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Die Schönheit ist das geoffenbarte Gesetz.
Leon Battista Alberti
»Problem« und »Tatsache« heißen die beiden großen Pole, zwischen denen sich alle menschliche Geistestätigkeit bewegt. Was wir noch nicht als Tatsache empfinden, nennen wir ein Problem; was wir nicht mehr als Problem empfinden, nennen wir eine Tatsache. Aber wie jedes Problem danach strebt, zur Tatsache zu gerinnen, so lebt in jeder Tatsache die geheime Tendenz, sich wieder zum Problem zu verflüchtigen. In dieser unendlichen, aber steigenden Reihe von Kristallisation und Sublimation, Verdichtung und Auflösung besteht die wahre und innere Geschichte des Menschengeschlechts.
Für den Historiker aber, der die abgeschlossenen Kulturperioden überblickt, ergibt sich hieraus eine seltsame Paradoxie. Jedes dieser Zeitalter verfügt über einen gewissen Fundus von Problemen und Tatsachen, die es geschaffen hat, die, nur ihm eigentümlich, sein ganzes Dasein tragen und gestalten; die sein Lebensschicksal sind. Aber die Tatsachen, die von der Wissenschaft und Philosophie jener versunkenen Kulturen festgestellt wurden und zumeist ihren größten Stolz bildeten, erscheinen dem Blick des später Geborenen als höchst problematisch, während umgekehrt die Probleme, mit denen jene früheren Jahrhunderte gerungen haben, auch heute noch für uns höchst positive kulturhistorische Tatsachen darstellen.
Ein französischer Denker hat einmal gesagt: »Es gibt nichts Verächtlicheres als eine Tatsache.« Wir könnten hinzufügen: und auch nichts Ungewisseres und Vergänglicheres. Fast alle »exakten« Feststellungen, die von früheren Zeiten gemacht wurden, scheinbar so sicher auf klare Vernunft und scharfe Beobachtung gegründet, sind dahingeschwunden; und den unsrigen wird es genau so gehen. An allen unseren Ionen, Zellen, Nebelflecken, Sedimenten, Bazillen, Ätherwellen und sonstigen wissenschaftlichen Grundbegriffen wird eine kommende Welt nur noch interessieren, daß wir an sie geglaubt haben. Wahrheiten sind nichts Bleibendes; was bleibt, sind nur die Seelen, die hinter ihnen gestanden haben. Und während jede menschliche Philosophie dazu bestimmt ist, eines Tages nur noch von geschichtlichem Interesse zu sein, wird unser Interesse an der menschlichen Geschichte niemals aufhören, ein philosophisches zu sein.
Wir messen daher die Macht und Höhe einer Kultur keineswegs an ihren »Wahrheiten«, ihren »positiven Errungenschaften« und kompakten Erkenntnissen. Wonach wir bei ihrer Bewertung fragen, das ist die Intensität ihres geistigen Stoffwechsels, ihr Vorrat an lebendigen Energien. Wie die physische Leistungsfähigkeit eines Menschen nicht von seinem Leibesumfang abhängt, sondern von der Kraft und Schnelligkeit seiner Bewegungen, so wird auch die Lebenskraft einer Zeitseele von nichts anderem bestimmt als von ihrer Beweglichkeit und Elastizität, von der inneren Verschiebbarkeit ihrer Teile, von der Labilität ihres Gleichgewichts, kurz: von ihrem Reichtum an Problemen. Hier liegt das eigentliche Gebiet geistiger Produktivität; und dies ist auch der Grund, warum die religiösen und die künstlerischen Kulturen auf die Nachwelt kommen und warum die rein wissenschaftlichen Zeitalter nur eine vorübergehende Vitalität besitzen. Die Wissenschaft verbessert die allgemeine Ökonomie des Daseins; sie entdeckt einige neue Gesetze, die geeignet sind, die Gleichung des Lebens ein bißchen zu vereinfachen; sie macht den Planeten zu einem komfortableren und weniger strapaziösen Aufenthalt: aber wir nehmen ihre Gaben hin wie Brot und Äpfel, mit einer gewissen animalischen Genugtuung, jedoch ohne in eine höhere Geistesverfassung zu geraten und den Antrieb zu einer reicheren Seelentätigkeit zu empfangen. Die reellen Resultate des menschlichen Geistes, seine Funde und Treffer enthalten nichts Tonisierendes, nichts, was unser Eigenleben steigert. Wir »legen sie uns zu«: unsere Berührung mit ihnen ist der Vorgang einer bloßen Addition, nicht einer Multiplikation oder Potenzierung. Die Schöpfungen der Kunst und der Religion dagegen, die die Maschine des Lebens keineswegs vervollkommnet haben, sondern sich darauf beschränkten, die an sich schon so zweideutige Angelegenheit des Daseins noch mehr zu verwickeln und das sichere Lebensgefühl, auf dem der Mensch von Natur ruht, zu erschüttern, haben dennoch immer über ein geheimnisvolles geistiges Energiekapital verfügt: sie sind wie Wein, der unsere Moleküle zwingt, in lebhaftere Schwingungen zu geraten, neue Blutwellen zum Kopfe führt und unseren gesamten Kreislauf beschleunigt.
So hat es ganze Zeitalter gegeben, die fade schmecken gleich chemisch reinem Wasser: sie sind uns zu destilliert, zu »abgeklärt«, wir finden sie ungenießbar. Es fehlt ihnen an Problemen. Damit ein Zeitalter auch der Nachwelt noch etwas zu sagen habe, muß es eine lebendige Quelle sein, die nicht bloß die allgemeinen Elemente des Wassers enthält, sondern auch allerlei salzige, unlösliche Bestandteile, die ihm erst Körper, Aroma und Farbe verleihen.
Die italienische Renaissance war ein Zeitalter von anarchischer Geistesverfassung, das nichts mehr glaubte und noch nichts wußte, und dennoch haben wir das Gefühl, daß das Leben damals schön, reich und kraftvoll gewesen sein muß.
Wir haben in unserer bisherigen Darstellung Italien fast gar nicht erwähnt, und zwar mit Absicht. Denn Italien bildet im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert eine Welt für sich. Viele Ursachen wirkten zusammen, um die Entwicklung dieses Landes zu einer so isolierten zu machen. Zunächst rein geographische, die in jenen Zeiten eine viel größere Bedeutung hatten als heutzutage. Die Halbinsel, während ihrer ganzen mittleren und neueren Geschichte politisch zersplittert, war dennoch stets innerlich geeint, denn sie ist durch natürliche Grenzen vom übrigen Europa sehr deutlich und bestimmt abgesondert: im Norden durch die Alpen, auf den übrigen Seiten durch das Meer, während die Apenninenkette, die wie ein breites Rückgrat den größten Teil des Gebietes durchzieht, die einzelnen Landschaften fest miteinander verbindet. Auch die Gunst der Natur: die große Fruchtbarkeit des Bodens, das milde Klima, das zwischen Norden und Süden die richtige Mitte hält, die Fülle schiffbarer Flüsse, der Reichtum an schönen und nützlichen Gewächsen verleiht dem ganzen Lande etwas Gemeinsames und erhebt es zugleich weit über die meisten übrigen Regionen Europas; und diese Harmonie wird weder durch Gemischtsprachigkeit noch durch Nationalitätsunterschiede gestört. Der italienische Volkscharakter ist einheitlich, einmalig und unverwechselbar: diese reizvolle Verbindung von Gutmütigkeit und Falschheit, Lebhaftigkeit und Trägheit, Formensinn und Unordentlichkeit, Frivolität und Bigotterie, Naivität und Schlauheit, Oberflächlichkeit und Begabung findet sich sonst nirgends auf der Welt. Und nirgends steht die Kunst so selbstverständlich im Mittelpunkt des Lebens, nirgends ist die Musikalität eine so natürliche Mitgift des Volkes, nirgends sind die Menschen so geborene Schauspieler und nirgends ist das ganze Denken so exklusiv auf Auge, Temperament und Phantasie gestellt. Kein Land hat auch eine solche Vergangenheit und eine solche Hauptstadt, die zweimal Jahrhunderte hindurch der Kopf und das Herz Europas gewesen ist: zuerst durch die römischen Cäsaren, dann durch die römischen Bischöfe; und kein Volk hat eine so wohlgebaute und schöngliedrige Sprache: von so sprudelnder Klangfülle, so reichen und klaren Formen, so weichen Bindungen und so anmutiger Kadenz, eine Sprache, die man einen natürlichen Gesang nennen muß.
Dabei war Italien eigentlich immer ein Stadtterritorium: von der etrurischen Zeit bis auf den heutigen Tag hat sich alles Entscheidende dort immer in den Städten abgespielt. Rom heißt im Altertum schlechthin Urbs: die Stadt, und die römische Geschichte rechnet ab Urbe condita, die christliche Kirche des Abendlandes nennt sich nach derselben Stadt die römische, und in der Renaissance gab es nur Stadtstaaten. Die Kultur Italiens war immer eine intellektuelle, gesittete, urbane, im Gegensatz zu der gebundenen, rustikalen, agrarischen der meisten anderen Länder Europas; und welchen einschneidenden Unterschied dies bedeutet, haben wir im vorigen Kapitel bereits angedeutet. Dazu kommt noch, daß die Städte Italiens im Grunde lauter Seestädte waren, auch wenn sie, wie Rom oder Florenz, nicht unmittelbar am Meer lagen, und nirgends entwickelt sich jener merkwürdig freie, lichte und bewegte Geist, der für Stadtbevölkerungen charakteristisch ist, reicher und intensiver als gerade in den Seestädten. Aber diese starke Übereinstimmung in Abstammung, Sprache, Gemütsart, Glauben, Boden, Geschichte und allen anderen Lebensbedingungen wird nirgends zur Uniformität: zwischen dem Lombarden und dem Venezianer, dem Toskaner und dem Umbrier und allen übrigen Stämmen Italiens haben immer genug charakteristische Unterschiede geherrscht, um das gesellschaftliche, künstlerische und politische Leben höchst polychrom zu gestalten und in fruchtbarem Wettkampf zu erhalten.
In den geschichtlichen Begriff der Renaissance ist eine große Verwirrung gebracht worden, weil man ihn ganz wahllos auf eine Reihe von Kulturströmungen angewendet hat, die miteinander nicht viel mehr gemeinsam haben als die Gleichzeitigkeit. Man spricht von einer nordischen, nämlich einer deutschen, englischen und niederländischen, und daneben noch von einer französischen, ja sogar von einer spanischen Renaissance. Alle diese Ausdrücke sind mißverständlich, aber sie haben sich einmal eingebürgert, und wir werden uns ihrer ebenfalls bedienen, dürfen aber dabei niemals vergessen, daß wir es mit einer bloßen façon de parler zu tun haben. In Wirklichkeit handelte es sich in den außeritalienischen Ländern um nichts weiter als um eine äußerliche Rezeption gewisser Stilprinzipien der italienischen Hochrenaissance, die wir die »klassischen« oder die »lateinischen« nennen können; aber unter diesem dünnen Lack und Überzug lebte das Nationale überall in ungebrochener Kraft weiter. Man muß in der seitherigen Entwicklung der europäischen Kunst diese »lateinische Formation«, die durch alle Schichten des Gesteinslagers hindurchgeht, aber in den einzelnen Perioden ein sehr verschiedenes Ausdehnungsgebiet besitzt, immer genau abscheiden und darf sich durch sie nicht verwirren lassen: sie taucht um etwa 1450 in Italien auf und herrscht dort etwa hundert Jahre, begibt sich aber schon um 1500 nach Frankreich, wo sie sich während aller Stilwandlungen des übrigen Europa dauernd behauptet, als der eigentliche französische Stil, selbst mitten in der Hochblüte des Barock, weshalb auch der Kunsthistoriker Viollet-le-Duc, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Frankreich tonangebend war, den Satz aufstellte: Louis Quatorze clôt la renaissance. Aber selbst das ist noch zu wenig gesagt, denn der klassische Stil erhielt sich in Frankreich bis zum Wiener Kongreß, ja in einzelnen Richtungen, zum Beispiel in Ingres und Puvis de Chavanne, noch viel länger. Etwas Ähnliches ließe sich von der französischen Literatur behaupten, die in ihrem Grundzug stets klassizistisch gewesen ist: der lateinische Geist lebt ebenso in den Romantikern, die ihn bekämpften, wie in der klaren und kühlen Architektonik eines Maupassant oder Zola. Etwas ganz anderes war wieder der deutsche Klassizismus des achtzehnten Jahrhunderts, der mehr griechisch orientiert war und richtiger als deutscher Hellenismus bezeichnet werden sollte, während es in England und den Niederlanden überhaupt niemals einen wirklichen Klassizismus gegeben hat. Wir müssen die genauere Untersuchung dieser Fragen auf den Zeitpunkt verschieben, wo der Gang der Geschichte uns auf sie führen wird, und begnügen uns für jetzt mit der Feststellung: das Gespenst der Antike hat unseren Erdteil im Lauf der Jahrhunderte oft heimgesucht und ist überhaupt niemals völlig aus dem europäischen Gesichtskreis verschwunden, aber es hat sich in den verschiedenen Ländern sehr verschieden lange aufgehalten und ist auch immer in sehr verschiedenen Gestalten erblickt worden. Das aber, was man in Italien unter der rinascita verstand, ist vollkommen auf Italien beschränkt geblieben, und wenn man sich kulturhistorisch korrekt ausdrücken will, so darf man überhaupt nur von einer italienischen Renaissance sprechen. Die Italiener selbst hatten diese Empfindung sehr deutlich. Sie waren sich bewußt, eine Blüte der Kultur und der Gesittung zu verkörpern, wie sie sonst kein Volk der Welt besaß, und bezeichneten daher, ganz wie die Griechen und aus einem ähnlichen Gefühl heraus, alle Ausländer als Barbaren, ob es sich um Franzosen, Deutsche, Spanier, Engländer oder Mohren handelte.
Wir müssen auch diesmal wieder die Frage nach dem Anfangspunkt an die Spitze stellen. Wann beginnt die Renaissance?
An einer der berühmtesten Stellen seiner »Rede über die Würde des Menschen« läßt Pico von Mirandola Gott zum Adamssohn sagen: »Ich habe dich mitten in die Welt gesetzt, damit du um so leichter zu erblicken vermögest, was darin ist. Weder zum himmlischen noch zum irdischen, weder zum sterblichen noch zum unsterblichen Wesen habe ich dich geschaffen, so daß du als dein eigener Bildhauer dir selber deine Züge meißeln kannst. Du kannst zum Tier entarten; aber du kannst dich auch aus dem freien Willen deines Geistes zum gottähnlichen Wesen wiedergebären.« Dies ist offenbar der ursprüngliche Sinn der Renaissance: die Wiedergeburt des Menschen zur Gottähnlichkeit. In diesem Gedanken liegt eine ungeheure Hybris, wie sie dem Mittelalter fremd war, aber auch ein ungeheurer geistiger Aufschwung, wie er nur der Neuzeit eigen ist. In dem Augenblick, wo dieser Gedanke am Horizont erscheint, setzt die Renaissance ein. Dieser Gedanke erfüllt aber bereits das Trecento; und in der Tat haben auch fast alle italienischen Schriftsteller der Renaissance, die über die Erneuerung der italienischen Kultur rückblickende Betrachtungen anstellten, die Zeit Dantes und Giottos als die Epoche, die Wende, den großen Anfang bezeichnet. Insbesondere Vasari, der bekanntlich der erste Geschichtsschreiber der italienischen Kunst gewesen ist, faßt die drei Jahrhunderte Trecento, Quattrocento, Cinquecento als Einheit einer großen aufsteigenden nationalen Bewegung. In seinem 1550 erschienenen Werk sagt er, daß Cimabue mit dem nuovo modo di disegnare e dipignere den Anfang gemacht habe, und im weiteren Verlaufe unterscheidet er drei Abschnitte, parti, oder Zeiträume, età, die im wesentlichen den drei Jahrhunderten entsprechen. Auf die »Barbarei der Goten« seien zunächst die neuen Meister in Toskana gefolgt, in denen die Kunst wiedergefunden, wiedererstanden, wiedergeboren erscheint: also schon auf diese wendet er die nach der späteren Tradition erst für die Hochrenaissance gebräuchlichen Ausdrücke ritrovare, risorgere, rinascita an, während ihm das erst lange nachher üblich gewordene Wort rinascimento ebenso unbekannt ist wie der Ausdruck »Renaissance«, der den heutigen Sprachgebrauch beherrscht, aber erst um 1750 bei Voltaire und den Enzyklopädisten auftaucht. Und zu demselben Resultat wie der älteste Historiker der Renaissance gelangen die neuesten genauen und umfassenden Untersuchungen Burdachs: »Das Bild des neuen Lebens, die Wiedergeburt beherrscht bereits das Zeitalter Bonaventuras, Dantes, Petrarcas, Boccaccios, Rienzos, es bleibt im fünfzehnten Jahrhundert wirksam und wird im sechzehnten Jahrhundert zu dauernder Gültigkeit fixiert ... Wer ... das vierzehnte Jahrhundert ... ausschließt, setzt sich in Widerspruch mit zahlreichen übereinstimmenden Aussagen und Anschauungen der gleichzeitigen geschichtlichen Zeugnisse.«
Alles in allem genommen, werden wir also zu dem Schluß gedrängt, daß die »Konzeption« der Neuzeit auch in Italien etwa in die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts fällt. Damals trat Rienzo mit seinem großen Plan einer politischen Wiedergeburt Roms auf, damals entwickelten und erfüllten Petrarca und Boccaccio ihr Programm einer literarischen Wiederbelebung des Altertums, und damals setzte die »neue Art der Malerei« ein, die in der Beseelung: in der intimen und andächtigen Versenkung in die menschlichen Gefühle und Schicksale ihre Hauptaufgabe erblickte. Mit Dantes Tod hat das Mittelalter in Italien sein Ende erreicht. Ja Burdach geht sogar noch weiter, indem er in Dante den eigentlichen Schöpfer der Renaissance erblickt: eine Ansicht, der wir jedoch nicht beipflichten können. Vielmehr möchten wir glauben, daß gerade in Dante das Mittelalter mit einer letzten ungeheuern Gebärde, die ihren warnenden Schatten über die kommenden Jahrhunderte vorauswirft, von der Menschheit Abschied nimmt. Es ist, als hätte das Mittelalter am Ende seiner Erdenbahn noch einmal in einem gigantischen Wurf alles zusammenballen wollen, was es zu sagen hatte: wenn vom Mittelalter nichts übrig geblieben wäre als Dantes Gedicht, so wüßten wir alles, was wir von dieser geheimnisvollen Welt wissen können. Wie ein schwarzes erzenes Riesendenkmal steht dieser unergründliche Gesang an der Schwelle des Neuen, zu ewiger Erinnerung an das verklungene Alte. Und so magisch und inkommensurabel war die Macht dieses übermenschlichen Sehers, daß sein Gemälde, obgleich nur ein zusammenfassendes Symbol der Vergangenheit, dennoch alle neuen Bilder überglänzt und verdunkelt hat. Und es konnte auch nur das Mittelalter die seelischen Voraussetzungen für ein solches Wunderwerk liefern, das das gesamte Wissen der Zeit in einer rein künstlerischen Form aufbewahrt und in die Sphäre des Glaubens gehoben hat.
