Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was heisst und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?
Ausführlich zu schildern, was sich niemals ereignet hat, ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern auch das unveräußerliche Recht jedes wirklichen Kulturmenschen. Oscar Wilde
Durch die unendliche Tiefe des Weltraums wandern zahllose Sterne, leuchtende Gedanken Gottes, selige Instrumente, auf denen der Schöpfer spielt. Sie alle sind glücklich, denn Gott will die Welt glücklich. Ein einziger ist unter ihnen, der dieses Los nicht teilt: auf ihm entstanden nur Menschen.
Wie kam das? Hat Gott diesen Stern vergessen? Oder hat er ihm die höchste Glorie verliehen, indem er ihm freistellte, sich aus eigener Kraft zur Seligkeit emporzuringen? Wir wissen es nicht.
Einen winzigen Bruchteil der Geschichte dieses winzigen Sterns wollen wir zu erzählen versuchen.
Für diesen Zweck wird es nützlich sein, wenn wir vorher in Kürze die Grundprinzipien unserer Darstellung erörtern. Es sind Grundgedanken im eigentlichsten Sinn des Wortes: sie liegen dem Gesamtbau des Werkes zugrunde und sind daher, obschon sie ihn tragen, unterirdisch und nicht ohne weiteres sichtbar.
Der erste dieser Grundpfeiler besteht in unserer Auffassung vom Wesen der Geschichtschreibung. Wir gehen von der Überzeugung aus, daß sie sowohl einen künstlerischen wie einen moralischen Charakter hat; und daraus folgt, daß sie keinen wissenschaftlichen Charakter hat.
Geschichtschreibung ist Philosophie des Geschehenen. Alle Dinge haben ihre Philosophie, ja noch mehr: alle Dinge sind Philosophie. Alle Menschen, Gegenstände und Ereignisse sind Verkörperungen eines bestimmten Naturgedankens, einer eigentümlichen Weltabsicht. Der menschliche Geist hat nach der Idee zu forschen, die in jedem Faktum verborgen liegt, nach dem Gedanken, dessen bloße Form es ist. Die Dinge pflegen oft erst spät ihren wahren Sinn zu offenbaren. Wie lange hat es gedauert, bis uns der Heiland die einfache und elementare Tatsache der menschlichen Seele enthüllte! Wie lange hat es gedauert, bis der magnetische Stahl dem sehenden Auge Gilberts seine wunderbar wirksamen Kräfte preisgab! Und wie viele geheime Naturkräfte warten noch immer geduldig, bis einer kommt und den Gedanken in ihnen erlöst! Daß die Dinge geschehen, ist nichts: daß sie gewußt werden, ist alles. Der Mensch hatte seinen schlanken ebenmäßigen Körperbau, seinen aufrechten edeln Gang, sein weltumspannendes Auge seit Jahrtausenden und Jahrtausenden: in Indien und Peru, in Memphis und Persepolis; aber schön wurde er erst in dem Augenblick, wo die griechische Kunst seine Schönheit erkannte und abbildete. Darum scheint es uns auch immer, als ob über Pflanzen und Tiere eine eigentümliche Melancholie gebreitet sei: sie alle sind schön, sie alle sind Sinnbilder irgendeines tiefen Schöpfungsgedankens; aber sie wissen es nicht, und darum sind sie traurig.
Die ganze Welt ist für den Dichter geschaffen, um ihn zu befruchten, und auch die ganze Weltgeschichte hat keinen anderen Inhalt. Sie enthält Materialien für Dichter: Dichter des Werks oder Dichter des Worts: das ist ihr Sinn. Wer aber ist der Dichter, den sie zu neuen Taten und Träumen beflügelt? Dieser Dichter ist niemand anders als die gesamte Nachwelt.
Man hat sich seit einiger Zeit daran gewöhnt, drei verschiedene Arten der Geschichtschreibung zu unterscheiden: eine referierende oder erzählende, die einfach die Begebenheiten berichtet, eine pragmatische oder lehrhafte, die die Ereignisse durch Motivierungen verknüpft und zugleich Nutzanwendungen aus ihnen zu ziehen sucht, und eine genetische oder entwickelnde, die darauf abzielt, die Geschehnisse als einen organischen Zusammenhang und Verlauf darzustellen. Diese Einteilung ist nichts weniger als scharf, weil, wie man auf den ersten Blick sieht, diese Betrachtungsarten ineinander übergehen: die referierende in die verknüpfende, die verknüpfende in die entwickelnde, und überhaupt keine von ihnen völlig ohne die beiden anderen zu denken ist. Wir können uns daher dieser Klassifikation nur in dem vagen und einschränkenden Sinne bedienen, daß bei jeder dieser Darstellungsweisen einer der drei Gesichtspunkte im Vordergrund steht, und in diesem Falle gelangen wir zu folgenden Ergebnissen: bei der erzählenden Geschichtschreibung, der es in erster Linie um den anschaulichen Bericht zu tun ist, überwiegt das ästhetische Moment; bei der pragmatischen Darstellung, die es vor allem auf die lehrhafte Nutzanwendung, die »Moral« der Sache abgesehen hat, spielt das ethische Moment die Hauptrolle; bei der genetischen Methode, die eine geordnete und dem Verstand unmittelbar einleuchtende Abfolge aufzuzeigen sucht, dominiert das logische Moment. Dementsprechend haben auch die verschiedenen Zeitalter je nach ihrer seelischen Grundstruktur immer eine dieser drei Formen bevorzugt: die Antike, in der die reine Anschauung am stärksten entwickelt war, hat die Klassiker der referierenden Geschichtschreibung hervorgebracht; das achtzehnte Jahrhundert mit seiner Neigung, alle Probleme einer moralisierenden Betrachtungsweise zu unterwerfen, hat die glänzendsten Exemplare der pragmatischen Richtung aufzuweisen; und im neunzehnten Jahrhundert, wo die Tendenz vorherrschte, alles zu logisieren, in reine Begriffe und Rationalitäten aufzulösen, hat die genetische Methode die schönsten Früchte gezeitigt. Jede dieser drei Behandlungsarten hat ihre besonderen Vorzüge und Schwächen; aber so viel ist klar, daß bei jeder von ihnen ein bestimmtes Interesse das treibende und gestaltende Motiv bildet, sei es nun ästhetischer, ethischer oder logischer Natur: den entscheidenden, obschon stets wechselnden Maßstab des Historikers bildet allemal das »Interessante«. Dieser Gesichtspunkt ist nicht ganz so subjektiv, wie er aussieht: es herrschen über ihn, zumindest in demselben Zeitalter, große Übereinstimmungen; aber er ist natürlich auch keineswegs objektiv zu nennen.
Man könnte nun meinen, daß bei der erzählenden Geschichtschreibung, wenn sie sich auf eine trockene sachliche Wiedergabe der Tatsachen beschränkt, das Ideal einer objektiven Darstellung noch am ehesten zu erreichen wäre. Aber schon die reine Referierung (die übrigens unerträglich wäre und, außer auf ganz primitiven Stufen, nie versucht worden ist) erhält durch die unvermeidliche Auswahl und Gruppierung der Fakten einen subjektiven Charakter. Hierin besteht eigentlich die Funktion alles Denkens, ja sogar unseres ganzen Vorstellungslebens, das ausnahmslos elektiv, selektiv verfährt und zugleich die der Wirklichkeit entnommenen Ausschnitte in eine bestimmte Anordnung bringt. Und diesen Prozeß, den unsere Sinnesorgane unbewußt vollziehen, wiederholen die Naturwissenschaften mit vollem Bewußtsein. Aber es besteht hier doch ein kardinaler Unterschied. Die Selektion, die unsere Sinnesorgane und die auf ihren Meldungen aufgebauten Naturwissenschaften treffen, wird von der menschlichen Gattung nach strengen und eindeutigen Gesetzen entschieden, denen das Denken und Vorstellen jedes normalen Menschen unterworfen ist; die Auswahl des historischen Materials wird aber nach freiem Ermessen von einzelnen Individuen oder von gewissen Gruppen von Individuen, im günstigsten Fall von der öffentlichen Meinung eines ganzen Zeitalters bestimmt. Vor einigen Jahren hat der Münchener Philosoph Professor Erich Becher in seinem Werk »Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften« den Versuch gemacht, eine Art vergleichende Anatomie der Wissenschaften zu liefern, eine Art Technologie der einzelnen Disziplinen, die sich zu diesen etwa verhält wie eine Dramaturgie zur Kunst des Theaters. Dort findet sich der Satz: »Die Wissenschaft vereinfacht die unübersehbar komplexe Wirklichkeit durch Abstraktion ... Der Historiker, der ein Lebensbild des Freiherrn vom Stein entwirft, abstrahiert von unzähligen Einzelheiten aus dessen Leben und Wirken, und der Geograph, der eine Gebirgslandschaft bearbeitet, abstrahiert von Maulwurfshügeln und Ackerfurchen.« Aber gerade aus dieser Gegenüberstellung sehen wir, daß Geographie und Geschichte sich eben nicht als gleichberechtigte Wissenschaften koordinieren lassen. Denn während es für Maulwurfshügel und Ackerfurchen ein ganz untrügliches Merkmal gibt, nämlich das einfache optische der Größe und Ausdehnung, läßt sich durch keine ebenso allgemeingültige Formel feststellen, was in der Biographie des Freiherrn vom Stein diesen quantités négligeables entspricht. Es ist ganz dem dichterischen Einfühlungsvermögen, dem historischen Takt, dem psychologischen Spürsinn des Biographen überlassen, welche Details er auslassen, welche er nur andeuten, welche er breit ausmalen soll. Geograph und Biograph verhalten sich zueinander wie Landkarte und Porträt. Welche Erdfurchen in eine geographische Karte aufzunehmen sind, sagt uns ganz unzweideutig unser geometrisches Augenmaß, das bei allen Menschen gleich und außerdem mechanisch kontrollierbar ist; welche Gesichtsfurchen in ein biographisches Porträt aufzunehmen sind, sagt uns nur unser künstlerisches Augenmaß, das bei jedem Menschen einen anderen Grad der Feinheit und Schärfe besitzt und jeder exakten Revision entbehrt.
Der geographischen Karte würde nicht einmal die historische Tabelle entsprechen, die die Fakten einfach chronologisch aneinanderreiht. Denn erstens ist es evident, daß eine solche Tabelle nicht mit derselben Berechtigung eine Wiederholung des Originals in verjüngtem Maßstabe genannt werden kann wie eine Landkarte. Und zweitens hätte eine solche amorphe Anhäufung von Daten nicht den Charakter einer Wissenschaft. Nach der doch wohl ziemlich unanfechtbaren Definition Bechers ist eine Wissenschaft »ein gegenständlich geordneter Zusammenhang von Fragen, wahrscheinlichen und wahren Urteilen nebst zugehörigen und verbindenden Untersuchungen und Begründungen«. Keine dieser Forderungen wird von einer solchen nackten Tabelle erfüllt: sie enthält weder Fragen noch Urteile noch Untersuchungen noch Begründungen. Mit demselben Recht könnte man einen Adreßkalender, ein Klassenbuch oder einen Rennbericht ein wissenschaftliches Produkt nennen.
Wir gelangen demnach zu dem Resultat: sobald die referierende Geschichtschreibung versucht, eine Wissenschaft zu sein, hört sie auf, objektiv zu sein, und sobald sie versucht, objektiv zu sein, hört sie auf, eine Wissenschaft zu sein.
Was die pragmatische Geschichtschreibung anlangt, so bedarf es wohl kaum eines Beweises, daß sie das vollkommene Gegenteil wissenschaftlicher Objektivität darstellt. Sie ist ihrer innersten Natur nach tendenziös, und zwar gewollt und bewußt tendenziös. Sie entfernt sich daher von der reinen Wissenschaft, die bloß feststellen will, ungefähr ebenso weit wie die didaktische Poesie von der reinen Kunst, die bloß darstellen will. Sie erblickt im gesamten Weltgeschehen eine Sammlung von Belegen und Beispielen für gewisse Lehren, die sie zu erhärten und zu verbreiten wünscht, sie hat einen ausgesprochenen und betonten Lesebuchcharakter, sie will allemal etwas zeigen. Damit ist sie jedoch bloß als Wissenschaft verurteilt, wie ja auch die Lehrdichtung dadurch, daß sie keine reine Kunst ist, noch nicht jede Existenzberechtigung verliert. Das höchste Literaturprodukt, das wir kennen, die Bibel, gehört ins Gebiet der didaktischen Poesie, und einige der gewaltigsten Geschichtschreiber: Tacitus, Machiavell, Bossuet, Schiller, Carlyle, haben der pragmatischen Richtung angehört.
Als Reaktion gegen den Pragmatismus trat in der neuesten Zeit die genetische Richtung hervor, die sich zum Ziel setzt, die Ereignisse ohne jede Parteinahme lediglich an der Hand der historischen Kausalität in ihrer organischen Entwicklung zu verfolgen, also etwa in der Art, wie der Geologe die Geschichte der Erdrinde oder der Botaniker die Geschichte der Pflanzen studiert. Aber sie befand sich in einem großen Irrtum, wenn sie glaubte, daß sie dazu imstande sei. Erstens nämlich: indem sie den Begriff der Entwicklung einführt, begibt sie sich auf das Gebiet der Reflexion und wird im ungünstigen Fall zu einer leeren und willkürlichen Geschichtskonstruktion, im günstigen Fall zu einer tiefen und gedankenreichen Geschichtsphilosophie, in keinem Fall aber zu einer Wissenschaft. Die Vergleichung mit den Naturwissenschaften ist nämlich vollkommen irreführend. Die Geschichte der Erde liegt uns in unzweideutigen Dokumenten vor: wer diese Dokumente zu lesen versteht, ist imstande, diese Geschichte zu schreiben. Solche einfache, deutliche und zuverlässige Dokumente stehen aber dem Historiker nicht zu Gebote. Der Mensch ist zu allen Zeiten ein höchst komplexes, polychromes und widerspruchsvolles Geschöpf gewesen, das sein letztes Geheimnis nicht preisgibt. Die gesamte untermenschliche Natur trägt einen sehr uniformen Charakter; die Menschheit besteht aber aus lauter einmaligen Individuen. Aus einem Lilienkeim wird immer wieder eine Lilie, und wir können die Geschichte dieses Keims mit nahezu mathematischer Sicherheit vorausbestimmen; aus einem Menschenkeim wird aber immer etwas noch nie Dagewesenes, nie Wiederkehrendes. Die Geschichte der Natur wiederholt sich immer: sie arbeitet mit ein paar Refrains, die sie nicht müde wird zu repetieren; die Geschichte der Menschheit wiederholt sich nie: sie verfügt über einen unerschöpflichen Reichtum von Einfällen, der stets neue Melodien zum Vorschein bringt.
Zweitens: wenn die genetische Geschichtschreibung annimmt, ebenso streng wissenschaftlich Ursache und Wirkung ergründen zu können wie die Naturforschung, so befindet sie sich ebenfalls in einer Täuschung. Die historische Kausalität ist schlechterdings unentwirrbar, sie besteht aus so vielen Gliedern, daß sie dadurch für uns den Charakter der Kausalität verliert. Zudem lassen sich die physikalischen Bewegungen und ihre Gesetze durch direkte Beobachtung feststellen, während die historischen Bewegungen und ihre Gesetze sich nur in der Phantasie wiederholen lassen; jene kann man jederzeit nach prüfen, diese nur nach schaffen. Kurz: der einzige Weg, in die historische Kausalität einzudringen, ist der Weg des Künstlers, ist das schöpferische Erlebnis.
