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Fängt nicht überall das Beste mit Krankheit an?
Novalis
Eine einfache Erwägung zeigt, daß alle Klassifikationen, die der Mensch jemals gemacht hat, willkürlich, künstlich und falsch sind. Aber eine ebenso einfache Erwägung zeigt, daß diese Klassifikationen nützlich und unentbehrlich und vor allem unvermeidlich sind, weil sie einer eingeborenen Tendenz unseres Denkens entspringen. Denn im Menschen lebt ein tiefer Wille zur Einteilung, er hat einen heftigen, ja leidenschaftlichen Hang, die Dinge abzugrenzen, einzufrieden, zu etikettieren. Das Lieblingsspielzeug vieler Kinder ist die Schachtel. Aber auch der Erwachsene trägt immer ein unsichtbares Quadratnetz mit sich herum. Die einfache und lichte Anordnung der meisten Naturprodukte: die deutliche und bestimmte Segmentierung des Tierkörpers, die regelmäßigen Knoten des Blumenstengels, gleichsam dessen Stockwerke, die scharf geschnittenen Flächen und Winkel des Kristalls: all das ist für uns ein eigentümlich erfrischender Anblick. Wir verlangen, daß ein Gedicht Strophen, ein Drama Akte, eine Symphonie Sätze, ein Buch Absätze habe, sonst fühlen wir uns sonderbar gequält, befremdet und ermüdet. Ein Antlitz, dessen Teile sich nicht kräftig und ausdrücklich gegeneinander abheben, erscheint uns unschön oder nichtssagend. Wir verehren Menschen und Völker nach dem Grade ihrer Kunst, zu stufen, zu gliedern, zu scheiden: ja das, was wir Kunst nennen, ist fast identisch mit dieser Fähigkeit. Die griechischen Architekten und Bildhauer sind die Lehrer der Jahrtausende geworden, weil sie Meister der Einteilung, der Proportion waren; der Dichterruhm Dantes beruht zum Teil darauf, daß er die geheimnisvolle Welt des Jenseits durchsichtig und faßbar gemacht hat, indem er sie in klare Kreise zerlegte. Und die Aufgabe aller Wissenschaft hat ja niemals in etwas anderem bestanden als in der übersichtlichen Parzellierung und Gruppierung der Wirklichkeit: durch künstliche Trennung und Aufreihung macht sie die Fülle des Tatsächlichen handlich und begreiflich. Es heißt freilich: die Natur macht keine Sprünge. Aber es scheint, daß ihr die Zwischenformen, durch die sie hindurch muß, nicht das Wichtigste sind, denn sie hat keine einzige von ihnen aufbewahrt, sie benutzt sie offenbar nur als Hilfslinien und Notbrücken, um zu ihrem eigentlichen Ziele zu gelangen: den scharf gesonderten Gruppen und Reichen; was sie will, sind die markanten Unterschiede und nicht die verwaschenen Übergänge. Oder sagen wir lieber: wir vermögen es jedenfalls nicht anders zu sehen. Was uns bei der Betrachtung eines Entwicklungsganges reizt und bewegt, ist immer jener geheinmisvolle Sprung, der fast niemals fehlt; in jeder Biographie sind es die plötzlichen Erhellungen und Verdunklungen, Wandlungen und Wendungen, Taillen und Zäsuren, die unsere Teilnahme fesseln: das, was den Einschnitt, die Epoche macht. Kurz: wir fühlen uns nur glücklich in einer artikulierten, gestuften, interpungierten Welt.
Dies gilt ganz besonders von allem, was einen Zeitablauf hat. Die Zeit ist vielleicht von allen Schrecklichkeiten, die den Menschen umgeben, die schrecklichste: flüchtig und unheimlich, gestaltlos und unergründlich, ein Schnittpunkt zwischen zwei drohenden Ungewißheiten: einer Vergangenheit, die nicht mehr ist und trotzdem noch immer bedrückend in unser Jetzt hineinragt, und einer Zukunft, die noch nicht ist und dennoch bereits beängstigend auf unserem Heute lastet; die Gegenwart aber fassen wir nie. Die Zeit also, unsere vornehmste und wertvollste Mitgift, gehört uns nicht. Wir wollen sie besitzen, und statt dessen sind wir von ihr besessen, rastlos vorwärts gehetzt nach einem Phantom, das wir »morgen« nennen und das wir niemals erreichen werden. Aber gerade darum ist der Mensch unermüdlich bemüht, die Zeit zu dividieren, einzuteilen, in immer kleinere und regelmäßigere Portionen zu zerlegen: er nimmt Luft und Sand, Wasser und Licht, alle Elemente zu Hilfe, um dieses Ziel immer vollkommener zu erreichen. Seine stärkste Sehnsucht, sein ewiger Traum ist: Chronologie in die Welt zu bringen. Haben wir die Zeit nämlich einmal schematisch und überschaubar, meßbar und berechenbar gemacht, so entsteht in uns die Illusion, daß wir sie beherrschen, daß sie uns gehört. Schon der Wilde hat dafür seine rohen einfachen Methoden. Dem antiken Menschen, der erdiger und weniger vergrübelt war als der christliche, genügte der Schatten der Sonne, aber schon das Mittelalter erlebte die Erfindung der Uhr, und wir Heutigen, in unserer nie schweigenden Lebensangst und faustischen Unrast, haben Apparate, die den vierhunderttausendsten Teil einer Sekunde notieren. Und ebenso verhält es sich, wenn wir das Zeitmikroskop mit dem Zeitteleskop vertauschen und auf die weite Geschichte unseres Geschlechts blicken: auch hier genügt uns nicht mehr die naive und sinnbildliche Einteilung der Alten in goldene, silberne, eiserne Zeitalter, sondern wir begehren Genaueres, Schärferes, Umfassenderes. Es ist natürlich leicht, gegen alle Arten von Periodisierungen zu polemisieren und etwa zu sagen: es ist alles ein einziger großer Fluß, in langen Räumen sich vorbereitend, in langen Räumen sich auswirkend, unbegrenzbar nach beiden Richtungen wie jeder andere Fluß: man könnte ebensogut den Ozean in einzelne Abschnitte zerlegen. Aber tun wir dies nicht in der Tat sogar mit dem Ozean, indem wir Meridiane und Parallelkreise ziehen? Immer wieder wird uns versichert, es gebe überall in Natur und Leben nur schrittweise Übergänge, Grade und Differentiale. Aber wir hören diese subtilen Einwände, geben ihnen recht und glauben sie nicht. Denn es gibt auf dem Grunde unseres Denkens ein Wissen, das positiver und ursprünglicher ist als alle wissenschaftlichen Erkenntnisse. Dieses angeborene gesunde und gradlinige Wissen, das dem gemeinen Mann ebenso eigen ist wie dem echten Gelehrten, schiebt derlei posthume Weisheiten von sich und beharrt auf der Forderung, daß jeder Verlauf seinen Anfang und sein Ende, seine Ouvertüre und sein Finale haben müsse. Blicken wir auf das Leben des Individuums, das sich leichter überschauen läßt als der Werdegang der Gesamtheit, so bemerken wir, daß hier die verschwimmenden Übergänge keineswegs die Regel sind, daß vielmehr der Eintritt in ein neues Lebensalter sich meist abrupt, unvermittelt, explosiv vollzieht. Plötzlich, »über Nacht« sagt das Volk, ist die Pubertät, ist die Senilität da. »Vorbereitet« ist sie natürlich stets, aber in die Wirklichkeit tritt sie meist in der Form eines überraschenden physiologischen Rucks; oft ist die Auslösung auch irgendein tiefgehendes seelisches Erlebnis. Wir pflegen dann zu sagen: »Du bist ja auf einmal ein Mann geworden«, und (dies meist nur hinter dem Rücken): »Er ist ja auf einmal ein Greis geworden«. In seinem sehr bedeutenden Werk »Der Ablauf des Lebens« sagt Wilhelm Fließ: »Plötzlichkeit eignet allen Lebensvorgängen. Sie ist fundamental ... Das Kind ist plötzlich im Besitz einer neuen Artikulation ... Ebenso sicher ist es, daß das Kind plötzlich die ersten Schritte macht.« Geheimnisvoll wächst der Mensch im Mutterleibe, ist Wurm, Fisch, Lurch, Säugetier, und doch hat ein jeder seinen bestimmten Geburtstag, ja seine Geburtsminute. Und so kann man denn auch von der Geschichte unseres ganzen Geschlechts sagen: es gibt bestimmte Zeitpunkte, wo eine neue Art Mensch geboren wird, nicht Tage, aber vielleicht Jahre oder doch Jahrzehnte.