Die »göttliche Komödie« ist in jedem Vers zugleich Enzyklopädie, Predigt und dramatisches Epos. Diese sublime Einheit von Glauben, Erkenntnis und poetischer Gestaltung konnte nur einem mittelalterlichen Geist gelingen: sie ist seither der unerfüllte Traum aller Künstler; aber schon der bloße Versuch einer solchen Schöpfung könnte in unserer Zeit nur von einem Wahnsinnigen unternommen werden: er wird erst wieder möglich sein, wenn die Bedingungen unserer Kultur sich von Grund auf geändert haben.
Es ergeben sich nun allerdings gegen die Annahme, daß die italienische Renaissance schon so früh einsetzt, mehrere Einwände, zumal wenn man, wie dies gewöhnlich geschieht, ausschließlich die Kunstgeschichte ins Auge faßt. In der Tat kann man Giotto und die »Giottesken« noch ebensogut zum Mittelalter rechnen. Das gewollt Dekorative und Ornamentale ihrer Komposition, die Naivität und Volkstümlichkeit ihres Vortrags, ihre Freude am Novellistischen, am bloßen Erzählen, ihre stilisierende Behandlung der Tierwelt und des landschaftlichen Hintergrundes, die oft bis zur Vernachlässigung der Lokalfarbe geht, kurz, das Bilderbuchartige ihrer ganzen Malweise verleiht ihnen etwas Mittelalterliches. Auch ein Werk wie der »Trionfo della morte«, eines der erschütterndsten und figurengewaltigsten Gemälde, die je geschaffen wurden, ist eigentlich nichts als gemalter, kongenial gemalter Dante, obgleich es wahrscheinlich bereits dem späteren Trecento angehört. Infolgedessen lassen die meisten Kunsthistoriker die Renaissance erst mit dem Quattrocento beginnen, ja einige sogar erst mit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, und auch diese haben nicht ganz unrecht. Andere wieder helfen sich mit Begriffen wie »Frührenaissance«, »Vorrenaissance«, »Protorenaissance«. Die Schwierigkeit löst sich aber sehr einfach, wenn man sich klarmacht, daß es schon längst eine politische, eine gesellschaftliche und vor allem eine literarische Renaissance gab, als die Renaissance der bildenden Künste noch in den Anfängen steckte. Während die Maler und Bildhauer und selbst die Architekten noch tasteten und suchten und sich nur zögernd von der Gotik und Hieratik entfernten, besaßen die Humanisten bereits ein strenges und vollständiges »Renaissance«-Programm. Wir kommen auf diesen merkwürdigen Vorgang noch zurück.
Obgleich nun das Neue in Italien ungefähr um dieselbe Zeit eingesetzt hat wie im Norden, so ist es doch dort ganz anders aufgenommen worden. Denn während die neuen Vorstellungsinhalte sonst überall, wie wir gesehen haben, einen Zustand völliger Desorientiertheit erzeugten, wurden sie in Italien sogleich viel voller, reicher und bewußter erlebt. Dies kam daher, daß die italienische Menschheit der des übrigen Europa in nahezu allem um Generationen voraus war. Wenn man sich während der »Inkubationszeit« nach Italien begibt, so ist es, als ob man aus grauer nebliger Dämmerung in die volle Sonne träte. Oben im Norden ist alles verhangen und düster, plump und ungeformt, wirr und schwerlebig: hier empfängt uns eine völlig andere Welt.
Was zunächst in die Augen fällt, ist das entschieden und viel früher Moderne der italienischen Gesellschaft und Politik. Rittertum und Feudalismus sind restlos beseitigt, die beiden »christlichgermanischen Dummheiten« Schopenhauers: der »point d'honneur« und die »Dame« sind gänzlich verschwunden. Die Liebe ist bloßer sinnlicher Genuß oder höhere geistige Gemeinschaft, aber niemals eine Sache der Sentimentalität. An die Stelle des Vasallen ist der Condottiere getreten, für den der Krieg nicht ein romantisches Ideal darstellt, sondern ein kühles Fach und Geschäft, das er gelernt hat und an den Meistbietenden verkauft: er liefert Schlachten wie der Schuster Stiefel oder der Maler Porträts; Person und Weltanschauung des Bestellers sind ihm gänzlich gleichgültig. Persönliche Differenzen werden nicht in komplizierten Duellen ausgetragen, sondern im Raufhandel oder durch bezahlte Bravos, am liebsten durch eine zum höchsten Raffinement gebrachte Technik des Vergiftens; von den Turnieren denken die Italiener wie ihre Vorfahren, die Römer: sie gelten ihnen als eine niedrige Schaustellung, für die die Sklaven oder die Komödianten gerade gut genug sind. Auch die Kriege sind eine reine Geldsache: wer sich genug Söldner mieten kann, ist jederzeit in der Lage, seine politischen oder kommerziellen Konkurrenten zu überfallen. Der Bürger aber denkt nicht daran, selber zur Waffe zu greifen, er hat Wichtigeres zu tun: Handel, innere Politik, Wissenschaft, Kunst, Lebensgenuß, Geselligkeit füllen ihn zu vollständig aus, als daß er daran denken könnte, sich zeitraubenden militärischen Übungen zu widmen. Und nicht nur der Berufssoldat, sondern auch die Feuerwaffe gelangt in Italien am frühesten zu einer dominierenden Stellung. Die Staatskunst ist bereits völlige Realpolitik, nüchterne und subtile Abwägung der bestimmenden Faktoren, unterstützt durch eine ebenso geistreiche wie perfide Diplomatie, die besonders in Venedig bereits zur perfekten Virtuosität ausgebildet ist. Auch alle Staatsformen, die für die Neuzeit charakteristisch sind, finden sich schon zur höchsten Vollendung entwickelt: von der extrem demokratischen Republik, in der das »souveräne Volk« seinen Unfug treibt, bis zur Plutokratie, der modernen Form der Tyrannis, die die äußeren Insignien der Macht verschmäht, um desto sicherer durch kluge Intrige, geschickte Parteileitung, blendendes Mäzenatentum und den unwiderstehlichen Absolutismus des Kapitals zu herrschen.
Wenn auch eine außerordentliche Steigerung des Wirtschaftslebens für die Entwicklung des ganzen Weltteils bezeichnend ist, so hat sie doch nirgends eine solche Intensität erlangt wie in den großen italienischen Handelszentren. Während, wie wir gesehen haben, der nordische Mensch den Übergang zur Geldwirtschaft nur unvollkommen und unter vielerlei moralischen und praktischen Hemmungen vollzog, erlebten Oberitalien und Toskana bereits eine Blüte des Frühkapitalismus, gefördert durch eine Reihe von Erfindungen, die den merkantilen Verkehr ungemein erleichterten und belebten. Noch heute bedient sich ja die Kaufmannssprache fast lauter italienischer Fachausdrücke, zur Erinnerung daran, daß die Lombarden die Schöpfer dieser nützlichen Einrichtungen waren. In die Wirtschaftsgebarung kommt planmäßiger Wille, Voraussicht, System. In seinen Lebensregeln sagt Alberti: E ufficio del mercante e d'ogni mestiere, il quale ha a contrattare con più persone, essere sollecito allo scrivere, scrivere ogni compera, ogni vendita, ogni contratto, ogni entrata, ogni uscita in bottega e fuori di bottega; sempre avere la penna in mano. Der Kaufmann mit der Feder in der Hand: das war etwas ganz Neues.
Das große Florentiner Bankhaus der Peruzzi hatte bereits im vierzehnten Jahrhundert sechzehn europäische Filialen, die sich von London bis Zypern erstreckten; ihre Handelsbeziehungen gingen bis nach Innerasien. Der Florentiner Gulden, der fiorino d'oro, galt im ganzen Abendland als die angesehenste und vollwertigste Münze. Neben den Peruzzi standen die Capponi, die Bardi, die Pitti, die Rucellai und die Strozzi: wie man sieht, zum Teil Namen, die sich durch unvergleichliche Palastbauten unsterblich gemacht haben. Der fabelhafte Aufstieg der Medici beginnt erst im fünfzehnten Jahrhundert: sie wurden in Kürze die erste Finanzmacht Europas. Einigermaßen ebenbürtig waren ihnen nur die Pazzi, berühmt durch die große Verschwörung des Jahres 1478, der Giuliano Medici zum Opfer fiel. Der Überfall fand im Dom statt, während der Messe; der Papst war mit im Spiel. Einer der Pazzi stürzte sich auf Giuliano und stach so wütend mit dem Dolch auf ihn ein, daß er sich selbst erheblich verletzte. Der Aufstand wurde noch im Laufe des Tages niedergeschlagen und die Herrschaft der Medici nur noch sicherer begründet. Man sieht: die Plutokratie war damals doch eine wesentlich andere Sache als heutzutage, eine Angelegenheit der heroischsten Leidenschaft und fanatischsten Kühnheit: für die Hegemonie der Firma wurde das Leben eingesetzt. Heute bekämpfen sich große konkurrierende Handelshäuser höchstens durch Wahlbestechungen, gekaufte Journalisten und inspirierte Parlamentsinterpellationen. In Rom herrschte das Bankhaus Chigi, das eine Reihe von Päpsten finanziert hat und dessen Chef Agostino Chigi, der Freund Raffaels und Erbauer der Farnesina, »ein Kaufmann im Erwerben, ein König im Ausgeben«, sich gleich Lorenzo Medici den Beinamen il magnifico erwarb. Die ebenso erbitterte wie glänzende Handelsrivalität zwischen Venedig und Genua, die diese Zeit erfüllt, ist allgemein bekannt. Was aber die Finanzgebarung aller dieser Stadtrepubliken zu einem Unikum innerhalb ihres Zeitalters macht, ist die hellsichtige Energie und großartige Gewissenlosigkeit, von der sie getragen ist: im Mittelpunkt der Geschäftsmoral (wenn diese contradictio in adjecto gestattet ist) steht bereits der Gelderwerb als Selbstzweck, als lebengestaltendes Pathos, als stärkste Äußerungsform des Willens zur Macht. Im übrigen ist nichts für das Wirtschaftsleben Italiens charakteristischer als die Tatsache, daß die Juden darin nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten: man brauchte sie nicht; man war geschäftlich noch viel talentierter als sie.
Dies alles hängt, wie bereits erwähnt, mit der Entwicklung des Städtewesens zusammen. Und die italienischen Städte waren bereits wirkliche Städte, ganz anders als die nordischen, die sich neben ihnen noch immer wie ummauerte mittelalterliche Dörfer ausnehmen. Man vergleiche Brügge mit Venedig, Köln mit Mailand, Lübeck mit Genua, selbst das damalige Paris mit Rom oder Florenz, und man wird den Eindruck haben, als ob man aus einer finsteren winkligen Seitengasse in eine breite luftige Avenue käme. Wir sagten im vorigen Kapitel, der Baufleiß und Kunstsinn habe sich im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert noch wenig auf die Ausstattung und Bequemlichkeit der Privathäuser erstreckt, sondern fast ausschließlich auf die öffentlichen Gebäude: die Kirchen, Rathäuser, städtischen Kauflokale; es äußert sich hierin offenbar noch ein Rest von mittelalterlichem Kollektivempfinden. Ganz anders ist die Individualisierung in den italienischen Städten fortgeschritten: hier erheben sich bereits allenthalben Paläste, Villen, Privatkapellen, in denen majestätischer Prunk mit erlesenstem Geschmack wetteifert. Die Säle der Reichen bedecken sich mit den kostbarsten Malereien, ihre Gräber mit den prächtigsten Denkmälern, denen sie schon bei Lebzeiten die größte Sorge widmen: der Charakterbau ist in der nordischen Stadt nach wie vor der Dom, in der italienischen Stadt der Palazzo. Auch herrschten hier bedeutend geringere Standesvorurteile. Hierfür ist allein schon die Tatsache bezeichnend, daß es einem Geschlecht von bürgerlichen Parvenüs wie den Medici, die niemals auch nur die äußere Nobilität angestrebt haben, durch Generationen möglich war, die mächtigste, blühendste und kultivierteste Stadt der Halbinsel nur durch ihr Geld, ihre Virtuosität der Menschenbehandlung, ihren Geist und ihre Gabe glänzender Repräsentation souverän zu beherrschen. Aber auch in den übrigen Teilen Italiens hatte überall bereits der moderne Adel des Talents über den mittelalterlichen Adel der Geburt gesiegt: in Mailand war das Condottierengeschlecht der Sforza zur höchsten Würde gelangt, im Kirchenstaat konnte jeder Mensch, der genug Tatkraft und Klugheit besaß, Herzog oder Kardinal werden, und selbst in Venedig, dem relativ aristokratischsten Gemeinwesen, bestand das Patriziat doch schließlich auch nur aus reichgewordenen Krämern. Aber diese Machthaber besaßen freilich alle eine außergewöhnliche innere Noblesse und angeborene Fähigkeit zur Herrschaft, die über ihre Herkunft gar nicht nachdenken ließ: vielleicht keine wirklich menschliche Größe, aber eine unvergleichliche seelische Grandezza.
Diese zeigt sich schon in den bloßen Äußerlichkeiten des Daseins: im Schmuck und Komfort, in jeglicher Art von Dekoration und Gerät. Der Rahmen, der das Leben umgibt, ist nicht nur reicher, sondern auch feiner als sonstwo: echt, gewachsen, selbstverständlich; unaufdringlich, maßvoll, harmonisch; und vor allem gewählt, das heißt: physiognomisch für den Besitzer; dagegen im Norden unpersönlich, konventionell, zufällig; parvenühaft, überladen, akzentlos; kindisch, klobig und bäurisch. Ein vornehmes italienisches Wohnhaus war nicht denkbar ohne weite helle Räume und hohe luftige Fenster, kostbare Teppiche und Arazzi, Tapeten aus Goldleder oder gemusterter Seide, Möbel aus edeln Hölzern, wertvolle Bilder in kunstvollen Rahmen, marmorne Kamine und ornamentierte Plafonds, Majoliken, Bronzen und Elfenbeinarbeiten, Kristallgeschirr, feines Weißzeug und prachtvolle orientalische Stickereien; dazu kam noch die breite gepflasterte Straße, die schon von zahlreichen zweispännigen Wagen belebt ist, und die höchste Freude des Italieners: die Landvilla mit ihren Grotten und Springbrunnen, Gärten und Alleen, die im Norden gänzlich unbekannt ist und bestenfalls durch das dürftige »Gartenhäuschen« ersetzt wird, in dem der Bürger seine Hühner hält, sein Gemüse pflanzt und ein paar Abendstunden verbringt; und schließlich ein Raffinement der Toilettekunst und Kosmetik: der Schminken, Schönheitswässer und Parfüms, Haarmittel, Pflaster und Coiffüren, wie es selbst unserer Zeit fremd geworden ist.