Und schließlich drittens erweist sich auch die Forderung der Unparteilichkeit als völlig unerfüllbar. Daß die Geschichtsforschung im Gegensatz zur Naturforschung ihre Gegenstände wertet, wäre noch kein Einwand gegen ihren wissenschaftlichen Charakter. Denn ihre Wertskala könnte ja objektiver Natur sein, indem sie, wie in der Mathematik, eine Größenlehre oder, wie in der Physik, eine Kräftelehre wäre. Aber hier zeigt sich der einschneidende Unterschied, daß es einen absolut gültigen Maßstab für Größe und Kraft in der Geschichte nicht gibt. Ich weiß zum Beispiel, daß die Zahl 17 größer ist als die Zahl 3, daß ein Kreis größer ist als ein Kreissegment von demselben Radius; aber über historische Personen und Ereignisse vermag ich nicht Urteile von ähnlicher Sicherheit und Evidenz abzugeben. Wenn ich zum Beispiel sage, Cäsar sei größer als Brutus oder Pompejus, so ist das nicht beweisbarer als das Gegenteil, und in der Tat hat man jahrhundertelang diese für uns so absurde Ansicht vertreten. Daß Shakespeare der größte Dramatiker sei, der je gelebt hat, kommt uns ganz selbstverständlich vor, aber diese Meinung ist erst um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts allgemein durchgedrungen; es war dieselbe Zeit, wo die meisten Menschen Vulpius, den Verfasser des »Rinaldo Rinaldini«, für einen größeren Dichter hielten als seinen Schwager Goethe. Raphael Mengs, in dem die Nachwelt nur noch einen faden und gedankenlosen Eklektiker erblickt, galt zu seinen Lebzeiten als einer der größten Maler der Erde; el Greco, in dem wir heute den grandiosesten Genius der Barocke anstaunen, war noch vor einem halben Menschenalter so wenig geschätzt, daß in der letzten Auflage von Meyers Konversationslexikon nicht einmal sein Name genannt wird. Karl der Kühne erschien seinem Jahrhundert als der glänzendste Held und Herrscher, während wir in ihm nur noch eine ritterliche Kuriosität zu sehen vermögen. In demselben Jahrhundert lebte Jeanne d'Arc; aber Chastellain, der gewissenhafteste und geistreichste Chroniqueur des Zeitalters, läßt in dem »Mystère«, das er auf den Tod Karls des Siebenten dichtete, alle Heerführer auftreten, die für den König gegen die Engländer kämpften, die Jungfrau erwähnt er aber überhaupt nicht: wir hingegen haben von jener Zeit kaum etwas anderes in der Erinnerung als das Mädchen von Orleans. Die Größe ist eben, wie Jakob Burckhardt sagt, ein Mysterium: »Das Prädikat wird weit mehr nach einem dunkeln Gefühle als nach eigentlichen Urteilen aus Akten erteilt oder versagt.«
In der Erkenntnis dieser Schwierigkeit hat man nach einem anderen Wertmesser gesucht und gesagt: historisch ist, was wirksam ist; ein Mensch oder ein Ereignis ist um so höher zu veranschlagen, je größer der Umfang und die Dauer seines Einflusses ist. Aber hiermit verhält es sich ganz ähnlich wie mit dem Begriff der historischen Größe. Von der Schwerkraft oder der Elektrizität können wir in jedem einzelnen Falle genau sagen, ob, wo und in welchem Ausmaß sie wirkt, von den Kräften und Erscheinungen der Geschichte nicht. Zunächst, weil hier der Gesichtswinkel, von dem aus wir messen sollen, nicht eindeutig bestimmt ist. Für den Nationalökonomen wird die Einführung des Alexandriners eine sehr untergeordnete Rolle spielen, für den Theologen die Erfindung des Augenspiegels eine ziemlich geringe Bedeutung besitzen. Indes: hier ließe sich noch denken, daß ein wirklich universeller Forscher und Beobachter allen in der Geschichte wirksam gewordenen Kräften gleichmäßig gerecht wird, obschon sich einem solchen Unternehmen fast unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen. viel schwerer aber wiegt der Einwand, daß ein großer Teil der historischen Wirkungen unterirdisch verläuft und oft erst sehr spät, bisweilen gar nicht ans Tageslicht tritt. Wir kennen die wahren Kräfte nicht, die unsere Entwicklung geheimnisvoll vorwärtstreiben; wir können einen tiefen Zusammenhang nur ahnen, niemals lückenlos beschreiben. Sueton schreibt in seiner Biographie des Kaisers Claudius: »Zu jener Zeit erregten die Juden auf Anstiften eines gewissen Chrestus in Rom Streitereien und Verdruß und mußten deshalb ausgewiesen werden.« Sueton war allerdings kein genialer Durchleuchter der Historie wie etwa Thukydides, sondern bloß ein ausgezeichneter Sammler und Erzähler von welthistorischem Tratsch, eine geschmackvolle und fleißige Mediokrität, aber gerade darum erfahren wir aus seiner Bemerkung ziemlich genau die offizielle Meinung des damaligen gebildeten Durchschnittspublikums über das Christentum: man hielt es für einen obskuren jüdischen Skandal. Und doch war das Christentum damals schon eine Weltmacht. Seine »Wirkungen« waren längst da und verstärkten sich mit jedem Tag; aber sie waren nicht greifbar und sichtbar.
Viele Geschichtsforscher haben daher ihre Ansprüche noch mehr herabgesetzt und vom Historiker bloß verlangt, daß er den jeweiligen Stand unserer Geschichtskenntnisse völlig objektiv widerspiegle, indem er sich zwar der allgemeinen historischen Wertmaßstäbe notgedrungen bedienen, aber aller persönlichen Urteile enthalten solle. Aber selbst diese niedrige Forderung ist unerfüllbar. Denn es stellt sich leider heraus, daß der Mensch ein unheilbar urteilendes Wesen ist. Er ist nicht bloß genötigt, sich gewisser »allgemeiner« Maßstäbe zu bedienen, die gleich schlechten Zollstöcken sich bei jeder Veränderung der öffentlichen Temperatur vergrößern oder verkleinern, sondern er fühlt außerdem den Drang in sich, alle Tatsachen, die in seinen Gesichtskreis treten, zu interpretieren, zu beschönigen, zu verleumden, kurz, durch sein ganz individuelles Urteil zu fälschen und umzulügen, wobei er sich allerdings in der exkulpierenden Lage des unwiderstehlichen Zwanges befindet. Nur durch solche ganz persönliche einseitige gefärbte Urteile nämlich ist er imstande, sich in der moralischen Welt, und das ist die Welt der Geschichte, zurechtzufinden. Nur sein ganz subjektiver »Standpunkt« ermöglicht es ihm, in der Gegenwart festzustehen und von da aus einen sichtenden und gliedernden Blick über die Unendlichkeit der Vergangenheit und der Zukunft zu gewinnen. Tatsächlich gibt es auch bis zum heutigen Tage kein einziges Geschichtswerk, das in dem geforderten Sinne objektiv wäre. Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch große Schwierigkeiten machen: denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.
Rankes Vorhaben, er wolle bloß sagen, »wie es eigentlich gewesen«, erschien sehr bescheiden, war aber in Wahrheit sehr kühn und ist ihm auch nicht gelungen. Seine Bedeutung bestand in etwas ganz anderem: daß er ein großer Denker war, der nicht neue »Tatsachen« entdeckte, sondern neue Zusammenhänge, die er mit genialer Schöpferkraft aus sich heraus projizierte, konstruierte, gestaltete, kraft einer inneren Vision, die ihm keine noch so umfassende und tiefdringende Quellenkenntnis und keine noch so scharfsinnige und unbestechliche Quellenkritik liefern konnte.
Denn man mag noch so viele neue Quellen aufschließen, es sind niemals lebendige Quellen. Sobald ein Mensch gestorben ist, ist er der sinnlichen Anschauung ein für allemal entrückt; nur der tote Abdruck seiner allgemeinen Umrisse bleibt zurück. Und sofort beginnt jener Prozeß der Inkrustation, der Fossilierung und Petrifizierung; selbst im Bewußtsein derer, die noch mit ihm lebten. Er versteinert. Er wird legendär. Bismarck ist schon eine Legende und Ibsen ist im Begriff, eine zu werden. Und wir alle werden einmal eine sein. Bestimmte Züge springen in der Erinnerung ungebührlich hervor, weil sie sich ihr aus irgendeinem oft ganz willkürlichen Grunde besonders einprägten. Es bleiben nur Teile und Stücke. Das Ganze aber hat aufgehört zu sein, ist unwiederbringlich hinabgesunken in die Nacht des Gewesenen. Die Vergangenheit zieht einen Schleiervorhang über die Dinge, der sie verschwommener und unklarer, aber auch geheimnisvoller und suggestiver macht: alles verflossene Geschehen erscheint uns im Schimmer und Duft eines magischen Geschehens; eben hierin liegt der Hauptreiz aller Beschäftigung mit der Historie.
Jedes Zeitalter hat ein bestimmtes nur ihm eigentümliches Bild von allen Vergangenheiten, die seinem Bewußtsein zugänglich sind. Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Alle Geschichte ist Sage, Mythos und als solcher das Produkt des jeweiligen Standes unserer geistigen Potenzen: unseres Auffassungsvermögens, unserer Gestaltungskraft, unseres Weltgefühls. Nehmen wir zum Beispiel den Vorstellungskomplex »griechisches Altertum«. Es ist zunächst dagewesen als Gegenwart: als Zustand für die, die ihn miterlebten und miterlitten, und da war es etwas höchst Strapaziöses, Verdächtiges, Ungarantiertes, von heute auf morgen kaum zu Berechnendes, etwas, wovor man sehr auf der Hut sein mußte und das doch sehr schwer zu fassen war, im Grunde nicht der unendlichen Mühe wert, die man darauf verwandte, und doch unentbehrlich, denn es war ja das Leben. Aber schon den Menschen der römischen Kaiserzeit erschien das frühere Griechentum als etwas unbeschreiblich Hohes, Helles und Kräftiges, sinnvoll und gefestigt in sich Ruhendes, ein unerreichbares Paradigma glücklicher Reinheit, Einfachheit und Tüchtigkeit, eine Wünschbarkeit ersten Ranges. Dann, im Mittelalter, wurde es etwas Trübes, Graues, bleifarbig Zerflossenes, höchst Unheimliches und von Gott Gemiedenes, eine Art Erdhölle voll Gier und Sünde, ein düsteres Theater der Leidenschaften. In der Vorstellung der deutschen Aufklärung wiederum war das alte Griechenland eine Art natürliches Museum, ein praktischer Kursus der Kunstgeschichte und Archäologie: die Tempel Antikensäle, die Marktplätze Glyptotheken, ganz Athen eine permanente Freiluftausstellung, alle Griechen entweder Bildhauer oder deren wandelnde Modelle, stets in edler und anmutiger Positur, stets weise und wohltönende Reden auf den Lippen, ihre Philosophen Professoren der Ästhetik, ihre Frauen heroische Brunnenfiguren, ihre Volksversammlungen lebende Bilder. An die Stelle dieser ebenso verehrungswürdigen wie langweiligen Gesellschaft hat das Fin de siècle den problematischen, ja hysterischen Griechen gesetzt, der nichts weniger als maßvoll, friedlich und harmonisch war, sondern von höchst bunter, opalisierender und gemischter Zusammensetzung, verstört von einem tiefen hoffnungslosen Pessimismus und gejagt von einer pathologischen Hemmungslosigkeit, die seine asiatische Herkunft verrät. Zwischen diese so heterogenen Auffassungen schoben sich zahlreiche Übergänge, Unterarten und Schattierungen, und es wird eine der Aufgaben unserer Darstellung sein, dieses interessante Farbenspiel des Begriffs »Antike« etwas genauer zu veranschaulichen.
Jedes Zeitalter, ja fast jede Generation hat eben ein anderes Ideal, und mit dem Ideal ändert sich auch der Blick in die einzelnen großen Abschnitte der Vergangenheit. Er wird, je nachdem, zum verklärenden, vergoldenden, hypostasierenden Blick oder zum vergiftenden, schwärzenden, obtrektierenden, zum bösen Blick.
Die geistige Geschichte der Menschheit besteht in einer fortwährenden Uminterpretierung der Vergangenheit. Männer wie Cicero oder Wallenstein sind tausendfach urkundlich bezeugt, haben genaue und starke Spuren ihres Wirkens in einer Fülle von Einzelheiten hinterlassen, und doch weiß bis zum heutigen Tage noch niemand, ob Cicero ein seichter Opportunist oder ein bedeutender Charakter, ob Wallenstein ein niedriger Verräter oder ein genialer Realpolitiker gewesen ist. Keinem der Männer, die Weltgeschichte gemacht haben, ist es erspart geblieben, daß sie gelegentlich Abenteurer, Scharlatane, ja Verbrecher genannt wurden: man denke an Mohammed, Luther, Cromwell, an Julius Cäsar, Napoleon, Friedrich den Großen und hundert andere. Nur von einem einzigen hat man dies noch nie zu behaupten gewagt, in dem wir aber eben darum keinen Menschen, sondern den Sohn Gottes erblicken.
Das Beste am Menschen, sagt Goethe, ist gestaltlos. Ist es also schon bei einer einzelnen Individualität fast unmöglich, das letzte Geheimnis ihres Wesens zu entriegeln und das »Gesetz, wonach sie angetreten«, zu enthüllen, um wie viel absurder muß ein solches Unternehmen bei Massenbewegungen, Taten der menschlichen Kollektivseele sein, in denen sich die Kraftlinien zahlreicher Individualitäten kreuzen! Schon die Biologie, die es doch immerhin noch mit klar umgrenzten Typen zu tun hat, ist keine exakte Naturwissenschaft mehr und lebt von allerlei der philosophischen Mode unterworfenen Hypothesen. Wo das Leben beginnt, hört die Wissenschaft auf; und wo die Wissenschaft beginnt, hört das Leben auf.
Die Lage des Historikers wäre also vollkommen hoffnungslos, wenn sich ihm nicht ein Ausweg böte, der in einem anderen Wort Goethes angedeutet ist: »Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat.« Oder, um statt zwei goethischer Aperçus zwei goethische Gestalten zur Erläuterung heranzuziehen: der Historiker, der »wissenschaftlich«, bloß aus dem Stoff Geschichte aufbaut, ist Wagner, der in der Retorte den lebensunfähigen blutlosen Homunculus hervorbringt; der Historiker, der Geschichte gestaltet, indem er etwas aus eigenem hinzutut, ist Faust selbst, der durch die Vermählung mit dem Geist der Vergangenheit den blühenden Euphorion erzeugt; dieser ist freilich ebenso kurzlebig wie Homunculus, aber aus dem entgegengesetzten Grunde: weil zu viel Leben in ihm ist.
»Geschichte wissenschaftlich behandeln wollen«, sagt Spengler, »ist im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles ... Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte soll man dichten. Alles andere sind unreine Lösungen.« Der Unterschied zwischen dem Historiker und dem Dichter ist in der Tat nur ein gradueller. Die Grenze, vor der die Phantasie haltzumachen hat, ist für den Historiker der Stand des Geschichtswissens in Fachkreisen, für den Dichter der Stand des Geschichtswissens im Publikum. Die Poesie ist auch nicht völlig frei in der Gestaltung historischer Figuren und Begebenheiten: es gibt eine Linie, die sie ohne Gefahr nicht überschreiten kann. Ein Drama zum Beispiel, das Alexander den Großen als Feigling und seinen Lehrer Aristoteles als Ignoranten schildern würde und die Perser im Kampf gegen die Mazedonier siegen ließe, würde dies mit dem Verlust der ästhetischen Wirkung bezahlen. In der Tat besteht auch immer ein sehr intimer Zusammenhang zwischen den großen Bühnendichtern und den maßgebenden Geschichtsquellen ihres Zeitalters. Shakespeare hat den Cäsar Plutarchs dramatisiert, Shaw den Cäsar Mommsens; Shakespeares Königsdramen spiegeln das historische Wissen des englischen Publikums im sechzehnten Jahrhundert ebenso genau wider wie Strindbergs Historien die Geschichtskenntnisse des schwedischen Lesers im neunzehnten Jahrhundert. Goethes »Götz« und Hauptmanns »Florian Geyer« erscheinen uns heute als phantastische Bilder der Reformationszeit; als sie neu waren, galten sie nicht dafür, denn sie fußten beide auf den wissenschaftlichen Forschungen und Anschauungen ihrer Zeit. Kurz: der Historiker ist nichts anderes als ein Dichter, der sich den strengsten Naturalismus zum unverbrüchlichen Grundsatz gemacht hat.