Aber indem wir diese Analogie etwas näher ins Auge fassen, bemerken wir sogleich einen Punkt, wo sich das Bedürfnis nach einer Korrektur geltend macht. Wann »beginnt« ein Menschenleben? Offenbar nicht im Augenblick der Geburt, sondern im Augenblick der Konzeption. Die verblüffenden und höchst aufschlußreichen Untersuchungen, die sich in den letzten Jahrzehnten, wiederum im Anschluß an Fließ, mit dem geheimnisvollen Phänomen der Periodizität beschäftigt haben, lassen denn auch ihre Berechnungen immer etwa neun Monate vor der Geburt einsetzen, dasselbe tun die Astrologen bei der Bestimmung der Nativität. Der Anfang eines neuen Geschichtsabschnitts ist also in jenen Zeitpunkt zu setzen, wo der neue Mensch konzipiert wird: das Wort in seiner doppelten Bedeutung genommen. Eine neue Ära beginnt nicht, wenn ein großer Krieg anhebt oder aufhört, eine starke politische Umwälzung stattfindet, eine einschneidende territoriale Veränderung sich durchsetzt, sondern in dem Moment, wo eine neue Varietät der Spezies Mensch auf den Plan tritt. Denn in der Geschichte zählen nur die inneren Erlebnisse der Menschheit. Aber der unmittelbare Anstoß wird doch sehr oft von irgendeinem erschütternden äußeren Ereignis, einer allgemeinen Katastrophe ausgehen: einer großen Epidemie, einer tiefgreifenden Umlagerung der sozialen Schichtung, weit ausgebreiteten Invasionen, plötzlichen wirtschaftlichen Umwertungen. Den Anfang macht also meistens irgendein großes Trauma, ein Choc: zum Beispiel die Dorische Wanderung, die Völkerwanderung, die Französische Revolution, der Dreißigjährige Krieg, der Weltkrieg. Diesem folgt eine traumatische Neurose, die der eigentliche Brutherd des Neuen ist: durch sie wird alles umgeworfelt, »zerrüttet«, in einen labilen, anarchischen, chaotischen Zustand gebracht, die Vorstellungsmassen geraten in Fluß, werden sozusagen mobilisiert. Erst später bildet sich das, was die Psychiater den »psychomotorischen Überbau« nennen: jenes System von zerebralen Regulierungen, Hemmungen, Sicherungen, das einen »normalen« Ablauf der seelischen Funktionen garantiert: in diese Gruppe von Zeitaltern gehören alle »Klassizismen«.
Auf Grund dieses Schemas wagen wir nun die Behauptung aufzustellen: das Konzeptionsjahr des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr der »schwarzen Pest«.
Die Neuzeit fängt also nicht dort an, wo sie in der Schule anfängt. Die dunkle Empfindung, daß die hergebrachten Bestimmungen über den Beginn der Neuzeit den wahren Sachverhalt nur sehr summarisch und oberflächlich zum Ausdruck bringen, ist übrigens immer vorhanden gewesen. Die meisten Historiker helfen sich mit einer »Übergangszeit«, worunter sie ungefähr das fünfzehnte Jahrhundert verstehen. Breysig führt den Begriff des »späten Mittelalters« ein und bestimmt dafür die Zeit »von gegen 1300 bis gegen 1500«. Chamberlain geht in seinen geistvollen, aber etwas einseitig orientierten »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« noch weiter zurück, indem er »das Erwachen der Germanen zu ihrer welthistorischen Bestimmung als Begründer einer durchaus neuen Zivilisation und einer durchaus neuen Kultur« den »Angelpunkt der Geschichte Europas« nennt und das Jahr 1200 als den »mittleren Augenblick dieses Erwachens« bezeichnet. Scherer hält zwar an einem »ausgehenden Mittelalter« fest, beginnt aber das Kapitel über diese Periode mit den Worten: »Die Geißelfahrten und die Gründung der ersten deutschen Universität stehen bedeutungsvoll am Eingang einer dreihundertjährigen Epoche, die bis zum Westfälischen Frieden reicht.« Es ist jedoch nur natürlich, daß die naheliegende Erkenntnis eines früheren Beginns der Neuzeit den »Laien« viel rascher aufgegangen ist als den Fachleuten. Schon Vasari setzte die Rinascita an den Anfang des Trecento. Gustav Freytag sagt in seinen »Bildern aus der deutschen Vergangenheit«, die bis zum heutigen Tage noch immer die farbigste, einprägsamste und erlebteste Kulturgeschichte des deutschen Volkes sind: »Sieht man näher zu, so sind stillwirkende Kräfte lange geschäftig gewesen, diese großen Ereignisse hervorzubringen, ... welche nicht nur den Deutschen, sondern allen Völkern der Erde ihr Schicksal bestimmt haben. ... Von solchem Gesichtspunkt wird uns die Zeit zwischen den Hohenstaufen und dem Dreißigjährigen Kriege, die vierhundertjährige Periode zwischen 1254 und 1648 ein einheitlicher geschlossener Zeitraum der deutschen Geschichte, welcher sich von der Vorzeit und Folge stark abhebt.« Und Fritz Mauthner gelangt in seinem Werk über den »Atheismus und seine Geschichte im Abendland« zu folgender Formel: »Versteht man unter Mittelalter alle die Jahrhunderte, in denen kirchliche Begriffe nachwirkten, ... so dauerte das Mittelalter sicherlich bis zum Westfälischen Frieden. ... Versteht man jedoch unter Mittelalter nur die Jahrhunderte einer unwidersprochenen Theokratie, ... dann muß man dieses Mittelalter lange vor dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aufhören lassen, etwa schon zweihundert Jahre früher.«
Also: mit dem aufgehenden sechzehnten Jahrhundert ist die Neuzeit in die Welt getreten; aber im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ist sie entstanden, und zwar durch Krankheit. Daß nämlich Krankheit etwas Produktives ist, diese scheinbar paradoxe Erklärung müssen wir an die Spitze unserer Untersuchungen stellen.