Der Tafelluxus stand ebenfalls auf einem viel höheren Niveau als anderwärts: er ist nicht so sehr kulinarisch als künstlerisch, dekorativ, spielerisch, mehr auf den Genuß des Auges als des Gaumens berechnet. Von einem berühmten Gastmahl, das der Florentiner Benedetto Salutati im Jahr 1476 in Neapel gab, haben wir folgende Schilderung: Zuerst gab es als Vorspeise für jeden Gast eine kleine Schüssel mit vergoldeten Kuchen aus Pinienkernen und einen Majolikanapf mit einem Milchgericht; dann Gelatine von Kapaunenbrust, mit Wappen und Devisen verziert: die Schüssel des vornehmsten Gastes hatte in der Mitte eine Fontäne, die einen Regen von Orangenwasser sprühte. Dann kamen verschiedene Fleischgattungen: Wild, Kalb, Hühner, Schinken, Fasane, Rebhühner, dazu brachte man ein großes silbernes Becken, aus dem, als man den Deckel hob, zahlreiche kleine Vögel aufflogen, und täuschend gemachte künstliche Pfauen, die das Rad schlugen und brennendes wohlriechendes Räucherwerk im Schnabel trugen. Der Nachtisch bestand in allerlei Süßspeisen: Torten, Marzipanen, leichtem zierlichem Backwerk, das Getränk in italienischen und sizilianischen Weinen, und zwischen je zwei Gästen lag eine Liste der fünfzehn Gattungen. Am Ende des Mahles wurde jedem parfümiertes Wasser zum Händewaschen gereicht und ein großer Berg aus grünen Zweigen aufgestellt, die mit kostbaren Essenzen imprägniert waren und ihren Duft durch den ganzen Saal verbreiteten. Vergleicht man dieses Souper mit den Mahlzeiten, die wir im vorigen Kapitel kennen gelernt haben, so hat man den Eindruck, als ob man von einer Bauernhochzeit zu einer Hoftafel käme. Bei einem anderen Fest, das Lorenzo Strozzi in Rom gab, wurden die Gäste zuerst in einen verdunkelten, mit Trauerstoffen ausgeschlagenen Saal geleitet, an dessen Wänden Totenköpfe angebracht waren und in dessen vier Ecken gespenstisch illuminierte Skelette standen. In der Mitte befand sich ein schwarz überzogener Tisch, auf dem zwei Schädel und vier große Knochen lagen. Die Diener hoben die Totenschädel auf, und darunter erschienen frisch gebratene Fasane, zwischen den Knochen lagen Würste. Niemand wagte zu essen, nur der päpstliche Hofnarr Fra Mariano, ein berühmter Vielfraß, ließ sich den Appetit nicht verderben. Nachdem sich die Gäste von ihrem Schrecken erholt hatten, öffneten sich die Flügeltüren und ein strahlend geschmückter Saal, der einen Sternenhimmel darstellte, wurde sichtbar. Als man Platz genommen hatte, gab es eine neue Überraschung: Speisen und Flaschen sprangen für jeden Gast einzeln unter dem Tisch hervor, ohne daß man den Mechanismus enträtseln konnte. Der bereits erwähnte Agostino Chigi gab in Rom ein Bankett, bei dem er alle gebrauchten goldenen und silbernen Gefäße in den Tiber werfen ließ. Dies würde einigermaßen russisch anmuten, wenn es nicht ein bloßes Schaustück gewesen wäre, denn der Bankier hatte heimlich Netze am Flußufer auslegen lassen, um die kostbaren Geräte wieder auffischen zu können. Bei einem anderen Festmahl, dem der Papst beiwohnte, ließ er einen besonderen Fisch auftragen, den er lebend aus Byzanz hatte kommen lassen. Beim Abschied sagte ihm der Papst (und ein Dialog von so geistreicher und erlesener Höflichkeit war nur im Italien der Renaissance möglich): »Ich habe immer gedacht, Agostino, daß wir intimer miteinander wären.« Agostino antwortete: »Und die Bescheidenheit meines Hauses hat die Ansicht Eurer Heiligkeit aufs neue bestätigt.« Aus allen diesen Berichten geht hervor, daß bei den Mahlzeiten das Essen durchaus nicht die Hauptsache war.
Wir haben im Norden auf unserer Suche nach Individualitäten fast gar keinen Erfolg gehabt. Von Italien kann man im Gegenteil mit nur geringer Übertreibung sagen, daß es dort fast nur Individualitäten gegeben habe. Eine Fülle von scharf umrissenen Köpfen, einmaligen Physiognomien tritt uns auf den Plaketten, Porträts, Grabstatuen und Denkmünzen, in den Biographien, Briefen, Reden und Denkschriften, in Politik, Philosophie, Kunst und Geselligkeit entgegen: lauter bewußte und gewollte Besonderheiten, zum Eigenwillen, ja zum Eigensinn gesteigerte Profile. Man betrachte zum Beispiel die Medaillen der Medici: bis zur Häßlichkeit komplizierte Gesichter voll Hintergründen, ihr letztes Geheimnis nicht verratend; oder, um aufs Geratewohl etwas herauszugreifen, die beiden Päpste, die Raffael gemalt hat: auf der einen Seite eine so gewaltige Persönlichkeit, an der alles Kraft atmet, wie Julius der Zweite, il pontefice terribile: Luetiker, Sodomit, General und Despot; von dem Hutten gesagt hat, er habe den Himmel mit Gewalt stürmen wollen, als man ihm droben den Eintritt verweigerte; der sich mit niemand vertrug, alle Nachbarn mit Krieg überzog, in den dichtesten Kugelregen ritt, Konstantinopel und Jerusalem wiedererobern wollte, die Petersbasilika niederreißen ließ, weil sie ihm künstlerisch nicht zusagte, gleichzeitig das Festprogramm für den römischen Karneval bestätigte und die Verfügungen zu seinem Begräbnis traf und sich noch auf dem Sterbebette acht verschiedene Weinsorten reichen ließ, und dabei der einzige Papst, der seine in der Engelsburg aufgehäuften Schätze nicht den gierigen Nepoten, sondern seinem Nachfolger bestimmte, und der einzige Große seiner Zeit, der die Größe Michelangelos erkannte. Und daneben eine so genrehafte Figur wie Leo der Zehnte, il papa Lione: kurzsichtig, kurzhalsig, verfettet, fortwährend schwitzend und schnaufend, beim Gehen stets auf zwei Diener gestützt, um den schweren Körper fortschleppen zu können; lethargisch und schläfrig, besonders bei den kunstvoll gefeilten Vorträgen der Humanisten gern einnickend, dagegen ein begeisterter Freund platter Spaße und leerer Aufzüge und eine Art Eßvoyeur, dessen höchstes Gaudium es war, wenn sein Hofnarr vor ihm ungeheure Mengen von Eiern oder Fasanen verschlang; ein maßloser Verschwender, der, wie man sagte, bei einem längeren Leben Rom, Christus und sich selbst verkauft hätte und bei seinem Tode nicht einmal so viel hinterließ, daß davon die Kerzen zu seinem Begräbnis bezahlt werden konnten, und der seiner Regierung dennoch den Namen des »goldenen Zeitalters« verschafft hat, weil Rom damals das bewunderte Zentrum der europäischen Kultur war und bezahlte Humanisten ihn, obgleich diese Kunstblüte sich ohne und zum Teil sogar gegen seinen Willen entfaltet hatte, als den großen Mäzen priesen: eine Fälschung, die die Nachwelt, obgleich sie nicht mehr von Leo dem Zehnten bezahlt ist, kritiklos übernommen hat.
Die Feder beginnt überhaupt bereits eine dominierende Macht zu werden, und es entwickeln sich die ersten energischen Anfänge der Presse und ihrer vollendetsten und konsequentesten Existenzform: der Revolverpresse. Hierfür ist zunächst überhaupt die ganze soziale Erscheinung der Humanisten maßgebend, die, bei allen ihren Verdiensten um die Hebung der allgemeinen Bildung und des Spezialinteresses für die Offenbarungen der antiken Kultur, doch zweifellos eine moralische Pest waren, indem sie durch ihr Vorbild und ihre Maximen lehrten, daß uneinschüchterbare Frechheit, absolute Gesinnungslosigkeit, maßlose Selbstberäucherung, dialektische Gedankenjongliererei und hemmungslose Unbedenklichkeit in der Wahl der polemischen Mittel die Hauptvehikel zum Ruhm und Erfolg seien. Sie haben mit einer Selbstverständlichkeit und Unverblümtheit, die sich selbst heute nur bei Winkelblättern findet, aus ihrer Meinung ein Geschäft gemacht: und sämtliche Praktiken, deren sich die heutige Presse bedient, sind von ihnen bereits mit vollendeter Virtuosität gehandhabt worden: die Verdrehung der Tatbestände und die Verdächtigung der Motive; der Griff ins Privatleben; die scheinbare Objektivität, die den Tadel um so glaubwürdiger macht; die versteckte Attacke, die die Gefährlichkeit der offenen nur erst ahnen läßt, und dergleichen mehr. Ebenso haben sie sich bereits untereinander aufs erbittertste bekämpft. Ihre Macht beruhte, ganz ähnlich wie bei der heutigen Journalistik, nicht bloß auf ihrem Witz, ihrer Schreibfertigkeit und ihrer Fälligkeit, schwer eingängige Themen in eine populäre und gefällige Form zu bringen, sondern auch auf ihrer Herrschaft über ein Material, das nur ihnen vollkommen zugänglich war: nur ist es heute das sogenannte Nachrichtenmaterial, dessen Verbreitung ein Privileg der Zeitungen bildet, während es sich damals um die Vermittlung des wiederentdeckten antiken Bildungsstoffes handelte. Insofern standen sie höher als die modernen Journalisten, denn sie waren nicht nur fast alle außerordentlich unterrichtet, sondern auch von einem begeisterten Eifer, ja Furor für das Altertum erfüllt, und so wird man ihrem geistigen Streben, bei aller ihrer sittlichen Verkommenheit, eine gewisse Idealität nicht absprechen können.
Natürlich waren viele von ihnen auch moralisch gänzlich einwandfreie Persönlichkeiten, und andere wiederum haben eine solche Energie und Ingeniosität entwickelt, daß auch die Nachwelt ihnen als wahren Giganten ihres Gewerbes die Bewunderung nicht zu versagen vermochte. Namentlich zwei von ihnen sind ebenso unsterblich geworden wie Raffael oder Machiavell: nämlieh der bereits mehrfach erwähnte Vasari und Pietro Aretino. Vasari übte eine Geschmacksdiktatur von einer so unwidersprochenen Geltung, wie sie später nie wieder einem Rezensenten beschert worden ist. Er war selber ein ausübender Künstler, und zwar ein ziemlich mäßiger, und bietet damit das seither so oft wiederholte Schauspiel der Geburt der Kritik aus der schöpferischen Impotenz; außerdem verband er, worin er ebenfalls viele Nachfolger gefunden hat, mit seiner Tätigkeit das Geschäft des Kunstagenten. Selbst ein so intransigenter Charakter wie Michelangelo wußte, was er einem Vasari schuldig sei, und antwortete ihm auf die Übersendung seines Werks mit einem überaus schmeichelhaften Sonett, obgleich er von dem Inhalt und zumal von den Nachrichten und Urteilen, die sich mit ihm selbst beschäftigten, nichts weniger als erbaut war. Alle aber, die es wagten, Vasaris kritischen Offenbarungen zu opponieren oder ihn als Künstler nicht neben die Größten der Zeit zu stellen, wurden von ihm mit der äußersten Rachsucht und Ungerechtigkeit verfolgt, wobei es ihm auf Fälschungen nicht ankam: zahlreiche Künstler hat er auf diese Weise buchstäblich unmöglich gemacht.
Noch gefürchteter aber war der »göttliche Aretino«, der Vater der modernen Publizistik, von dem das Volk nicht mit Unrecht behauptete, er besitze den bösen Blick. Er bezog von den beiden großen Gegnern Karl dem Fünften und Franz dem Ersten gleichzeitig Pensionen und erhielt auch von anderen Potentaten: den Königen von England, Ungarn, Portugal und von vielen kleineren Fürsten reiche Geschenke; selbst der Sultan schickte ihm eine schöne Sklavin. Er war aber auch ein vollendeter Techniker der geistreichen Erpressung. Wir wollen als Beispiel wiederum nur seinen Verkehr mit Michelangelo anführen. Er schrieb diesem zunächst einige Briefe, in denen er den Ausdruck seiner Verehrung für Michelangelos Kunst sehr geschickt mit dem Hinweis auf seine eigene Machtstellung zu verbinden wußte: »Mir«, beginnt er, »der in Lob und Tadel so viel vermag, daß fast alle Anerkennung und Geringschätzung durch meine Hand verliehen wird, dessen Name jedem Fürsten Achtung einflößt, bleibt gleichwolil Dir gegenüber nichts als die Ehrfurcht. Denn Könige gibt es genug in der Welt, aber nur einen Michelangelo!« Infolgedessen bitte er ihn um »irgendein Stück Handzeichnung«. Michelangelo erfüllte diese Bitte, die Gabe scheint aber nicht nach den Wünschen des Aretiners ausgefallen zu sein, denn nach einigen weiteren Mahnungen, die unbeantwortet blieben, schickte er Michelangelo ein vollendetes Muster und Prachtstück eines Erpresserbriefes, in dem es unter anderem heißt: »Mein Herr. Nachdem ich nun die ganze Komposition Eures jüngsten Gerichtes gesehen habe, erkenne ich darin, was die Schönheit der Komposition anlangt, die berühmte Grazie Raffaels wieder; als ein Christ aber, der die heilige Taufe empfangen hat, schäme ich mich der zügellosen Freiheit, mit der Euer Geist die Darstellung dessen gewagt hat, was den Inhalt unserer höchsten religiösen Gefühle bildet. Dieser Michelangelo also, so gewaltig durch seinen Ruhm, hat den Leuten zeigen wollen, daß ihm in ebenso hohem Grade Frömmigkeit und Glauben abgehen, als ihm in seiner Kunst Vollendung eigen ist. Ist es möglich, daß Ihr, der Ihr Euch im Gefühl Eurer Göttlichkeit zum Verkehr mit gewöhnlichen Menschen gar nicht herablaßt, dergleichen in den höchsten Tempel Gottes gebracht habt? ... In ein üppiges Badezimmer, nicht in den Chor der höchsten Kapelle durfte dergleichen gemalt werden ... Aber freilich, wenn die Haufen Goldes, die Papst Giulio Euch hinterlassen hat, damit sein irdisches Teil in einem Sarkophag von Eurer Hand ruhen könne, Euch nicht zur Einhaltung Eurer Verpflichtungen vermögen konnten, worauf konnte da ein Mann wie ich sich Rechnung machen? ... Aber Gott wollte offenbar, daß ein solcher Papst nur durch sich sei, was er ist, und nicht erst durch ein mächtiges Bauwerk etwas zu werden scheine. Trotzdem aber habt Ihr nicht getan, was Ihr solltet, und das nennt man stehlen.« Und er schließt das Schreiben, in dem Denunziation wegen Irreligiosität, Vorwurf des Diebstahls und geheuchelte Trauer über ein irregeleitetes Genie mit vollendeter Kunst der Giftmischerei ineinandergemengt sind, mit dem triumphierenden Wortspiel: »Ich hoffe Euch nunmehr den Beweis geliefert zu haben, daß, wenn Ihr divino (di vino) seid, ich auch nicht dell'acqua bin.« Und dieser Brief, für dessen Verbreitung natürlich Aretino sorgte, hat Michelangelo in der Tat unendlich geschadet. Es liegt aber in der Paradoxie des Renaissancecharakters, daß Aretino, abgesehen von den Infamien, zu denen er sozusagen beruflich verpflichtet war, einer der liebenswürdigsten, hilfreichsten und freigebigsten Menschen gewesen ist, ein rührender Kinder- und Tierfreund, ein unermüdlicher Wohltäter und Gastgeber, dessen Haus jedermann offen stand, der Kranke unterstützte, Gefangene befreite, jeden Bettler beschenkte, alles erpreßte Geld mit vollen Händen an andere austeilte und jedem Bedürftigen seinen Rat und seinen Einfluß lieh, ein »Sekretär der Menschheit«, wie er sich selbst, il banchiere della misericordia, wie einer seiner Freunde ihn genannt hat. Auch hat es seinen Niederträchtigkeiten nicht an einer gewissen Großzügigkeit und vornehmen Linie gefehlt; man braucht nur das Bild anzusehen, das sein Freund Tizian von ihm gemalt hat: etwas Imperatorisches, das auf wirkliche Geistesmacht hinweist, geht von dieser Gestalt aus.
Etwas von diesem persönlichen Machtgefühl ging damals durch alle Menschen. Wie ein Motto stehen über der Renaissance die Worte, die Francesco Sforza sprach, als die Mailänder ihm einen Triumphbogen erbaut hatten: »Das sind abergläubische Einrichtungen der Könige, ich aber bin der Sforza.« Auch die Frau erwacht zum vollen Eigenleben; sie ist dem Manne vollständig gleichgestellt, nicht bloß sozial, sondern auch an Bildung. Und, wie das fast immer in Zeiten der Emanzipation zu geschehen pflegt, die gänzlich Befreite: die grande cocotte, la grande Putana, gelangt zu dominierender Bedeutung; sie beherrscht zeitweilig das ganze Gesellschaftsleben. Eine von ihnen, die sich bezeichnenderweise Imperia nannte, einen königlichen Haushalt führte, lateinisch und griechisch las und von Raffael als Sappho porträtiert wurde, ist nach ihrem frühen Tode zu einer fast legendären Figur geworden, und ein Dichter sang von ihr: Zwei Götter haben Rom Großes geschenkt: Mars das Imperium, Venus die Imperia.
Der allseitige geistige Auftrieb kam natürlich auch den Universitäten zugute, zu denen sich alle Welt drängte: besonders die Juristen von Bologna und Padua und die Mediziner von Salerno waren in ganz Europa berühmt, und es wurde Mode, in Italien zu studieren wie vorher in Paris und nachher in Deutschland, dessen junge Hochschulen damals noch weit zurückstanden. Aber nicht darauf beruhte der Hauptruhm Italiens, sondern was dem Geistesleben des Landes seinen besonderen Reichtum und Glanz verlieh, war gerade der Mangel jeglichen Spezialistentums, war die Tatsache, daß jeder führende Mensch eine ganze Universität in sich verkörperte und noch viel mehr als das. Denn die Menschheit war zwar schon reif genug zur Meisterschaft in allen Dingen, aber noch nicht alt genug zu dem ernüchternden und lähmenden Glauben, daß das Leben nur für die Meisterschaft in einem Dinge hinreiche. Im Gegenteil: das Ideal der Renaissance ist der uomo universale. Die hervorragenden Humanisten waren Philologen und Historiker, Theologen und Rechtslehrer, Astronomen und Ärzte in einer Person; nicht nur fast alle großen Künstler, auch zahlreiche kleinere waren gleichzeitig Maler, Bildhauer und Architekten und daneben auch noch oft hochbegabte Dichter und Musiker, scharfsinnige Gelehrte und Diplomaten. Das menschliche Talent war damals eben noch nicht künstlich in besondere Kanäle gepreßt, sondern ergoß sich als ein freier Strom befruchtend über alle Gebiete. Wir hingegen kommen heutzutage mit Gehirnen zur Welt, die gleichsam schon gefächert sind. Wir vermögen uns nicht vorzustellen, daß ein Mensch mehr als eine einzige Sache kann. Wir kleben jedem ein bestimmtes Etikett auf und sind erstaunt, mißtrauisch, beleidigt, wenn er sich nicht an dieses Etikett hält. Dies kommt daher, daß in unserer Kultur der Gelehrte, und zwar der Dutzendgelehrte, so vollständig dominiert, daß wir von ihm unwillkürlich den Rückschluß auf alle anderen geistigen Betätigungen gemacht haben. Dieser Dutzendgelehrte versteht in der Tat immer nur eine einzige Sache, während er auf sämtlichen anderen Gebieten die Hilflosigkeit und Ahnungslosigkeit eines Kindes oder eines Analphabeten besitzt. Das Wesen des wahren Künstlers besteht aber gerade darin, daß er alles versteht, allen Eindrücken geöffnet ist, zu allen Daseinsformen Zugänge hat, daß er eine enzyklopädische Seele besitzt. Wir bemerken daher in Zeiten künstlerischer Kultur bei sämtlichen begabten Menschen die größte Vielseitigkeit. Sie beschäftigten sich mit allem und konnten auch alles. In Griechenland war ein Mensch, der für hervorragend gelten wollte, genötigt, in nahezu allem hervorzustechen: als Musiker und Rhetor ebensogut wie als Feldherr und Ringkämpfer. Der Spezialist wurde von den Hellenen geradezu verachtet: er galt als »Banause«. Und vollends in der Renaissance war Begabung, virtù einfach dasselbe wie Vielseitigkeit. Ein begabter Mensch war damals ein Mensch, der so ziemlich alle Gebiete beherrschte, auf denen sich Begabung zeigen läßt. Nur in entarteten Kulturen taucht der Spezialist auf.