Die zünftigen Gelehrten pflegen allerdings alle historischen Werke, die sich nicht mit dem geistlosen und unpersönlichen Zusammenschleppen des Materials begnügen, hochnäsig Romane zu nennen. Aber ihre eigenen Arbeiten entpuppen sich nach höchstens ein bis zwei Generationen ebenfalls als Romane, und der ganze Unterschied besteht darin, daß ihre Romane leer, langweilig und talentlos sind und durch einen einzigen »Fund« umgebracht werden können, während ein wertvoller Geschichtsroman in dem, was seine tiefere Bedeutung ausmacht, niemals »überholt« werden kann. Herodot ist nicht überholt, obgleich er größtenteils Dinge berichtet hat, die heute jeder Volksschullehrer zu widerlegen vermag; Montesquieu ist nicht überholt, obgleich seine Werke voll von handgreiflichen Irrtümern sind; Herder ist nicht überholt, obgleich er historische Ansichten vertrat, die heute für dilettantisch gelten; Winckelmann ist nicht überholt, obgleich seine Auffassung vom Griechentum ein einziger großer Mißgriff war; Burckhardt ist nicht überholt, obgleich der heutige Papst für klassische Philologie, Wilamowitz-Moellendorff, erklärt hat, daß seine griechische Kulturgeschichte »für die Wissenschaft nicht existiert«. Denn wenn sich selbst alles, was diese Männer lehrten, als unrichtig erweisen sollte, eine Wahrheit wird doch immer bleiben und niemals überholt werden können: die der künstlerischen Persönlichkeit, die hinter dem Werk stand, des bedeutenden Menschen, der diese falschen Bilder erlebte, sah und gestaltete. Wenn Schiller zehn Seiten beseelter deutscher Prosa über eine Episode des Dreißigjährigen Krieges schreibt, die sich niemals so zugetragen hat, so ist das für die historische Erkenntnis fruchtbarer als hundert Seiten »Richtigstellungen nach neuesten Dokumenten« ohne philosophischen Gesichtspunkt und in barbarischem Deutsch. Wenn Carlyle die Geschichte der Französischen Revolution zum Drama eines ganzen Volkes steigert, das, von mächtigen Kräften und Gegenkräften manisch vorwärtsgetrieben, sein blutiges Schicksal erfüllt, so mag man das einen Roman und sogar einen Kolportageroman nennen, aber die geheimnisvolle Atmosphäre von unendlicher Bedeutsamkeit, in die dieses Dichterwerk getaucht ist, wirkt wie eine magische Isolierschicht, die es durch die Zeiten rettet. Und ist die kompetenteste Geschichtsdarstellung, die wir bis zum heutigen Tage vom Mittelalter besitzen, nicht Dantes unwirkliche Höllenvision? Und auch Homer: was war er anderes als ein Historiker »mit ungenügender Quellenkenntnis«? Dennoch wird er in alle Ewigkeit recht behalten, auch wenn sich eines Tages herausstellen sollte, daß es überhaupt kein Troja gegeben hat.
Alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, sagen wir von uns selbst aus. Wir können nie von etwas anderem reden, etwas anderes erkennen als uns selbst. Aber indem wir uns in die Vergangenheit versenken, entdecken wir neue Möglichkeiten unseres Ichs, erweitern wir die Grenzen unseres Selbstbewußtseins, machen wir neue, obschon gänzlich subjektive Erlebnisse. Dies ist der Wert und Zweck alles Geschichtsstudiums.
Wollten wir das Bisherige in einem Satz zusammenfassen, so könnten wir vielleicht sagen: was wir in diesem Buche zu erzählen versuchen, ist nichts als die heutige Legende von der Neuzeit.
In vielen gelehrten Werken findet sich im Vorwort die Bemerkung: »Möglichste Vollständigkeit war natürlich überall angestrebt, ob mir dies restlos gelungen, mögen die verehrten Fachkollegen entscheiden.« Mein Standpunkt ist nun genau der umgekehrte. Denn ganz abgesehen davon, daß ich die verehrten Fachkollegen natürlich gar nichts entscheiden lasse, möchte ich im Gegenteil sagen: möglichste Unvollständigkeit war überall angestrebt. Man wird vielleicht finden, dies hätte ich gar nicht erst anzustreben brauchen, es wäre mir auch ohne jedes Streben mühelos gelungen. Dennoch verleiht ein solcher bewußter Wille zum Fragment und Ausschnitt, Akt und Torso, Stückwerk und Bruchwerk jeder Darstellung einen ganz besonderen stilistischen Charakter. Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen; sie mit Willen unvollständig zu sehen, macht den künstlerischen Aspekt. Kunst ist subjektive und parteiische Bevorzugung gewisser Wirklichkeitselemente vor anderen, ist Auswahl und Umstellung, Schatten- und Lichtverteilung, Auslassung und Unterstreichung, Dämpfer und Drücker. Ich versuche nur immer ein einzelnes Segment oder Bogenstück, Profil oder Bruststück, eine bescheidene Vedute ganzer großer Zusammenhänge und Entwicklungen zu geben. Pars pro toto: diese Figur ist nicht die unwirksamste und unanschaulichste. Oft wird ein ganzer Mensch durch eine einzige Handbewegung, ein ganzes Ereignis durch ein einziges Detail schärfer, einprägsamer, wesentlicher charakterisiert als durch die ausführlichste Schilderung. Kurz: die Anekdote in jederlei Sinn erscheint mir als die einzig berechtigte Kunstform der Kulturgeschichtschreibung. Dies hat schon der »Vater der Geschichte« gewußt, von dem Emerson sagt: »Weil sein Werk unschätzbare Anekdoten enthält, ist es bei den Gelehrten in Mißachtung geraten; aber heutzutage, wo wir erkannt haben, daß das Denkwürdigste an der Geschichte ein paar Anekdoten sind, und uns nicht mehr beunruhigen, wenn etwas nicht langweilig ist, gewinnt Herodot wieder neuen Kredit.« Dies scheint auch die Ansicht Nietzsches gewesen zu sein: »Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben« und die Absicht Montaignes: »Bei meinen geplanten Untersuchungen über unsere Sitten und Leidenschaften werden mir die Beweise aus der Fabel, wofern sie nur nicht gegen alle Möglichkeit verstoßen, ebenso willkommen sein wie die aus dem Reiche der Wahrheit. Vorgefallen oder nicht vorgefallen, zu Rom oder zu Paris, Hinz oder Kunz begegnet: es ist immer ein Zug aus der Geschichte der Menschheit, den ich mir aus dieser Erzählung zur Warnung oder Lehre nehme. Ich bemerke ihn, ich benutze ihn, sowohl nach Zahl wie nach Gewicht. Und unter den verschiedenen Lesarten, die zuweilen eine Geschichte hat, bevorzuge ich für meine Absicht die sonderbarste und auffallendste.«
Dies führt uns zu einer zweiten Eigentümlichkeit aller fruchtbaren Geschichtsdarstellung: der Übertreibung. »Die besten Porträts«, sagt Macaulay, »sind vielleicht die, in denen sich eine leichte Beimischung von Karikatur findet, und es läßt sich fragen, ob nicht die besten Geschichtswerke die sind, in denen ein wenig von der Übertreibung der dichterischen Erzählung einsichtsvoll angewendet ist. Das bedeutet einen kleinen Verlust an Genauigkeit, aber einen großen Gewinn an Wirkung. Die schwächeren Linien sind vernachlässigt, aber die großen und charakteristischen Züge werden dem Geist für immer eingeprägt.« Die Übertreibung ist das Handwerkszeug jedes Künstlers und daher auch des Historikers. Die Geschichte ist ein großer Konvexspiegel, in dem die Züge der Vergangenheit mächtiger und verzerrter, aber um so eindrucksvoller und deutlicher hervortreten. Mein Versuch intendiert nicht eine Statistik, sondern eine Anekdotik der Neuzeit, nicht ein Matrikelbuch der modernen Völkergesellschaft, sondern ihre Familienchronik oder, wenn man will, ihre chronique scandaleuse.
Trägt demnach die Kulturgeschichte, was ihren Inhalt anlangt, einen sehr lückenhaften und fragmentarischen, ja einseitigen Charakter, so ist von ihrem Umfang das gerade Gegenteil zu fordern. Zum Gebiet ihrer Forschung und Darstellung gehört schlechterdings alles: sämtliche menschlichen Lebensäußerungen. Wir wollen uns diese einzelnen Ressorts in einer kurzen Übersicht vergegenwärtigen, wobei wir zugleich versuchen, eine Art Wertskala aufzustellen. Selbstverständlich ist dies das erste und das letzte Mal, daß wir uns einer solchen Schubfächermethode bedienen, die bestenfalls einen theoretischen Wert hat, im Praktischen aber vollständig versagt, denn es ist ja gerade das Wesen jeder Kultur, daß sie eine Einheit bildet.
Den untersten Rang in der Hierarchie der menschlichen Betätigungen nimmt das Wirtschaftsleben ein, worunter alles zu begreifen ist, was der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse dient. Es ist gewissermaßen der Rohstoff der Kultur, nicht mehr; als solcher freilich sehr wichtig. Es gibt allerdings eine allbekannte Theorie, nach der die »materiellen Produktionsverhältnisse« den »gesamten sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß« bestimmen sollen: die Kämpfe der Völker drehen sich nur scheinbar um Fragen des Verfassungsrechts, der Weltanschauung, der Religion, und diese ideologischen sekundären Motive verhüllen wie Mäntel das wirkliche primäre Grundmotiv der wirtschaftlichen Gegensätze. Aber dieser extreme Materialismus ist selber eine größere Ideologie als die verstiegensten idealistischen Systeme, die jemals ersonnen worden sind. Das Wirtschaftsleben, weit entfernt davon, ein adäquater Ausdruck der jeweiligen Kultur zu sein, gehört, genau genommen, überhaupt noch gar nicht zur Kultur, bildet nur eine ihrer Vorbedingungen und nicht einmal die vitalste. Auf die tiefsten und stärksten Kulturgestaltungen, auf Religion, Kunst, Philosophie, hat es nur einen sehr geringen bestimmenden Einfluß. Die homerische Dichtung ist der Niederschlag des griechischen Polytheismus, Euripides ein Abriß der griechischen Aufklärungsphilosophie, die gotische Baukunst eine vollkommene Darstellung der mittelalterlichen Theologie, Bach der Extrakt des deutschen Protestantismus, Ibsen ein Kompendium aller ethischen und sozialen Probleme des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts; aber manifestiert sich in Homer und Euripides in auch nur entfernt ähnlichem Maße das griechische Wirtschaftsleben, in der Gotik das mittelalterliche, in Bach und Ibsen das moderne? Man kann sagen – und man hat es oft genug gesagt –, daß Shakespeare ohne den Aufstieg der englischen Handelsmacht nicht denkbar gewesen wäre: aber kann man mit derselben Berechtigung behaupten, der englische Welthandel sei ein Ferment seiner Dramatik, ein Bestandteil seiner poetischen Atmosphäre? Oder ist etwa Nietzsche eine Übersetzung der emporblühenden deutschen Großindustrie in Philosophie und Dichtung? Er hat gar keine Beziehung zu ihr, nicht die geringste, nicht einmal die des Antagonismus. Und gar von den Religionen zu behaupten, daß sie »ebenfalls nur den jeweiligen durch die Produktionsverhältnisse bedingten sozialen Zustand widerspiegeln«, ist eine Albernheit, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so gemein wäre.
Über dem Wirtschaftsleben erhebt sich das Leben der Gesellschaft, mit ihm in engem Zusammenhang, aber nicht identisch. Diese letztere Ansicht ist zwar häufig vertreten worden, und selbst ein so scharfer und weiter Denker wie Lorenz von Stein neigt ihr zu. Aber der Fall liegt doch etwas komplizierter. Zweifellos sind die einzelnen Gesellschaftsordnungen ursprünglich aus der Güterverteilung hervorgegangen: so geht die Feudalmacht im wesentlichen auf den Grundbesitz zurück, die Macht der Bourgeoisie auf den Kapitalbesitz, die Macht des Klerus auf den Kirchenbesitz. Aber im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verschieben sich die Besitzverhältnisse, während die gesellschaftliche Struktur bis zu einem gewissen Grade erhalten bleibt. Das zeigt die Erscheinung jeder Art von Aristokratie. Der Geburtsadel war längst nicht mehr die wirtschaftlich stärkste Klasse, als er noch immer die gesellschaftlich mächtigste war. Es gibt heute auch schon eine Art Geldadel, der von den Besitzern der alten durch Generationen vererbten Vermögen repräsentiert wird: diese nehmen in der Gesellschaft einen weit höheren Rang ein als die meist viel begüterteren neuen Reichen. Ferner gibt es einen Beamtenadel, einen Militäradel, einen Geistesadel: lauter Gesellschaftsschichten, die sich niemals durch besondere wirtschaftliche Macht ausgezeichnet haben; und ebensowenig fließt die privilegierte Stellung der Geistlichkeit aus ökonomischen Ursachen.
Noch weniger als die Gesellschaft läßt sich der Staat mit der Wirtschaftsordnung identifizieren. Wenn man sehr oft behauptet hat, daß dieser nichts sei als die feste Organisation, die sich die bestehenden ökonomischen Verhältnisse in Form von Verfassungen, Gesetzen und Verwaltungssystemen gegeben haben, so hat man dabei vergessen, daß jedem Staatswesen, auch dem unvollkommensten, eine höhere Idee zugrunde hegt, die es, mehr oder weniger rein, zu verwirklichen sucht. Sonst wäre das Phänomen des Patriotismus unerklärlich. In ihm kommt die Tatsache zum Ausdruck, daß der Staat eben keine bloße Organisation, sondern ein Organismus ist, ein höheres Lebewesen mit eigenen, oft sehr absurden, aber immer sehr reellen Daseinsbedingungen und Entwicklungsgesetzen. Er hat einen Sonderwillen, der mehr ist als die einfache mechanische Summation aller Einzelwillen. Er ist ein Mysterium, ein Monstrum, eine Gottheit, eine Bestie: was man will; aber er ist ganz unleugbar vorhanden. Deshalb haben die Empfindungen, die die Menschen diesem höheren Wesen entgegenbrachten, immer etwas Überlebensgroßes, Pathetisches, Monomanisches gehabt. Nicht bloß im Altertum, wo Staat und Religion bekanntlich zusammenfielen, und im Mittelalter, wo der Staat der Kirche untergeordnet war, aber eben dadurch eine religiöse Weihe empfing, sondern auch in der Neuzeit hat der Bürger im Vaterland in wechselnden Formen immer irgend etwas Sakrosanktes erblickt. Dies hat zu einer sehr einseitigen Überschätzung der politischen Geschichte geführt. Noch im achtzehnten Jahrhundert ist Weltgeschichte nichts gewesen als Geschichte »derer Potentatum«, und noch vor einem Menschenalter sagte Treitschke: »Die Taten eines Volkes muß man schildern; Staatsmänner und Feldherren sind die historischen Helden.« Bis vor kurzem hat man unter Geschichte nichts verstanden als eine stumpfe und taube Registrierung von Truppenbewegungen und diplomatischen Winkelzügen, Regentenreihen und Parlamentsverhandlungen, Belagerungen und Friedensschlüssen, und auch die geistvollsten Historiker haben nur diese alleruninteressantesten Partien des menschlichen Schicksalswegs erforscht, aufgezeichnet, zum Problem gemacht. Sie sind aber gar keines oder doch nur ein sehr subalternes, sie sind die einförmige Wiederholung der Tatsache, daß der Mensch zur einen Hälfte ein Raubtier ist, roh, gierig, verschlagen und überall gleich.