Jede Krankheit ist eine Betriebsstörung im Organismus. Aber nur eine sehr äußerliche Betrachtungsweise wird den Begriff der Betriebsstörung ohne weiteres unter den der Schädigung subsumieren. Auch in der Geschichte des politischen und sozialen Lebens, der Kunst, der Wissenschaft, des Glaubens sehen wir ja, daß Erschütterungen des bisherigen Gleichgewichts durchaus nicht immer unter die verderblichen Erscheinungen gerechnet werden dürfen; vielmehr ist es klar, daß jede fruchtbare Neuerung, jede wohltätige Neubildung sich nur auf dem Wege eines »Umsturzes« zu vollziehen vermag, einer Disgregation der Teile und Verschiebung des bisherigen Kräfteparallelogramms. Ein solcher Zustand muß, vom konservativen Standpunkt betrachtet, stets als krankhaft erscheinen.
Die Ahnung, daß das Phänomen der Krankheit mit dem Geheimnis des Werdens eng verknüpft sei, war in der Menschheit zu allen Zeiten weit verbreitet. Der Volksinstinkt hat auf den Kranken, zumal auf den Geisteskranken, immer mit einer gewissen Scheu geblickt, die aus Furcht und Ehrfurcht gemischt war. Die Römer nannten die Epilepsie morbus sacer, morbus divinus; die Pythia, der die Entscheidung der wichtigsten Fragen ganz Griechenlands und die Erkundung der Zukunft anvertraut war, müßte nach allem, was wir über sie wissen, in der heutigen Terminologie als hysterisches Medium bezeichnet werden. Die hohe Wertschätzung, die dem Leiden in so vielen Religionen eingeräumt wird, hat ihre Wurzel in der Überzeugung, daß es die Lebensfunktionen nicht etwa herabsetzt, sondern steigert und zu einem Wissen führt, das dem Gesunden verschlossen bleibt. Die Askese ist sowohl in ihrer orientalischen wie in ihrer abendländischen Form ein Versuch, durch alle erdenklichen »schwächenden« Mittel: Unterernährung, Schlafentziehung, Flagellation, Einsamkeit, sexuelle Abstinenz den Organismus künstlich morbid zu machen und dadurch in einen höheren Zustand zu transponieren. In der Legendenschilderung sind fast alle heiligen oder sonst von Gott ausgezeichneten Menschen mit körperlichen »Minderwertigkeiten« behaftet. Es ist nur die Kehrseite dieser Auffassung, daß frühere Jahrhunderte in den Hysterikerinnen Hexen erblickten, Erwählte des großen Widersachers Gottes, dem der damalige Glaube eine fast ebenso große Macht zuschrieb wie dem Schöpfer. Kurz: überall begegnen wir der mehr oder minder deutlichen Empfindung, daß der Kranke sich in einer gesegneteren, erleuchteteren, lebensträchtigeren Verfassung befinde, daß er eine höhere Lebensform darstelle als der Gesunde.
Zunächst kann es ja selbst dem philiströsesten Denken kaum zweifelhaft sein, daß jeder Mensch durch Krankheitszustände lernt: der kranke Organismus ist unruhiger und darum lernbegieriger; empfindlicher und darum lernfähiger; ungarantierter und darum wachsamer, scharfsinniger, hellhöriger; in dauernder Gewohnheit und Nachbarschaft der Gefahr lebend und darum kühner, unbedenklicher, unternehmender; näher der Schwelle der jenseitigen Seelenzustände und darum unkörperlicher, transzendenter, vergeistigter. Wie denn überhaupt jeder Fortschritt in der Richtung der Vergeistigung im Grunde ein Krankheitsphänomen darstellt: das letzte Mittel zur Selbsterhaltung, das die Natur erst zur Verfügung stellt, wenn die Physis nicht mehr ausreicht. Alles Höhere ist naturgemäß immer das Kränkere. Schon jede sehr hohe Kompliziertheit der Organisation hat fortwährende Gleichgewichtsstörungen zur Voraussetzung, zumindest die dauernde Gefahr solcher Störungen, also Unsicherheit, Unausgeglichenheit, Labilität. Am »gesündesten« ist zweifellos die Amöbe.
Überall, wo sich Neues bildet, ist Schwäche, Krankheit, »Dekadenz«. Alles, was neue Keime entwickelt, befindet sich in einem scheinbaren Zustand reduzierten Lebens: die schwangere Frau, das zahnende Kind, der mausernde Kanarienvogel. Im Frühling hat die ganze Natur etwas Neurasthenisches. Der Pithecanthropus war sicher ein Dekadent. Auch die bekannte Krankheit, die als »Nervosität« beschrieben wird, ist nichts anderes als eine erhöhte Perzeptibilität für Reize, eine gesteigerte Schnelligkeit der Reaktion, eine reichere und kühnere Assoziationsfähigkeit, mit einem Wort: Geist. Je höher ein Organismus entwickelt ist, desto nervöser ist er. Der Weiße ist nervöser als der Neger, der Städter nervöser als der Bauer, der moderne Mensch nervöser als der mittelalterliche, der Dichter nervöser als der Philister. In der Tierwelt läßt sich dasselbe Verhältnis beobachten: ein Jagdhund ist nervöser als ein Fleischerhund und dieser ist wiederum nervöser als ein Ochse. Die Hysterischen besitzen eine solche Kraft des Geistes, daß sie damit sogar die Materie kommandieren können: sie vermögen an ihrem Körper willkürlich Geschwülste, Blutungen, Brandwunden, ja selbst Scheintod hervorzurufen, und es ist nachgewiesen, daß sie oft hellsehend sind. Im verkleinerten Format wiederholt sich dies beim Neurasthenischen: er ist scharfsehend. Er hat einfach schärfere, beweglichere, regsamere, neugierigere, weniger verschlafene Sinne. Alle landläufigen Definitionen der Neurasthenie sind nichts anderes als gehässige Umschreibungen für die physiologischen Zustände des begabten Menschen.
Der Rekonvaleszent befindet sich in einer eigentümlich leichten, beschwingten, befeuerten Verfassung, gegen die die völlige Genesung einen Rückschritt bedeutet. Das kommt daher, daß jede Krankheit einen heroischen Existenzkampf darstellt, eine letzte verzweifelte Kraftanstrengung, mit der der bedrohte Organismus auf fremde Insulte und Invasionen antwortet. Der Körper ist in einem kriegerischen Ausnahmezustand, in einem Stadium allgemeiner Erhebung, wo die einzelnen Zellen Energieleistungen, Vitalitätssteigerungen, Regulierungen, Reserven, Reaktionen einsetzen, die man ihnen nie zugetraut hätte.
