sehend geworden.« – Auf den Ruf blieb er stehen, wie ungewiß, was er thun solle; aber als er Seppeli ihm nacheilen sah, kehrte er ebenfalls um, um ihm langsam entgegenzugehen. »Was hast du, was gibt's denn?« fragte er näher gekommen.

Seppeli stellte das Kind auf den Boden und sagte athemlos: »Er sieht, Rudolf, er sieht.«

Ueber das Gesicht des jungen Mannes leuchtete es einen Augenblick wie ein Blitzstrahl, der über eine graue Wetterwolke fährt; aber es dauerte nur so lange, bis er sich zu dem Knaben niedergebeugt. Als er sich wieder erhob, war der helle Schein verschwunden und die Stirn hatte sich in krause Falten zusammengezogen. »Was soll das heißen,« fragte er rauh, »wie kannst du mich mit so was zum Besten halten, Seppe?«

»Ich halte dich nicht zum Besten – benedeite Jungfrau – ich bitte dich, Rudolf, er ist sehend geworden, wie ich's schon lange erwartet habe.«

»Ach ja – du,« machte der Mann mit einem bittern Lächeln; »ich verstehe dich. Nun, Rudeli, siehst du die Mutter oder mich?«

»Nein, euch beide nicht,« erwiderte das Kind; »aber die heilige Jungfrau hab' ich gesehen.«

»Hörst du es,« rief Seppeli, »willst du auch ihm selbst nicht glauben? Zug um Zug hat er mir in der Kapelle sagen können, wie die Gnadenreiche sammt dem Gotteskinde aussieht – glaub es mir. Um alle Heiligen, versündige dich nicht auf's Neue durch deinen Unglauben, Rudolf!«

Dieser schwieg eine geraume Weile, während welcher er dem Knaben in die glanzlosen, unbeweglich offen stehenden Augen blickte; dann aber sagte er: »Das glaub' ich dir schon, Seppe; du hast dem Kinde so viel von den Bildern vorgeplaudert, daß es sie durch die Ohren sehen kann, gerade wie es mich sehen könnte, wenn du ihm ein Gleiches von mir gethan hättest.«

»Lästere nicht, Rudolf,« rief die angsterfüllte Frau; »mache nicht, daß die Gnadenmutter aufs Neue die Hand abzieht von uns und dem armen Kinde.«

»Ach ja,« erwiderte er näher tretend und leise, »ist's auch wahr, du selbst habest einem Pfaffen anvertraut, daß ich die Schuld an dem Unglücke unseres Kindes trage, weil ich einmal das hölzerne Bild da droben blind gescholten?«

Seppeli mußte den Blick niederschlagen vor dem unheimlichen Feuer, das ihr aus den Augen ihres Mannes entgegenblitzte; aber mit bittender Stimme erwiderte sie endlich: »Wie ich das gesagt habe, weiß ich nicht mehr genau, mit so harten Worten gewiß nicht; aber ich flehe dich an, stoß jetzt die Gnade, die sich nahen will, nicht durch einen neuen Frevel von dem Kinde und von uns, Rudolf. Wir haben für den einen schon genug büßen müssen.«

Der Mann öffnete bei dieser Antwort den Mund, als wollte er einen lauten Schrei oder einen zornigen Fluch ausstoßen; aber die Lippen schlossen sich wieder, und ohne einen Laut von sich zu geben, beugte er sich einen Augenblick auf das Kind nieder, wendete sich ab und ging den Weg weiter dem Bade zu.

Am folgenden Morgen war er noch nicht zurückgekehrt und am Abend ebenso wenig; aber nach Verlauf von einigen Tagen erzählte man schon auf dem abgelegensten Berghofe, der junge Wynemüller sei nach Amerika gegangen.

»Es mußte ja jedes Kind voraussehen, daß das nicht gut kommen konnte,« sagten die Leute auf beiden Seiten der Grenze; »das Beste ist noch, daß das blinde Tröpflein einst einzig erben kann und Geld genug bekommen wird.«


Der Professor rollte seine Blätter zusammen und schob sie in die Tasche zurück. Nach einem längeren Schweigen jedoch, das, wie es schien, nicht einmal der Doktor Lust hatte, zuerst zu brechen, riefen zwei Damen zugleich, die Geschichte sei eigentlich noch nicht zu Ende, wenigstens müsse man auch noch etwas von dem verlassenen Seppeli erfahren.

»Zu Ende ist die Geschichte freilich,« erwiderte der Erzähler; »dagegen lebt die verlassene Frau noch immer auf der Wynemühle und ebenso der blinde Knabe, das einzige der Trümmer, welches die Arme aus dem Schiffbruche ihrer irdischen Hoffnungen gerettet hat.«


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