Selbst wenn man die Geschichtsbetrachtung ausschließlich auf das Staatsleben beschränken wollte, wäre die Behandlungsart der politischen Historiker, die sich lediglich um Kriegsgeschichte und Verfassungsgeschichte zu kümmern pflegen, zu eng, denn sie müßte zumindest noch die Entwicklung der Kirche und des Rechts umfassen: zwei Gebiete, die man bisher immer den Spezialhistorikern überlassen hat. Und dazu kommt noch der höchst wichtige Kreis aller jener Lebensäußerungen, die man unter dem Begriff der » Sitte« zusammenzufassen pflegt. Gerade hier: in Kost und Kleidung, Ball und Begräbnis, Korrespondenz und Couplet, Flirt und Komfort, Geselligkeit und Gartenkunst offenbart sich der Mensch jedes Zeitalters in seinen wahren Wünschen und Abneigungen, Stärken und Schwächen, Vorurteilen und Erkenntnissen, Gesundheiten und Krankheiten, Erhabenheiten und Lächerlichkeiten.
Im Reich des Geisteslebens, dem wir uns nunmehr zuwenden, nimmt die unterste Stufe die Wissenschaft ein, zu der auch alle Entdeckung und Erfindung sowie die Technik gehört, die nichts ist als auf praktische Zwecke angewendete Wissenschaft. In den Wissenschaften stellt jede Zeit sozusagen ihr Inventar auf, eine Bilanz alles dessen, wozu sie durch Nachdenken und Erfahrung gelangt ist. Über ihnen erhebt sich das Reich der Kunst. Wollte man unter den Künsten ebenfalls eine Rangordnung aufstellen, obgleich dies ziemlich widersinnig ist, so könnte man sie nach dem Grade ihrer Abhängigkeit vom Material anordnen, wodurch sich die Reihenfolge: Architektur, Skulptur, Malerei, Poesie, Musik ergeben würde. Doch ist dies mehr eine schulmeisterhafte Spielerei. Nur so viel wird sich mit einiger Berechtigung sagen lassen, daß die Musik in der Tat den obersten Rang unter den Künsten einnimmt: als die tiefste und umfassendste, selbständigste und ergreifendste, und daß unter den Dichtungsgattungen das Drama die höchste Kulturleistung darstellt, als eine zweite Weltschöpfung: die Gestaltung eines in sich abgerundeten, vom Dichter losgelösten und zugleich zu lebendiger Anschauung vergegenwärtigten Mikrokosmos.
Als der Kunst völlig ebenbürtig ist die Philosophie anzusehen, die, sofern sie echte Philosophie ist, zu den schöpferischen Betätigungen gehört. Sie ist, wie schon Hegel hervorgehoben hat, das Selbstbewußtsein jedes Zeitalters und darin himmelweit entfernt von der Wissenschaft, die bloß ein Bewußtsein der Einzelheiten ist, wie sie die Außenwelt rhapsodisch und ohne höhere Einheit den Sinnen und der Logik darbietet. Darum hat auch Schopenhauer gesagt, der Hauptzweig der Geschichte sei die Geschichte der Philosophie: »Eigentlich ist diese der Grundbaß, der sogar in die andere Geschichte hinübertönt und auch dort, aus dem Fundament, die Meinung leitet: diese aber beherrscht die Welt. Daher ist die Philosophie, eigentlich und wohlverstanden, auch die gewaltigste materielle Macht; jedoch sehr langsam wirkend.« Und in der Tat ist die Geschichte der Philosophie das Herzstück der Kulturgeschichte, ja, wenn man den Begriff, den ihr Schopenhauer gibt, in seinem vollen Umfange nimmt, die ganze Kulturgeschichte. Denn was sind dann Tonfolgen und Schlachtordnungen, Röcke und Reglements, Vasen und Versmaße, Dogmen und Dachformen anderes als geronnene Zeitphilosophie?
Die Erfolge der großen Eroberer und Könige sind nichts gegen die Wirkung, die ein einziger großer Gedanke ausübt. Er springt in die Welt und verbreitet sich stetig und unwiderstehlich mit der Kraft eines Elementarereignisses, einer geologischen Umwälzung: nichts vermag sich ihm entgegenzustemmen, nichts vermag ihn ungeschehen zu machen. Der Denker ist eine ungeheure geheimnisvolle Fatalität, er ist die Revolution, die wahre und wirksame neben hundert wesenlosen und falschen. Der Künstler wirkt schneller und lebhafter, aber nicht so dauerhaft; der Denker wirkt langsamer und stiller, aber dafür um so nachhaltiger. Lessings philosophische Streitschriften zum Beispiel in ihrer federnden Dialektik und moussierenden Geistigkeit sind heute noch moderne Bücher; aber seine Dramen haben schon eine dicke Staubschicht. Racines und Molières Figuren wirken heute auf uns wie mechanische Gliederpuppen, wie auf Draht gezogene Papierblumen, wie rosa angemalte Zuckerstengel; aber die freie und starke Luzidität eines Descartes, die grandiose und hintergründige Seelenanatomie eines Pascal hat für uns noch ihre volle Frische. Ja selbst die Werke der griechischen Tragiker haben heute ihren Patinaüberzug, der vielleicht ihren Kunstwert erhöht, aber ihren Lebenswert vermindert, während die Dialoge Platos gestern geschrieben sein könnten.
Die Spitze und Krönung der menschlichen Kulturpyramide wird von der Religion gebildet. Alles andere ist nur der massive Unterbau, auf dem sie selbst thront, hat keinen anderen Zweck, als zu ihr hinanzuführen. In ihr vollendet sich die Sitte, die Kunst, die Philosophie. »Die Religion«, sagt Friedrich Theodor Vischer, »ist der Hauptort der geschichtlichen Symptome, der Nilmesser. des Geistes.«
Wir gelangen somit zu folgender Übersicht der menschlichen Kultur:
Der Mensch handelnd denkend gestaltend in Wirtschaft und Gesellschaft, in Entdeckung undErfindung, in Kunst, Staat und Recht, Wissenschaft und Technik Philosophie, Kirche und Sitte Religion
Wollten wir uns die Bedeutung der einzelnen Kulturgebiete in einem Gleichnis veranschaulichen, das natürlich ebenso hinkt wie alle anderen, so könnten wir das Ganze im Bilde des menschlichen Organismus zusammenfassen. Dann entspräche das Staatsleben dem Skelett, das das grobe, harte und feste Gerüst des Gesamtkörpers bildet, das Wirtschaftsleben dem Gefäßsystem, das Gesellschaftsleben dem Nervensystem, die Wissenschaft dem ausfüllenden Fleisch und bisweilen auch dem überflüssigen Fett, die Kunst den verschiedenen Sinnesorganen, die Philosophie dem Gehirn und die Religion der Seele, die den ganzen Körper zusammenhält und mit den höheren unsichtbaren Kräften des Weltalls in Verbindung setzt, beide auch darin ähnlich, daß ihre Existenz von kurzsichtigen und stumpfsinnigen Menschen oft geleugnet wird.
Die Geschichtswissenschaft, richtig begriffen, umfaßt demnach die gesamte menschliche Kultur und deren Entwicklung: sie ist stete Auffindung des Göttlichen im Weltlauf und darum Theologie, sie ist Erforschung der Grundkräfte der menschlichen Seele und darum Psychologie, sie ist die aufschlußreichste Darstellung der Staats- und Gesellschaftsformen und darum Politik, sie ist die mannigfaltigste Sammlung aller Kunstschöpfungen und darum Ästhetik, sie ist eine Art Stein der Weisen, ein Pantheon aller Wissenschaften. Sie ist zugleich die einzige Form, in der wir heute noch zu philosophieren vermögen, ein unerschöpflich reiches Laboratorium, in dem wir die leichtesten und lohnendsten Experimente über die Natur des Menschen anstellen können.
Jedes Zeitalter hat einen bestimmten Fundus von Velleitäten, Befürchtungen, Träumen, Gedanken, Idiosynkrasien, Leidenschaften, Irrtümern, Tugenden. Die Geschichte jedes Zeitalters ist die Geschichte der Taten und Leiden eines bestimmten niemals so dagewesenen, niemals so wiederkehrenden Menschentypus. Wir könnten ihn den Repräsentativmenschen nennen. Der Repräsentativmensch: das ist der Mensch, der nie empirisch erscheint, aber doch das Diagramm, den morphologischen Aufriß darstellt, der allen wirklichen Menschen zugrunde liegt, die Urpflanze gleichsam, nach der alle gebildet sind; oder wie in der Tierwelt die einzelnen lebenden Exemplare den Raubtiertypus, den Nagertypus, den Wiederkäuertypus übereinstimmend, aber niemals völlig rein verkörpern. Jede Zeit hat ihre bestimmte Physiologie, ihren charakteristischen Stoffwechsel, ihre besondere Blutzirkulation und Pulsfrequenz, ihr spezifisches Lebenstempo, ihre nur ihr eigentümliche Gesamtvitalität, ja sogar ihre individuellen Sinne: eine Optik, Akustik, Neurotik, die nur ihr angehört.
Die Geschichte der verschiedenen Arten des Sehens ist die Geschichte der Welt. Es gilt, Johannes Müllers Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, wonach die Qualität unserer Empfindungen nicht von der Verschiedenheit der äußeren Reize, sondern von der Verschiedenheit unserer Aufnahmeapparate bestimmt wird, auch für die Geschichtsbetrachtung fruchtbar zu machen. Die »Wirklichkeit« ist immer und überall gleich: – nämlich unbekannt. Sie affiziert aber stets andere Sinnesnerven, Netzhäute, Hirnlappen, Trommelfelle. Dieses Bild von der Welt wandelt sich mit fast jeder Generation. Wir sehen dies daran, daß sogar das scheinbar Unveränderlichste, die Natur, fortwährend andere Gestalten annimmt. Sie ist einmal feindselig, wild und grausam und einmal einladend, intim und idyllisch, einmal exuberant und schwellend und einmal karg und asketisch, einmal pittoresk und zerfließend und ein andermal scharf konturiert und feierlich stilisiert, sie erscheint abwechselnd als die klarste logische Zweckmäßigkeit und als unfaßbares Mysterium, als bloße dekorative Staffage für den Menschen und als der grenzenlose Abgrund, in den er versinkt, als das Echo, das alle seine Gefühle gesteigert wiederholt, und als eine stumme Leere, die er überhaupt kaum bemerkt. Wenn ein Zauberer käme, der die Gabe hätte, das Netzhautbild zu rekonstruieren, das eine Waldlandschaft im Auge eines Atheners aus der Zeit des Perikles abgezeichnet hat, und dann das Netzhautbild, das ein Kreuzritter des Mittelalters von derselben Waldlandschaft empfing, es würden zwei ganz verschiedene Gemälde sein; und wenn wir dann selber hingingen und den Wald anblickten, wir würden weder das eine noch das andere Bild in ihm wiedererkennen. Ja diese Tyrannei des Zeitgeistes geht sogar so weit, daß selbst die photographische Kamera, dieser angeblich tote Apparat, der scheinbar ganz passiv und mechanisch das Lichtbild einträgt, unserer Subjektivität unterworfen ist. Auch das Objektiv ist nicht objektiv. Es ist nämlich eine ebenso unerklärliche wie unleugbare Tatsache, daß jeder Photograph, ganz wie der Maler, immer nur sich selbst abbildet. Ist er ein ungebildetes und geschmackloses Vorstadtgehirn, so werden in seine Kamera lauter vulgäre und kitschige Figuren eintreten, ist er ein kultivierter, künstlerisch sehender Mensch, so werden seine Bilder vornehmen zarten Stichen gleichen. Infolgedessen werden spätere Zeiten in unseren Photographien ebensowenig eine naturalistische Wiedergabe unserer äußeren Erscheinung erblicken wie in unseren Gemälden, sie werden ihnen wie ungeheuerliche Karikaturen vorkommen.
Ja noch mehr: so unglaublich es klingen mag, der Schreiber dieser Zeilen besitzt seit einigen Jahren einen expressionistischen Hund! Ich behaupte, daß ein Geschöpf von einer so windschiefen und gleichsam betrunkenen Bauart, das aus lauter verzeichneten Dreiecken zusammengesetzt zu sein scheint, nie vorher in der Welt gewesen ist. Man wird dies für eine Einbildung halten; aber man mache es sich an einem Gegenbeispiel klar: wäre es möglich, den Mops, den repräsentativen Hund der Gründerjahre, jemals expressionistisch zu sehen? Zweifellos nicht; deshalb ist er ausgestorben, niemand weiß, warum und wieso. Und ebenso sind die Tage der Fuchsie gezählt, der Lieblingspflanze derselben Ära. Sie zieht sich bereits in die äußersten Vorstädte zurück, wo ja auch noch Romane von Spielhagen und Bilder von Defregger ihren Anwert finden. Und warum sind eine ganze Reihe höchst grotesker Fische, die eine so sonderbare Ähnlichkeit mit einem Unterseeboot oder einem menschlichen Taucher besitzen, erst im Zeitalter der Technik entdeckt worden? Die Beispiele ließen sich noch verhundertfachen. Es ist also keine Anmaßung, von Weltgeschichte zu reden, denn sie ist in der Tat die Geschichte unserer Welt oder vielmehr unserer Welten.
Unser Werk macht den Versuch, einen geistig-sittlichen Bilderbogen, eine seelische Kostümgeschichte der letzten sechs Jahrhunderte zu entwerfen und zugleich die platonische Idee jedes Zeitalters zu zeigen, den Gedanken, der es innerlich trieb und bewegte, der seine Seele war. Dieser Zeitgedanke ist das Organisierende, das Schöpferische, das einzig Wahre in jedem Zeitalter, obgleich auch er nur selten in der Wirklichkeit rein erscheint; vielmehr ist das Zeitalter das Prisma, das ihn in einen vielfarbigen Regenbogen von Symbolen zerlegt: nur hier und da tritt der Glücksfall ein, daß es einen großen Philosophen hervorbringt, der diese Strahlen in dem Brennspiegel seines Geistes wieder sammelt.
Und dies führt uns zu dem eigentlichen Schlüssel jedes Zeitalters. Wir erblicken ihn in den großen Männern, jenen sonderbaren Erscheinungen, die Carlyle Helden genannt hat. Man könnte sie auch ebensogut Dichter nennen, wenn man diesen Begriff nicht einseitig auf Personen einschränkt, die mit Tinte und Feder hantieren, sondern sich vor Augen hält, daß man mit allem dichten kann, wenn man nur genug Schöpferkraft und Phantasie besitzt, ja daß die großen Helden und Heiligen, die in ihren Taten und Leiden mit dem Leben gedichtet haben, sogar höher stehen als die Dichter des Worts. Nach Carlyles Überzeugung ist die Form, in der der große Mann erscheint, völlig gleichgültig; die Hauptsache ist, daß er da ist: »Ich muß gestehen, daß ich von keinem großen Manne weiß, der nicht alle Menschengattungen hätte verkörpern können ... Ist eine große Seele gegeben, die sich dem göttlichen Sinn des Daseins geöffnet hat, so ist damit auch ein Mensch gegeben, der die Gabe besitzt, davon zu reden und zu singen, dafür zu fechten und zu streiten, groß, siegreich und dauerhaft; dann ist ein Held gegeben: – seine äußere Gestalt hängt von der Zeit und der Umgebung ab, die er gerade vorfindet.« In der Geschichte gibt es nur zwei wirkliche Weltwunder: den Zeitgeist mit seinen märchenhaften Energien und das Genie mit seinen magischen Wirkungen. Der geniale Mensch ist das große Absurdissimum. Er ist ein Absurdissimum wegen seiner Normalität. Er ist so, wie alle sein sollten: eine vollkommene Gleichung von Zweck und Mittel, Aufgabe und Leistung. Er ist so paradox, etwas zu tun, was sonst niemand tut: er erfüllt seine Bestimmung.