Das Problem vom Wert der Krankheit hat denn auch die Aufmerksamkeit einiger der intensivsten modernen Denker erregt. Hebbel notiert in seinen »Tagebüchern«: »Die kranken Zustände sind übrigens dem wahren (dauernd-ewigen) näher, wie die sogenannten gesunden.« Novalis erklärt, die Krankheiten seien wahrscheinlich »der interessanteste Reiz und Stoff unseres Nachdenkens und unserer Tätigkeit«, wir besäßen nur noch nicht die Kunst, sie zu benützen: »Könnte Krankheit nicht ein Mittel höherer Synthesis sein?« Und Nietzsche, der leidenschaftliche Bekämpfer der modernen Dekadenz, hat dennoch an mehreren Stellen seiner Schriften die hohe Bedeutung hervorgehoben, die die Krankheit für die Selbstzucht des Geistes besitzt, und gelangt in der Vorrede zur »Fröhlichen Wissenschaft« zu dem Resultat: »Was die Krankheit angeht, würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist?«
In seiner »Studie über Minderwertigkeit von Organen« hat Alfred Adler diese Frage zum erstenmal in streng wissenschaftlicher Form behandelt. Als die kleine Schrift im Jahr 1907 erschien, wurde sie fast gar nicht beachtet, und auch später hat sich ihr Verfasser in weiteren Kreisen mehr durch seine psychoanalytischen Untersuchungen bekannt gemacht, die aber nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, eine Bekämpfung, sondern viel eher eine Ergänzung der Freudschen Lehre bedeuten, wie denn überhaupt die Menschen gut täten, statt dilettantischer und unfruchtbarer Polemik den bekannten Ausspruch Goethes über sein Verhältnis zu Schiller zu beherzigen und sich zu freuen, »daß überall ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können«.
Adler geht von der experimentellen Feststellung aus, daß im menschlichen Organismus alles minderwertige Material die Tendenz hat, »überwertig« zu werden, nämlich auf die relativ größeren Lebensreize, denen es ausgesetzt ist, mit einer verstärkten Produktion zu reagieren; es ist daher nicht selten der Fall, daß wir gerade die loci minoris resistentiae zu abnormer Leistungsfähigkeit gesteigert finden. Die Ursache liegt in dem Zwange einer ständigen Übung und in der erhöhten Anpassungsfähigkeit, die die minderwertigen Organe nicht selten auszeichnet. Die Folge einer hereditären Organminderwertigkeit kann in motorischer Insuffizienz bestehen, in mangelhafter Produktion der zugehörigen Drüsensekrete, in dürftigerer Ausbildung der Reflexaktionen; aber ebensogut im Gegenteil: in motorischer Oberleistung, in Hypersekretion und in Steigerung der Reflexe.
Dies ist in Kürze die Entdeckung Alfred Adlers. Wenn wir sie ein wenig überdenken und versuchen, aus ihr einige einfache Folgerungen zu ziehen, so werden wir zu den überraschendsten Resultaten gelangen. Beginnen wir mit der anorganischen Natur. Dort finden wir den einfachsten und elementarsten Ausdruck des ganzen Sachverhalts in dem Gesetz von der Aktion und Reaktion. Versetze ich zum Beispiel einer Billardkugel mit Hilfe einer zweiten einen Stoß, so verhält sie sich keineswegs passiv, sondern sie stößt zurück, und zwar mit derselben Kraft, mit der sie selbst gestoßen wurde. Der Reiz des Stoßes, der »Choc«, hat also in ihr selbst produktive Energien freigemacht. Eine Feder, die nicht gespannt wird, verliert allmählich ihre Elastizität; ein Hufeisenmagnet steigert seinen Magnetismus, je länger er vom Anker belastet wird; Kautschuk zerfällt, wenn er nicht gedehnt wird: er »atrophiert« infolge Mangels an Reizen. Demselben Prinzip unterliegt natürlich auch die organische Materie. Ein Muskel, der nicht benutzt wird, degeneriert allmählich: eine Erscheinung, die sich bei jedem schweren Knochenbruch beobachten läßt und unter der Bezeichnung »Inaktivitätsatrophie« bekannt ist. Umgekehrt hypertrophiert ein Organ, wenn es besonders stark in Anspruch genommen wird. Ein Schmied, ein Lastträger, ein Ringer deklariert seine Beschäftigung auf den ersten Blick durch seine abnorm entwickelte Armmuskulatur. Jeder Reiz hat also die Eigenschaft, trophisch zu wirken; und je stärker und regelmäßiger ein Organ gereizt wird, desto größer wird seine Leistungsfähigkeit sein.
Hieraus ergibt sich aber eben die bedeutsame Folgerung, daß ein erkranktes Organ unter Umständen weit lebensfähiger, leistungsfähiger, entwicklungsfähiger ist als ein gesundes, weil ungleich mehr Reize darauf eindringen: die Krankheit spielt hier ganz dieselbe Rolle, die beim normalen Organismus einem außergewöhnlichen Training zukommt. Und dies gilt nicht bloß von einzelnen Organen, sondern auch vom ganzen Organismus. Zum Beispiel findet die vielbestaunte Tatsache, daß alle Arten von Künstlern, besonders Schauspieler, so lange jugendlich bleiben und in vielen Fällen ein sehr hohes Alter erreichen, hier ihre Erklärung: sie leben in einem fast permanenten Zustand abnormer Gereiztheit und Erregung. Der Durchschnittsmensch hingegen, obgleich er zumeist viel rationeller und »solider« lebt, erliegt viel leichter dem natürlichen Involutionsprozeß und ist, weil er ein viel starreres, stabileres System darstellt, der allgemeinen und lokalen Verkalkung weit stärker ausgesetzt. Es herrscht in seinem Kräftehaushalt kein genügend reger Betrieb, es fehlt an fruchtbaren Reibungen, Widerständen, Polaritäten, das Leben des Zellenstaates hat nicht den richtigen Tonus. So daß man fast den paradoxen Satz aufstellen könnte: Gesundheit ist eine Stoffwechselerkrankung.
Unsere Theorie erfährt nun aber auch auf dem Gebiet der untermenschlichen Welt, das viel exakteren Beobachtungen zugänglich ist, eine Reihe von überraschenden Bestätigungen. Ich will nur ein paar Tatsachen anführen, auf die ich ganz zufällig gestoßen bin; ihre Zahl ließe sich durch systematisches Suchen sicher bedeutend vermehren. Von der Eidechse, die bekanntlich die Fähigkeit besitzt, den abgebrochenen Schwanz wieder nachwachsen zu lassen, wird berichtet, daß das regenerierte Schwanzstück sehr oft dicker und kräftiger ist als das alte. Eine in unseren Gegenden lebende Süßwasserpolypenart hat die Eigentümlichkeit, daß sie, wenn man ihr den Kopf abschneidet, sogleich zwei neue Köpfe bildet, und führt deshalb den Namen Hydra: man sieht, wie das ja so oft bei »Sagen« der Fall ist, daß die Geschichte von der lernäischen Hydra einen tiefen wissenschaftlichen Sinn hat. Bei einer Gattung der Strudelwürmer, die ebenfalls in unseren Bächen vorkommt, ist es sogar möglich, durch Einschnitte mehrere Kopf- und Schwanzenden zu erzeugen. Daß man Regenwürmer und andere niedere Tiere in zahlreiche Stücke zerschneiden kann, die sich wieder zu vollständigen neuen Exemplaren ergänzen, ist allbekannt: diese Eigenschaft wird sogar in den Dienst der Technik gestellt, indem sie zur künstlichen Vermehrung des Badeschwamms dient. In diesen Fällen führt also die Verwundung zur Entstehung neuer Individuen, wozu sonst nur die sexuelle Fortpflanzung imstande ist. An manchen Farnen fördert die Infektion mit gewissen parasitischen Pilzen eigentümliche Sprosse zutage, zum Beispiel am Saumfarn den sogenannten »Hexenbesen«. Ein anderer parasitischer Pilz bewirkt, daß jene Blüten der Lichtnelke, die durch Verkümmerung der Staubfäden eingeschlechtig geworden sind, wieder zweigeschlechtig werden, indem die defekten Staubblätter durch die Infektion wieder zur Ausbildung gelangen. Bei Bäumen können überhaupt alle Arten von Verletzungen, wie Wurmfraß, Windbruch, Absägen einzelner Glieder, Knospenbildung zur Folge haben. Die Entstehung der Galläpfel wird durch die vergiftende Tätigkeit gewisser Insekten: Fliegen, Mücken, Wespen hervorgerufen; diese Produkte als krankhafte Mißbildungen aufzufassen, ist zumindest anfechtbar, da sie morphologisch eine große Ähnlichkeit mit Früchten besitzen und das allgemeine Gedeihen des Baumes nicht hindern. Aber es gibt sogar Milben, die an manchen Baldrianarten gefüllte Blüten erzeugen. Von hier aus wird uns die merkwürdige Tatsache verständlich, daß Grétry, der Schöpfer der komischen Oper, von dem Tage an, wo ihm ein schwerer Balken auf den Kopf gefallen war, zu komponieren anfing, und zwar so fruchtbar, daß er über fünfzig Spielopern schrieb, und daß Mabillon, der Begründer der wissenschaftlichen Urkundenforschung, durch eine Kopfwunde, die er erlitt, zum bedeutenden Gelehrten wurde.