Und dazu kam nun noch, daß diese Künstler ein unvergleichliches Publikum vorfanden, wie es nachher nie wieder und vorher pubiikum nur ein einziges Mal, in Athen, bestanden hat. Es lag um die damalige Menschheit eine undefinierbare Aura von Genialität, eine eigentümlich geladene und gespannte Atmosphäre, die jeden produktiven Menschen zu den höchsten Kraftleistungen aufstacheln mußte. Für uns sind die künstlerischen Genüsse: Theater, Bildergalerie, Roman, Konzert eine angenehme Zugabe zum Leben, eine Sache, an der wir uns erholen, zerstreuen, vielleicht auch erheben, aber schließlich doch nur ein kostbarer Luxus und Überfluß, ein Stück Komfort wie Sekt oder Importen. Wir könnten uns das Leben auch ohne das denken. Aber in Adien oder Florenz war die Kunst eine Lebensfunktion des Menschen, die für seine Vitalität ebenso notwendig war wie das Fliegen für den Vogel. Die italienischen Karnevalsaufzüge, Spiele und Feste waren nicht wie bei uns eine rohe Volksbelustigung oder ein Aperitif für die überfeinerte Gesellschaft, sondern eine Lebensangelegenheit, die für jeden wichtig war, bei der jeder aktiv dabei sein wollte, wie heute in Amerika bei einem Meeting.
Die Rede, daß der Künstler einsam und menschenfern schaffe, nur aus sich, nur für sich, einzig von seinem inneren Genius geleitet, unbekümmert um äußeren Erfolg und Widerhall, ist eine der vielen kuranten Unwahrheiten, die jedermann glaubt, weil niemand widerspricht. Der Künsder schafft nicht aus sich. Er schafft, wir betonten es schon, aus seiner Zeit: das ganze Gewebe ihrer Sitten, Meinungen, Liebhabereien, Wahrheiten und nicht zuletzt ihrer Irrtümer ist sein Nährmaterial; er hat kein anderes. Der Künstler schafft nicht für sich. Er schafft für seine Zeit: ihr Verständnis, ihre lebendige Reaktion ist seine Kraftquelle, erst durch ihr Echo vergewissert er sich, daß er gesprochen hat. Künstler, die das Unglück haben, »posthum geboren zu werden«, wie Nietzsche sagt, das heißt: mit ihren Organen einer höheren Luft oder einem reicheren Boden angepaßt zu sein, haben immer etwas Verpflanztes, Unsymmetrisches, Entwicklungsgehemmtes, und Nietzsche selbst, der in seiner Zeit steht wie ein exotisches Luxusgewächs, ist das beste Beispiel dafür. Es kann die Schuld des Bodens sein, der nicht genügend Säfte hergibt, und das ist der Fall, wenn die Zeit zu arm, zu leer, zu seelenlos ist, und es kann an Sonne und Ozon fehlen, an Luftigkeit und Helle, und das tritt ein, wenn die Zeit rückständig ist und gleichsam nicht auf ihrer eigenen Höhe. Wir dürfen annehmen, daß die Fähigkeiten des Menschengeschlechts sich immer auf einem gewissen gleichmäßigen Durchschnitt halten, daß sie vielleicht im ganzen langsam fortschreiten, aber jedenfalls innerhalb dieser Evolution sich relativ so ziemlich gleichbleiben. Es ist nicht gut vorstellbar, daß plötzlich einige Jahrzehnte lang die Genies aus der Erde schießen und dann Generationen hindurch die Ernte wieder ganz mager bleibt. Aber wohl können wir uns denken, daß die Bodenbedingungen einmal besonders günstig sind und ein andermal elend, daß einmal – und das ist leider die Mehrzahl der Fälle – Hunderte von Samen nicht aufgehen oder nicht recht vorwärts kommen und daß bisweilen alles, was überhaupt lebensfähig ist, bis zu den äußersten Grenzen seines Wachstums gelangt. Ein bestimmter Pflanzenkeim wird in der gemäßigten Zone ein gerades, gesundes, korrektes Gewächs ergeben, nicht mehr und nicht weniger; gelangt er in einen Erdstrich, der entweder zu trocken oder zu rauh ist, so wird man entweder ein erschreckend dürres, struppiges, mißfarbiges und übelgelauntes Gewächs oder eine absonderlich greisenhafte, krüppelhaft am Boden hinschleichende und gewissermaßen asthmatische Zwergpflanze entstehen sehen; setzt man ihn aber in den fetten Boden und die warme wassergetränkte Luft der Tropen, so wird er ein mysteriöses Wundergebilde von Formen, Farben und Dimensionen entwickeln, die man ihm nie zugetraut hätte.
Es ist ein Vorrang der romanischen Nationen vor den germanischen, daß sie ein überaus günstiges Klima für Genies bilden; das geht so weit, daß man fast sagen könnte: sie bringen sogar Genies hervor, wenn sie gar keine haben. Bei ihnen ist der große Mann immer der gesteigerte Ausdruck des ganzen Volkes. Von Voltaire hat Goethe gesagt, er sei Frankreich, und ebenso könnte man von Calderon sagen, er sei Spanien; aber in den germanischen Ländern wirkt das Genie fast immer wie die unerklärliche Ausnahme, der lebende Protest, der glückliche Zufall: Goethe hätte von sich selbst nicht sagen können, er sei Deutschland. Und ebensowenig wird jemand im Ernst behaupten wollen, daß etwa Shakespeare der Typus des Engländers, Strindberg der Typus des Schweden, Ibsen der Typus des Norwegers, Schopenhauer der Typus des Preußen, Wagner der Typus des Sachsen sei. Aber von nahezu keinem der zahlreichen erlesenen Menschen, die während der italienischen Renaissance schufen, kann man leugnen, daß sie typische Vollblutitaliener waren, die nur leuchtend gestaltet haben, was die Menge unartikuliert empfand. In diesen verhältnismäßig kleinen Zentren herrschte eine Reibung, Intimität und seelische Dichte, die für den Schaffenden von höchstem Wert sein mußte. Jede dieser Stadtrepubliken war eine Welt für sich, ein in ewiger Fluktuation, Erregung und Spannung lebender Mikrokosmos. Wie im Bienenstock durch die Zahl der enggedrängten vibrierenden Individuen dauernd eine erhöhte Temperatur und belebende Eigenwärme erzeugt wird, so besaßen auch jene Gemeinwesen eine einzigartige température d'âme, und selbst die Laster und Leidenschaften, die sich hier entluden, wurden zu lebensteigernden, kunstfördernden Stimulantien.
Dies führt uns zu dem oft vernommenen Lamento über die »politische Zerrissenheit« des damaligen Italien. In der Tat: wenn man das Bild lediglich vom Standpunkt des Nationalpolitikers betrachtet, so ist es nicht erfreulich. In Mailand herrschten die Sforza, in Florenz die Medici, in Mantua die Gonzaga, in Ferrara die Este, im Kirchenstaat die Päpste, in Neapel die Aragonier, dazu kamen noch die beiden Seerepubliken Venedig und Genua und die zahlreichen kleineren Souveränitäten. Alle diese Staatswesen bekämpften sich nicht nur untereinander durch offene Fehde oder versteckte diplomatische Intrige, sondern waren auch im Innern durch soziale und politische Parteien gespalten. Aber es läßt sich in der Geschichte verhältnismäßig selten die Beobachtung machen, daß Kräftigung des Nationalgeistes und Steigerung der politischen Macht mit Höherentwicklung der Kultur Hand in Hand gehen. Weder die Griechen der perikleischen Zeit noch die Deutschen des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts genossen das Glück eines nationalen Einheitsstaates, sondern befanden sich in ganz desolaten politischen Verhältnissen, und doch waren beide damals die stärkste geistige Kraftquelle unseres Planeten. Hingegen: die Römer brachten es zu der Zeit, als sie die ganze Welt beherrschten, in Kunst und Wissenschaft nur zu einem dürftigen, epigonenhaften Dilettantismus; die lateinische Renaissance, die Karl der Große auf der Höhe seiner Macht versuchte, verlief sehr kläglich; Frankreich hat unter Ludwig dem Vierzehnten nur eine fadenscheinige, aufgebauschte Goldbrokatkultur und unter Napoleon nur den leeren, lackierten Empirestil erzeugt; Deutschland hat weder nach 1813 noch nach 1870 eine bedeutende künstlerische Entwicklung genommen und besonders in dem Jahrzehnt nach seiner Einigung seine banausischste, geistloseste und kitschigste Kulturperiode erlebt, während das besiegte Frankreich auf dem Gebiet der Malerei und des Romans ganz Neues und Überwältigendes hervorbrachte.
Intimität, wahrhaft menschlicher Verkehr ist nur unter einer kleinen Anzahl von Individuen möglich. Ebenso wie ein wahrhaft fruchtbarer und belebender Unterricht eine Klasse mit verhältnismäßig geringer Schülerzahl zur Voraussetzung hat, darf auch ein Staatswesen, in dem ein persönliches Verhältnis zwischen den führenden Geistern und dem Volke und zwischen den einzelnen Gliedern des Volkes möglich sein soll, nicht allzu groß sein. Das Leben der italienischen Renaissance trug auch in seinen größten Verirrungen immer noch menschlichen Charakter, während das heutige unmenschlich, nämlich vollkommen unübersichtlich und noch dazu maschinell und seelenlos geworden ist. Das gleiche gilt vom Mittelalter. Die Innigkeit, der tiefe Realismus des Mittelalters ließ es zu keinen großen Staatsgebilden kommen. Eine Burg, ein autonomes Städtchen, ein Dorfflecken sind Wirklichkeiten, ein »Weltreich« ist ein toter und leerer Begriff. Die Römer haben es zum Imperialismus gebracht, die Griechen nicht, weil sie talentierter waren. Aus demselben Grunde, warum in einem Freilufttheater ein Ibsendrama oder eine Mozartoper unaufführbar ist, wird wahre geistige Kultur immer nur in relativ kleinen Staatswesen Wurzel fassen können. Die reichsten geistigen Entwicklungen sind immer von Zwergstaaten ausgegangen: von Athen, Florenz, Weimar. Und Italien, das jetzt nicht mehr »zerstückelt« ist, hat es in den zwei Menschenaltern seiner Einheit auf keinem Gebiet zu etwas anderem gebracht als zu matten und nichtssagenden Kopien der französischen Kultur.
Gesteigerte geistige Kultur kann mit »politischem Aufschwung«, »militärischer Expansion«, »nationaler Erhebung« Hand in Hand gehen; die Regel ist dies aber durchaus nicht. Die wahre Ursache jeder Höherentwicklung ist jedenfalls immer irgendein großer Gedanke, der die Massen so mächtig ergreift, daß er sie schöpferisch macht, das heißt: zu großen gemeinsamen Handlungen antreibt, denn eine andere Möglichkeit, schöpferisch zu werden, haben die Massen ja nicht. Dieser Gedanke kann politische Formen annehmen; er kann sich aber auch bloß darin äußern, daß der Kollektivgeist eine exzeptionelle künstlerische Atmosphäre schafft. Man führt die Blüte der griechischen Kultur auf die Perserkriege zurück. Aber was waren denn die Perserkriege? Ein Gedanke! Der Gedanke, daß Hellas, diese winzige Halbinsel einer Halbinsel, nicht einfach aufgefressen und verdaut, behaglich assimiliert werden dürfe von jenem Koloß Vorderasien, der nichts als groß war; daß der Geist notwendig stärker sein müsse als die Moles, die Qualität lebensberechtigter und lebensfähiger als die Quantität. Der griechische Bürger, der damals siegte, hatte mehr gedacht, mehr empfunden, mehr beobachtet, mehr, nämlich innerlicher und intensiver gelebt als der Perser mit seinen Wagenburgen, Riesenflotten, Prachtzelten und Harems. Im Grunde siegten damals Homer und Heraklit. Aber daß sie siegten, war nur eine sehr sekundäre Folge der sehr viel wichtigeren Tatsache, daß sie da waren! Und dreihundert Jahre später wurde Griechenland besiegt, und dies erwies sich als ebenso sekundär, die Römer wurden doch geistig abhängig von den Griechen, weil eben Homer und Heraklit noch immer da waren.
Worin bestand nun der »Gedanke« der Renaissance? Wir haben es bereits angedeutet: der Mensch erkannte – oder vielmehr: er glaubte zu erkennen –, daß er ein gottähnliches schöpferisches Wesen, ja daß er selbst eine Art Gott sei: es ist der uralte Prometheusgedanke, der sich hier mit neuer Kraft Bahn bricht. Und die Formel, unter der er sich äußerte, lautete: Rückkehr zur Antike. Hierin liegt nun ein Problem. Denn man muß sich fragen: wie war es möglich, daß ein Volk gerade in dem Augenblick, wo ein neuer Lebensstrom durch seine Kultur ging, auf den Einfall kam, eine andere, längst versunkene Kultur nachzuahmen?
Zunächst wäre zu sagen, daß solche »Renaissancen«: Wiederanknüpfungen an das Altertum, Rezeptionen des antiken Bildungsstoffes im Gange der europäischen Geschichte etwas ganz Gewöhnliches sind und fast der Ausdruck eines biologischen Gesetzes, indem sie sich mit der Regelmäßigkeit einer Serie im Laufe der Jahrhunderte wiederholen. Schon der Alexandrinismus war im Grunde eine Renaissance, eine bewußte und gewollte Rückkehr zu den literarischen Traditionen der klassischen Zeit. Daß die gesamte römische Dichtung nichts war als eine Wiederholung griechischer Formen, ja genau genommen eine bloße Übersetzungsliteratur, ist allgemein bekannt. Auch das Mittelalter hat zwei Renaissancen erlebt: die karolingische und die ottonische. Und auch die italienische Renaissance war ja nicht die letzte: wir werden im Verlauf unserer Darstellung noch öfters ähnlichen Bewegungen begegnen.
Ferner hat man darauf hingewiesen, daß die italienische Renaissance nichts anderes war als eine Fortsetzung der Landesgeschichte: daß die geistigen Zusammenhänge mit dem Altertum niemals gänzlich abgerissen, die Reste römischer Baukunst und Skulptur niemals gänzlich aus dem Stadtbild und der Landschaft verschwunden waren und der Volkscharakter, wenn auch durch Blutmischungen und neue Kultureinflüsse erheblich modifiziert, sich im wesentlichen auf einer Verlängerungslinie entwickelt hat, die im alten Rom ihren Ursprung hat.
Aber das Problem löst sich noch viel einfacher. Die italienische Renaissance war nämlich gar keine »Renaissance«, sondern etwas schlechthin Neues: sie hat sich an die Antike nur in einem recht geringen Maße angelehnt und in einer ganz äußerlichen Weise, die nichts Entscheidendes bedeutete. Die »Rückkehr zum Altertum« war nichts als ein handliches, dekoratives und für jedermann verständliches Schlagwort, etwa wie die »Rückkehr zur Natur«, die das achtzehnte Jahrhundert predigte; und die Zeitgenossen Petrarcas sind ebensowenig zur Antike zurückgekehrt wie die Zeitgenossen Rousseaus zur Natur.
Petrarca war der erste große Propagandist der Antike. Er war unermüdlich im Aufstöbern, Sammeln, Abschreiben und Kollationieren alter Manuskripte: ihm ist unter anderem die Wiederentdeckung einer ganzen Anzahl von Briefen und Reden Ciceros zu verdanken. Von der ganzen antiken Literatur läßt er aber im Grunde nur diesen einen gelten, den er für den Inbegriff aller Weisheit und Sprachkunst hält. Er besaß zwar auch ein griechisches Exemplar des Homer, von dem er jedoch kein Wort verstand. Im übrigen war er nichts weniger als ein antiker Geist, und epochemachend wurde er durch ganz andere Leistungen als durch seine Wiedererweckung Ciceros. Er hat die ersten großen Liebesgedichte in italienischer Sprache geschrieben, er hat die Form des Sonetts geschaffen, das seither die Lieblingsgattung der italienischen Schriftsteller und Leser geworden ist, und er ist vor allem der erste modern empfindende Mensch: der Poet des Weltschmerzes (einer dem antiken Menschen völlig unbekannten und heterogenen Empfindung), der Schöpfer der sentimental-pikanten Lebensbeichte im Rousseaustil und der Entdecker des Reizes der wildromantischen Natur: er war der erste, der Bergbesteigungen unternahm, was die Alten verabscheuten. Auch ist er dem Altertum gegenüber völlig christlich orientiert. »O gütiger heilbringender Jesus,« ruft er, »wahrer Gott aller Wissenschaften und alles Geistes, für dich, nicht für die Wissenschaften bin ich geboren. Weit göttlicher ist einer von jenen Kleinen, die an dich glauben, als Plato, Aristoteles, Varro, Cicero, die mit all ihrem Wissen dich nicht kennen«; und von der Heiligen Schrift sagt er, daß aus ihr vielleicht weniger Blumen, sicher aber mehr Früchte zu gewinnen seien als aus den weltlichen Schriften. Im großen und ganzen kann man sagen, daß sein begeisterter Ciceronianismus ihm nur dazu gedient hat, sich eine glatte, gefällige, eingängige Form anzueignen, die den Schein zu erwecken versteht, daß viel gesagt sei, während bloß viel gesagt ist: auf dieser Basis hat er das Genre des Lehrbriefes ausgebildet, das etwa unserem heutigen Feuilleton entspricht. Schon manche seiner Zeitgenossen haben daher in seiner ganzen Vortragsweise etwas Komödiantisches erblicken wollen, und dieser Vorwurf ist ihm seither noch oft gemacht worden; und in der Tat haben alle seine Schöpfungen, selbst seine berühmte erotische Lyrik, etwas Posenhaftes, Gestelltes, auf den Effekt hin Drapiertes: sie wirken nicht ganz echt und waren es auch zweifellos nicht. Denn Lebenslauf und Dichtung decken sich bei ihm durchaus nicht: er schreibt glühende Verse an seine einzige Laura und unterhält daneben eine ganze Reihe anderer Liebschaften; er schwärmt für Einfachheit, Weltflucht und Bukolik und ist fortwährend bemüht, Pfründen zu ergattern; er gibt vor, den Ruhm zu verachten, und betreibt dabei aufs eifrigste seine Dichterkrönung. Aber mit alledem kreuzt sich seine leidenschaftliche Aufrichtigkeit und sein heroischer Drang nach Selbsterkenntnis: er war eben schon eine ganz moderne, komplexe Natur.