Zwischen Genie und Zeitalter besteht nun eine komplizierte und schwer entzifferbare Verrechnung.
Ein Zeitalter, das nicht seinen Helden findet, ist pathologisch: Seine Seele ist unterernährt und leidet gleichsam an »chronischer Dyspnoë«. Kaum hat es diesen Menschen, der alles ausspricht, was es braucht, so strömt plötzlich neuer Sauerstoff in seinen Organismus, die Dyspnoë verschwindet, die Blutzirkulation reguliert sich, und es ist gesund. Die Genies sind die wenigen Menschen in jedem Zeitalter, die reden können. Die anderen sind stumm, oder sie stammeln. Ohne sie wüßten wir nichts von vergangenen Zeiten: wir hätten bloß fremde Hieroglyphen, die uns verwirren und enttäuschen. Wir brauchen einen Schlüssel für diese Geheimschrift. Gerhart Hauptmann hat einmal den Dichter mit einer Windesharfe verglichen, die jeder Lufthauch zum Erklingen bringt. Halten wir dieses Gleichnis fest, so könnten wir sagen: im Grund ist jeder Mensch ein solches Instrument mit empfindlichen Saiten, aber bei den meisten bringt der Stoß der Ereignisse die Saiten bloß zum Erzittern, und nur beim Dichter kommt es zum Klang, den jedermann hören und erfassen kann.
Damit ein Abschnitt der menschlichen Geistesgeschichte in einem haltbaren Bilde fortlebe: dazu scheint immer nur ein einziger Mensch nötig zu sein, aber dieser eine ist unerläßlich. So würde zum Beispiel für die griechische Aufklärung Sokrates, für die französische Aufklärung Voltaire, für die deutsche Aufklärung Lessing, für die englische Renaissance Shakespeare, für unsere Zeit Nietzsche genügen. In solchen Männern objektiviert sich das ganze Zeitalter wie in einem verdeutlichenden Querschnitt, der jedermann zugänglich ist. Der Genius ist nichts anderes als die bündige Formel, das gedrängte Kompendium, der handliche Leitfaden, in dem knapp und konzis, verständlich und übersichtlich die Wünsche und Werke aller Zeitgenossen zusammengefaßt sind. Er ist der starke Extrakt, das klare Destillat, die scharfe Essenz aus ihnen; er ist aus ihnen gemacht. Nähme man sie fort, so bliebe nichts von ihm zurück, er würde sich in Luft auflösen. Der große Mann ist ganz und gar das Geschöpf seiner Zeit; und je größer er ist, desto mehr ist er das Geschöpf seiner Zeit. Dies ist unsere erste These über das Wesen des Genies.
Aber wer sind denn diese Zeitgenossen? Wer macht sie zu Zeitgenossen, zu Angehörigen eines besonderen, deutlich abgegrenzten Geschichtsabschnittes, die ihr spezifisches Weltgefühl, ihre bestimmte Lebensluft, kurz ihren eigenen Stil haben? Niemand anders als der »Dichter«. Er prägt ihre Lebensform, er schneidet das Klischee, nach dem sie alle gedruckt werden, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Er vertausendfältigt sich auf mysteriöse Weise. Man geht, steht, sitzt, denkt, haßt, liebt nach seinen Angaben. Er verändert unsere Höflichkeitsbezeugungen, unser Naturgefühl; unsere Haartracht, unsere Religiosität; unsere Interpunktion, unsere Erotik; das Heiligste und das Trivialste: alles. Sein ganzes Zeitalter ist infiziert von ihm. Er dringt unaufhaltsam in unser Blut, spaltet unsere Moleküle, schafft tyrannisch neue Verbindungen. Wir reden seine Sprache, wir gebrauchen seine Satzstellungen, eine flüchtig hingeworfene Redensart aus seinem Munde wird zur einigenden Parole, die die Menschen sich durch die Nacht zurufen. Die Straßen und Wälder, die Kirchen und Ballsäle bevölkern sich plötzlich, niemand weiß wieso, mit zahllosen verkleinerten Kopien von Werther, Byron, Napoleon, Oblomow, Hjalmar. Die Wiesen werden andersfarbig, die Bäume und Wolken werden andersförmig, die Blicke, die Gesten, die Stimmen der Menschen bekommen einen neuen Akzent. Die Frauen werden zu Preziösen nach dem Rezept Molières und zu Kanaillen nach der Vision Strindbergs; breithüftig und vollbusig, weil Rubens es sich vor seiner einsamen Staffelei so ausgedacht hat, und schmal und anämisch, weil Rossetti und Burne-Jones dieses Bild von ihnen im Kopfe trugen. Es ist gar nicht richtig, daß der Künstler die Realität abschildert, ganz im Gegenteil: die Realität läuft ihm nach. »Es ist paradox«, sagt Wilde, »aber darum nicht minder wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die Kunst das Leben.«
Niemand vermag diesen Zauberern zu widerstehen. Sie beflügeln und lähmen, sie berauschen und ernüchtern. In ihrem Besitz sind alle Heilmittel und Toxine der Welt. Sie lassen Leben aufsprießen, wohin sie kommen, alles wird durch sie kräftiger, gesünder, »kommt zu sich«: ja dies ist sogar die höchste Wohltat, die sie den Menschen erweisen, indem sie bewirken, daß diese zu sich selbst kommen, sich selbst erkennen, sobald sie mit ihnen in Berührung treten. Sie schaffen aber auch Krankheit und Tod. Sie lösen in vielen die latente Narrheit aus, die sonst vielleicht immer geschlummert hätte. Auch erregen sie Kriege, Revolutionen, soziale Erdbeben. Sie köpfen Könige, beschicken Schlachtfelder, stacheln Nationen zum Zweikampf. Ein gut gelaunter älterer Herr, namens Sokrates, vertreibt sich die Zeit mit Aphorismen, ein ebensogut gelaunter Landsmann, namens Plato, macht daraus eine Reihe amüsanter Dialoge, und Bibliotheken schichten sich auf, Bibliotheken werden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Bibliotheken werden als Makulatur verbrannt, neue Bibliotheken werden geschrieben und hunderttausend Köpfe und Mägen leben von dem Namen Plato. Ein exaltierter Journalist, namens Rousseau, schreibt ein paar bizarre Flugschriften, und sechs Jahre lang zerfleischt sich ein hochbegabtes Volk. Ein weltfremder und von aller Welt gemiedener Stubengelehrter, namens Marx, schreibt ein paar dicke und unverständliche philosophische Bände, und ein Riesenreich ändert seine gesamten Existenzbedingungen von Grund auf.
Kurz: die Zeit ist ganz und gar die Schöpfung des großen Mannes, und je mehr sie es ist, desto voller und reifer erfüllt sie ihre Bestimmung, desto größer ist sie. Dies ist unsere zweite These über das Wesen des Genies.
Aber was ist denn der Genius? Ein exotisches Monstrum, eine Fleisch gewordene Paradoxie, ein Arsenal von Extravaganzen, Grillen, Perversitäten, ein Narr wie alle anderen, ja noch mehr als alle anderen, weil er mehr Mensch ist als sie, ein pathologisches Original, dem ganzen dunkeln Lebensgewimmel da unten im tiefsten fremd, aber auch seinesgleichen fremd, ja sich selber fremd, ohne die Möglichkeit irgendeiner Brücke zu seiner Umwelt. Der große Mann ist der große Solitär: was seine Größe ausmacht, ist gerade dies, daß er ein Unikum, eine Psychose, eine völlig beziehungslose Einmaligkeit darstellt. Er hat mit seiner Zeit nichts zu schaffen und sie nichts mit ihm. Dies ist unsere dritte These über das Wesen des Genies.
Man könnte nun vielleicht finden, daß diese drei Thesen sich widersprechen. Aber wenn sie sich nicht widersprächen, so wäre es ziemlich überflüssig gewesen, diese Bände, die im wesentlichen nichts sind als eine Schilderung der einzelnen Kulturzeitalter und ihrer Helden, überhaupt zu schreiben. Und für den, der die Aufgabe des menschlichen Denkens nicht im Darstellen, sondern im Abstellen von Widersprüchen erblickt, ist es andererseits gänzlich überflüssig, diese Bände zu lesen.
Ehe wir diese Einleitung beschließen, fühlen wir uns verpflichtet, auf unsere Vorgänger, gewissermaßen auf den Pedigree unseres Darstellungsversuchs einen kurzen Blick zu werfen. Doch kann es sich hierbei nicht um eine Geschichte der Kulturgeschichte handeln, so verlockend und lohnend eine solche Aufgabe wäre, sondern lediglich um eine flüchtige und aphoristische Hervorhebung gewisser Spitzen, die wir gleichsam nur mit dem Scheinwerfer von unserem ganz persönlichen Standort aus für einen Augenblick beleuchten.
Eigentlich war schon das erste historische Werk, von dem wir Kunde haben, Herodots Erzählung der Kämpfe zwischen Hellenen und Barbaren, freilich ohne es selbst recht zu wissen, eine Art vergleichende Kulturgeschichte. Aber schon Herodots jüngerer Zeitgenosse Thukydides schrieb streng politische Geschichte, und erst Aristoteles hat wieder auf die Bedeutung hingewiesen, die die Betrachtung der Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten auch für die politische Erkenntnis besitzt. Zu mehr als Ahnungen und Andeutungen konnte es jedoch das Altertum nicht bringen, dessen Weltbild statisch war: daß der homerische Mensch ein wesentlich anders geartetes Wesen war als der perikleische und dieser wiederum ganz verschieden vom alexandrinischen, ist den Griechen niemals klar ins Bewußtsein getreten. Und noch weniger war das Mittelalter imstande, den Begriff der historischen Entwicklung zu fassen. Hier ruht alles von Ewigkeit her in Gott: die Welt ist nur ein zeidoses Symbol, ein geheimnisvoller Kriegsschauplatz des Kampfes zwischen Heiland und Satan, den Erwählten und den Verdammten. So hat es schon an der Schwelle des Mittelalters der größte Genius der christlichen Kirche, Augustinus, gesehen und in seinem Werke »De civitate Dei« ergreifend beschrieben.
Die Renaissance glaubte das Altertum wiederzuentdecken, während sie nur ihr eigenes Lebensgefühl in den römischen Dichtern und Helden feierte: sie ist das Zeitalter der neuerwachten Philologie und Rhetorik, Kunstwissenschaft und Naturphilosophie, nicht der Kulturgeschichte. Deren erste Umrisse wurden erst von der »Aufklärung« erfaßt, die, genau genommen, auf Lord Bacon zurückgeht; und dieser war denn auch in der Tat der erste, der der Geschichte, und zwar zunächst der Literaturgeschichte, die Aufgabe gestellt hat, die einzelnen Zeitalter als Einheiten zu begreifen und widerzuspiegeln, »denn die Wissenschaften«, sagt er, »leben und wandern wie die Völker«. Diese Forderung ist aber zu jener Zeit von den wenigsten begriffen, von niemandem erfüllt worden. Leibniz, der repräsentative Philosoph der Barocke, führte dann das Prinzip der Entwicklung in der Metaphysik und Naturbetrachtung zum Siege, aber erst im achtzehnten Jahrhundert ist es für die Geschichtsbetrachtung fruchtbar gemacht worden: zunächst auf dem Gebiete der Religion durch Lessing. »Warum wollen wir«, sagt dieser in der »Erziehung des Menschengeschlechts«, »in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll, als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen? Diesen unseren Hohn, diesen unseren Unwillen verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unseren Irrtümern nicht?« Und dieselbe Anschauung vertrat Herder in der Beurteilung der poetischen Schöpfungen: jede menschliche Vollkommenheit sei individuell. »Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Weltschicksal Anlaß gibt ... der wachsende Baum, der emporstrebende Mensch muß durch verschiedene Lebensalter hindurch, alle offenbar im Fortgange!« »Selbst das Bild der Glückseligkeit wandelt sich mit jedem Zustand und Himmelsstriche ... jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« Auf diesem Wege entdeckte Herder den Genius in der Poesie des hebräischen Morgenlandes, des heidnischen Nordens, des christlichen Mittelalters. Sein Hauptinteresse gehörte der Volksdichtung: »Wie die Naturgeschichte Kräuter und Tiere beschreibt, so schildern sich hier die Völker selbst.« Er verlangt, daß eine Geschichte des Mittelalters nicht bloß eine Pathologie des Kopfes, das heißt: des Kaisers und einiger Reichsstände sein solle, sondern eine Physiologie des ganzen Nationalkörpers: der Lebensart, Bildung, Sitte und Sprache; daß die Historie nicht »Geschichte von Königen, Schlachten, Kriegen, Gesetzen und elenden Charakteren« sei, sondern »eine Geschichte des Ganzen der Menschheit und ihrer Zustände, Religionen, Denkarten«; er erblickt in der »Geschichte der Meinungen« den Schlüssel zur Tatengeschichte. Aber Herder war nicht der Mann, solche Programme auszuführen: dazu war seine Natur zu spekulativ, zu emphatisch, zu raketenhaft.
Die ersten Versuche, nicht bloß über Kulturgeschichte zu philosophieren, sondern sie auch wirklich zu schreiben, stammen von Voltaire und Winckelmann. In seinem Hauptwerk, das einige Jahre älter ist als Herders früheste Schriften, hatte Winckelmann sich das Ziel gesetzt, »den Ursprung, das Wachstum, die Veränderung und den Fall« der antiken Kunst »nebst den verschiedenen Stilen der Völker, Zeiten und Künstler« zu lehren. Er beginnt mit den Orientalen, gelangt über die Etrusker zu den Hellenen, handelt von ihren einzelnen Kunstperioden und schließt mit den Römern, dies alles »in Absicht der äußeren Umstände« betrachtet. Freilich ist das ganze Werk in dogmatischem Geiste verfaßt: die griechische Kunst bildet den Kanon, nach dem alles andere einseitig gewertet wird; aber die Feinheit und Schärfe, mit der die Stile der einzelnen Völker und Zeitalter als Produkte der Rasse und Bodenbeschaffenheit, Verfassung und Literatur aufgefaßt wurden, war gleichwohl bis dahin unerhört.
Zwölf Jahre vor Winckelmanns Werk ließ Voltaire sein Buch »Le siècle de Louis XIV« erscheinen, das mit den Worten beginnt: »Es ist nicht meine Absicht, bloß das Leben Ludwigs des Vierzehnten zu beschreiben: ich habe einen größeren Gegenstand im Auge. Ich will versuchen, der Nachwelt nicht die Taten eines einzelnen Mannes, sondern das Wesen der Menschen in dem aufgeklärtesten aller bisherigen Zeitalter zu schildern.« Er behandelt darin die gesamten Kulturverhältnisse: innere und äußere Politik, Handel und Gewerbe, Verwaltung und Justiz, Polizei und Kriegswesen, Konfessionsstreitigkeiten und Kirchenangelegenheiten, Wissenschaften und schöne Künste, das ganze öffentliche und private Leben bis zu den Anekdoten herab, freilich noch in Form von Rubriken, die untereinander in keiner rechten Verbindung stehen, die aber mit einem ungemein reichen und lebendigen Inhalt gefüllt sind. Die siegreiche Gabe dieses erstaunlichen Geistes, alles, was er berührte, nicht bloß glasklar und durchsichtig, sondern auch farbig und schillernd, amüsant und pikant zu machen, verleiht dem Werk noch heute den Reiz fesselnder Aktualität.