Daß sich aber selbst in den elementarsten Bausteinen alles Lebens ähnliche Vorgänge abspielen, ergibt sich in verblüffender Weise aus Ehrlichs Seitenkettentheorie. Bekanntlich nimmt Ehrlich an, daß in der Zelle sogenannte Seitenketten existieren, deren normale Funktion darin besteht, die Elemente der Nahrung aus dem Blutkreislauf aufzunehmen und in das Innere der Zelle zu leiten. Diese Seitenketten bezeichnet er als »Empfänger«, und nach dieser Auffassung besteht der Vorgang der Infektion darin, daß die Gifte eine größere Fähigkeit besitzen, sich mit diesen Empfängern zu verbinden; hierdurch versperren sie den Nahrungsstoffen den Weg und führen zum Tod des Individuums, wenn es der Zelle nicht gelingt, diese Verbindungen der Seitenkette mit dem Giftmolekül zu entfernen und neue Empfänger zu bilden. Es stellt sich nun aber die Eigentümlichkeit heraus, daß die Zelle in diesem Falle nicht nur die früheren Empfänger ersetzt, sondern einen ganz bedeutenden Überschuß an Seitenketten erzeugt.
Die innige Verbindung, in der die Verletzung mit der Neubildung steht, und die Tatsache, daß sie das einzige physiologische Agens ist, das die Rolle der Fortpflanzung zu übernehmen vermag, legt übrigens die Frage nahe, ob die Zweigeschlechtigkeit, die Sexualität nicht ein krankhaftes Degenerationsphänomen ist, das irgendwann einmal in der Erdgeschichte an den Organismen hervorgetreten ist. Der Umstand, daß es dem amerikanischen Chemiker Jacques Loeb gelungen ist, Seeigeleier durch eine konzentrierte Salzwasserlösung zu befruchten, laut zumindest die theoretische Möglichkeit zu, daß es einmal Formen der Fortpflanzung gegeben hat oder auf anderen Weltkörpern noch gibt, die auf das Hilfsmittel der Sexualität verzichten.
Der »Reiz« ist aber nicht der einzige Grund für die höhere Entwicklung eines minderwertigen Organs, sondern dieses wird überhaupt mehr beachtet, bewacht, mit größter Aufmerksamkeit behandelt. Es ist sozusagen das gerade wegen seiner Zurückgebliebenheit bevorzugte Mutterkind des Organismus. Daher kommt es, daß beim Menschen die natürlichen Anlagen durchaus nicht immer mit seiner späteren Entfaltung übereinstimmen; vielmehr ist es sehr häufig, daß sich aus einer ursprünglichen Unvollkommenheit das Gegenteil entwickelt: wir haben es auch hier mit einer einfachen Reaktionserscheinung zu tun. Schon Adler hat daraufhingewiesen, daß Demosthenes von Geburt Stotterer war; und wir finden auch sonst, daß ein physiologischer Defekt oft den Ansporn zu späteren außerordentlichen Leistungen bildet. Lionardo und Holbein, Menzel und Lenbach waren Linkshänder. Die großen Schauspieler des Burgtheaters aus der Zeit Laubes, bis heute unerreichte Muster einer gefüllten, persönlichen, suggestiven Menschendarstellung, hatten fast alle einen Sprechfehler: Sonnenthal knödelte, Baumeister mümmelte, Lewinsky nuschelte; während sich umgekehrt beobachten läßt, daß Schauspieler mit sogenannten »glänzenden Mitteln« es fast niemals zu Schöpfungen von ungewöhnlichem Format und Kaliber bringen. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht auch die merkwürdige, aber ganz unbestreitbare Erfahrungstatsache, daß großes schauspielerisches Talent sich am überzeugendsten in der Verkörperung der seelischen Ergänzung zu äußern vermag: ist ein begabter Darsteller im Leben schüchtern und unbeholfen, so wird er am besten elegante und sichere Salonlöwen spielen; ist er als Privatmensch wortkarg und mürrisch, so wird er auf der Bühne sprudelnde Dialektik und glänzende Laune entfalten; ist er im Alltag eine weiche, energielose Natur, so werden ihm stählerne, herrschsüchtige, tatkräftige Charaktere am meisten liegen. Charlotte Wolter, die stärkste Heroine der letzten fünfzig Jahre, war kaum mittelgroß, ebenso Matkowsky, einer der glaubhaftesten Darsteller überlebensgroßer Figuren: wenn sie auf der Bühne standen, bemerkte das freilich kein Mensch. Und auch bei den Helden der Wirklichkeit zeigt sich bisweilen dasselbe Verhältnis. Die beiden gewaltigsten Krieger der frühen mitteleuropäischen Geschichte, Attila und Karl der Große, waren von gedrungener, untersetzter Gestalt; und die beiden größten Schlachtenlenker der neuesten Zeit, Friedrich der Große und Napoleon, waren ebenfalls klein und unansehnlich gebaut. Eine ungeheure seelische Energie, ein übermächtiger Wille hatte hier aus ungünstigen körperlichen Vorbedingungen eine Kontrastwirkung geschaffen, ja vielleicht sich an ihnen erst entzündet. Wir hören auch von den berühmten Amoureusen, der Laïs, der Ninon, der Phryne, der Pompadour und anderen, daß sie nicht eigentlich schön waren, sondern ein »gewisses Etwas« besaßen, das jedermann bezauberte. Dieses gewisse Etwas bestand in ihrem Charme, ihrer Liebenswürdigkeit, ihrer schillernden Geistigkeit, kurz in einer inneren Schönheit, die sie aus der mangelnden äußeren Schönheit entwickelten. Dagegen ist die typische Kritik, die man über wirklich vollkommene Beautés zu hören pflegt, daß sie fade seien und nicht dauernd zu fesseln verstünden. Es drangen eben auf sie zu wenig äußere Reize ein: alle Welt huldigte ihnen zu widerstandslos und blindlings, und so konnten sie selber nicht genügend Reize produzieren. Man braucht sich ferner nur daran zu erinnern, daß der größte Souverän im Reiche der Schönheit, Michelangelo, abstoßend häßlich war, daß Lord Byron, der glühende Anbeter und unübertroffene Meister der vollkommenen Form, von Geburt hinkte, daß Lichtenberg, der bündigste, hellste, natürlichste Stilist der Deutschen, dessen Sätze wie Kerzen sind, nicht nur so leuchtend, sondern auch ebenso gerade gewachsen, und Kant, das Weltwunder an folgerichtigem, senkrechtem, geradlinigem Denken, beide an Rückenmarksverkrümmung litten, und daß Schubert, der eine Welt von Poesie tönend gemacht hat, ein dicker kurzbeiniger Proletarier war, den die Mädchen gar nicht mochten. Und welche tiefe Symbolik liegt darin, daß der größte Musiker der Neuzeit taub war! Schon die Griechen haben diese Zusammenhänge geahnt, als sie sich den Seher stets blind dachten; auch Homer, dieses allumspannende, sonnentrunkene und farbenklare Weltauge, ist blind. Und Achilles, der Unüberwindliche, Unverletzbare, hat seine Ferse, die auf den tödlichen Pfeil wartet. Man könnte sagen: hier wollte der dichtende Volksgeist ausdrücken, daß auch dem siegreichsten Glück immer ein geheimer Gifttropfen beigemischt ist. Aber wie, wenn es am Ende umgekehrt gemeint wäre: nicht, daß zu jedem Achill eine Ferse gehört, wohl aber zu jeder Ferse ein Achill; daß aus der verwundbaren Stelle, dem Bewußtsein der Verwundbarkeit und dem zähen, heroischen Kampf gegen sie der Held geboren wird? Das wäre weniger logisch gedacht, aber vielleicht gerade darum wahrer.