Eine vollkommen äußerliche Sache war das Studium der Alten bei Boccaccio, der als zweiter Wiedererwecker der Antike genannt wird: er hat diese Richtung von seinem Lehrer Petrarca ganz mechanisch übernommen und überhaupt wohl nur deshalb vertreten, weil sie eben schon damals die große Mode war. Er versuchte Griechisch zu lernen, kam aber darin nicht weit und hat bloß eine Übersetzung Homers ins Lateinische angeregt, die sehr elend ausfiel. Die Nachwelt hat ihm denn auch volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie nur dem Verfasser der graziösen schlüpfrigen Lebensbilder des »Decamerone« eine dauernde Erinnerung bewahrte. Auch die beiden bedeutendsten Humanisten des fünfzehnten Jahrhunderts: Enea Silvio (der spätere Papst Pius der Zweite) und Poggio waren der Weltanschauung des Altertums innerlich abgeneigt: dieser nennt Alexander den Großen einen verruchten Räuber und die Römer die Geißel des Erdkreises; nirgends in der alten Welt sei Treue, Frömmigkeit, Humanität zu finden gewesen. Griechisch wurde überhaupt nur in Florenz auf der von Cosimo Medici gestifteten Platonischen Akademie getrieben; ihr bedeutendstes Mitglied war Marsilio Ficino, der ausgezeichnete Übersetzer Platos, aber auch Plotins, den er mindestens ebenso hoch stellte und in seiner eigenen Philosophie zum Vorbild nahm: auch hier also wieder eine unantike Tendenz, da der Neuplatonismus bekanntlich die Auflösung des autochthonen griechischen Denkens und dessen Überleitung in mystische, dem Christentum verwandte Spekulationen bedeutet. Von einem exakten philologischen Betrieb ist überhaupt bei den Humanisten nirgends etwas zu bemerken: die Texte werden nach Gutdünken überarbeitet, korrigiert, ergänzt, zeitgenössische Schriften mit der größten Unbefangenheit für antike ausgegeben. Auch handelte es sich bei der antikisierenden Renaissanceschriftstellerei in den meisten Fällen weniger um eine wirkliche innere Aneignung der alten Autoren als um eine grobe und schülerhafte Entlehnung eines stereotypen Phrasenschatzes. Erst Laurentius Valla hat eine wissenschaftliche Sprachforschung und Grammatik ins Leben zu rufen versucht, gegen die Vergötterung Ciceros polemisiert, den er unter Quintilian stellt, und in seiner Schrift »de elegantiis«, die ungeheures Aufsehen machte, den Nachweis geführt, daß kein einziger Zeitgenosse ordentlich Lateinisch schreiben könne; im übrigen hat er die Versuche, antike Lebensformen auf die Gegenwart zu übertragen, für lächerlich erklärt. Gegen die einseitigen Ciceronianer wandte sich auch Polizian: das Gesicht eines Stieres oder eines Löwen, schrieb er, erscheine ihm viel schöner als das eines Affen, und doch habe dieser viel mehr Ähnlichkeit mit einem Menschen. Auch Giovanni Pico della Mirandola, einer der größten Geister der Renaissance, warnt vor der parteiischen Glorifizierung des klassischen Altertums; er läßt die Scholastiker des Mittelalters einmal sagen: »Wir werden ewig leben, nicht in den Schulen der Silbenstecher, wo über die Mutter der Andromache und die Söhne der Niobe debattiert wird, sondern im Kreise der Weisen, wo man den tieferen Gründen der göttlichen und menschlichen Dinge nachforscht. Wer da näher tritt, wird merken, daß auch die Barbaren den Geist hatten, nicht auf der Zunge, aber im Busen.« Und sein Neffe Francesco Pico sagt: »Wer wird sich scheuen, Augustinus dem Plato gegenüberzustellen, Thomas, Albert und Scotus dem Aristoteles; wer möchte Äschines und Demosthenes den Vorzug vor Jesaias geben?« Und gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erfolgte die gewaltige Reaktion unter Savonarola, der letzte heroische Versuch, den neuen Geist zu ersticken und zur Gotik zurückzufinden: auf den Scheiterhaufen, die der große Bußprediger errichtete, brannten unter den anderen irdischen Eitelkeiten auch die Werke der Alten und der Humanisten. Diese ganze Bewegung war freilich nur ein Zwischenspiel, sie hat aber eine Zeitlang die weitesten Kreise ergriffen und die tiefsten Wirkungen geübt: sie hat der Malerei, der Dichtung, der Philosophie ihre Züge eingebrannt und eine Reihe der hervorragendsten Künstler zu einer völligen Umkehrung ihres Weltbildes und ihrer Darstellungsweise getrieben: aus mondänen Meistern einer heiteren Salonkunst und hymnischen Schilderern des rauschenden Lebensgenusses werden melancholische Grübler und weltverachtende Asketen, aus zarten Lyrikern hieratische Pathetiker; einige von ihnen haben seit Savonarolas Donnerreden überhaupt keinen Pinsel mehr angerührt. Und zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts erfolgt dann der »Sturz der Humanisten«: alle Welt wendet sich von ihnen ab, niemand vermag mehr ihre Pedanterie und Wortkrämerei, ihre Eitelkeit und Reklamesucht, ihre Frivolität und Korruption, ihre Oberflächlichkeit und Geistesleere zu ertragen.
Aus alledem geht folgendes hervor: erstens, daß die italienische Renaissance eine nahezu rein lateinische war, zweitens, daß sie sich die längste Zeit hindurch nur auf die Literatur erstreckt hat, drittens, daß selbst diese literarische Rezeption eine vorwiegend theoretische, akademische war, und viertens, daß aus dem Altertum nicht die typisch antiken Elemente übernommen wurden, sondern hauptsächlich jene, die bereits das Christentum vorbereiten. »Heidnisch« war die Renaissance nur in einzelnen ihrer Vertreter und auch bei diesen nur in dem negativen Sinn, daß sie den christlichen Glaubensvorstellungen skeptisch und zum Teil sogar atheistisch gegenüberstanden; die positiven Züge der Religion und Weltanschauung des altrömischen Heidentums traten jedoch nur in einigen kindischen Äußerlichkeiten hervor.
Eine umfassende, lebengestaltende und lebenbeherrschende Macht ist der Klassizismus nur in den ersten Jahrzehnten des Cinquecento gewesen: als ein kurzes Intermezzo zwischen Gotik und Barock. In der Baukunst und bei einzelnen Malern wie Mantegna oder Signorelli setzt er schon früher ein; im neuen Jahrhundert wird er zur allgemeinen Leidenschaft und einer Art fixen Idee. Das große Losungswort heißt Kontur: die Plastik ergreift Besitz von der Malerei. Zugleich siegt ein nüchterner, hochmütiger Vereinfachungswille, im Anschluß an einige antike Skulpturen, die damals ans Licht kamen: diese elenden Niedergangsexemplare einer herzlosen, leeren, prosaischen Epigonenkunst werden zu entscheidenden und noch dazu mißverstandenen Vorbildern, unter deren despotischem Druck nun alles künstlich sterilisiert, geglättet, ausgetrocknet und entseelt wird. Die stolze Schmucklosigkeit, die in den Bauten des Quattrocento unvergleichliche Triumphe gefeiert hatte, aber naturgemäß immer nur ein Privileg besonders begnadeter Naturen bleiben kann, soll nun alle Lebensäußerungen beherrschen, erscheint aber in den Händen der kleinen Geister zur aufgeblasenen, hoffärtigen, selbstgefälligen Langweile deformiert; die Einfachheit wird zur Dürftigkeit, die Klarheit zur Seichtheit, die Reinheit zur Abgewaschenheit; das römische Empire, eine Kunst, wie sie den Bedürfnissen der harten und mageren Geisteswelt der altrömischen Großschieber entsprach, soll nun plötzlich zur exklusiven Norm, zum höchsten Ideal erhoben werden. Im sechzehnten Jahrhundert beginnt auch der übermächtige Einfluß Vitruvs, dessen Lehrbuch als absoluter Kanon für den Baumeister galt. Alberti dachte darüber noch anders. In seinem »Trattato della pittura« sagt er: »Die Alten hatten es leichter, groß zu werden, da eine Schultradition sie zu jenen höchsten Künsten erzog, die uns jetzt so große Mühe kosten, aber um so viel größer soll auch unser Name werden, da wir ohne Lehrer, ohne Vorbild Künste und Wissenschaften finden, von denen man früher nichts gehört noch gesehen hatte.« Mit dem Cinquecento weicht das Wunder, das Geheimnis, die Chaotik, Unergründlichkeit und Widersinnigkeit des Lebens aus der Kunst.
Nun konnten ja die Ruinen und Torsi selbst in der damaligen Zeit nur in recht beschränktem Maße einwirken, die antike Malerei gar nicht, am ehesten eben noch die alten Poeten, Rhetoren und Theoretiker. Und was hat man denn, bei Licht besehen, überhaupt übernommen? Ein paar Säulenformen und Dachprofile, Rundbogen und Plafondkassetten, Medaillen und Girlanden, etliche Redefloskeln und Metaphern, lateinische Namen und heidnische Allegorien: – lauter Dinge, die an der Peripherie liegen. Wenn man den Papst Pontifex maximus, die Kardinäle Senatoren, die städtischen Obrigkeiten Konsuln und Prätoren, die Nonnen Virgines vestales nannte, Giovanni in Janus, Pietro in Petreius, Antonio in Aonius latinisierte, wenn ein Dichter die Albernheit hatte, zu singen: » O sommo Giove per noi crocifisso; o höchster Jupiter, für uns gekreuzigt« und ein anderer das ewige Lämpchen des Muttergottesbildes unter die Büste Platos stellte, so wirkt das auf uns nur wie eine modische Marotte oder eine bizarre Maskerade. Aber die Sache lag eben nicht so, daß jene Menschen sich unter dem plötzlichen übermächtigen Einfluß antiker Vorbilder eine neue Kunst, Sprache, Weltanschauung schufen, sondern die wahre Erklärung des ganzen Vorgangs liegt darin, daß diese neue Art zu sehen schon latent da war und man nur nach jenen Paradigmen griff, weil man in ihnen ein ähnliches Weltgefühl verkörpert sah oder zu sehen glaubte. Die römischen Überreste waren schon immer, ja früher sogar viel reichlicher vorhanden gewesen, Vitruv war längst bekannt, aber erst jetzt fiel es den Italienern ein, sich nach diesen Mustern zu richten. Weil sie selber so waren: rationalistisch, formenklar, diesseitig, skeptisch, wurden sie antike Römer. Und was die Literatur anlangt, so ist es bezeichnend, daß aus der Fülle des Überlieferten gerade Cicero zu einer solchen Alleinherrschaft erhoben wurde: seine wässerige, aber rauschende Dekorationskunst, die handliche Glanzstukkatur seiner Eloquenz, die sich mühelos an jedem Gedankengebäude anbringen läßt, sein äußerlich imposanter, die innere Dürftigkeit geschickt verbergender Allerweltsenzyklopädismus: dies alles kam einem so starken Zeitbedürfnis entgegen, daß zum Beispiel einzelne Humanisten sich überhaupt weigerten, etwas anderes zu lesen als Cicero oder ein Wort zu gebrauchen, das bei ihm nicht vorkam.
Und doch hat es auch der sogenannten Hochrenaissance, die eigentlich einen Tiefpunkt der Renaissancebewegung bezeichnet, nicht an einer gewissen Größe gefehlt: vermöge des grandiosen Stilisierungswillens, der alle ihre Lebensäußerungen durchdrang und dem ganzen Dasein eine unnachahmliche Gehobenheit, Pracht und Majestät verlieh. Alles trägt den Charakter einer heiteren Repräsentation, die sich der Natur bewußt entgegensetzt, weil sie sie anders haben will: nicht so natürlich, so vulgär, so selbstverständlich, so »stillos«, sondern würdevoll und formvollendet, dekorativ und geschmackvoll, wohltemperiert und in sorgfältige Falten gelegt. Wir erkannten bei der Betrachtung der nordischen Zustände das Kostüm als eine der charakteristischsten Ausprägungen des Zeitgeistes. Wir finden dasselbe im Süden, nur mit umgekehrter Tendenz: hier strebt die Tracht nach dem Eindruck des Königlichen, Solennen, pathetisch Distanzierenden. Grelle Farben und bizarre Formen werden gemieden; das Fallende und Wallende, die große, kraftvoll fließende Linie gibt den Grundton. Man verlangt von der Frau, daß sie einen mächtigen Busen, starke Hüften, üppige Glieder habe oder doch vortäusche, daß ihre äußere Erscheinung nichts Kleines, Genrehaftes, Niedliches an sich trage: daher liebt man schwere feierliche Stoffe wie Samt, Seide, Brokat, lange Schleppen und weite Bauschärmel, breite Mäntel und hohe Coiffüren, nicht bloß aus künstlichem Haar, sondern zum Teil auch aus weißer oder gelber Seide; die Modefarbe ist das majestätische Goldblond, das die Damen durch alle möglichen Geheimmittel und Tinkturen und durch tagelanges Liegen in der Sonne zu erzielen suchten. Jede Frau soll das Air einer Juno, jeder Mann die Würde eines Jupiter haben, daher kommt auch wieder der stattliche Langbart auf. Das Ephebenhafte steht ebenso niedrig im Preise wie das Mädchenhafte: man schätzt nur den reifen Mann und die vollerblühte Frau, an der man wiederum einen Zug ins Virile liebt. Für die männliche Kleidung werden ernste, dunkle, unauffällige Farben Vorschrift; die Damen tragen sogenannte Wulstenröcke, die, oft viele Pfund schwer, zur Verstärkung der Hüften dienen, Mieder, die den Busen in die Höhe pressen, und fußhohe Schuhuntersätze. Das Ideal des Gehens, Stehens, Sitzens und ganzen Gehabens ist die lässige Vornehmheit, die gehaltene Ruhe, die gravità riposata; man geht überhaupt nicht mehr: man wandelt. Das Leben soll ein immerwährender vornehmer Empfang, ein effektvolles Repräsentationsfest, eine großartige Gesellschaftsszene sein, bei der sorgfältig geschulte, bis in die Fingerspitzen beherrschte Menschen ihre imposante Kunst vollendeten Betragens zur Schau stellen.
Der herrschende Grundzug der italienischen Hochrenaissance ist ein extremer Rationalismus, der aber sehr bald nach Frankreich abwandert, um sich dort dauernd niederzulassen. Michelet sagt: L'art et la raison réconciliés, voilà la renaissance. In dieser Formel ist alles gesagt. Die Renaissance will die Welt einteilen, disponieren, artikulieren, licht und überschaubar machen: aus diesem einen Motiv erfließt alles, was sie geschaffen und zerstört, bejaht und negiert, entdeckt und übersehen, erkannt und verkannt hat. Sie will das Dasein fassen, organisieren, unter Gesichtspunkte bringen, von denen aus jederzeit eine leichte und sichere Orientierung möglich ist. Ihr Ideal ist auf allen Gebieten die Proportion, das Metrum. Das Höchste nach dieser Richtung hat sie in der rhythmischen Gliederung und Linienharmonie ihrer Bauwerke erreicht: mit ebenso genialen wie einfachen Mitteln. Aber auch überall sonst: in der Anlage der Gärten, Möbel, Ornamente, in dem einheitlichen und durchsichtigen Arrangement der Gemälde und Reliefs, in der symmetrischen Auffassung des menschlichen Körpers und seiner landschaftlichen Umgebung herrscht dasselbe mathematisch-musikalische Prinzip. Alle Künstler jener Zeit sind unübertreffliche Meister der Komposition gewesen: darüber hinaus aber sind sie merkwürdig wenig gewesen.
Die italienische Renaissance besitzt eine große Ähnlichkeit mit Zeitalter dem Zeitalter des Perikles, das man eigentlich das Zeitalter der Sophisten nennen sollte. Denn der Peloponnesische Krieg, die athenische Demokratie, die attische Komödie: das waren lauter sophistische Erscheinungen. Man darf dabei natürlich nicht an den landläufigen Begriff der Sophistik denken, der keine Charakteristik dieser philosophischen Schule ist, sondern nur ein von Plato aufgebrachtes Schimpfwort. Im Grunde haben alle klassizistischen, alle sogenannten »goldenen« Zeitalter einen Zug ins Sophistische; auch die augusteische und die napoleonische Zeit zeigen innere Übereinstimmungen mit der Ära des Perikles: Sieg der purifizierenden Logik in Kunst, Weltanschauung, Verfassung. Die Ähnlichkeiten erstrecken sich in unserem Fall zunächst auf die politischen Lebensformen: beidemal Stadtrepubliken mit mehr oder minder deutlich markierter Tyrannis auf demokratischer oder scheindemokratischer Basis: ganz nach der Art der Medici hat auch Perikles seine Herrschaft lediglich als »erster Bürger« ausgeübt, indem er seine Macht nicht auf Erbrecht und Gottesgnadentum, sondern auf politische Klugheit, die Suggestion seiner Persönlichkeit und den Glanz der durch ihn geförderten Künste stützte, während wiederum Gestalten wie Themistokles oder Alkibiades in ihrer Vereinigung von Talent und Charakterlosigkeit, politischer Tatkraft und Mangel an Patriotismus zur Vergleichung mit den großen Condottieri herausfordern. Ferner üben die großen italienischen Stadtgemeinden über eine Reihe von kleineren oder schwächeren Städten eine Hegemonie aus, die ebenso rücksichtslos und egoistisch, verhaßt und unsicher ist wie die der hellenischen Vororte über ihre »Bundesgenossen«; und sie bekämpfen sich untereinander mit ebenso wahllos grausamen und perfiden Mitteln, ohne jeden Sinn für »nationale Einheit«, während sie sich andererseits doch wieder durch das Bewußtsein ihrer gemeinsamen, allen anderen Völkern überlegenen Kultur in einen großen Zusammenhang gestellt fühlen, weshalb sie in allen künstlerischen und geistigen Fragen stets ebenso solidarisch empfunden haben wie in allen politischen Angelegenheiten unheilbar partikularistisch. Die Analogie erstreckt sich in gleichem Maße auf die Verhältnisse der inneren Politik: auch im Italien der Renaissance finden wir den Bürger an eine größenwahnsinnige Polis ausgeliefert, die mit dem Anspruch der Allmacht auftritt, an sinnloser Willkür, niedrigem Neid, verleumderischem Denunziantentum, habgieriger Korruption und frecher Erpressung das Äußerste leistet und sich die Beargwöhnung und Verfolgung und nicht selten die Verbannung oder Tötung ihrer Besten zum Prinzip macht: zur Behandlung eines Phidias und Sokrates bietet das Schicksal eines Dante und Savonarola ein sehr sprechendes Gegenstück. Auch an die große und bis dahin unerhörte Rolle, die die Hetären hier wie dort im geistigen und gesellschaftlichen Leben gespielt haben, könnte man denken, ferner an die künstlerische und soziale Bedeutung der Homosexualität und schließlich an die ebenso intensive wie kurze Blüte beider Kulturperioden, die mitten auf ihrer Sonnenhöhe gleichsam durch Selbstmord geendet haben. Kurz, was Plutarch von den Athenern des fünften vorchristlichen Jahrhunderts gesagt hat: daß sie extrem groß im Guten wie im Schlechten gewesen seien, gleichwie der attische Boden den süßesten Honig und den giftigsten Schierling hervorbringe, das gilt auch von den Italienern der Renaissance.
Den Sophisten entsprechen natürlich die Humanisten. Man denke an ihre maßlose Selbstberäucherung, ihre raffinierte Dialektik, ihre leidenschaftliche Obtrektationssucht und erbitterte gegenseitige Rivalität, die nicht selten zu Schlägereien und bisweilen sogar zu Mordanschlägen führte, ihren Rationalismus und Kritizismus, ihren sittlichen Subjektivismus, der den Menschen zum »Maß der Dinge« macht, ihren religiösen Skeptizismus, der hart bis an die Grenze des Atheismus geht, ohne jedoch die äußeren Formen des herrschenden Glaubens anzugreifen, an ihr wanderndes Virtuosentum, das im Gegensatz zu den bisherigen Anschauungen aus der Verbreitung von Kenntnissen und Fertigkeiten ein Geschäft macht, an ihren extremen Kultus der Eloquenz (von der selbst ein so reicher Geist wie Enea Silvio erklärte, nichts regiere den Erdkreis so sehr wie sie); und wenn sie bei allen ihren Schwächen und Mängeln doch den größten Zulauf fanden und auf eine Weise gepriesen und fetiert wurden, die uns heute fast pathologisch erscheint, so hat auch dies beidemal denselben Grund: sie redeten aus dem Herzen des Zeitalters, dessen tiefste Wünsche und Bedürfnisse sie mit wunderbarem Spürsinn erraten hatten; sie waren in ihrer grenzenlosen Beweglichkeit, Unruhe und Anpassungsfähigkeit, ihrer edeln Neugierde und Wißbegierde und ihrer stets bereiten Empfänglichkeit für alle Dinge des Geistes und der Lebenserhöhung die legitimen Repräsentanten des damaligen Geschlechts.
Die Humanisten waren in der Tat die angesehensten Menschen des Zeitalters: jedermann bewarb sich um ihre Dienste und ihren Verkehr. Sie wurden gesellschaftlich viel höher gewertet als die bildenden Künstler, was sehr merkwürdig ist, da doch in diesen, und zwar ausschließlich in diesen, die gesamte schöpferische Kraft der Renaissance konzentriert war. Nicht selten nahmen sogar die Hofnarren einen höheren sozialen Rang ein als die Maler und Baumeister. Man bediente sich ihrer Talente, bewunderte sie wohl auch, erblickte in ihnen aber doch nur eine Art höherer Lakaien. Nur Raffael machte eine Ausnahme wegen seiner ausgezeichneten gesellschaftlichen Talente, seiner persönlichen Liebenswürdigkeit und seiner Fähigkeit zur Repräsentation. Vasari bezeichnet sich in seinen »Vite« ausdrücklich als Maler und ist sich bewußt, daß darin eine erlesene Courtoisie gegen seine Kollegen liegt, die er damit auf die schmeichelhafte Tatsache hinweisen will, daß aus ihren Kreisen ein Schriftsteller hervorgegangen sei. Und Alberti gibt den Künstlern den Rat, mit Poeten und Rhetoren Freundschaft zu schließen, da diese ihnen die Stoffe liefern.
Damit kommen wir auf einen sehr bemerkenswerten Punkt, den wir bereits kurz berührt haben: das »Literarische« der Renaissance. Die Humanisten lieferten den Künstlern nicht bloß die »Stoffe«, sondern den ganzen geistigen Stoff, Fundus und Untergrund: Weltbild und Assoziationsmaterial, Kanevas und Programm.
Wir sagten im vorigen Kapitel, die bildende Kunst, und im besonderen die Malerei, sei jene Ausdrucksform, in der jede neue Art, die Welt zu begreifen, ihre früheste Ausprägung zu finden pflegt. Es ist auch ganz einleuchtend, warum dies der Fall ist. Betrachten wir den Entwicklungsgang des Individuums, so sehen wir, daß beim Kinde die ersten Eindrücke, die es aufnimmt und verarbeitet, durch das Auge gehen. Es vermag viel früher richtig zu sehen als zu hören oder gar zu denken. Dem entspricht die chronologische Reihenfolge im Werdegang der Kollektivseele. Der neue Inhalt, der das Leben der einzelnen Kulturperioden erfüllt, wird zuerst von den Gesichtskünsten erfaßt: der Malerei, Skulptur, Architektur, sodann von den Gehörskünsten: der Dichtung und Musik, und zuletzt von den Künsten des Denkens und Deutens: der Wissenschaft, Philosophie und »Literatur«. Zuerst sind die neuen Sinne da; viel später erst fragt man nach deren Sinn.
Von dieser Regel macht die italienische Renaissance eine Ausnahme. Hier ging die Literatur der bildenden Kunst vorauf: es gab schon Antikisieren, Renaissance, Klassizismus in den sprechenden Künsten, als die bildenden noch mittelalterlich gebunden oder rein naturalistisch waren. Woher kam nun diese widersinnige Anomalie? Das Rätsel löst sich auch diesmal wieder sehr leicht, indem sich das Ganze als eine bloße Augentäuschung entpuppt, wenn man diese der bildenden Kunst vorauseilende Literatur ein wenig näher ins Auge faßt. Sie liegt nämlich auf einer ganz anderen Ebene als die anderen Künste, insofern sie überhaupt keine Kunst ist, sondern eine gänzlich unproduktive, sterile, akademische Programmatik und stilistische Spielerei. Erst im sechzehnten Jahrhundert, als die bildenden Künste schon längst geblüht und ausgeblüht hatten, erscheint eine schöpferische Literatur, eine Poesie, die ihren Namen wirklich verdient, und auch da bleibt sie in ihrer ganzen seelischen Haltung weit hinter der Malerei zurück: die Epik Ariosts und Tassos ist ohne Luftperspektive, ohne Kenntnis der Anatomie, ohne Kraft höchster Individualisierung, ohne echte Dramatik und wirkliche Porträts, in der Komposition noch ganz auf der Stufe der Primitiven: streifenförmig, linear, ohne Tiefendimension, ornamental; und vor allem ohne jene noble Einfachheit und Natürlichkeit, die den höchsten Ruhm der Renaissancekünstler bildet.
In Wahrheit gab es in jenen zwei Jahrhunderten nicht: erst Dichtkunst, dann bildende Kunst, sondern nur bildende Kunst, sofern man unter Kunst etwas Neues, Schöpferisches, Eigenes, eine Geburt versteht. Zu modifizieren ist aber diese Feststellung durch die andere Konstatierung, daß diese bildende Kunst allerdings zum Teil hervorgerufen war durch szientifische Erörterungen, Untersuchungen und Reminiszenzen, was sonst nicht der Fall zu sein pflegt; und dies war eine Art Fluch der Renaissance, denn hierdurch wurde der ganzen Bewegung der Charakter des Intellektuellen, Artifiziellen, Gewollten, Gemachten, Gestellten aufgeprägt, der sich von Generation zu Generation verstärkte und auf der Höhe der Entwicklung, als das verderbliche Programm endlich voll begriffen wurde, zu einer Seelenlosigkeit und Kälte führte, die alle Keime einer fruchtbaren Fortbildung ertöten mußte.
Ein häßlicher und zerstörender Riß geht von nun an durch alle höheren Betätigungssphären der Kultur. Kunst wird eine Sache der Kenner, Weisheit eine Sache der Gelehrten, Sitte eine Sache der guten Gesellschaft. Der Maler, der Bildhauer, der Poet schafft nicht mehr für die ganze Menschheit als Seher und Verkünder großer heiliger und beseligender Wahrheiten, sondern für einen kleinen Kreis, der die »Voraussetzungen« hat, die »Feinheiten« zu würdigen versteht, die »Nebenvorstellungen« zu vollziehen vermag. Die Baumeister errichten nicht mehr, wie im Mittelalter, ihre Kirchen und Dome als Vollstrecker der allgemeinen Gottessehnsucht, sondern als Angestellte kunstliebender Connoisseurpäpste, prunkliebender Fürsten oder ruhmliebender Privatleute. Die Denker meditieren für ein ausgewähltes Fachpublikum, die Poeten feilen ihre Verse für eine privilegierte Klasse von Feinschmeckern, das Kunsthandwerk schmückt nur noch das Leben der Reichen, die Musik wird eine hohe Wissenschaft, der Krieg, das Recht, die Politik, der Handel: alles wird ein Fach. Die Palazzi tragen den Geist der neuen Zeit deutlich an der Stirn: sie haben alle einen kalten, ungastlichen, schrankebildenden Gesichtsausdruck, man glaubt nicht recht, daß Menschen darin wohnen, ja daß überhaupt Häuser zu diesen Fassaden gehören: sie scheinen nichts als strenge, hochmütig abweisende Prunkwand und Dekorationskulisse zu sein. Auf den Porträts sieht man nur noch große Herren und grandes dames; die Gottesmutter ist nicht mehr die armselige Magd, die donna umile, sondern die stolze Madonna, die die heiligen drei Könige als gleichberechtigte Souveränin empfängt; Christus wird zum unnahbaren Herrn der Heerscharen, das Jesuskind zum steifen wohlerzogenen Kronprinzen, in dem schon das Bewußtsein seines künftigen Ranges lebt, die Apostel zu kühlen selbstbewußten Kavalieren: man malt eine Welt vornehmer Leute für vornehme Leute, für Menschen mit »Kinderstube«, denen heftige Worte, hastige Bewegungen, unruhige Linien ein Greuel sind, die in der Luft des Reichtums, Komforts und Bontons aufgewachsen sind, sich niemals gehen lassen, nie intim werden und auch in den Momenten der Erschütterung und Überraschung Haltung zu bewahren verstehen; man malt nur, was in der großen Welt als geschmackvoll gilt. Keine Affekte: Affekte sind vulgär; keine Erzählung: Erzählen ist Volksgeschmack; keine Details: Details sind Basargeschmack; keine Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten, Hintergründe: ein Gentleman ist niemals mehrdeutig; keine lauten Farben und grellen schreienden Kontraste: ein feiner Mensch schreit nicht. Um in Plastik und Architektur den Eindruck der größtmöglichen Ruhe und Vornehmheit zu erzielen, läßt man den Stein völlig weiß und glaubt damit echt römisch zu sein, ohne zu ahnen, welche Leidenschaft gerade das römische Empire für bunte Materialien: für grüne, rote, gelbe, violette, gefleckte, geäderte, gestreifte, geflammte Steinarten gehabt hat und wie es seine Fassaden, Reliefs und Fruchtstücke aufs leuchtendste und prachtvollste bemalt und selbst seine Triumphbogen, Statuen und Porträtbüsten mit den kräftigsten Farben getönt hat.
Damals wurde der Typus des bornierten, besserwissenden, dünkelhaften Fachmanns und Gelehrten geboren, der bis zum heutigen Tage die europäische Kultur verseucht. Im Mittelalter zerfiel die Menschheit in Kleros und Laos; nun wird ein zweiter, viel tieferer und schärferer Schnitt durch sie geführt: es gibt fortan die Ungebildeten, die Ununterrichteten, das »Volk«, die neuen Laien und die Wissenden, die Schlüsselbewahrer aller Lebensrätsel, die akademisch Geweihten und Eingeweihten. Eine neue Aristokratie kommt herauf, noch viel unduldsamer, brückenloser, kastenstolzer, unmenschlicher und exklusiver als die frühere.
Und hier hat auch die Parallele mit dem perikleischen Zeitalter ihre Grenze. Damals gab es eine Gesamtkultur, und zwar in doppeltem Sinne, nämlich erstens eine Kultur für alle, denn einen Sophokles, Phidias, Sokrates und selbst »Gelehrte« wie Thukydides und Hippokrates verstand ein jeder, und zweitens (was vermutlich eine Folge des ersten war) eine Kultur, die auf allen Gebieten das Höchste erreicht hat, während die Italiener der Renaissance bei all ihrem Universalismus, der jedoch bloß technisch und äußerlich war, in mehreren wichtigen Kulturzweigen gänzlich unfruchtbar geblieben sind. Ihre einzige originelle Schöpfung auf dem Gebiete der Musik ist die caccia, ein zweistimmiges kanonisches Gesangsstück mit Instrumentalbegleitung, das alle möglichen Geräusche des täglichen Lebens: Regengeplätscher, Feilschen der Händler auf dem Markte, Straßenrufe, Mädchengeplauder, Tierstimmen und dergleichen tonmalend wiedergibt und den frühesten modernen Versuch einer Programmusik darstellt; und auch einen schöpferischen Philosophen haben sie niemals besessen: erst nach dem Absterben der Renaissance haben sie einen Musiker und einen Denker von Weltformat hervorgebracht: Palestrina und Giordano Bruno. Ihre dramatische Leistung beschränkte sich auf einige geistvolle satirische Schwanke von Laune und guter Lebensbeobachtung: selbst Machiavells »Mandragola« ist nur erlesenste Unterhaltungsliteratur; und das ernste Genre ist bloßes Ausstattungsstück, obschon von einer Pracht, Phantasie und künstlerischen Vollendung, von der man sich heute kaum mehr einen Begriff machen kann. Allerdings haben sie so überwältigend dramatisch gemalt, modelliert und gebaut und vor allem gelebt, daß man ihnen gerade aus dem Mangel eines geschriebenen Dramas am wenigsten einen Vorwurf machen kann.
Die Geschichte der italienischen Renaissance ist in Bildern geschrieben. Die Maler haben alle Windungen des seltsamen Weges, den der öffentliche Geist dieses Landes von der Mitte des vierzehnten bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts beschrieben hat, mit zartestem Verständnis und stärkster Ausdruckskraft widergespiegelt. Trotzdem wäre es gewagt, einen von ihnen als absoluten Repräsentanten des Zeitgeistes herauszugreifen: am ehesten kämen hierfür noch gewisse Sterne zweiten und selbst dritten Ranges in Betracht. So hat zum Beispiel Pisanello für die naive und doch schon sehr kennerische Freude am bunten Detail, die die Menschen des Quattrocento erfüllt, eine unvergleichlich reiche Sprache gefunden, und ebenso hat Benozzo Gozzoli die unerschöpfliche schäumende Lebenslust dieser neuen Generation, ihre jugendliche Leidenschaft für Feste, Aufzüge, Bauten, die im ganzen Dasein einen ewigen Karneval erblickt, zu rauschenden Symphonien verdichtet, während andererseits die Savonarolazeit in den kargen, asketischen und vergeistigten und dabei doch stets liebenswürdigen, milden und lächelnden Gestalten Peruginos ein ergreifendes Denkmal erhalten hat und in einem Künstler wie Giovanantonio Bazzi, der in der Kunstgeschichte unter dem bezeichnenden Namen Sodoma fortlebt, das Überblühen der Renaissance, ihre raffinierte sybaritische Sinnlichkeit, die bis zur Verworfenheit und Perversität fortschreitet, eine höchst charakteristische Ausprägung findet. Aber wenn man von der Renaissance spricht, denkt niemand an dergleichen Namen. Es ist längst zur feststehenden Tradition geworden, Michelangelo, Lionardo und Raffael den unbestrittenen Herrscherprimat, gleichsam das Triumvirat zuzugestehen.
Allein Michelangelo steht völlig abseits. Man hat ihn als Vollender des Klassizismus und als Initiator der Barocke, als letzten Gotiker und als Vater des Expressionismus reklamiert. Er ist all das und nichts von alledem. Er gehört zu jenen höchst seltenen, ebenso einseitigen wie allseitigen Geistern, die eine vollkommene Welt für sich bilden, die keine Schüler und keine Zeitgenossen haben, zu den Megatherien der Menschheit, die anderen Lebensbedingungen gehorchen als unsere Spezies, zu den wenigen Monumentalstatuen im Pantheon des menschlichen Geschlechts, die etwas Zeitloses und außerhalb der Natur Gestelltes an sich tragen. In ihnen überschlägt sich gleichsam die Naturkraft und schießt über sich selbst hinaus. Sie hätten zu jeder beliebigen Zeit leben können und ebensogut zu gar keiner Zeit: denn wir können heute noch nicht begreifen, daß sie jemals existiert haben. Es gibt kein »Zeitalter Michelangelos«. Er ragt über seine Zeit hinaus wie ein scharfes Riesenriff oder ein unzugänglicher kolossaler Leuchtturm. Es gibt auch keine Schule Michelangelos; oder sollte doch keine gegeben haben. Denn der Irrglaube, daß man von ihm etwas lernen könne, hat nur zu den widersinnigsten Schöpfungen geführt und für die Kunstgeschichte die unheilvollsten Folgen gezeitigt.
Er stand mit seiner Zeit selbst äußerlich in gar keiner Kommunikation. Er paßte nicht zu seiner Umwelt und seine Umwelt nicht zu ihm. Alles an ihm atmet Menschenfeindlichkeit, für jede Art von Geselligkeit und Gemeinschaft war er ungeeignet; in seiner äußeren Erscheinung abstoßend häßlich: von »malaiischem« Gesichtsausdruck, klein und schwächlich, immer schlecht gekleidet; scheu, mißtrauisch, wortkarg, stets mit sich und den anderen unzufrieden; ohne jede Genußfreude, frugal bis zur Schäbigkeit: mit einem Tölpel von Diener in einer elenden Kammer lebend, seine Nahrung etwas Brot und Wein, seine Erholung ein paar Stunden Schlaf in den Kleidern; von gänzlich unverträglichem Charakter, intolerant und gehässig gegen andere Künstler; von einem exklusiven Selbstgefühl, das zwar berechtigt, aber nicht einnehmend war: ein neunundachtzigjähriges Leben ohne irgendeinen Lichtblick, ohne Glück, ohne Freundschaft, ohne eine einzige Liebesstunde (obgleich er von höchster erotischer Empfänglichkeit war und sich zumal zu Vittoria Colonna und Tommaso dei Cavalieri leidenschaftlich hingezogen fühlte), dagegen bis an den Rand angefüllt mit Verzweiflung: »kein tödlich Leid blieb mir ja unbekannt«, hat er selbst von sich gedichtet; und in der Tat: die »Gabe, aus allem Gift zu saugen«, von der Lichtenberg einmal spricht, besaß er in höchstem Maße. Nein, er war nicht liebenswürdig, dieser Michelangelo: so abgründliche abseitige Giganten, Heroen aus einer fremden Eiswelt pflegen das selten zu sein. Er selbst war sich über seine zeitlose Größe, seinen ungeheuern Abstand von allen anderen völlig klar. Als man ihn einmal darauf aufmerksam machte, daß seine Büsten der beiden Medici gar nicht ähnlich seien, erwiderte er: »Wem wird das in zehn Jahrhunderten auffallen?« Alle übrigen Renaissancewerke sind, mit den seinigen verglichen, Miniaturen, die anderen sind »schön«, er ist groß, selbst Lionardos Seelenhaftigkeit wirkt neben ihm süß.
Was nun diesen anlangt, so kann er ebenfalls nicht recht als Repräsentant der Renaissance betrachtet werden; schon deshalb nicht, weil wir so wenig von ihm wissen. Es ist etwas wie ein feiner Nebel um seine Gestalt. Selbst Burckhardt, der in den Mysterien der Renaissance wie in einem offenen Buch blättert, nennt ihn den »rätselhaften Meister«. Er ist unergründlich wie das berühmte Lächeln seiner Mona Lisa. Und auch alle seine übrigen Gemälde sind wahre Vexierbilder, die hinter sich und über sich hinaus zu weisen scheinen; es liegt über ihnen eine seltsam gespenstische Leere: nicht die Leere der Hohlheit, sondern die Leere der Unendlichkeit. Selbst die Landschaft hat bei ihm etwas Fernes, Fremdes, Verschwiegenes. Und während es das tiefste Wesen fast aller Künstler ist, daß sie etwas sagen wollen, das in ihnen leidenschaftlich nach außen drängt, verschwindet er völlig hinter seiner Schöpfung: das »Abendmahl« ist vielleicht das objektivste Werk, das je aus einem Pinsel hervorgegangen ist. Es ist symbolisch für sein ganzes Wesen, daß er der erste große Meister des Helldunkels, der respirazione und des sfumato gewesen ist, daß er gelehrt hat, man müsse malen, als scheine die Sonne durch Nebel, und schlechtes Wetter sei das beste Licht für Gesichter: auch seine eigene Persönlichkeit ist ein magisches Chiaroscuro, in eine schwimmende Atmosphäre getaucht und in weiche verblasene Konturen gehüllt, die den Umriß nur ahnen lassen. Sehr bezeichnend ist es auch, daß es gerade zwei so geheimnisvollen Gestalten wie Lodovico Moro und Cesare Borgia gelungen ist, diesen ruhelosen Geist dauernd in ihren Diensten festzuhalten. Auch seine ans Wunderbare grenzende Universalität, die in der Weltgeschichte einzig dasteht, macht ihn zum unfaßbaren Proteus. Er war Maler, Architekt und Bildhauer, Philosoph, Dichter und Komponist, Fechter, Springer und Athlet, Mathematiker, Physiker und Anatom, Kriegsingenieur, Instrumentenmacher und Festarrangeur, erfand Schleusen und Kräne, Mühlenwerke und Bohrmaschinen, Flugapparate und Unterseeboote; und alle diese Tätigkeiten hat er nicht etwa als geistreicher Dilettant ausgeübt, sondern mit einer Meisterschaft, als ob jede von ihnen sein einziger Lebensinhalt gewesen wäre. Und zudem hat das Schicksal, als ob es seine Züge absichtlich noch mehr hätte verwischen wollen, seine Hauptwerke entweder, wie das Standbild Francesco Sforzas und die Reiterschlacht, völlig zugrunde gehen lassen oder, wie das Abendmahl, nur in sehr beschädigtem Zustande auf uns gebracht. Am deutlichsten kommt aber die völlige Unerforschlichkeit seines Wesens in dem herben, verschlossenen, wie mit Schleiern verhängten Antlitz der Rötelzeichnung zum Ausdruck, in der er sich selbst porträtiert hat.
Es bleibt also nur Raffael. Und dieser hat nun wirklich sein Zeitalter auf die vollkommenste Weise repräsentiert, und zwar – ein merkwürdiger Fall – nicht etwa, weil er eine so besonders hervorstechende, scharf profilierte, überragende, eigen willige Persönlichkeit gewesen wäre, sondern vielmehr gerade durch seinen Mangel an Persönlichkeit, der es ihm ermöglichte, ganz aufnehmendes Medium, ganz Spiegel zu sein, alle Strahlen, die ihn trafen, zu fassen und wieder zurückzuwerfen. Raffaels Werk ist die sorgfältige, klare, vollständige und schöne, ja sogar allzu schöne Niederschrift des Cinquecento und – da das Cinquecento eben doch in gewissem Sinne die Vollendung, die stärkste und konzentrierteste Auswirkung des Renaissancewillens ist – eigentlich die Essenz der ganzen italienischen Renaissance. Aus dieser Mischung außerordentlicher und nichtssagender Qualitäten erklärt es sich auch, daß über ihn stets die größte Meinungsverschiedenheit geherrscht hat. Sein Werk ist ein unvergleichlicher Querschnitt und Durchschnitt seiner Zeit, und zu diesem Zwecke war es ganz unerläßlich, daß er selber nicht mehr als ein Durchschnittsmensch war; da aber diese Zeit voll Größe, Glanz und Reichtum war, so ist es ebenso natürlich, daß von ihm, der dies alles in sich eingetrunken hatte, Glück, Reichtum und unverlierbarer Glanz auf die Nachwelt zurückstrahlt.
Schon Michelangelo hat von Raffael gesagt, er sei nicht durch sein Genie, sondern durch seinen Fleiß so weit gekommen. Und derselbe Michelangelo leitete eine neue Ära ein, in der eine vollkommene Abwendung von Raffael stattfand: die Barocke, deren wichtigste Leistung die Auflösung der starren Linie war und der daher Raffael, der Meister der Kontur, nichts zu sagen hatte. In der Tat hat Bernini, der Diktator dieser Stilperiode, vor der Nachahmung Raffaels geradezu gewarnt. Aber auch im Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten, das bereits wieder eine Rückkehr zum Klassizismus vollzog, wurde der Hofmaler Lebrun höher gestellt als Raffael. Als die Sixtinische Madonna nach Dresden gebracht wurde, ließ August der Zweite sie im Thronsaal aufstellen und sagte zu den Hofbeamten, die außer Fassung darüber gerieten, daß der Thron dem Bilde weichen sollte: »Platz für den großen Raffael!« Und dennoch erklärten die damaligen Dresdener Kunstautoritäten, das Kind auf dem Arme der Madonna habe etwas Gemeines, und sein Gesichtsausdruck sei verdrießlich. Und noch im neunzehnten Jahrhundert behauptete man, die Engel auf dem Bilde habe ein Schüler hineingemalt. Boucher gab einem seiner Jünger, der nach Rom reiste, den Rat, sich nicht allzuviel mit dem Studium Raffaels abzugeben, der trotz seines Rufes un peintre bien triste sei. Daß Winckelmann, der verhängnisvolle Begründer des deutschen Gipsklassizismus, von Raffael sehr eingenommen war, ist begreiflich; aber gleichwohl zweifelte er keinen Augenblick, daß sein Freund Raffael Mengs, einer der ödesten Allegoristen, die je gelebt haben, größer sei als Raffael Santi. Beim Anbruch des neunzehnten Jahrhunderts hatte es freilich eine Zeitlang den Anschein, als sollte Raffael die absolute Hegemonie in der Malerei zufallen. Wenigstens konnten die Nazarener, die damals in einem gewissen Grade tonangebend waren, sich in seinem Lobe nicht genug tun. Aber sieht man näher zu, so bemerkt man, daß der Raffael, den diese begeisterten jungen Männer so überschwenglich priesen, gar nicht der eigentliche Raffael war; sondern wenn sie von ihm sprechen, so meinen sie immer nur den Raffael der vorrömischen Periode: die Bilder, die er malte, als er in den Vollbesitz seiner Meisterschaft gelangt war, erscheinen ihnen bereits als Verfall. Die Nazarener und die mit ihnen verwandten Romantiker sind es auch gewesen, die jene zähe Legende von Raffael, dem edeln unschuldsvollen Jüngling geschaffen haben, der wie ein Nachtwandler durchs Leben schritt, alle seine Schöpfungen einer mühelosen überirdischen Inspiration verdankte und die vollkommene Naivität eines begnadeten Kindes besaß, also gerade das Gegenteil von dem gewesen sein soll, was Michelangelo behauptet hatte und was der Wirklichkeit entsprach: es ist jener Raffael, der dann fast ein Jahrhundert lang als Spritzmalerei, Abziehbild und Handtuchschützer den deutschen Bürger entzückt hat. Dann aber kamen die Präraffaeliten, die den Höhepunkt der italienischen Kunst in die Periode vor Raffael verlegten und in diesem nur einen kalten seelenlosen Virtuosen erblickten. Ihr Wortführer war Ruskin, für den Raffael der Inbegriff der leeren, unwahren Eleganz ist. So sagt er zum Beispiel über die Berufung der Apostel: »Wir fühlen, wie unser Glaube an das Ereignis mit einemmal erlischt. Nichts bleibt davon als ein Potpourri von Mänteln, muskulösen Armen und wohlfrisierten griechischen Büsten. Durch Raffael ist alles verdorben worden, was an der Legende zart und ernst, grandios und heilig ist. Er hat aus der biblischen Dichtung ein totes Arrangement schöner, schön gebauter, schön gestellter, schön drapierter, schön gruppierter Menschen gemacht.« Edmond de Goncourt nannte ihn den Schöpfer des Muttergottesideals für Spießbürger, und Manet erklärte, er werde vor einem Bild von Raffael buchstäblich seekrank. Man sieht also, daß es niemals an Kennern gefehlt hat, die mit Velazquez sagen konnten: »Um die Wahrheit zu gestehen: Raffael gefällt mir gar nicht.«
Das Jahr 1517 ist jedermann bekannt als das Geburtsjahr der Reformation, in dem Luther seine fünfundneunzig Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg nagelte. In demselben Jahre malte Raffael seine Sixtinische Madonna, an die jedermann denkt, wenn der Name Raffael genannt wird. Und um dieselbe Zeit vollendete der Graf Balthasar Castiglione seinen »Cortegiano«, jenes Werk, das man eine Art Renaissancebibel nennen könnte. Es ist der Knigge jener Tage, sein Held ist der Gentleman, wie die damalige Zeit sich ihn dachte: gewandt, würdig, repräsentativ, jeder Lebenslage voll Takt gewachsen und darin dem heutigen Gentleman ähnlich; aber es ist ein Gentleman voll Grazie, Heiterkeit und Unbeschwertheit. Diesen vollendeten Kavalier, um den alle Reize versammelt sind, den Geliebten der Fürsten, der Frauen und der Götter, hat Raffael gemalt und hat Raffael gelebt. So schreitet sein Bild durch vier Jahrhunderte.
Aber der Götterliebling Raffael hat, wenigstens für unser Lebensgefühl, einen großen Mangel. Götterlieblinge sind nämlich fad. Sie sind so langweilig wie das »blaue Meer des Südens«, der »holde Frühlingstag«, das »süße Baby in der Wiege« und alle ganz reinen, ganz ausgeglichenen, ganz glücklichen Dinge. Unsere Sehnsucht gilt etwas anderem, im Leben und in der Kunst.
Raffael hat einmal gesagt: »Um eine Schöne zu malen, müßte ich deren mehrere vor Augen haben. Da es mir an Modellen fehlt, male ich aus dem Gedächtnis nach einer Idee, die ich im Kopfe habe.« Er meint damit, daß er, da es in der Natur keine weibliche Schönheit gibt, die in jedem Teil absolut vollkommen ist, darauf angewiesen sei, sich in der Phantasie aus einzelnen Reminiszenzen ein solches Ideal zusammenzustellen. Diese Ansicht, daß die Darstellung des Vollkommenen die Aufgabe der Kunst sei, war der Grundirrtum Raffaels; und der Grundirrtum des ganzen Klassizismus. Immer wieder tauchen von Zeit zu Zeit große Künstler auf, die uns vorübergehend zu beweisen scheinen, daß Klassizismus, das heißt: strenge Ordnung, Einheit, Gradlinigkeit, Harmonie, farblose Durchsichtigkeit, die Blüte jeder Kunst sei. Sie beweisen es aber gewissermaßen nur in usum delphini, nämlich für sich selbst. In der Tat: manche »klassische« Schöpfungen sind bisweilen von einer so übernatürlichen, unwirklichen Schönheit, daß wir für den Augenblick geneigt sind, zu vermuten, dies sei die Spitze der Kunst und alles andere nur ein mehr oder minder unvollkommener tappender Versuch nach diesem Gipfel hin. Es ist aber eine Täuschung. Diese Phänomene sind nicht etwa die Verkörperung der Regel (was man glauben könnte, wenn man bedenkt, daß sie die regelmäßigsten sind); sie sind im Gegenteil interessante Abweichungen, bewunderungswürdige Monstra. Unregelmäßigkeit ist das Wesen der Natur, des Lebens, des Menschen. »Regelmäßigkeit« ist ein künstliches Destillat oder ein seltsamer Zufall. Das regelmäßigste Gebilde, das die Natur hervorbringt, ist der Kristall. Und trotzdem: jeder Mineraloge weiß, daß ein vollkommen regelmäßiger Kristall nicht existiert. Aber schon seine bloße Annäherung an die Regelmäßigkeit macht den Kristall zu etwas Totem. Kreisrunde Bergkegel, radiär-symmetrische Tiere, völlig gleichmäßige Beleuchtungen und Klimata: dergleichen ist bisweilen zu beobachten. Aber es sind gewissermaßen Schrullen der Natur. Wir betrachten klassische Schöpfungen mit Staunen und Verehrung wie Gletscher; aber wir möchten nicht dort wohnen und könnten es auch gar nicht. Wir schlagen unsere Niederlassungen im Dickicht auf, im Mittelgebirge, auf der unregelmäßigen Ebene, am ewig bewegten Wasser. Wir sind unheilbare Romantiker, niemals Klassiker; wir müssen es sein, weil auch die Natur nur Romantisches zu schaffen vermag.
Raffael gibt keine Probleme auf: das ist der Haupteinwand gegen ihn. In seinem wunderschönen Buch »Das Leben Raffaels« sagt Herman Grimm: »Raffael will nichts. Seine Werke sind sofort verständlich. Er schafft absichtslos wie die Natur. Eine Rose ist eine Rose: nichts mehr und nichts weniger; Nachtigallengesang ist Nachtigallengesang: keine Geheimnisse sind da noch weiter zu ergründen. So auch sind Raffaels Werke frei von persönlicher Zutat, bei ihm fehlt auch den erschütterndsten Dingen alle persönliche Besonderheit, als seien eigene Erlebnisse des Künstlers hineingearbeitet worden, seine Persönlichkeit drängt sich nirgends vor.« Bleiben wir ruhig bei dieser Vergleichung, und haben wir den Mut, uns einzugestehen: Rose und Nachtigall haben etwas Kitschiges. Sie sind ein bißchen zu schön. Und sie sind nur schön. Wir fragen uns unwillkürlich: schön und sonst nichts? Ähnlich ergeht es uns bei Raffael. Mit einem echten Kunstwerk muß man irgend etwas anfangen können. Es genügt nicht, daß es träge und majestätisch vor unserem Auge sich ausbreitet und behauptet, schön zu sein. Es muß über sich hinausweisen auf Schlösser, die es zu erschließen, Leichen, die es zu beleben, Träume, die es zu enträtseln vermag. Es muß ein Deuter des Lebens sein. Man muß es in jeder Lebenslage ans Ohr halten und befragen können. Jedes Kunstwerk hat eine »Tendenz«, ja hierin besteht sogar sein Hauptwert. Es hat eine Tendenz oder mit anderen Worten: hinter ihm steht ein Mensch. Ein Mensch, der Fragen und Antworten, Gedanken und Leidenschaften hat. Aber da stehen Raffaels Figuren, »frei von jeder persönlichen Zutat«, schön blau und rot angemalt wie Zuckerstengel oder Zinnsoldaten, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese berühmten Frauenbildnisse auch ganz gut auf einer Seifenschachtel oder als Parfümpackung figurieren könnten und daß es so etwas wie »Sistinaschokolade« geben könnte. Dasselbe gilt von seiner Komposition. Oder würde zum Beispiel die »Philosophie« in der Stanza della segnatura nicht einen prächtigen Theatervorhang abgeben? Der vielgerühmte Glanz, der Raffaels Werken eigentümlich ist, geht eben oft bis zum Satinierten, Raffael hat eine zu kalligraphische Handschrift. Man spürt in seinen Werken nur zu oft den Auftraggeber: die nichtssagende Glätte und leere Formfreude Leos des Zehnten, der weder Lionardo noch Michelangelo begriffen und überhaupt von Kunst sehr wenig verstanden hat, die Musik etwa ausgenommen. Das rein Musikalische seiner Natur hat er nun offenbar nicht ohne Erfolg auf Raffael, dieses Genie der Anpassung, übertragen; wie es auch dem Humanisten Bembo gelungen ist, auf seinen Freund Raffael seine nichtssagende Rhetorik abzufärben.
Aber war er nicht einer der vollkommensten Maler, die je gelebt haben? Zweifellos; wir betrachten ihn jedoch hier gar nicht als Maler, sondern als Kulturbegriff, wie es uns ja auch nicht einfallen könnte, in einem solchen Zusammenhang etwa Napoleon als Strategen oder Luther als Theologen zu betrachten. Und dann: die Vollkommenheit Raffaels ist es ja gerade, die ihn uns so fern, so fremd und stumm macht. »Das Unzulängliche ist produktiv«, lautet einer der tiefsten Aussprüche Goethes. Alles Ganze, Vollendete ist eben vollendet, fertig und daher abgetan, gewesen; das Halbe ist entwicklungsfähig, fortschreitend, immer auf der Suche nach seinem Komplement. Vollkommenheit ist steril.
Wollten wir das Ganze zusammenfassen, so könnten wir sagen, daß es eben zwei Arten von Genies gibt: die Besonderen, Einmaligen, Isolierten, die großen Solitäre, deren Größe gerade darin besteht, daß sie ein Unikum, eine Monstrosität und Psychose, eine zeitlose und überlebensgroße Ausnahme darstellen. Und dann gibt es aber auch solche, die das Fühlen und Denken aller Welt darstellen; aber so zusammengefaßt, verdichtet und leuchtend, daß ein ewiger Typus daraus wird. Und zu diesen hat Raffael gehört. Dies meint wohl auch Herman Grimm, wenn er über ihn sagt: »Er hat etwas entzückend Mittelmäßiges, Gewöhnliches. Als könne jeder so sein wie er. Er steht jedem nahe, ist jedermanns Freund und Bruder; keiner fühlt sich geringer neben ihm.« Seine süßen Frauenantlitze, seine klaren Figurenanordnungen, seine hellen und kräftigen Farbenharmonien versteht jeder. Er ist so, wie Monsieur Toutlemonde sich einen Maler vorstellt. Raffael spricht zu jedermann. Aber eben deshalb spricht er eigentlich zu niemand.
Wir sagten vorhin, die italienische Renaissance habe keinen einzigen Philosophen hervorgebracht. Sie hat aber etwas besessen, was vielleicht ebensoviel wiegt: einen praktischen Beobachter, Schilderer und Beurteiler von höchster Klarheit, Schärfe und Weite des Blickes: Machiavell. Machiavell ist nicht bloß der erfahrungsreichste, einsichtsvollste, geordnetste, konsequenteste und großzügigste Kopf, das Gehirn seines Zeitalters gewesen, sondern geradezu eine Art Nationalheiliger und Schutzpatron der Renaissance, der ihren Lebenswillen, ihre ganze seelische Struktur auf einige kühne und leuchtende Formeln gebracht hat. Er ist Politiker und nichts als Politiker und daher selbstverständlich Immoralist; und alle Vorwürfe, die ihm seit vier Jahrhunderten entgegengeschleudert werden, haben ihre Wurzel in dem Mangel gerade jener Eigenschaft, die er am vollkommensten verkörperte: der Gabe des folgerichtigen Denkens. Wer ihn verdammt oder selbst nur zu widerlegen versucht, vergißt, daß er kein systematischer Philosoph, kein ethischer Reformator, kein Religionslehrer oder dergleichen sein wollte, sondern daß der Zweck und Inhalt seiner geistigen Arbeit ausschließlich darin bestand, die Menschen so zu schildern, wie sie wirklich waren, und aus dieser Realität praktische Schlüsse zu ziehen.
Er betrachtet den Staat als ein Naturphänomen, ein wissenschaftliches Objekt, das beschrieben und zergliedert, dessen Anatomie, Physiologie und Biologie exakt erforscht werden will: ohne »Gesichtspunkte«, ohne Theologie, ohne Moral, ohne Ästhetik, ja selbst ohne Philosophie. Dies war völlig neu. Wie der Zoologe über Haifisch, Königstiger und Kobra nicht aburteilt, sie nicht »böser« findet als Pudel, Hase oder Schaf, sondern bloß ihre Lebensbedingungen und die günstigsten Voraussetzungen für das Gedeihen ihrer Art festzustellen sucht, so steht Machiavell zu der Erscheinung des »Herrschers«, die er zu ergründen bemüht ist, und er hat diese Aufgabe in bewunderungswürdiger Weise gelöst, weshalb Lord Aston sehr richtig bemerkt hat, die ganze neuere Geschichte sei »ein commentarius perpetuus zu Machiavell«.
Machiavell war ein ebenso phantasievoller und leidenschaftlicher »Wiederbeleber der Antike« wie nur irgendeiner seiner Zeitgenossen und ein ebenso verderblicher und falscher. Was ihm nämlich vorschwebt, ist die Polis, und zwar in ihrer latinisierten Form. An der Spitze seiner politischen Theorie steht der Satz: »Staat ist Macht.« Er wünscht die Rückkehr zur Volksbewaffnung, zum altrömischen Stadtpatriotismus, zum nationalen Königtum. Er vergaß aber dabei, daß eine solche Rekonstruktion in einer Zeit, die das umwälzende Erlebnis des Christentums hinter sich und den Aufstieg zur paneuropäischen, ja zur Weltpolitik unmittelbar vor sich hatte, ein Ding der Unmöglichkeit war. Sein Ideal war bekanntlich Cesare Borgia, der nicht bloß ein gewissenloser Schurke, sondern auch – was für einen Staatsmann viel kompromittierender ist – ein prinzipienloser Abenteurer war.
Dies führt uns zur moralischen Bilanz der Renaissance. Die geheimnisvolle Atmosphäre von Schönheit und Laster, Geist und Gewalttat, Reiz und Fäulnis, in die die Renaissance eingebettet ist, hat die Phantasie der Nachwelt dauernd beschäftigt: sie hat ebenso die Entrüstung aller bürgerlichen Gehirne entfacht, die sich eine andere Welt als ihre erleuchtete polizierte und paragraphierte nicht vorstellen können, wie die Begeisterung aller Gymnasiastengehirne, die über eine gewisse verdorbene Pubertätsphantasie ihr ganzes Leben lang nicht hinauskommen. Beide haben natürlich unrecht.
Zunächst ist zu bedenken, daß die meisten Verbrechen der Renaissance von offiziellen Persönlichkeiten begangen wurden, also sozusagen in amtlicher Eigenschaft, und daß dieselben Menschen außerhalb ihrer beruflichen Raub- und Mordpraxis oft sehr liebenswerte, ja edelmütige Charaktere waren: selbst von einem solchen Prachtexemplar von Renaissancescheusal wie dem Papst Alexander Borgia wird berichtet, daß er im Privatleben gut, milde, ohne Rachsucht, ein Freund und Wohltäter der Armen war. Die meisten Personen aber, die nicht politisch tätig waren, haben eine ebenso friedliche und harmlose Existenz geführt wie zu allen Zeiten; zumal an den Künstlern, in denen doch gerade die bestimmenden Züge der Zeit versammelt waren, bemerken wir fast niemals etwas von jenem sprichwörtlichen Renaissanceimmoralismus. Auch hat es niemals an großen Gegenspielern der öffentlichen Verderbtheit gefehlt, großen Unbedingten, düster heroischen Übermenschen des Moralismus, an ihrer Spitze Savonarola, das Gewissen von Florenz, der vom Ideal der Florentiner, dem soave austero, freilich nur die zweite Hälfte mit dämonischer Energie verkörperte, ein großer Prophet, aber kein Christ im Sinne Christi, da ihm das Proportionierte, das Menschliche, das große Verzeihen, die Anmut fehlt.
Weil wir nun dieses friedliche Nebeneinander von Talent und Verworfenheit, von feinstem Geschmack und raffiniertester Niedertracht, diesen Wetteifer vollendetster Geistesbildung mit vollendetster Verruchtheit nicht mehr begreifen können, pflegen wir zu sagen: es kann nicht so gewesen sein, im Innern müssen sich diese Menschen doch schuldig und unglücklich gefühlt haben. Wir müßten aber im Gegenteil sagen: diese Menschen müssen sich unbedingt schuldlos und glücklich gefühlt haben, sonst hätten sie diese Dinge niemals begehen können. Die Naivität der Renaissance ist die Wurzel ihrer Laster. Wir müssen, wenn wir die Schilderungen jener Schandtaten lesen, bei allem moralischen Schauder dennoch die Grazie, die Wohlerzogenheit, die Formvollendung, man möchte fast sagen: den Takt bewundern, mit dem die Leute sich damals hintergingen, ausplünderten und umbrachten. Der Mord gehörte damals ganz einfach zur Ökonomie des Daseins, wie heutzutage ja auch noch die Lüge zur Ökonomie des Daseins gehört. Unser Zeitungswesen, unser Parteiwesen, unsere politische Diplomatik, unser Geschäftsverkehr: dies alles ist auf einem umfassenden System der gegenseitigen Belügung, Übervorteilung und Bestechung aufgebaut. Niemand findet etwas daran. Wenn ein Politiker aus Gründen der Staatsraison oder im Interesse seiner Partei einem anderen Zyankali in die Schokolade schütten wollte, so würde die ganze zivilisierte Welt in Entsetzen geraten; daß aber ein Staatsmann aus ähnlichen Motiven betrügt, Tatsachen fälscht, heuchelt, intrigiert: das finden wir ganz selbstverständlich. Die Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts befanden sich eben noch in einer Verfassung, die den gelegentlichen Mord zu einem Ferment des sozialen Stoffwechsels, man möchte fast sagen: zu einer gesellschaftlichen Umgangsform machte; so wie eben heute noch jede Art »Korruption« ein unentbehrliches Ingrediens des öffentlichen und privaten Verkehrs bildet. Dies sind nur Grade.
Gleichwohl dürfte es aber gestattet sein, von einer Art »Schuld« der Renaissance zu reden. Sie liegt aber viel tiefer.
Die Menschen der Renaissance waren bemüht, und mit glänzender dem Erfolg bemüht, aus ihrem ganzen Leben ein großes herrliches Ballfest zu machen. Als leuchtende Devise schwebte über ihrem Dasein das Wort Lorenzo Medicis: Facciamo festa tuttavia! Und als Leo der Zehnte Papst wurde, rief er aus: »Godiamoci il papato, poichè Dio ce l'ha dato; laßt uns ein frohes Papsttum leben, da Gott es uns einmal gegeben!«: dies war keine persönliche Frivolität, sondern so dachte alle Welt von den Rechten und Pflichten des Papstes. Eine leidenschaftliche Gier nach Genuß, aber nach durch Kunst und Geist geadeltem Genuß erfüllte die damaligen Menschen, ein unersättlicher Hunger nach Schönem, Schönem überall: nach schönen Worten und Werken, schönen Taten und Untaten, nach schönen Auftritten und Abgängen, schönen Gedanken und Leidenschaften, schönen Lügen und Skandalen, nach der Schönheit als Lebensstoff, die nicht bloß einzelne und einzelnes: Häuser, Statuen, Tafeln oder Gedichte, sondern das ganze Dasein zu einem Kunstwerk macht. Aber ein weiseres, innigeres Verhältnis zu den Geheimnissen der Schöpfung haben sie nicht angestrebt.
In seinem an neuen Gesichtspunkten so überaus reichen Werk »Shakespeare und der deutsche Geist« sagt Friedrich Gundolf: »Weltlicher Adel nimmt hier alle Dinge weltlich leicht und schwer und fragt nicht: was sagt Gott dazu?« Ob dies von Shakespeare völlig zutrifft, wollen wir dahingestellt sein lassen; auf die Italiener der Renaissance paßt es aber genau. Die Frage: was sagt Gott dazu?, diese tiefste, ja einzige Frage des Mittelalters, hat sie nie beschäftigt. Aber sind wir wirklich nur als Hanswürste und Hofnarren, Tapezierer und Vergnügungsarrangeure in die Welt gesetzt?
Wir berühren hier einen großen, ja vielleicht den größten Zwiespalt im Dasein der Erdenbewohner. Er besteht in der furchtbar aufwühlenden Frage: was ist der Sinn des Lebens, Schönheit oder Güte? Es liegt in der Natur dieser beiden Mächte, daß sie sich fast immer im Kampfe miteinander befinden. Die Schönheit will sich und immer nur sich; die Güte will niemals sich selbst und hat ihr Ziel immer im Nicht-Ich. Schönheit ist Form und nur Form; Güte ist Inhalt und nichts als Inhalt. Schönheit wendet sich an die Sinne, Güte an die Seele. Ist es nicht die beglückendste und adeligste Aufgabe des Menschen, die Welt immer reicher, begehrenswerter und kostbarer zu machen, mit immer bestrickenderem Geist und Glanz zu füllen? Oder ist es nicht vielleicht doch das Beste, Natürlichste und Gottgefälligste, einfach ein guter Mensch zu sein, die anderen bei der Hand zu nehmen, ihnen zu dienen und zu nützen? Was ist das Ziel unserer irdischen Wanderung? Die schrankenlose Bejahung dieser Welt in all ihrer Kraft und Pracht? Aber das vermögen wir nur auf Kiersten unserer Reinheit. Oder die Rettung der uns von Gott anvertrauten Seele, ihre Läuterung und Entweltlichung? Aber dann haben wir vielleicht nicht voll gelebt. Wer hat recht: der Künstler oder der Heilige, der Schöpfer oder der Überwinder?
Wir erblicken diesen Konflikt im Leben Tolstois, dieses gewaltigen Träumers und Gestalters, der plötzlich die Kunst glühend zu hassen begann und zum Bauer und Einsiedler wurde; wir spüren seine dunklen Schatten in den letzten Dichtungen Shakespeares; wir hören ihn in den Alterswerken Ibsens seine bange Stimme erheben und aus dem ganzen Schaffen Strindbergs mit ehernen Glockenschlägen hervorgellen; der stärkste und wärmste Kopf unserer Tage, Bernard Shaw, hat ihn im »Arzt am Scheideweg«, einer seiner feinsten, reichsten und freiesten Komödien, zu gestalten versucht, und Oscar Wilde läßt ihn in der Geschichte vom »Bild des Dorian Gray« in erschütternder Plastik vor unsere Seele treten: Dorian Gray ist einer, dem der Traum von ewiger Schönheit zur Erfüllung wird, keine Häßlichkeit, kein Alter, kein Schmutz greift an seinen Leib; aber der Leib ist nur der Schatten der Seele und die Seele kann nur schön sein durch Reinheit und Güte; und so ist Dorian Gray nichts als ein betrogener Betrüger: die Welt sieht ihn in unzerstörbarer Jugend und Anmut, aber das unsichtbare Bild in der verschlossenen Dachkammer bucht dennoch Zug für Zug jeden Schritt, den seine Seele zur Häßlichkeit getan hat.
Die Renaissance war der zweite und wahre Sündenfall des Menschen; wie die Reformation seine zweite und vielleicht endgültige Vertreibung aus dem Paradies war. Die Reformation gebar das Dogma von der Heiligkeit der Arbeit, die Renaissance den Menschen, der sich selbst genießt und schließlich vergöttert. Und beide zusammen: die Arbeit mit gutem Gewissen und die narzissische Selbstbetrachtung und Selbstverherrlichung haben die moderne Langeweile geschaffen, unter der die Erde allmählich vereist: ihr Korrelat ist das »Interessante«, ein Begriff, der sowohl der Antike wie dem Mittelalter fremd war.
Dantes göttliches Gedicht hängt wie ein brennendes Warnungszeichen am Eingang der Renaissance. Er hat die Zukunft seines Landes in dem Geschick jener gezeichnet, die dazu verurteilt sind, in der äußersten Ferne von Gott zu leben: im ewigen Eise stecken sie, wo selbst die Tränen gefrieren; ihnen ist sogar die letzte Wohltat versagt, die jeder andere Sünder genießt: sie können nicht einmal bereuen! Und indem Dante durch ihre Reihen schreitet, stößt er auf Alberigo, den die schrecklichste aller Strafen getroffen hat. Ihm wurde vom Schöpfer die Seele genommen.
Das Schicksal der Renaissance war Alberigos Schicksal. Sie war dazu verdammt, keine Seele zu haben.