Am 26. März 1789 schrieb Schiller an Körner: »Eigentlich sollten Kirchengeschichte, Geschichte der Philosophie, Geschichte der Kunst, Geschichte der Sitten und Geschichte des Handels mit der politischen in eins zusammengefaßt werden, und dies erst kann Universalhistorie sein.« Aber daran dachte damals in Deutschland niemand, und auch Schillers eigene, ganz politisch orientierte Geschichtswerke tragen noch immer den Charakter von pathetischen Prunkgemälden, die in öffentlichen Gebäuden zu Repräsentationszwecken aufgehängt werden.
Die nachhaltigsten Wirkungen auf die gesamte historische Literatur hat Hegels »Philosophie der Geschichte« gehabt, eine der tiefsten, durchdachtesten und beziehungsreichsten Untersuchungen über Wesen, Sinn und Geist der Geschichte, zudem, da sie von der finstern nachkantischen Terminologie einen ziemlich sparsamen Gebrauch macht, viel lesbarer als seine übrigen Schriften. Die pointierte Art, in der, freilich nicht ohne Gewaltsamkeit, die gesamte Weltgeschichte von den ältesten Zeiten Chinas bis zur Julirevolution als eine streng geordnete Stufenfolge von steigenden Verwirklichungen des »Bewußtseins der Freiheit« dargestellt wird, die plastische Kraft, mit der die bestimmenden Ideen der einzelnen Zeitalter in ihrem Anwachsen, Kulminieren und Vergehen herausgearbeitet werden, macht das Werk zu einer ungemein anregenden, ja fast witzigen Lektüre. Doch gibt es nicht mehr als ein Gerippe, belebt durch eine Reihe treffender und origineller Aperçus.
Eine ähnliche entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise, aber auf streng antimetaphysischer Basis, bringt Comte in seiner »Philosophie positive« zur Anwendung: in der Lehre von den drei Stadien der Menschheit, deren höchstes, eben das positive, den endgültigen Sieg der wissenschaftlichen Weltanschauung über die theologische, der industriellen Lebensform über die kriegerische, der demokratischen Staatsverfassung über die despotische bezeichnet.
Von Comte war Buckle beeinflußt, dessen »History of civilisation in England« bei ihrem Erscheinen großes Aufsehen erregte. Er sagt darin: »Anstatt uns jene Dinge zu erzählen, die allein einen Wert haben, anstatt uns über den Fortschritt des Wissens zu unterrichten und über die Art, wie die Verbreitung dieses Wissens auf die Menschen gewirkt hat, füllen die weitaus meisten Historiker ihre Werke mit den unbedeutendsten und erbärmlichsten Einzelheiten, mit persönlichen Anekdoten von Königen und Höfen, mit endlosen Nachrichten darüber, was ein Minister gesagt und ein anderer gedacht hat ... In der Geschichte des Menschen sind die wichtigen Tatsachen vernachlässigt und die unwichtigen aufbewahrt worden.« Nach seiner Ansicht ist die materielle Entwicklung der Völker hauptsächlich durch Klima, Nahrung und Boden beeinflußt, weil von diesen drei Bedingungen die Verteilung des Reichtums abhängt, die intellektuelle Entwicklung von den Naturerscheinungen bestimmt, die entweder durch ihre Gewalt und Großartigkeit auf die Phantasie wirken oder, in gemäßigten Zonen, sich an den Verstand wenden. Aus diesen Faktoren entstehen gewisse Formen der Religion, Literatur und Staatsregierung, die entweder den Aberglauben oder das Wissen befördern. Zu seinem eigentlichen Thema ist Buckle, der schon im einundvierzigsten Lebensjahre starb, gar nicht gelangt: seine beiden Bände enthalten nur eine Art Prospekt, eine programmatische Einleitung. Die sehr lichtvollen, wenn auch keineswegs einleuchtenden Deduktionen, von denen die Darstellung ausgeht, werden darin mit jener ermüdenden Breite, die ein Merkmal so vieler englischer Bücher bildet, unaufhörlich wiederholt und von einer Fülle von Belegen und Zitaten fast erdrückt. Buckles gigantische Belesenheit verleiht dem Werk eine ungesunde Gedunsenheit, die es jeder freien Bewegung beraubt, ja sie scheint sogar Buckle selbst zugrunde gerichtet zu haben, denn wenn wir seinem Übersetzer, Arnold Ruge, glauben dürfen, hat er sich buchstäblich zu Tode gelesen. Übrigens läßt die ganze Geistesanlage des Verfassers vermuten, daß das Werk, wie ja auch schon der Titel andeutet, keine wirklich universelle Kulturgeschichte geworden wäre, sondern bloß eine Geschichte der intellektuellen Entwicklung des englischen Volkes, wie sie sich in den Fortschritten der wissenschaftlichen Forschung, der sozialen Fürsorge, des Unterrichts, des Verkehrs und der Technik manifestiert hat.
Aber fast gleichzeitig mit Buckles Buch erschien, obgleich zunächst viel weniger Lärm verursachend, die erste wirkliche Universalgeschichte: Burckhardts »Kultur der Renaissance in Italien«. Welche Prinzipien ihn bei diesem Werke und allen späteren leiteten, hat er in der Einleitung seiner Vorlesungen über griechische Kulturgeschichte mit liebenswürdiger Ironie klargelegt: »Warum lesen wir nicht wesentlich politische Geschichte, wobei die allgemeinen Zustände und Kräfte in bloßen Exkursen mitbehandelt werden können? Abgesehen davon, daß für die griechische Geschichte allmählich durch treffliche Darstellungen gesorgt ist, würde uns die Erzählung der Ereignisse und vollends deren kritische Erörterung in einer Zeit, da eine einzige Untersuchung über Richtigkeit einzelner äußerer Tatsachen gern einen Oktavband einnimmt, die beste Zeit wegnehmen ... Unsere Aufgabe, wie wir sie auffassen, ist: die Geschichte der griechischen Denkweisen und Anschauungen zu geben und nach Erkenntnis der lebendigen Kräfte, der aufbauenden und zerstörenden zu streben, welche im griechischen Leben tätig waren ... Glücklicherweise schwankt nicht nur der Begriff Kulturgeschichte, sondern es schwankt auch die akademische Praxis (und noch einiges andere) ... Die Kulturgeschichte geht auf das Innere der vergangenen Menschheit und verkündet, wie diese war, wollte, dachte, schaute und vermochte ... Sie hebt diejenigen Tatsachen hervor, welche imstande sind, eine wirkliche innere Verbindung mit unserem Geiste einzugehen, eine wirkliche Teilnahme zu erwecken, sei es durch Affinität mit uns oder durch den Kontrast zu uns. Den Schutt aber läßt sie beiseite ... Wir sind ›unwissenschaftlich‹ und haben gar keine Methode, wenigstens nicht die der anderen.«
Jakob Burckhardt hat den Traum Schillers verwirklicht. Es gelang ihm tatsächlich, die große organische Einheit, die alle Lebensbetätigungen eines Volkes bilden, lebensvoll nachzugestalten. Denn noch niemals war in einem und demselben Kopfe eine so frische Anschauung der Details, eine so völlig dichterische Fähigkeit der Einfühlung in ferne Zustände mit einem so weiten und freien Blick für die allgemeinsten Zusammenhänge vereinigt gewesen. Eine unersättliche psychologische Neugierde, ruhelos und beunruhigend, von einem untrüglichen Spürsinn für das Fremdeste und Seltenste, Verschollenste und Versteckteste geleitet, war die geistige Zentraleigenschaft Burckhardts. Und dazu kam noch eine geradezu olympische Unparteilichkeit des Urteils, die alles lächelnd als berechtigt anerkennt, weil sie alles versteht. Hiefür war es gewiß nicht ohne Bedeutung, daß Burckhardt Schweizer war. In diesem kleinen Gebirgskessel, einer Art Miniatureuropa, wo Deutsche, Franzosen und Italiener unter einer gemeinsamen demokratischen Verfassung leben und sich vertragen, ist es offenbar gar nicht möglich, anders als kosmopolitisch und neutral zu denken. Es sind übrigens die vornehmsten Traditionen der deutschen Historik, die Burckhardt hier weiter verfolgt hat. Nicht bloß Ranke und seine Schüler, sondern auch die Klassiker: Kant, Herder, Goethe, Humboldt, Schiller haben dieses Ideal einer weltbürgerlichen Geschichtschreibung immer vor Augen gehabt. In Burckhardts »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«, einem Werk von göttlicher Heiterkeit, Spannkraft und Fülle, findet sich der Satz: »Der Geist muß die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln; was einst Jubel und Jammer war, muß nun Erkenntnis werden.« Diese Worte könnte man als Motto über sein Lebenswerk setzen.
Von Burckhardt ganz verschieden und doch mit ihm verwandt ist Hippolyte Taine. Das gestaltende Grundpathos in Burckhardt war die germanische Lust, zu schauen, er wollte nichts geben als das Bild, das das Leben der Vergangenheit in seiner Seele abgezeichnet hatte: in all seiner blühenden Chaotik und verwirrenden Systemlosigkeit; in Taine waltete der romanische Trieb, zu gliedern, das im Geiste Gesehene in die lichtvolle Logik einer wohlgestuften Architektur zu übersetzen. Burckhardt kam von den Geisteswissenschaften her: er las die Geschichte mit den Augen des Philologen und Textforschers; Taine orientierte sich an den Naturwissenschaften: er entzifferte die Geschichte mit den Methoden des Zoologen und Gesteinsforschers. Beiden gemeinsam ist jedoch die Magie der Wiederbelebung, die Gabe, die Luft, das Ambiente, die ganze seelische Landschaft eines Menschen, eines Volkes, eines Zeitalters zu malen. Hiebei begnügt sich Burckhardt noch mit den Mitteln eines schlichten, obschon sehr warmen und gestuften Kolorismus, während Taine bereits über alle Techniken eines raffinierten Impressionismus verfügt.
Taine war einer jener großen und seltenen Gelehrten, die ein Programm sind. Man hat daher nur die Wahl, seine Wege und Ziele, Forderungen und Folgerungen entweder a limine abzulehnen oder en bloc anzunehmen. Er war, um es in einem Satz zu sagen, der erste, der die Geschichtsforschung naturwissenschaftlich betrieben hat, und er war der erste, der gezeigt hat, daß künstlerische und naturwissenschaftliche Betrachtungsweise im Grunde dasselbe sind. In der Tat besteht zwischen beiden kein prinzipieller Unterschied. Künstlerisch ist eine Welt- und Menschenansicht, die in ihrem Gegenstande möglichst vollständig zu verschwinden sucht, die ihr Objekt nicht von außen her, durch irgendein fremdes Licht erhellt, sondern von innen heraus, aus seinem eigenen Kern erleuchtet. Die Betrachtung der ersten Art wirft ihr Licht auf die Dinge und kann daher nur deren Oberfläche treffen: sie macht ihre Gegenstände bloß sichtbar. Die Betrachtung der zweiten Art wirft ihr Licht in die Dinge: sie macht ihre Gegenstände selbstleuchtend. Und eine solche Durchleuchtung der Menschen und Dinge erstrebt der Naturforscher in demselben Maß wie der Historiker und der Historiker in demselben Maß wie der Künstler.
Denn was heißt historisch denken? Eine Sache in ihren inneren Zusammenhängen sehen; eine Sache aus ihrem eigenen Geist heraus begreifen und darstellen. Der Naturhistoriker ist ein wirklicher Historiker, er fragt nach den Bedingungen. Er fragt nach den Leistungen, aber diese sind für ihn wieder nichts als Summen von Bedingungen, die er berechnet. Er fragt nach den Energieverhältnissen. Er fragt nach dem Zweck. Aber Zweck heißt für ihn nur: Energien anhäufen und weitergeben. Tritt eine neue Varietät auf, so fühlt und erfüllt er vor allem die Verpflichtung, sie zu beschreiben, möglichst genau und möglichst vollständig. Hat diese Pflanze Steinboden, Sumpfboden, Wasserboden? Ist sie hängend, kletternd, sitzend? Ist sie eine Kalipflanze, eine Kieselpflanze, eine Kalkpflanze? Wie nimmt sie Licht auf, wie erzeugt sie Wärme?
Nun, jede historische Erscheinung – es handle sich um eine einzelne fruchtbare Individualität, eine bestimmte Generation oder eine ganze Rasse – ist auch nichts anderes als eine neue Varietät. In welchem Klima, in welcher Luft- und Bodenschicht lebt sie? Wie sieht ihr »Standort«, ihre Lokalität aus? Wie sind die Verhältnisse ihrer Stoffaufnahme und Stoffleitung? Welchen Aufbau hat ihr morphologischer Grundriß? Wie nimmt sie Licht auf, wie erzeugt sie Wärme? Und welchen Zweck hat sie: welche Energien macht sie frei?
So oder so ähnlich hat Taine die ganze Historie betrachtet. Und diese Beobachtungen und Untersuchungen, die von allen Seiten bemängelt und angezweifelt wurden, hat er in den verschwenderisch reichen Brokatmantel einer in tausend Nuancen opalisierenden Prosa gekleidet, die sogar in der französischen Literatur ihresgleichen sucht.
Vor etwa einem Menschenalter begann Lamprechts »Deutsche Geschichte« zu erscheinen, ein in vieler Hinsicht sehr verdienstvolles Werk. Es verfügt vor allem über ein vorzügliches Schema. Danach entwickelt sich der Gang der Kulturgeschichte im Rahmen eines bestimmten, stets wiederkehrenden Mechanismus: »Auftreten von Reaktionen gegen den bestehenden Zustand, Zerstörung der alten Dominanten, neuer Naturalismus, Erringen neuer Dominanten in einem immer gegenständlicheren Idealismus, Rationalisieren dieser Dominanten, Epigonentum, dann wieder neue Reizvorgänge und so weiter.« Im genaueren unterscheidet Lamprecht fünf Kulturzeitalter: das symbolische, das typische, das konventionelle, das individuelle und das subjektive, das wieder in zwei Abschnitte zerfällt: die Periode der Empfindsamkeit und die Periode der Reizsamkeit. In jedem dieser Zeitalter herrscht nun »eine jeweilige sozialpsychische Gesamtdisposition«, die Lamprecht mit einem düsteren Fremdwort als »Diapason« bezeichnet. Es läßt sich nun keineswegs leugnen, daß er mit großem Erfolg bemüht ist, die Auswirkungen dieses »Diapasons« auf sämtlichen Kulturgebieten zu zeigen, obgleich er hierin durch seine freiwillige Beschränkung auf die deutsche Geschichte einigermaßen behindert ist. Eine solche Behandlungsweise ist beim Mittelalter, wo eine internationale Kultur geherrscht hat, noch durchaus möglich: wenn man zum Beispiel die französische Kultur des zwölften Jahrhunderts beschrieben hat, so hat man das Wesentliche der europäischen Gesamtkultur beschrieben. Hingegen in der Neuzeit war immer ein anderes Volk führend: während der Renaissance die Italiener, in der Barockzeit die Spanier, im achtzehnten Jahrhundert die Franzosen, im neunzehnten abwechselnd die Deutschen, die Engländer und wiederum die Franzosen und im Fin de siècle sogar die kleine Völkergruppe der Skandinavier.
Indes: man kann auch an einem Volke die Entwicklung der europäischen Gesamtkultur wenigstens exemplifizieren, zumal wenn man, wie dies Lamprecht ja tut, das Ausland überall dort, wo es entscheidend eingegriffen hat, in ausgiebigem Maße zu Worte kommen läßt. Schwerer wiegt der Einwand, daß Lamprecht kein Gestalter ist. Dies gilt sowohl von der Gliederung wie von der Darstellung. Seine Grundkonzeption wäre sehr übersichtlich, aber in der Ausführung verschwimmt sie, das Ganze ist nicht vollständig durchkomponiert. Seine übergroße Gelehrtengewissenhaftigkeit hat ihn daran gehindert, die Stoffmassen von seinem neuen Aspekt aus souverän und selbst gewaltsam zusammenzuballen und voneinander zu lösen, wozu er wissenschaftlich nicht berechtigt und künstlerisch verpflichtet gewesen wäre. Und auch bei der Schilderung der einzelnen Kulturzeitalter bringt er es trotz seiner erstaunlich allseitigen Bildung und trotz der Weite und Tragfähigkeit seiner Ideen zu keiner wirklichen Synopsis. Zudem ist das Werk in jener ungelenken und mißtönigen Geheimsprache abgefaßt, die nun einmal eine Eigentümlichkeit der meisten deutschen Gelehrten bildet und bereits Goethe zu der Bemerkung veranlaßt hat, daß die Deutschen die Gabe besäßen, die Wissenschaften unzugänglich zu machen. Daß der Ton dabei nicht selten in ein ausgemünztes und altfränkisches Lesebuchpathos übergeht, macht die Lektüre nicht genußreicher; denn Pathos ist für alle Arten von Darstellern das Gefährlichste, weil es das Leichteste ist: es wird daher fast immer mit dem Verlust der Originalität und der menschlichen Wirkung bezahlt und ist nur großen Künstlern erlaubt, wie Victor Hugo und Richard Wagner, Sonnenthal und Coquelin, Nietzsche und Carlyle. Aber trotz allen diesen Mängeln bezeichnen Lamprechts vierzehn Bände in gewissem Sinne eine Epoche in der Geschichte der Kulturgeschichte.
Mit Lamprecht berührt sich Kurt Breysig, ein ausgezeichneter Gelehrter von großer Selbständigkeit der Auffassung, Feinheit des Urteils und Weite des Gesichtskreises. Er bricht vollkommen mit dem bisherigen Prinzip der Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit und konstatiert diese Stufenfolge nicht am allgemeinen Gang der Weltgeschichte, sondern an den einzelnen großen Kulturkreisen, vornehmlich am griechischen, am römischen und am germanisch-romanischen. So entspricht zum Beispiel dem griechischen Altertum (1500 bis 1000) das germanische (400 bis 900): »In beiden Fällen ist ein noch barbarisches Volk durch mannigfache Entlehnungen von älteren und reicheren Kulturen, hier der orientalischen, dort der römischen gefördert worden; in beiden Fällen hat eine starke Monarchie sich gewaltig ausgewirkt ... Die Trümmer der Königsburgen und Königsgräber von Mykene und Tiryns und die der karolingischen Kaiserpfalz zu Aachen atmen denselben Geist.« Darauf folgte die Periode des »frühen Mittelalters«, die bei den Griechen von 1000 bis 750, bei den Germanen von 900 bis 1150 währte: beide Male »Königtum im Kampf mit der vordringenden Aristokratie und deren schließliches Überwiegen; darauf das Emporkommen einer bürgerlichen Geldwirtschaft, dann das demokratischer Regungen, zuletzt eine Wiederbelebung des monarchischen Gedankens ... dazu kommt als das Wichtigste der soziale Gesamtcharakter der Epoche, den hier wie dort neben einem tumultuarisch brüsken Individualismus starker Persönlichkeiten im wesentlichen der Genossenschaftsgedanke beherrscht«. Man wird schon aus dieser einen Probe ersehen, wie fruchtbar eine solche komparative Methode werden kann, wenn sie mit Takt und lebendigem Sinn für das Konkrete gehandhabt wird und über den Analogien auch die Differenzen nicht übersieht. Breysigs »Kulturgeschichte der Neuzeit« enthält allerdings bisher noch nichts von dem, was der Titel angibt: vielmehr handelt der erste Band von den »Aufgaben und Maßstäben einer allgemeinen Geschichtschreibung«, der zweite, sehr umfangreiche Band vom »Altertum und Mittelalter als Vorstufen der Neuzeit«, und zwar in seiner ersten Hälfte von der Urzeit, der griechischen und der römischen Geschichte, in seiner zweiten Hälfte von der Entstehung des Christentums und dem Altertum und frühen Mittelalter der germanisch-romanischen Völker. Breysig disponiert viel strenger und durchsichtiger als Lamprecht und hat vor ihm auch die straffere, lebendigere und abgerundetere Darstellung voraus. Die gedrängten Kapitel über Kunst und Weltanschauung der Griechen und Staat und Gesellschaft der Römer sind meisterhaft, offenbar gerade weil Breysig auf diesen Gebieten nicht Fachmann ist. Aber je mehr er sich seinem eigentlichen Spezialterrain nähert, desto mehr verliert er sich in die Breite. Vor allem nimmt die Sozialgeschichte einen übergroßen Raum ein: beim Überblick über die Kultur des germanisch-romanischen frühen Mittelalters handeln fast fünfhundert Seiten von Territorialentwicklung, Ständebildung und Volkswirtschaft und achtzig Seiten von Religion, Wissenschaft, Dichtung und bildender Kunst. Bedenkt man, mit welcher bedrückenden Massierung von Details schon dieser Abschnitt arbeitet, der doch nur ein Prolog sein soll, so ist nicht abzusehen, welche formidabeln Dimensionen das Werk annehmen müßte, wenn es zu seinem eigentlichen Thema gelangt. Und es scheint fast, als habe den Verfasser selber, der seit dem Jahr 1902 keine weiteren Bände hat folgen lassen, der Ausblick in diese unendlichen Räume entmutigt, was sehr zu bedauern wäre.
Mit großer Bewunderung muß zum Schluß noch der Name Oswald Spenglers genannt werden, vielleicht des stärksten und farbigsten Denkers, der seit Nietzsche auf deutschem Boden erschienen ist. Man muß in der Weltliteratur schon sehr hoch hinaufsteigen, um Werke von einer so funkelnden und gefüllten Geistigkeit, einer so sieghaften psychologischen Hellsichtigkeit und einem so persönlichen und suggestiven Rhythmus des Tonfalls zu finden wie den »Untergang des Abendlandes«. Was Spengler in seinen beiden Bänden gibt, sind die »Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte«. Er sieht »statt des monotonen Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte« »das Phänomen einer Vielzahl mächtiger Kulturen«. »Jede Kultur hat ihre eigenen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eigenen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde.« Kulturen sind Organismen; Kulturgeschichte ist ihre Biographie. Spengler konstatiert neun solche Kulturen: die babylonische, die ägyptische, die indische, die chinesische, die antike, die arabische, die mexikanische, die abendländische, die russische, die er abwechselnd beleuchtet, natürlich nicht mit gleichmäßiger Schärfe und Vollständigkeit, da wir ja über sie in sehr ungleichem Maße unterrichtet sind. In dem Entwicklungsgang aller dieser Kulturen herrschen aber gewisse Parallelismen, und dies veranlaßt Spengler zur Einführung des Begriffs der »gleichzeitigen« Phänomene, worunter er geschichtliche Fakta versteht, »die, jedes in seiner Kultur, in genau derselben – relativen – Lage eintreten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben«. »Gleichzeitig« vollzieht sich zum Beispiel die Entstehung der lonik und des Barock. Polygnot und Rembrandt, Polyklet und Bach, Sokrates und Voltaire sind »Zeitgenossen«. Selbstverständlich herrscht aber auch innerhalb derselben Kultur auf jeder ihrer Entwicklungsstufen eine völlige Kongruenz aller ihrer Lebensäußerungen. So besteht zum Beispiel ein tiefer Zusammenhang der Form zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip Ludwigs des Vierzehnten, zwischen der antiken Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen. An der Hand dieser und ähnlicher Leitprinzipien gelangt nun Spengler zu den geistvollsten und überraschendsten Entdeckungen. Das »protestantische Braun« der Holländer und das »atheistische Freilicht« der Manetschule, der »Weg« als das Ursymbol der ägyptischen Seele und die »Ebene« als das Leitmotiv des russischen Weltgefühls, die »magische« Kultur der Araber und die »faustische« Kultur des Abendlandes, die »zweite Religiosität«, in der späte Kulturen ihre Jugendvorstellungen wiederbeleben, und die »Fellachenreligiosität«, in der der Mensch wieder geschichtslos wird: das und noch vieles andere sind unvergeßliche Genieblitze, die für Augenblicke eine weite Nacht erhellen, unvergleichliche Funde und Treffer eines Geistes, der einen wahrhaft schöpferischen Blick für Analogien besitzt. Daß diesem Werk von den »Fachkreisen« mit einem läppischen Dünkel begegnet worden ist, der nur noch von der tauben Ahnungslosigkeit übertreffen wurde, mit der sie allen seinen Fragen und Antworten gegenüberstanden, wird niemand verwundern, der mit den Sitten und Denkweisen der Gelehrtenrepublik vertraut ist.
Die Kulturgeschichtschreibung ist selbst ein kulturgeschichtliches Phänomen, das die einzelnen von Spengler konstatierten Lebensphasen der Kindheit, der Jugend, der Männlichkeit und des Greisentums durchzumachen hat. In der Kindheit lebt der Mensch vegetativ, denkt nur an sich und seine nächsten Objekte, und deshalb schreibt er auf dieser Stufe noch gar keine Geschichte; im Jünglingsalter sieht er die Welt poetisch und konzipiert daher Geschichte in der Form der Dichtung; in der Reife der Männlichkeit erblickt er im Handeln Ziel und Sinn alles Daseins und schreibt politische Geschichte; und im Greisenalter beginnt er endlich zu verstehen: aber auf eine sehr lebensmüde und resignierte Art. Darum ist Spenglers Werk schon einfach durch seine Existenz der bündigste Beweis für die Richtigkeit seiner Geschichtskonstruktion. Das Endziel der abendländischen Entwicklung, wie Spengler sie sieht, ist die nervöse und disziplinierte Geistigkeit des Zivilisationsmenschen, ist die illusionslose Tatsachenphilosophie, der Skeptizismus und Historizismus des Weltstädters, ist, mit einem Wort: Spengler. Dies ohne jeden bösen Nebensinn gesagt. Es ist zu allen Zeiten das gute Recht des Denkers gewesen, sich selbst zu beweisen; und je größer der Denker ist, desto gegründeter, selbstverständlicher, unentrinnbarer ist dieses sein Recht.
Aber: – Spengler ist eben darin das Produkt seiner Zeit, daß er Atheist, Agnostiker, verkappter Materialist ist. Er fußt auf der Biologie, der Experimentalpsychologie, der feineren Statistik, ja der Mechanik. Er glaubt nicht an den Sinn des Universums, an das immanente Göttliche. Der »Untergang des Abendlandes« ist die hinreißende Fiktion eines Zivilisationsdenkers, der nicht mehr an Aufstieg glauben kann. Spengler ist der letzte, feinste, vergeistigtste Erbe des technischen Zeitalters und au fond der geistreichste Schüler Darwins und des gesamten englischen Sensualismus, bis in seine Umkehrungen dieser Lehren hinein, ja vielleicht gerade dort am stärksten. Deshalb sind nur seine historischen Schlüsse absolut zwingend, keineswegs seine philosophischen. Wenn sich zum Beispiel auf der letzten Seite seines Werks die Worte finden: »Die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt«, so sind solche Behauptungen wahr und nicht wahr: wahr nämlich nur als Lebensäußerungen einer bestimmten historischen Menschenvarietät: der heutigen, die Spengler als eines ihrer Exemplare, und zwar als eines ihrer leuchtendsten Exemplare vertritt; genau so wahr wie der Fetischismus der Naturvölker oder das ptolemäische Weltsystem der Antike.
Die fruchtbaren neuen Ideen stammen nie von einem Einzelnen, sondern immer von der Zeit. Es ist geradezu der Prüfstein ihres Wertes, daß sie von vielen gleichzeitig gedacht werden. Dies erkennt auch Spengler an, wenn er in der Vorrede seines Werkes sagt: »Ein Gedanke von historischer Notwendigkeit, ein Gedanke also, der nicht in eine Epoche fällt, sondern Epoche macht, ist nur in beschränktem Sinne das Eigentum dessen, dem seine Urheberschaft zuteil wird. Er gehört der ganzen Zeit; er ist im Denken aller unbewußt wirksam.« Und in der Tat erschien fast an demselben Tag wie Spenglers erster Band ein merkwürdiges Buch des Schweizers C. H. Meray, das von der Feststellung ausging, daß jede Zivilisation ein in sich abgeschlossenes Ganzes, ein Lebewesen darstellt, ähnlich den vielzelligen Organismen. Und zwar finden wir das Gesetz: so viel Religionen, so viel Zivilisationen; die Religionen sind gleichsam die Nervenzentren der einzelnen Kulturen, die deren Lebenstätigkeit vereinheitlichen und regulieren. Ferner hat jede Zivilisation ihren eigenen Stil; auch dies hat seine Parallelerscheinung in der Zellenwelt, wo das Protoplasma ebenfalls immer eine spezifische Zusammensetzung hat: seine chemische Struktur, aus der man die Gattung jedes einzelnen Lebewesens sofort bestimmen kann. An allen diesen Zivilisationen läßt sich nun beobachten, daß sie nach einer bestimmten Zeit, nämlich nach etwa zwei bis drei Jahrtausenden, sterben. Die ägyptische, die sumerische, die babylonische, die mykenische, die erst jüngst entdeckte minoische Kultur: alle diese sehr hohen und eigenartigen Kulturen brachten es nicht über diese Zeitspanne. Die Zivilisationen besitzen also, ganz wie die Organismen, eine bestimmte Lebensdauer, die sich wohl durch gewaltsame äußere Eingriffe verkürzen, aber auf keine Weise verlängern läßt. In einem solchen Zustand des Absterbens befindet sich unsere gegenwärtige Kultur. Mit Hilfe dieser sozusagen kulturphysiologischen Methode unternahm es der Verfasser Anfang 1918, nicht nur die Ursachen und den bisherigen Verlauf des Weltkriegs zu erklären, sondern auch seinen Ausgang und seine Folgen vorauszubestimmen, was ihm vollkommen gelang.
Selbstverständlich hat Spengler nicht bloß aus dem Zeitbewußtsein geschöpft, sondern sich auch seine Vorgänger: Hegel, Nietzsche, Taine, Lamprecht, Breysig zunutze gemacht. Dasselbe Recht nimmt auch die nachfolgende Darstellung für sich in Anspruch, nur daß sie in der beneidenswerten Lage war, auch schon Spengler mit abschreiben zu können.
Damit sind wir im Gange unserer historischen Skizze zu dem jüngsten kulturhistorischen Versuch gelangt, nämlich zu unserem eigenen. Hier mögen nun noch einige kurze allgemeine Bemerkungen gestattet sein.
Will in Deutschland jemand etwas öffentlich sagen, so entwickelt sich im Publikum sogleich Mißtrauen in mehrfacher Richtung: zunächst, ob dieser Mensch überhaupt das Recht habe, mitzureden, ob er »kompetent« sei, sodann, ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten, und schließlich, ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe. Es handelt sich, mit drei Worten, um die Frage des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats.