Aus alledem ergibt sich aber auch eine völlig neue Stellung zum Darwinismus. Dieser gründet sich bekanntlich auf die zwei Prinzipien der Vererbung und der Anpassung. Was die Heredität anlangt, so läßt sich beobachten, daß gerade Minderwertigkeiten sich besonders leicht vererben; und die Variabilität ist ganz zweifellos eine krankhafte Eigenschaft. Schon der Biologe Eimer hat in seinen Studien über die Entstehung neuer Eigenschaften (an der Eidechse) hervorgehoben, daß diese zunächst immer eine Krankheit bedeuten. Und der Botaniker de Vries, der Schöpfer der »Mutationstheorie«, betont, daß die neuen Arten gewöhnlich schwächer sind als die ursprünglichen; sie sind oft auffallend klein, besonders empfindlich für gewisse Bodenkrankheiten, kurzgrifflig, ohne lebhafte Färbung, die Blätter wellig oder brüchig, der Fruchtknoten wächst nicht aus, jede rauhe Behandlung kann die Blüten zum Abbrechen bringen. Dies kann nicht im geringsten überraschen, da erstens jede neue Eigenschaft die bisherige Ökonomie des Organismus erschüttert und einen ungewohnten, unkonsolidierten, ungarantierten Zustand erzeugt und zweitens jede Veränderung eben schon von vornherein Dekadenz zur Voraussetzung hat. Die Sinnesorgane der Lebewesen sind ja nichts anderes als ebenso viele Formen, mit denen sie auf die Reize der Außenwelt antworten. Erhöhte Reizbarkeit, etwa das, was die Psychiater »reizbare Schwäche« nennen, ist also die Ursache für die Entstehung neuer Artmerkmale. In dem Augenblick, wo sich an irgendeiner Stelle der belebten Materie eine krankhafte, bisher noch nicht dagewesene Empfindlichkeit für Licht entwickelte, enstand der erste »Pigmentfleck« und damit der Anfang des Sehvermögens. Je dekadenter die Hautoberfläche eines Organismus ist, einen desto feineren Tastsinn und Temperatursinn wird sie entwickeln. Und wenn wir schon genug reizbar für elektrische Schwingungen wären, so würden wir bereits ein Organ besitzen, das ebenso aufnahmefähig wäre wie ein Marconiapparat. Nur ein ganz degenerierter Affe kann auf die Idee gekommen sein, aufrecht zu schreiten und nicht mehr bequem auf allen vieren zu gehen; nur ganz »minderwertige« Affenmenschen, die offenbar nicht mehr genug Kraft und Kühnheit besaßen, um sich durch ein System starker, drohender Gebärden zu verständigen, können zu dem Surrogat der Lautsprache gegriffen haben. Und überhaupt alles, wodurch der Mensch sich von seinen Tierahnen unterscheidet, verdankt er dem Umstand, daß er das Stiefkind der Natur und mit sehr wenig leistungsfähigen physischen Waffen ausgerüstet ist; und so schuf er sich die Waffe des Verstandes, der sich an die Vergangenheit zurückerinnert und die Zukunft vorauserrechnet; er erfand die Wissenschaft, die lichte Ordnung ins Dasein bringt, die Kunst, die ihn über die Häßlichkeit und Feindseligkeit der Realität hinwegtröstet, die Philosophie, die seinen Leiden und Fehlschlägen einen Sinn gibt: lauter Dekadenzschöpfungen!
Die »normalen« Organismen und deren Organe reagieren sozusagen philiströser, konservativer auf die Reize der Außenwelt: sie geben ihnen konventionelle Antworten; die Empfangsapparate der neuen Varietät funktionieren origineller, revolutionärer, »charakterloser«, anpassungsfähiger: sie geben infolge ihrer feineren Empfindlichkeit für Reiznuancen individuellere Antworten. Neue Varietäten sind nichts anderes als die unter den bisherigen Bedingungen nicht mehr lebensfähigen alten; im struggle for life siegt nicht der »tüchtigste«, das heißt der stumpfste, roheste, gedankenloseste Organismus, wie jene Philister- und Kaufmannsphilosophie uns glauben machen will, sondern der gefährdetste, labilste, geistigste: nicht das »Überleben des Passendsten« ist das auslesende Prinzip der Entwicklung, sondern das Überleben des Unpassendsten.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß jedoch betont werden, obgleich es sich eigentlich aus der Natur der Sache von selbst ergibt, daß natürlich nicht jeder minderwertige Organismus ein Träger der Evolution ist; viele leiden an einer »echten« Minderwertigkeit, das heißt: sie sind einfach nicht lebensfähig; andere tragen zwar die Möglichkeit einer höheren Organisation in sich, vermögen sie aber nicht zu realisieren, sie sind die Märtyrer der Entwicklung, die Avantgarde, die fällt: der Vormarsch geht über sie hinweg. Abnorme Reizbarkeit kann eben gerade so gut zur Atrophie führen wie zur Hypertrophie. Also: nicht jeder Minderwertige ist eine höhere Lebensform; aber jede höhere Lebensform ist minderwertig.
Die Tragfähigkeit unseres Systems reicht jedoch noch weiter. Wir haben nämlich bisher eine wichtige Folgeerscheinung der Minderwertigkeit noch gar nicht berücksichtigt: die Kompensation. Indem wir nun noch diesen Hilfsbegriff einführen, gelangen wir zu einer Art Physiologie des Genies, des Genies oder wie sonst wir jene merkwürdige Menschenrasse nennen wollen, die sich von ihren Artgenossen dadurch unterscheidet, daß sie schöpferisch ist, daß sie dem Gerücht, von dem die Masse lebt, eine Tatsache gegenüberstellt: nämlich die Tatsache ihres eigenen Ichs, das ein treibender Fruchtboden, ein kochender Lebensherd, eine machtvolle Wirklichkeit ist. Da wir uns in diesem Buche mit dieser Menschenart oft zu beschäftigen haben werden, so wollen wir einige kurze Bemerkungen über diese Frage gleich hier anschließen.
Obgleich seit dem Erscheinen von Lombrosos »Genie und Irrsinn« bereits zwei Menschenalter verflossen sind, so ist doch das große Aufsehen, das dieses Werk erregte, noch in allgemeiner Erinnerung. Es wird darin, sozusagen an der Hand zahlreicher »Spezialaufnahmen«, der Nachweis geführt, daß zwischen der Konstitution des genialen und des wahnsinnigen Menschen eine tiefe Verwandtschaft besteht. In der Tat brauchen wir nur einen Blick auf irgendein Gebiet der Geschichte zu werfen, und sogleich werden uns eine große Anzahl kranker Genies in die Erinnerung treten. Tasso und Poe, Lenau und Hölderlin, Nietzsche und Maupassant, Hugo Wolf und van Gogh wurden irrsinnig; Julius Cäsar und Napoleon, Paulus und Mohammed waren Epileptiker, wahrscheinlich auch Alexander der Große und sein Vater Philipp (denn die Epilepsie scheint in dieser Familie hereditär, gewissermaßen die »Temenidenkrankheit« gewesen zu sein); Rousseau und Schopenhauer, Strindberg und Altenberg litten an Verfolgungswahn. Auch in Fällen, wo man es am allerwenigsten erwarten sollte, kommt bei näherer Betrachtung irgendein Degenerationsmerkmal zum Vorschein. So gilt zum Beispiel Bismarck in der landläufigen Anschauung als das Urbild eines kraftstrotzenden, kerngesunden Landjunkers, als der Typus gesammelter Kraft und seelischer Widerstandsfähigkeit. In Wirklichkeit aber war er ein schwerer Neurastheniker, dessen Leben in fortwährenden Krisen verlief, der ungemein leicht in Weinkrämpfe verfiel und bei dem sich psychische Alterationen regelmäßig in körperliche Krankheitszustände: Migräne, Gesichtsneuralgien, schwere Kopfschmerzen umzusetzen pflegten. Der Anatom Hansemann, der die Gehirne von Helmholtz, Mommsen, Menzel, Bunsen und anderen bedeutenden Künstlern und Forschern untersucht hat, weist daraufhin, daß bei geistig hervorragenden Menschen unverhältnismäßig häufig ein leichter Grad von Hydrocephalus vorhanden ist: »Diesen Zusammenhang denke ich mir ... in der Weise ... daß diese geringe Form des Hydrocephalus in einer erblich entstandenen, besonders starken Gliederung des Gehirns einen leichten Reizzustand setzt, der die zahlreich vorhandenen Assoziationsbahnen zu besonderer Tätigkeit anregt.« Also das Genie: ein Wasserkopf! Ja man wird wohl überhaupt sagen dürfen, daß es kaum jemals einen bedeutenden Menschen gegeben hat, der nicht irgendein Symptom geistiger Erkrankung aufgewiesen hätte. So findet sich zum Beispiel kein einziger Schriftsteller ersten Ranges, an dem sich nicht beobachten ließe, was die Psychiater »Iterativerscheinungen« nennen und als ein Kennzeichen von dementia praecox ansehen, nämlich die gehäufte Wiederholung gewisser Redefloskeln. Man denke z. B. an Plato, Luther, Nietzsche, Carlyle. Im Grunde besteht hierin überhaupt das Wesen des Genies. Vielseitig, wandlungsfähig, akkommodabel und abwechslungsreich ist das Talent; das Genie ist meistens von starrer, monumentaler Einseitigkeit. Rubens hat immer denselben rosigen, fetten, vollbusigen und breithüftigen Weibertypus gemalt; Schopenhauer hat zwölf Bände gesammelter Werke hinterlassen, in denen er vier bis sechs Grundideen wie ein strenger und ziemlich pedantischer Klassenlehrer unablässig repetiert; Dostojewskis Menschen reden fast alle so ziemlich dasselbe. Auf dieser Einseitigkeit und, wenn man will, sogar Borniertheit beruht ja eben die Einmaligkeit und Unnachahmlichkeit des Genies.
Dies alles und noch vieles andere, was wohl jedermann leicht aus eigenem hinzuzufügen vermag, zwingt uns zu der Erkenntnis: es gibt kein gesundes Genie.
Bedenken wir aber hinwiederum, mit welcher konzentrierten Gehirnkraft, stählernen Logizität und souverän ordnenden, sichtenden und klärenden Geistesmacht das Genie die ganze Welt der Erscheinungen meistert, mit welcher virtuosen Sicherheit es allen Dingen ihr rechtes Maß abnimmt und ihren konformen Ausdruck verleiht, mit welcher überlegenen Kunst und Kenntnis es sein eigenes Leben beherrscht und gestaltet, mit welcher leuchtenden Folgerichtigkeit und Architektonik es seine Werke entwirft und ausführt, aufbaut und abstuft, mit welcher Geduld und Sorgfalt, gesammelten Stetigkeit und heiteren Besonnenheit es seinen Weg geht, so wird man zu dem Schluß gedrängt: es gibt kein krankes Genie.