Was den Dilettantismus anlangt, so muß man sich klarmachen, daß allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt werden. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im übeln Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel. Der Fachmann steht immer zu sehr in seinem Berufskreise, er ist daher fast nie in der Lage, eine wirkliche Revolution hervorzurufen: er kennt die Tradition zu genau und hat daher, ob er will oder nicht, zu viel Respekt vor ihr. Auch weiß er zu viel Einzelheiten, um die Dinge noch einfach genug sehen zu können, und gerade damit fehlt ihm die erste Bedingung fruchtbaren Denkens. Die ganze Geschichte der Wissenschaften ist daher ein fortlaufendes Beispiel für den Wert des Dilettantismus. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie verdanken wir einem Bierbrauer namens Joule. Fraunhofer war Glasschleifer, Faraday Buchbinder. Goethe entdeckte den Zwischenknochen, Pfarrer Mendel sein grundlegendes Bastardierungsgesetz. Der Herzog von Meiningen, ein in der Regiekunst dilettierender Fürst, ist der Schöpfer eines neuen Theaterstils, und Prießnitz, ein in der Heilkunst dilettierender Bauer, der Schöpfer einer neuen Therapie. Dies sind bloß Beispiele aus dem neunzehnten Jahrhundert, und gewiß nur ein kleiner Bruchteil.
Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts ganz Zuverlässiges wissen kann, kurz: Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen läßt, daß sie falsch sind, dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität, vor allem jeder philosophischen und künstlerischen oder auch nur mit Kunst und Philosophie entfernt verwandten.
Was aber im Speziellen die Kulturgeschichte betrifft, so ist es schlechterdings unmöglich, sie anders als dilettantisch zu behandeln. Denn man hat als Historiker offenbar nur die Wahl, entweder über ein Gebiet seriös, maßgebend und authentisch zu schreiben, zum Beispiel über die württembergischen Stadtfehden in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts oder über den Stammbaum der Margareta Maultasch oder, wie der Staatsstipendiat der Kulturgeschichte Doktor Jörgen Tesman, über die brabantische Hausindustrie im Mittelalter, oder mehrere, womöglich alle Gebiete vergleichend zusammenzufassen, aber auf eine sehr leichtfertige, ungenaue und dubiose Weise. Eine Universalgeschichte läßt sich nur zusammensetzen aus einer möglichst großen Anzahl von dilettantischen Untersuchungen, inkompetenten Urteilen, mangelhaften Informationen.
Über die Frage der Paradoxie können wir uns ebenso kurzfassen. Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten »Wahrheit«, daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt. Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein. Man steht also vor der traurigen Alternative, entweder die kommenden Wahrheiten verkünden zu müssen und für eine Art Scharlatan und Halbnarr zu gelten, oder die arrivierten Wahrheiten wiederholen zu müssen und für einen langweiligen Breittreter von Selbstverständlichkeiten gehalten zu werden, sich entweder lästig oder überflüssig zu machen. Ein Drittes gibt es offenbar nicht.
Ferner wird man bemerken, daß gerade die größten Menschen gezwungen sind, sich fortwährend zu widersprechen. Sie sind ein Nährboden für mehr als eine Wahrheit; alles Lebendige findet in ihnen seinen Humus. Daher sind die Gewächse, die sie hervorbringen, vielartig, verschiedenfach und bisweilen ganz entgegengesetzter Natur. Sie sind zu objektiv, zu reich, zu verständig, um nur eine Ansicht über dieselbe Sache zu haben. Aber nicht bloß das Säkulargehirn, sondern jeder denkende Mensch ist genötigt, sich gelegentlich selbst zu widerlegen. Deshalb hat Emerson gesagt: »Sprich heute aus, was du heute denkst, und verkünde morgen ebenso unbekümmert, was du morgen denkst, auch wenn es dem, was du am Tage vorher gesagt hast, in jedem Punkte widerspricht. Konsequenz ist ein Kobold, der in engen Köpfen spukt.« Dasselbe meinte Goethe, als er zu Eckermann sagte, die Wahrheit sei einem Diamanten zu vergleichen, dessen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, sondern nach vielen, und Baudelaire, als er an Philoxène Royer schrieb: »Unter den Rechten, von denen man in der letzten Zeit gesprochen hat, hat man eines vergessen, an dessen Nachweis jedermann interessiert ist: das Recht, sich zu widersprechen.«
Die Sache geht aber noch tiefer. Der Widerspruch ist nämlich ganz einfach die Form, und zwar die notwendige Form, in der sich unser ganzes Denken bewegt. Das, was man die »Wahrheit« über irgendeine Sache nennen könnte, ist nämlich weder die Behauptung A noch die kontradiktorische Behauptung non-A, sondern die zusammenfassende und gewissermaßen auf einer höheren geistigen Spiralebene gelegene Einheit aus diesen beiden einander widersprechenden Urteilen. Die ganze geistige Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist ein solches Ringen um jene wahren Mittelbegriffe, in denen zwei einseitige und daher falsche Betrachtungsarten der Wirklichkeit ihre harmonische Lösung finden. Bekanntlich hat Hegel auf dieser Erkenntnis ein weitläufiges Philosophiegebäude errichtet, in dem er an alles und jegliches mit seinem ebenso einfachen wie fruchtbaren Schema: These – Antithese – Synthese herantrat, und es ist der bezwingenden Macht dieser weisen und tiefsinnigen Entdeckung zuzuschreiben, daß das hegelsche System ein halbes Jahrhundert lang eine fast absolutistische Herrschaft über alle Kulturgebiete ausübte und alle geistig Schaffenden, ob es Physiker oder Metaphysiker, Künstler oder Juristen, Hofprediger oder Arbeiterführer waren, sozusagen im hegelschen Dialekt sprachen. Und in einer populäreren, aber nicht minder treffenden Form findet sich der Extrakt dieser Philosophie in einer Anekdote ausgesprochen, die von Ibsen erzählt wird. Dieser sprach einmal in einer Gesellschaft begeistert von Bismarck, als einer der Anwesenden ihn fragte, wie ein so fanatischer Vorkämpfer der Freiheit des Individuums sich für einen Mann erwärmen könne, der doch seiner ganzen Weltanschauung nach ein Konservativer, also ein Anhänger der Unterdrückung fremder Individualitäten sei. Daraufhin blickte Ibsen dem Frager lächelnd ins Gesicht und antwortete: »Ja, haben Sie denn noch nie bemerkt, daß bei jedem Gedanken, wenn man ihn zu Ende denkt, das Gegenteil herauskommt?«
Was nun zum Schluß noch die Frage des Plagiats anlangt, so ist das Geschrei über geistige Entwendungen eines der überflüssigsten Geschäfte von der Welt. Jedes Plagiat richtet sich nämlich von selbst. Auf ihm ruht der Fluch, der jedes gestohlene Gut zu einem freudlosen Besitz macht, sei es nun geistiger oder materieller Natur. Es erfüllt den Dieb mit einer Unsicherheit und Befangenheit, die man ihm auf hundert Schritte anmerkt. Die Natur gestattet keine unehrlichen Geschäfte. Wir können immer nur unsere eigenen Gedanken wirklich in Bewegung setzen, weil nur diese unsere Organe sind. Eine Idee, die nicht uns, sondern einem andern gehört, können wir nicht handhaben, sie wird uns abwerfen, wie das Pferd den fremden Reiter, sie ist wie eine Schmuckkassette, deren Vexierschloß man nicht kennt, wie ein Paß, der fremde Länder öffnet, aber nur dem, dessen Bild und Namenszug er trägt. Man lasse daher die Menschen an geistigem Eigentum nur ruhig zusammenstehlen, was sie erwischen können, denn niemand anders wird den Schaden davon haben als sie selbst, die ihre schöne Zeit an etwas völlig Hoffnungsloses vergeudet haben.
Es gibt aber auch unbewußte Plagiate oder richtiger gesagt: Plagiate, die mit gutem Gewissen begangen werden, so wie man etwa jeden Händler einen Dieb mit gutem Gewissen nennen könnte. Es läßt sich bezweifeln, ob der Proudhonsche Satz »La propriété c'est le vol« auf wirtschaftlichem Gebiet so ganz richtig ist; auf geistigem Gebiet gilt er aber ganz zweifellos. Denn, genau genommen, besteht die ganze Weltliteratur aus lauter Plagiaten. Das Aufspüren von Quellen, sagt Goethe zu Eckermann, sei »sehr lächerlich«. »Man könnte ebensogut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwicklung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist ... Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt, wo sie es findet. Überhaupt ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Lionardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gedacht; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder sagte und daß ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.« Und das war von Goethe sicher ein besonders großes Zugeständnis, denn er war bekanntlich auf nichts stolzer als auf seine Farbenlehre.
Die ganze Geistesgeschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Diebstählen. Alexander bestiehlt Philipp, Augustinus bestiehlt Paulus, Giotto bestiehlt Cimabue, Schiller bestiehlt Shakespeare, Schopenhauer bestiehlt Kant. Und wenn einmal eine Stagnation eintritt, so liegt der Grund immer darin, daß zu wenig gestohlen wird. Im Mittelalter wurden nur die Kirchenväter und Aristoteles bestohlen: das war zu wenig. In der Renaissance wurde alles zusammengestohlen, was an Literaturresten vorhanden war: daher der ungeheure geistige Auftrieb, der damals die europäische Menschheit erfaßte. Und wenn ein großer Künstler oder Denker sich nicht durchsetzen kann, so liegt das immer daran, daß er zu wenig Diebe findet. Sokrates hatte das seltene Glück, in Plato einen ganz skrupellosen Dieb zu finden, der sein Handwerk von Grund aus verstand: ohne Plato wäre er unbekannt. Die Frage der Priorität ist von großem Interesse bei Luftreinigern, Schnellkochern und Taschenfeuerzeugen, aber auf geistigem Gebiet ist sie ohne jede Bedeutung. Denn, wie wir schon bei Spengler hervorhoben, die guten Gedanken, die lebensfähigen und fruchtbaren, sind niemals von einem Einzelnen ausgeheckt, sondern immer das Werk des Kollektivbewußtseins eines ganzen Zeitalters. Es handelt sich darum, wer sie am schärfsten formuliert, am klarsten durchleuchtet, am weitesten in ihren möglichen Anwendungen verfolgt hat. »Im Grunde«, sagt Goethe, »sind wir alle Kollektivwesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! ... Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinn sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten.«
Bekanntlich hat ja auch Shakespeare im »Julius Cäsar« den Plutarch wörtlich abgeschrieben. Manche bedauern, daß dadurch ein häßlicher Fleck auf den großen Dichter falle. Andere sind toleranter und sagen: ein Shakespeare durfte sich das erlauben! Beiden ist jedoch zu erwidern: wenn man von Shakespeare nichts wüßte als dies, so würde dies allein ihn schon als echten Dichter kennzeichnen. Es ist wahr: große Dichter sind oft originell; aber nur, wenn sie müssen. Sie haben nie den Willen zur Originalität: den haben die Literaten. Ein Dichter ist ein Mensch, der sieht und sehen kann, weiter nichts. Und er freut sich, wenn er einmal ganz ohne Einschränkung seinem eigentlichen Beruf obliegen kann: dem des Abschreibens. Wenn Shakespeare den Plutarch abschrieb, so tat er es nicht, obgleich er ein Dichter war, sondern weil er ein Dichter war. Das Genie hat eine leidenschaftliche Liebe zum Guten, Wertvollen; es sucht nichts als dieses. Hat schon ein anderer die Wahrheit, zum Beispiel Plutarch, wozu sich auch nur einen Schritt weit von ihm entfernen? Was könnte dabei herauskommen? Es bestünde die Gefahr, eine Wahrheit, die minder groß und wahr wäre, an die Stelle der alten zu setzen, und diese Gefahr fürchtet das Genie mehr als den Verlust seiner Originalität. Lieber schreibt es ab. Lieber ist es ein Plagiator.
Pascal sagt einmal in den »Pensées«: »Gewisse Schriftsteller sagen von ihren Werken immer: › Mein Buch, mein Kommentar, meine Geschichte‹. Das erinnert an jene braven Spießer, die bei jeder Gelegenheit ›mein Haus‹ sagen. Es wäre besser, wenn sie sagten: unser Buch, unser Kommentar, unsere Geschichte; wenn man bedenkt, daß das Gute darin mehr von andern ist als von ihnen.« Wir sind schließlich alle nur Plagiatoren des Weltgeists, Sekretäre, die sein Diktat niederschreiben; die einen passen besser auf, die anderen schlechter: das ist vielleicht der ganze Unterschied. Aber Pascal ergänzt seine Bemerkung durch eine andere: »Manche Leser wollen, daß ein Autor niemals über Dinge spreche, von denen schon andere gesprochen haben. Tut er es, so werfen sie ihm vor, er sage nichts Neues. Beim Ballspielen benutzt der eine genau denselben Ball wie der andere; aber der eine wirft ihn besser. Man könnte einem Autor gerade so gut vorwerfen, daß er sich der alten Worte bediene: als ob dieselben Gedanken in veränderter Anordnung nicht einen andern geistigen Organismus bildeten, genau so, wie die Worte in veränderter Anordnung andere Gedanken bilden.« Die Unoriginalität liegt eben meistens im Leser. Die Bemerkung: »Das ist mir nichts Neues, das habe ich schon irgendwo gehört«, wird man am häufigsten im Munde untalentierter, unkünstlerischer, unproduktiver Menschen hören. Der begabte Mensch hingegen weiß, daß er nichts »schon irgendwo gehört hat« und daß alles neu ist. Der Europäer glaubt, daß alle Neger dieselben Gesichter hätten, weil er von Negergesichtern nichts versteht. Und der Philister glaubt, daß alle Menschen dieselbe geistige Physiognomie hätten, weil er von geistigen Physiognomien nichts versteht. »Die, so niemals selbst denken«, sagt Kant in seinen ›Prolegomena‹, »besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was sonst schon gesagt worden, aufzuspähen, wo es doch vorher niemand sehen konnte.«
Materiell neu ist im Grunde nichts; neu ist immer nur das Wechselspiel der geistigen Kräfte. Ja man kann den letzten Schritt tun und sagen: jeder Vollsinnige ist ununterbrochen gezwungen, zu plagiieren. Das wohlgeordnete, wohlabgegrenzte Reich der Wahrheit ist klein. Unermeßlich und bodenlos ist nur die Wildnis der Torheiten und Irrtümer, der Schrullen und Idiotismen. Gegen Leute, die etwas ganz Neues sagen, soll man mißtrauisch sein; denn es ist fast immer eine Lüge. Es gibt eine doppelte Originalität: eine gute und eine schlechte. Originell ist jeder neue Organismus: diese physiologische Originalität ist wertvoll und fruchtbar. Daneben existiert aber auch noch eine pathologische Originalität, und die hat gar keinen Wert und gar keine Lebensfähigkeit, obgleich sie vielfach als die einzige und echte Originalität gilt. Es ist die Originalität des Riesenfettkinds und des Kalbs mit zwei Köpfen.
Kurz nachdem ich diese kleine Schlußbetrachtung aufgezeichnet hatte, fiel mir ein alter Band der Wochenschrift »Die Zeit« in die Hand, worin ich einen Aufsatz von Hermann Bahr über »Plagiate« vorfand, der mit dem Satz schließt: »Nehmen wir dem Künstler das Recht, das Schöne darzustellen, wie er es fühlt, unbekümmert, ob es schon einmal dargestellt worden ist oder nicht, und dem Kenner das Recht, nach dem Wahren zu trachten, ob es nun alt oder neu ist, und lassen wir bloß das gelten, was noch nicht dagewesen ist, dann machen wir allen Extravaganzen die Türe auf und der größte Narr wird uns der liebste Autor sein.« Man könnte hier an irgendeinen zufälligen »Parallelismus« denken; so aber verhält es sich nicht. Sondern ich habe, als leidenschaftlicher Leser Hermann Bahrs, der ich schon immer war, diesen Satz offenbar als Gymnasiast in der »Zeit« gelesen und jetzt ist er wieder aus meinem Unterbewußtsein nach oben gestiegen. Woraus erhellt, daß man selbst über Plagiate nichts anderes sagen kann als Plagiate.