Nun hat ja schon Lombroso betont, daß Genie und Irrsinn zwar sehr ähnliche Geisteszustände seien, aber keineswegs identische, daß es etwas gebe, worin sie sich radikal voneinander unterscheiden. Aber was? Hier gibt uns wiederum Adler einen Fingerzeig, indem er feststellt, daß in unserem Organismus die Tendenz besteht, die Minderwertigkeit eines Organs durch übernormale Entwicklung eines anderen auszugleichen, eine Unterfunktion auf der einen Seite durch eine Überfunktion auf einer anderen Seite zu ersetzen. Es ist bekannt, daß die beiden Gehirnhälften, die beiden Schilddrüsenhälften, die Lungen, die Nieren, die Ovarien, die Hoden die Fähigkeit besitzen, füreinander einzutreten. Sehr oft übernimmt aber auch das Zentralnervensystem den Hauptanteil an dieser Kompensation durch Ausbildung besonderer Nervenbahnen und Assoziationsfasern. So entspricht zum Beispiel dem ursprünglich minderwertigen Sehorgan eine verstärkte visuelle Psyche. »Die Organminderwertigkeit bestimmt ... die Richtung der Begehrungsvorstellungen und leitet ... die Kompensationsvorgänge ein.« Einen besonders bedeutsamen Spezialfall stellt aber der Neurotiker dar. »Das Gefühl des schwachen Punktes beherrscht den Nervösen so sehr, daß er, oft ohne es zu merken, den schützenden Überbau mit Anspannung aller Kräfte bewerkstelligt. Dabei schärft sich seine Empfindlichkeit, er lernt auf Zusammenhänge achten, die anderen noch entgehen, er übertreibt seine Vorsicht, fängt am Beginne einer Tat oder eines Erleidens alle möglichen Folgen vorauszuahnen an, er versucht weiter zu hören, weiter zu sehen, wird kleinlich, unersättlich, sparsam.« »Er wird in der Regel ein sorgfältig abgezirkeltes Benehmen, Genauigkeit, Pedanterie an den Tag legen ... um die Schwierigkeiten des Lebens nicht zu vermehren.«
Wir haben es auch hier wiederum mit einem großen allgemeinen Weltgesetz zu tun, das im Fallen eines Steines oder in der Polarität eines galvanischen Elements ebenso wirksam ist wie in den höchsten moralischen Phänomenen. Nachtigall und Grasmücke sind herrliche Sänger, aber sehr einfach gekleidet; Pfau und Paradiesvogel haben ein prachtvolles Kostüm, aber häßliche Stimmen. Tropisches Klima erzeugt verschwenderische Fülle der Vegetation, aber wirkt erschlaffend auf den Charakter; Rauheit, Kargheit und Feindseligkeit der Natur stählt die Energie und schärft den Verstand. Gesteigerte Flüssigkeitszufuhr in den Kreislauforganen bewirkt Vergrößerung des Herzens; hohe Temperatur hat Vermehrung der Wasserabgabe zur Folge; Infektion ruft Temperaturerhöhung und heilkräftiges Fieber hervor. Heilige erkaufen die höhere Stufe ihrer Vollendung mit Weltentsagung; Götterlieblinge führen ein kurzes Leben. Hamlet bezahlt sein Wissen mit Tatlosigkeit, Othello sein Heldentum mit Unwissenheit. Immer und überall ist die Natur bestrebt, die Waage ins Gleichgewicht zu bringen und jede Gunst mit einem Mangel, aber auch jeden Nachteil mit einem Vorzug auszutarieren.
Machen wir nun die Anwendung auf das Problem der Genialität. Jede Minderwertigkeit des Nervensystems führt zu einer Überwertigkeit des Zerebralsystems; jedoch nur unter der Voraussetzung, daß genügend reichliches Zerebralmaterial vorhanden ist. Bezeichnen wir nun mit einem wissenschaftlich nicht ganz korrekten, aber handlichen Ausdruck alles, was im Organismus der Aufnahme von Reizen dient, als peripherisches System und alles, was der Verarbeitung, Regulierung und Organisierung dieser Reize obliegt, als Zentralsystem, so gelangen wir zu folgender Dreiteilung der Menschheit. Erstens Personen mit abnorm reizbarem und leistungsfähigem peripherischen System, aber unzulänglichem Zentralsystem: diese sind produktiv, aber nicht lebensfähig; zu ihnen gehören alle Arten von Menschen, die an irgendeiner psychischen Minderwertigkeit leiden, vom Neurastheniker bis hinauf zum schweren Paranoiker. Zweitens Personen mit ausreichendem Zentralsystem, aber wenig leistungsfähigem peripherischen System: diese sind lebensfähig, aber nicht produktiv; zu ihnen gehört das große Kontingent der »Normalmenschen«: der Bauer, der Bürger, der »brave Handwerker«, der »tüchtige Beamte«, der »schlichte Gelehrte«. Endlich drittens das Genie mit extrem reizbarem peripherischen System und ebenso hypertrophisch entwickeltem Zentralsystem: lebensfähig und produktiv. Genialität ist demnach nichts anders als eine organisierte Neurose, eine intelligente Form des Irrsinns. Und nun verstehen wir auch, warum das Genie nicht nur regelmäßig pathologische Züge aufweist, sondern auch immer durch außergewöhnliche Gehirnkraft und besonders starkes und zartes Sittlichkeitsempfinden exzelliert: dieser Überschuß ist nötig. Wir können dieses Verhältnis sogar bisweilen bei ganzen hochbegabten Völkern beobachten, zum Beispiel bei den Hellenen: das Dionysische war das peripherische System, das Apollinische das Zentralsystem des Genies »griechisches Volk«.
Die Notwendigkeit der apollinischen Komponente für alles geniale Schaffen wird nun wohl allgemein eingeräumt; daß aber die dionysische ebenso wichtig ist, wird nicht so oft eingesehen. Die Genies sind aber nicht nur latente Irre, sondern auch latente Verbrecher, und sie kommen nur darum nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt, weil sie eben Genies sind und sich in die Produktion flüchten können. »Ich habe niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können«, sagt Goethe. Das ist das Wesen des Dichters. Ein Verbrechen, das er nicht begehen könnte, läge außerhalb des Bereichs seiner Schilderung. Er braucht aber keine Verbrechen zu begehen, weil er sie künstlerisch zu gestalten vermag. Es ist ein sehr tiefes Selbstbekenntnis, vielleicht tiefer, als er selber ahnte, wenn Hebbel schreibt: »Daß Shakespeare Mörder schuf, war seine Rettung, daß er nicht selbst Mörder zu werden brauchte.« Hebbels Dramen sind voll Blut, und auch in seinen Tagebüchern überrascht uns eine höchst sonderbare Freude an Mordgeschichten jeder Art: wo er von einer hört, zeichnet er sie auf, psychologisiert sie und dreht sie hin und her, mit einem Interesse, das zur Sache in keinem Verhältnis steht. Und höchstwahrscheinlich wäre auch Schiller ein hochbegabter Räuber und Balzac ein hervorragender Wucherer geworden; aber ihr dichterisches Talent war eben noch unvergleichlich größer als ihr Räuber- und Wucherertalent. Alle die Künstler und Gestalter: Dante und Michelangelo, Strindberg und Poe, Nietzsche und Dostojewski, was waren sie anderes als in die Kunst gerettete Menschenfresser? Und die »Scheusale« der Weltgeschichte: Caligula und Tiberius, Danton und Robespierre, Cesare Borgia und Torquemada, was waren sie anderes als in die Realität verschlagene Künstler? Und Nero, der Kaiser mit der großen Künstlerambition, wäre kein »Bluthund« geworden, wenn er die Kraft der künstlerischen Gestaltung besessen hätte. Qualis artifex pereo: vielleicht ist es erlaubt zu übersetzen: »Was für eine merkwürdige Art Künstler stirbt in mir.«
Nicht nur der Künstler, auch das religiöse Genie bedarf der »reizbaren Schwäche«. Ein Buddha, ein Paulus, ein Franz von Assisi muß von außergewöhnlicher Reizperzeptibilität sein, um alles fremde Leid mitfühlend in sich nachschaffen zu können und in jeder Kreatur seinen Bruder wiederzuerkennen. Ebenso verhält es sich beim genialen Forscher. Er muß für gewisse im Weltall verstreute Energien eine pathologische Empfindlichkeit haben, die niemand mit ihm teilt; sonst wird er nichts entdecken. Die Entstehungszeiten der großen Religionen sind immer auch Zeitalter der Volkspsychosen: die orphische Ära in Griechenland, die Jahrhunderte des Urchristentums; ebenso die Zeiten, in denen ein neues Weltbild heranreift. Und zwar handelt es sich hier um echte Krankheiten, da sich, wie bereits angedeutet wurde, das ausgleichende Regulierungssystem, der schützende intellektuelle Überbau erst später einzustellen pflegt. Und damit kehren wir wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück.