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Das einzige, was uns an der Reformation interessiert, ist Luthers Charakter, und er ist auch das einzige, was der Menge wirklich imponiert hat. Alles übrige ist nur ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.
Goethe
Inhalt und Zweck aller schöpferischen Tätigkeiten besteht in nichts anderem als in dem Nachweis, daß das Gute, der Sinn, kurz: Gott in der Welt überall vorhanden ist. Diese höchste, ja einzige Realität ist immer da, aber meist unsichtbar. Der Genius macht sie sichtbar: dies ist seine Funktion. Man nennt ihn daher mit Vorliebe gotterfüllt. Die Tatsache »Gott« erfüllt ihn derart, daß er sie überall wiederfindet, wiedererblickt, wiedererkennt. Dieses Wiedererkennen Gottes in der Welt ist die eigentümliche Fälligkeit und Begabung jedes großen Menschen. Jeder Mensch trägt seinen Gott und seinen Teufel in sich. »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne«: dieses durch überhäufiges Zitieren bereits völlig abgeplattete Wort ist sehr tief und aufschlußreich, wenn man es richtig versteht. Gott regiert die Welt nicht draußen, sondern drinnen, nicht mit Schwerkraft und chemischer Affinität, sondern im Herzen der Menschen: wie deine Seele ist, genau so wird das Schicksal der Welt sein, in der du lebst und handelst.
Dies wird deutlicher als beim einzelnen bei ganzen Völkern. Sie alle haben sich ihre Welt gemacht, und so, wie sie sie gemacht hatten, mußten sie sie dann erleiden. Der Mensch kann zu vielerlei Göttern beten, und zu welchen er betet, das ist entscheidend für ihn und seine Nachkommen. Der Wilde tanzt um seinen Holzklotz, den er Gott nennt, und richtig: die Welt ist auch wirklich nicht mehr als ein dummer toter Holzklotz; die Ägypter vergötterten die Sonne, die Tiere, den Nil, die ganze heilige Natur und blieben daher dazu bestimmt, immer nur ein großes Stück Natur zu bleiben, fruchtbar und tätig, aber stumm und überall gleich: es gibt keine ägyptischen Individuen. Die Griechen, verspielt und leichtsinnig, schufen sich eine Galerie von schönen, faulen, lüsternen und verlogenen Menschen, die sie Götter nannten, und gingen an diesen ihren Göttern zugrunde; der Inder, tief überzeugt von der Sinnlosigkeit und Unwirklichkeit des Daseins, beschloß, fortan nur noch an das Nichts zu glauben, und sein Glaube wurde Wahrheit: durch den Wandel der Geschichte unberührt, war und ist dieses herrliche Land ein riesiges Nichts.
Man sagt häufig, das Christentum habe die Völker des Abendlandes einem gemeinsamen Glauben zugeführt, aber ist dem wirklich so? An der Oberfläche mag es wohl so aussehen, aber blickt man tiefer, so muß man sagen: auch heute gibt es Nationalgötter und Nationalschicksale wie im Altertum. Dies ist es, was die Völker auch jetzt noch am tiefsten voneinander trennt, nicht Rasse, nicht Kostüm und äußere Sitte, nicht Staatsform und soziales Gefüge. Gerade in diesen Dingen sind die zivilisierten Nationen so ziemlich gleich geworden: in Griechenland und Irland, in Portugal und Schweden trägt man Zylinder und Boas, liebt man die Musik und Straßenreinigung, hat man mehr oder weniger dieselben Anschauungen über Parlamentarismus, Feldbau, gesellschaftliche Etikette; aber der Gott, der Gott ist überall ein anderer.
Es ist wahr, sie sind alle Christen: aber das ist ja gerade die ungeheure Macht und Lebenskraft des Christentums, daß es jeder Zeit und jedem Volke etwas zu sagen hat, daß es eine Form besitzt, in die alle Gedanken und Gefühle sich einordnen lassen. Es wäre niemals Weltreligion geworden, wenn es in einer Bagatelle von neunzehnhundert Jahren sich ausleben könnte. Welche Gemeinsamkeit besteht zwischen dem Absurditätsglauben Tertullians und dem fast mathematischen Rationalismus Calvins oder zwischen der Lehre der Satanisten und dem höchst familiären Verhältnis, das der Quäker zu seinem Gott hat? Und kann man es mit einem bloßen Zufall, mit der diktatorischen Laune eines Louis Quatorze und Cromwell erklären, daß Frankreich dem Papismus zurückgegeben wurde und England reformiert blieb? Der Gott Frankreichs war eben absolutistisch und der Gott Englands puritanisch.
Wir haben im vierten Kapitel die Behauptung aufgestellt, es habe im Grunde nur eine italienische Renaissance gegeben und die Renaissancen aller übrigen europäischen Länder trügen diesen Namen nur in einem sehr übertragenen und uneigentlichen Sinne. Mit derselben Berechtigung können wir sagen, die Reformation sei in Wurzel und Wesen ein deutsches Phänomen gewesen, während alle anderen Reformationen: die englische, die französische, die skandinavische, die ungarische, die polnische nur dessen Dubletten oder Karikaturen darstellen. Moritz Heimann macht in einem seiner Essays die feine Bemerkung: »Das deutsche Volk nimmt die ideellen Dinge nicht als Fahne wie andere Völker, sondern um einige Grade wörtlicher als sie, und die realen um ebensoviel zu leichtsinnig.« Hiermit ist haarscharf die Seelenhaltung gekennzeichnet, die die deutsche Nation während der ganzen Reformationsbewegung einnahm. Sie hat sich die Schlachtparolen, die ihre religiösen Führer damals ausgaben, mit einer Wörtlichkeit zu eigen gemacht, die bis zum Eigensinn und zum Mißverständnis, ja zur Umkehrung der ursprünglichen Tendenz ging, und sie hat gleichwohl in seltsamer Paradoxie bei der Übersetzung dieser neuen Normen in die politische Wirklichkeit eine Fahrlässigkeit gezeigt, die in Erstaunen setzt. Sie nahm, mit einem Wort, die geistige Reformation zu kompakt und die praktische Reformation zu leicht und befand sich damit, sehr zu ihrem Nachteil, in der Mitte zwischen jenen beiden anderen Bewegungen des Zeitalters, die welthistorisch wirksam geworden sind: dem angelsächsischen Calvinismus, der mit beispielloser Energie und Konsequenz eine ungeheure Umwälzung der gesamten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Praxis ins Werk gesetzt hat, und dem romanischen Jesuitismus, der mit ebenso bewundernswerter Seelenkraft und Geistesstrenge eine moralische und intellektuelle Wiedergeburt ins Leben gerufen hat. Der Deutsche war eben auf seiner damaligen Entwicklungsstufe noch nicht reif genug, um erfolgreich und folgerichtig historisch zu handeln: er konnte, traumschwer und zukunftsschwanger, aber chaotisch und entschlußschwach, bloß gewaltige neue Anregungen geben, deren Früchte andere geerntet haben. Alle die weltbewegenden Gedanken, die dem Zeitalter der Reformation ihr Gepräge gegeben haben, sind auf deutschem Boden geboren worden; mit ihren Wirkungen gingen sie ins Ausland.
Die deutsche Reformation war nichts weniger als eine einheitliche Bewegung, sie war die Resultante aus mindestens vier Komponenten. Die erste, die sehr oft für die einzige gehalten wird, war religiös; sie vereinigte sich aber von allem Anfang an mit einer zweiten ebenso starken, der nationalen: man wünschte nicht länger von Rom aus dirigiert zu werden, die Kirche sollte nicht »welsch«, sondern deutsch sein, und man wollte nicht mehr, daß einem fremden Souverän, denn das war, politisch genommen, der Beherrscher des Kirchenstaats, ein großer Teil der Steuergelder zufließe; und hier tritt bereits die dritte Komponente in Erscheinung: die wirtschaftliche, die eine sehr große Ausdehnung besaß, denn in ihr flossen alle jene Strömungen zusammen, die nach dem Muster der urchristlichen Zustände einschneidende Korrekturen des sozialen Gefüges herbeizuführen suchten; und schließlich trat dazu noch als vierter Faktor die Gärung in den wissenschaftlichen Kreisen: der Humanismus, das Erwachen der gelehrten Kritik. Diese Komponente war verhältnismäßig die schwächste, doch darf man ihre Bedeutung nicht unterschätzen, denn sie hat in dem ganzen Kampfe die Methoden, das Material, die geistigen Waffen geliefert. Das Gemeinsame aber, das alle diese verschiedenartigen Richtungen zu einer Einheit verknüpfte, war die Berufung auf das Evangelium: in der Bibel stand nichts von Klöstern und Mönchen, Prälaten und Bischöfen, Messen und Wallfahrten, Beichten und Ablässen: hier knüpfte die religiöse Reformation an; nichts von einem römischen Oberhirten: hierauf stützte sich die nationale Reformation; nichts von Fischereiverbot und Waldschutz, Zehnten und Frondienst: von hier leitete die soziale Reformation ihr Recht her; und überhaupt nichts von all den Dogmen, die die Kirche in mehr als tausendjähriger Arbeit aufgebaut hatte: hier setzte die Minierarbeit der philologischen und historischen Forschung ein.
Das dunkle oder klare, bewußte oder unbewußte Vorgefühl einer großen Umwälzung und Umwertung erzeugte in nahezu allen Kreisen der Nation eine ungeheure und vorwiegend freudig gefärbte Spannung. In zahlreichen Schriften der Zeit kehrt das Bild von der »Morgenröte« wieder, am schönsten in Hans Sachsens berühmtem Gedicht: »Die wittenbergisch Nachtigall«: »Wacht auf, es nahet sich dem Tag! Ich höre singen im grünen Hag die wonnigliche Nachtigall; ihr Lied durchklinget Berg und Tal. Die Nacht neigt sich gen Okzident, der Tag geht auf von Orient. Die rotbrünstige Morgenrot her durch die trüben Wolken geht, daraus die lichte Sonn' tut blicken, der Mond tut sich hernieder drücken.« In einem Drama, das denselben Titel führt, läßt Strindberg Ulrich von Hutten seine weltbekannten Worte »Die Geister erwachen, es ist eine Lust zu leben!« durch den Ausruf ergänzen: »Oh, jetzt kommt etwas Neues!«
Was war nun dieses Neue? Es war Martin Luther.
Es gibt vielleicht keine zweite Persönlichkeit in der Weltgeschichte, über die so widerstreitende Ansichten geherrscht haben und noch herrschen wie über den Gegenpapst von Wittenberg. Katholiken haben ihn begeistert gepriesen und Protestanten haben ihn leidenschaftlich verabscheut, Atheisten haben ihn für einen geistigen Erretter und fromme Männer haben ihn für einen Religionsverderber erklärt. Den einen gilt er als der »deutsche Catilina«, den andern als der »größte Wohltäter der Menschheit«; Goethe sieht in ihm »ein Genie sehr bedeutender Art«, Nietzsche einen »auf den Raum seiner Nagelschuhe beschränkten Bauer«; Schiller nennt ihn einen Kämpfer für die Freiheit der Vernunft, Friedrich der Große einen »wütenden Mönch und barbarischen Schriftsteller«; man hat zu beweisen versucht, daß er ein Fresser, Säufer, Lügner, Fälscher, Schänder, Luetiker, Paranoiker, Selbstmörder gewesen sei, und deutsche Künstler haben ihn mit einem Strahlenkranz ums Haupt gemalt.
Einige ihm feindliche Forscher waren auch bemüht, ihm jegliche schöpferische Originalität abzuerkennen, indem sie darauf hinwiesen, daß alle Ideen, die er vertreten hat, schon vor ihm ausgesprochen worden seien und daß es eine ganze Anzahl »Reformatoren vor der Reformation« gegeben habe, die sogar bedeutender waren als er. Und in der Tat: die Strömungen, aus denen die Reformation entstand, sind weitaus älter als Luther. Wir haben schon im dritten Kapitel Gelegenheit gehabt, einige von den zahlreichen Äußerungen antiklerikalen Geistes zu betrachten, die bereits das ganze fünfzehnte Jahrhundert erfüllen. Es konnte dies auch gar nicht anders sein: eine so gewaltige Empörung, wie sie plötzlich um Luther aufschoß, mußte lange und tief unter der Erde gebrodelt haben, bis sie sich mit so elementarer Kraft zu entladen vermochte. Gegen Ende des Jahrhunderts verdichtete sich die pfaffenfeindliche Stimmung immer mehr. In Sebastian Brants »Narrenschiff«, das 1494 erschienen ist, finden sich unter zahlreichen ähnlichen Stellen die Verse: »Man schätzt die Priesterschaft gering, als ob es sei ein leichtes Ding. Drum gibt es jetzt viel junge Pfaffen, die soviel können wie die Affen, und Seelsorg' sieht man treiben die, die Hüter wären kaum fürs Vieh.« Und in dem ungefähr gleichzeitigen satirischen Gedicht in plattdeutscher Mundart »Reinke de Vos«, das wir bereits erwähnt haben, heißt es über Rom: »Man schwatzt dort wohl von Recht sehr viel; ja, Quark! Geld ist es, das man will. Ist eine Sache noch so krumm, mit Geld dreht man sie bald herum. Wer blechen kann, für den wird Rat; weh dem, der nichts im Säckel hat!« und die Summe des Ganzen bilden die berühmten Reime:»Wenn Blinde so die Blinden leiten, so müssen beide von Gott sich scheiden!« Ferner haben wir bereits gehört, daß die »Aufklärung«, der Spott über die katholische Kirche, von den Humanisten propagiert und zur großen Mode erhoben, in allen gebildeten Kreisen Italiens und sogar in der nächsten Umgebung des Papstes den Ton angab. Ein Jahr vor den Wittenberger Thesen ließ der berühmte Philosoph Pietro Pomponazzi ein kleines Buch über die Unsterblichkeit der Seele erscheinen, worin gelehrt wird, daß die Religionsstifter für die große Masse, die die Tugend nur übe, wenn es Lohn oder Strafe gebe, die Unsterblichkeit erfunden hätten, wie ja auch die Amme manches erdichte, um das Kind zu gutem Betragen zu veranlassen, und der Arzt die Kranken oft zu ihrem Besten täusche. In einer anderen Schrift erklärt Pomponazzi die Wirkung der Reliquien für eine eingebildete, die ebenso erfolgen würde, wenn es Hundeknochen wären. Den Einwand, daß man an die Unsterblichkeit glauben müsse, weil ja sonst die Religion ein Betrug wäre, beantwortet er mit der Bemerkung, daß sie in der Tat einer sei, denn da es drei Gesetze gebe: das mosaische, das christliche und das mohammedanische, so seien entweder alle drei falsch, und dann sei die ganze Welt betrogen, oder mindestens zwei, und dann sei die Mehrzahl betrogen. Diese und ähnliche Erörterungen wurden von der Kurie toleriert, denn man durfte damals sagen und schreiben, was man wollte, wenn es nur salva fide geschah, das heißt: unbeschadet der äußeren Unterwerfung unter die Kirche.
Wir haben auch bereits hervorgehoben, daß Wiclif die ganze Reformation vorweggenommen hat, ja in wesentlichen Punkten über sie hinausgegangen ist. Er lehrt unter anderem: Bilder sollen nicht angebetet werden; Reliquien sollen nicht heiliggehalten werden; der Papst ist nicht der Nachfolger Petri; nicht er, sondern Gott allein kann Sünden vergeben; der Segen der Bischöfe hat keinen Wert; Priestern soll die Ehe gestattet sein; Wein und Brot des Abendmahls verwandeln sich nicht in den wirklichen Leib Christi; wahre Christen empfangen den Leib Christi täglich durch ihren Glauben; man soll nicht zur Jungfrau Maria beten; man kann ebensogut an anderen Orten beten als in der Kirche. Und Johann Wessel (1419-1489) erklärte, die Einheit der Kirche beruhe auf der Verbindung der Gläubigen mit ihrem himmlischen Oberhaupte Christus, nicht auf der Unterordnung unter ein sichtbares Oberhaupt; die meisten Päpste seien in verderbliche Irrtümer verstrickt gewesen und auch die Konzilien seien nicht unfehlbar. Ferner verwirft er die Ohrenbeichte, den Ablaß und die satisfactio operis, die Rechtfertigung durch Werke, und betrachtet das Fegefeuer als einen Läuterungsprozeß von rein geistiger Natur, auf den der Papst keinerlei Einfluß habe. »Wenn der Papst nach Willkür entscheiden könnte, so wäre nicht er der Statthalter Christi, sondern Christus wäre sein Statthalter, denn von seinem Willen hinge Christi Urteil ab.« Kurz: er glaubt, wie er dies prägnant ausdrückt, mit der Kirche, nicht an die Kirche. Noch weiter ging sein Zeitgenosse, der Erfurter Theologieprofessor Johann von Wesel: er bekämpfte sogar das Abendmahl und die Letzte Ölung, erklärte, das geweihte Öl sei nicht mehr wert als das, womit die Kuchen gebacken werden, bezeichnete das Fasten als überflüssig, denn Petrus habe es wohl nur eingesetzt, um seine Fische besser zu verkaufen, und nannte den Papst einen bepurpurten Affen. Auch Erasmus von Rotterdam, die Leuchte des Jahrhunderts, verspottete die Heiligenverehrung, die Transsubstantiationslehre und die ganze scholastische Dogmatik, von deren Spitzfindigkeiten, wie er betonte, Christus und die Apostel nicht das mindeste verstehen würden. Die Sakramente hält er für bloße indifferente Zeremonien, die Heilige Schrift für vielfach gefälscht und teilweise widerspruchsvoll und unverständlich: die Gottheit Christi und die Dreieinigkeit seien aus ihr nicht zu erweisen; »keine schädlicheren Feinde aber hat die Kirche als die Päpste, denn sie ermorden durch ihr fluchwürdiges Leben Christus noch einmal.«
Aber gerade an dem Beispiel des Erasmus von Rotterdam sehen wir den ungeheuren Unterschied, der zwischen Luther und seinen Vorläufern besteht. Denn diese lehrten bloß die Reform, er aber lebte sie. Hierin: daß er alle diese Theorien mit seinem kochenden Blut gefüllt hat, bestand seine unvergleichliche Originalität. Erasmus war zweifellos der farbigere, geräumigere und schärfere Geist, der konsequentere, universellere und sogar kühnere Denker; er war aber eben nur ein Denker. Luther war ein großer Mensch und Erasmus war nur ein großer Kopf. Es ist ihm niemals in den Sinn gekommen, auch nur für eine einzige seiner Ideen praktisch Zeugnis abzulegen. Er, der selber viel reformatorischer und radikaler orientiert war als die meisten Reformatoren, ist niemals für die neue Bewegung mit seiner Person eingetreten, sondern hat sie bei jeder Gelegenheit furchtsam verleugnet. Wiederholt betont er in seinen Briefen, daß er die Schriften Luthers überhaupt kaum kenne, was sicher eine Angstlüge war; seinem alten Freund Hutten hat er, als er verarmt, geächtet und dem Tode nahe in Basel bei ihm Schutz suchte, schroff die Tür gewiesen. Er zittere, hieß es, bei dem Worte Tod. Dies wäre jedoch bei einem so völlig geistigen Menschen noch durchaus verständlich gewesen. Aber er war auch nicht frei von der noch um vieles unedleren Furcht um Geld und Einfluß: er zitterte auch um die Pfründen und reichen Geschenke, die er der Kirche verdankte, und um sein Ansehen in der geistlichen Creme: nicht mit Unrecht warfen seine Feinde ihm vor, er lasse sich wie ein Hund von einem Stück Brot locken. Deshalb ist die Geschichte über ihn hinweggegangen und nennt nicht ihn, sondern den beschränkten, eigensinnigen Bauernsohn als den großen Erneuerer und Wohltäter der Menschheit. Denn die Rangordnung der Menschen wird im allgemeinen viel weniger durch ihr Denken als durch ihr Tun bestimmt. Seneca war ein größerer Philosoph als Paulus, und doch stellen wir diesen unvergleichlich höher. Denn der arme Seneca argumentierte und deklamierte zwar sehr profund und packend über Menschenliebe und stoische Bedürfnislosigkeit, aber das war der eine Seneca, der philosophische: der andere Seneca, der Seneca des Lebens, war der skrupellose Geldmacher und Millionär, der liebedienerische Genosse neronischer Verbrechen.
»Neues« hat Luther in der Tat wenig gebracht. Aber hierin besteht auch gar nicht die Aufgabe des großen Mannes auf dieser Erde. In geistigen Dingen entscheidet niemals das Was, sondern immer nur das Wie. Das Genie tut den letzten Spatenstich: das, nicht mehr und nicht weniger, ist seine göttliche Mission. Es ist kein Neuigkeitenkrämer. Es sagt Dinge, die im Grunde jeder sagen könnte, aber es sagt sie so kurz und gut, so tief und empfunden, wie sie niemand sagen könnte. Es wiederholt einen Zeitgedanken, der in vielen, in allen schon dumpf schlummerte, aber es wiederholt ihn mit einer so hinreißenden Überzeugungskraft und entwaffnenden Simplizität, daß er erst jetzt Gemeingut wird.
Die »Ideen«, die großen geistigen Strömungen sind wohl immer das, was den Wandel und Fortgang des historischen Verlaufs bestimmt; aber diese Ideen knüpfen sich, das können wir in unserer ganzen Erfahrung bestätigt finden, stets an große Persönlichkeiten. Die Weltgeschichte wird von einzelnen prominenten Menschen gemacht, von Menschen, in denen der »Geist der Zeit« so konzentriert verkörpert ist, daß er nun für jedermann lebendig, fruchtbar und wirksam wird. Die Idee ist immer das Primäre, gewiß; aber Leben und Realität gewinnt sie immer nur in bestimmten Individuen.
Luther hat die Reformation nicht erfunden, etwa wie Auer das Auerlicht oder Morse den Morsetaster; aber er war so erfüllt von dem neuen Licht seiner Zeit wie keiner, und dadurch hat er es erst sichtbar gemacht für alle Welt. Er war die Zunge seines Jahrhunderts, er hat das schöpferische Wort gesprochen, das immer den Anfang macht. Wir werden später glänzenderen Männern begegnen, reicheren und differenzierteren, freieren und seelenkundigeren, aber keinem, der ein vollerer Ausdruck des Willens seiner Zeit und ihrer innersten Bedürfnisses war, der einfacher und gedrängter, leuchtender und schlagender im Namen seiner Mitlebenden gesagt hätte, was ist und was not tut. Und darum hat auch der größte Theolog unserer Tage, Adolf von Harnack, seine Gedächtnisrede zur Feier des vierhundertsten Geburtstags Luthers mit dem Satz beschließen können: »Den Weg zum Ziele hat uns nach einer langen Nacht der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen dürfen: er war die Reformation.«
Wenn man versuchen will, die Persönlichkeit Luthers einigermaßen zu begreifen und das ist für die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts schwieriger, als sie gemeinhin annehmen , so wird man wohl zunächst von der Tatsache ausgehen müssen, daß er ein ausgesprochener Übergangsmensch war, in dem sich Altes und Neues in höchst seltsamer Weise mischte. Gerade diese eigentümliche Legierung aus Altem und Neuem ist ja vielleicht überhaupt der Stoff, aus dem die großen Erneuerer, die Reformatoren und Regeneratoren jeglicher Art gemacht sind, und wir werden diesem Typus noch öfter begegnen. Die Gründe für diesen paradoxen Sachverhalt liegen ganz nahe. Nur weil das Alte in allen diesen Revolutionären noch stark genug lebte, vermochte es in ihnen jenen inbrünstigen schöpferischen Haß zu erzeugen, der sie dazu anreizte und befähigte, die konzentrierte Kraft ihrer ganzen Existenz der Bekämpfung und Beseitigung dieses Alten zu widmen. Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekriegen zu können, muß man aufs tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muß man es sein. Nur der Manichäer Augustinus konnte zum Kirchenvater werden; nur der Altaristokrat Graf Mirabeau konnte die Französische Revolution ins Rollen bringen; nur der Pastorssohn Friedrich Nietzsche konnte Antichrist und Immoralist werden; nur Männer von so durchaus bürgerlicher Abstammung und Erziehung wie Marx und Lassalle konnten den Sozialismus begründen; und nur ein katholischer Priester konnte den Katholizismus in seinem innersten Kern auflösen. Wer Paulus werden will, muß vorher Saulus gewesen sein, ja im Grunde sein ganzes Leben lang ein Stück Saulus bleiben: nur aus diesem immerwährenden Kampf gegen sich selbst und seine eigene Vergangenheit kann er die Kraft zum Kampf für die Zukunft schöpfen.
Luther war in seiner seelischen Grundstruktur noch eine durchaus mittelalterliche Erscheinung. Seine ganze Gestalt hat etwas imposant Einheitliches, Hieratisches, Steinernes, Gebundenes, sie erinnert in ihrer scharfen und starren Profilierung an eine gotische Bildsäule. Sein Wollen war von einer genialen dogmatischen Einseitigkeit, schematisch und gradlinig, sein Denken triebhaft, affektbetont, im Gefühl verankert: er dachte gewissermaßen in fixen Ideen. Er blieb verschont von dem Fluch und der Begnadung des modernen Menschen, die Dinge von allen Seiten, sozusagen mit Facettenaugen betrachten zu müssen. Und doch sind gerade seine Tage durch das Heraufkommen differenzierter, verwickelter, polychromer Persönlichkeiten gekennzeichnet: er ist der Zeitgenosse eines luziferischen Ironikers wie Rabelais und aller der großen italienischen Renaissancemenschen; aber auch unter seinen Landsleuten fand sich schon ein Weltmann und Diplomat von der seelischen Elastizität des Kurfürsten Moritz von Sachsen, ein Psychologe von der Buntheit und Subtilität des Erasmus, eine so oszillierende Mischfigur wie der Doktor Paracelsus. In Luthers Seele dagegen gab es keine Nüancen und Brechungen, sondern die Kontraste lagen bei ihm noch so hart nebeneinander, wie wir dies beim mittelalterlichen Menschen gesehen haben: alles in starken Tinten, jäh wechselnd, ohne Verschmelzung und Übergang: düsterste Verzweiflung und hellste Zuversicht, strahlendste Güte und finsterster Zorn, mildeste Zartheit und rauheste Tatkraft. Dazu kommt noch als ein der neuen Zeit durchaus entgegengesetzter Zug das völlig Instinktmäßige, Elementare, Unreflektierte, das Luthers Handeln kennzeichnet. Der Rationalismus, den wir als das große Thema der Neuzeit erkannt haben, hatte über ihn keine Macht: er verabscheute die Vernunft und ihre Werke wie nur irgendein Scholastiker und nannte sie »des Teufels Hure«, die neue Astronomie hat er abgelehnt, weil sie mit der Bibel nicht in Einklang stand, die großen geographischen Entdeckungen des Zeitalters sind an ihm spurlos vorübergegangen. Er war auch nicht »sozial« denkend, wie sein Verhalten im Bauernkrieg gezeigt hat, überhaupt Ordnungsfanatiker, immer auf der Seite der »Obrigkeit« und in allen gesellschaftlichen und politischen Fragen ein Anhänger der mittelalterlichen Gebundenheit.
Auch sein Leben zeigt nichts von jener mathematischen Planmäßigkeit und Überhelle, die das Grundmerkmal der modernen Geisteshaltung bildet: die treibende Kraft in ihm war das Unbewußte; ohne daß er es gewollt hätte, war er plötzlich der Held der Zeit, ohne daß er es gesucht hätte, sprach er das Wort aus, das allen auf den Lippen lag: mit nachtwandlerischer Sicherheit ging er den Weg, auf dem schon so viele vor ihm gestürzt waren. Daß er inmitten einer gärenden, tastenden, zerrissenen Zeit ein Ganzer, noch ein Stück ungebrochener mittelalterlicher Kraft und Selbstgewißheit war, daß er mit dem Antlitz in ferne neue Zukunften blickte, mit den Füßen aber fest und breit auf demalten ersessenen Boden stand, eben dies machte ihn zum Führer und befälligte ihn, als ein zweiter Moses an der Scheide zweier Weltalter die Fluten des Alten und des Neuen mit seinem Zauberstab zu teilen. Er ist, um es mit einem Wort zu sagen, der letzte große Mönch, den Europa gesehen hat, ähnlich wie Winckelmann im Zeitalter des sterbenden Klassizismus der letzte große Humanist und Bismarck in der Ära des siegreichen Liberalismus der letzte große Junker gewesen ist.
Aber anderseits hat Luther geistige Zusammenhänge gesehen, die erst in Jahrhunderten ihre volle lebendige Verwirklichung finden sollten. Das Moderne in Luthers Denken beruht im wesentlichen auf drei Momenten. Zunächst auf seinem Individualismus. Dadurch, daß er die Religion zu einer Sache des inneren Erlebnisses machte, hat er auf dem höchsten Gebiete menschlicher Seelenbetätigung etwas Ähnliches vollbracht wie die italienischen Künstler auf dem Gebiete der Phantasie. In der Anweisung Luthers, daß jede Seele sich ihren eigenen Gott aus dem Innersten neu erschaffen müsse, lag die letzte und tiefste Befreiung der Persönlichkeit. Hiermit verband sich aber als zweites ein demokratisches Moment. Indem Luther verkündete, daß jeder Gläubige von wahrhaft geistlichem Stande, jedes Glied der Kirche ein Priester sei, vernichtete er das mittelalterliche Stellvertretungssystem, das der Laienwelt den Verkehr mit Christus nur durch besondere Mittelspersonen: durch Christi Statthalter und dessen Beamtenhierarchie gestattet hatte, und führte damit in das kirchliche Leben dasselbe Gleichberechtigungsprinzip ein, das die Französische Revolution später in das politische Leben brachte. Und drittens hat er dadurch, daß er das ganze profane Leben des Tages für eine Art Gottesdienst erklärte, ein ganz neues weltliches Element in die Religion gebracht. Mit der Feststellung, daß man überall und zu jeder Stunde, in jedem Stand und Beruf, Amt und Gewerbe Gott wohlgefällig sein könne, hat Luther eine Art Heiligsprechung der Arbeit vollzogen: eine Tat von unermeßlichen Folgen, mit der wir uns später noch etwas genauer zu beschäftigen haben werden.
Häckel hat bekanntlich als »biogenetisches Grundgesetz« den Satz aufgestellt: die Ontogenese, die Keimesgeschichte, ist die gedrängte Rekapitulation der Phylogenese, der Stammesgeschichte, das heißt: der Mensch wiederholt im Mutterleib gleichsam in einem kurzen Auszug die gesamte Stufenreihe seiner Tierahnen von der Urzelle bis zu seiner eigenen Spezies. In ähnlicher Weise hat Luther den ganzen Entwicklungsgang der katholischen Kirche durchlaufen: die Kirchengeschichte entspricht der Phylogenese, seine eigene Geschichte bis zum großen »Durchbruch« der Ontogenese. Er begann mit dem kompakten Glauben des frühen Mittelalters an die Wirksamkeit der Sakramente und der Heiligen, er ergab sich in Erfurt den Doktrinen der strengen Scholastik, er suchte im Augustinerkloster mit einer Inbrunst, die an Selbstvernichtung grenzte, das Heil in mönchischer Askese, in Beten, Frieren, Wachen und Fasten, er widmete sich in Wittenberg mit glühender Begeisterung den Lehren der Mystik, er wurde in Rom von der großen antiklerikalen Strömung erfaßt, die bereits seit Menschenaltern die Welt erschütterte, ohne noch im geringsten Antipapist zu sein, und er hat erst als völlig ausgereifter Mann, auf der Höhe seines Lebens den Bruch mit dem Papsttum und der alleinseligmachenden Kirche vollzogen.
Die große Krisis im Leben Luthers fällt in seine Klosterzeit. Er befand sich damals in jenem gefährlichen Alter, wo gerade genial veranlagte Menschen sehr häufig an sich und ihrer Existenzberechtigung völlig zu verzweifeln pflegen. Carlyle, der mit Luther manche Ähnlichkeit besitzt, hat diesen Zustand in seinem Roman »Sartor resartus«, einer Art Selbstbiographie, sehr anschaulich geschildert. Darin erzählt der Held von sich unter anderem: »Es war mir, als ob alle Dinge oben im Himmel und unten auf Erden mir nur zum Schaden wären und Himmel und Erde nichts weiter seien als der grenzenlose Rachen eines gefräßigen Ungeheuers, von dem ich zitternd erwartete, daß es mich verschlingen werde.« Aber als er eines Tages wiederum, von seinen Zweifeln gepeinigt, ruhelos durch die Straßen irrt, kommt ihm eine plötzliche Erleuchtung, die er seine »Bekehrung« nennt. »Mit einem Male stieg ein Gedanke in mir auf und fragte mich: Wovor fürchtest du dich eigentlich? Warum willst du ewig klagen und jammern und zitternd und furchtsam wie ein Feigling umherschleichen? Was ist die Summe des Schlimmsten, das dich treffen kann? Tod? Wohlan denn, Tod; und sage auch, die Qualen Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel gegen dich tun kann und will! Hast du kein Herz? Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und als ein Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, selbst Tophet unter die Füße treten, während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen und ihm Trotz bieten. Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab. Ich war stark in ungeahnter Stärke: ein Geist, fast ein Gott. Von dieser Zeit an war die Natur meines Elends eine andere.«
Dieser Zustand gänzlicher Ratlosigkeit und fast nihilistischer Resignation ist es, der im Leben fast aller großen geistigen Potenzen eine entscheidende Epoche bedeutet. Es ist die Übergangszeit, in der der werdende Geist sich einerseits nicht mehr rein aufnehmend zu verhalten vermag und anderseits noch nicht die klaren Richtlinien einer kommenden Produktivität gefunden hat. Man hat bereits den geschärften Blick für die Widersprüchlichkeit, Unvollkommenheit, ja Sinnlosigkeit so vieler Dinge und Beziehungen, und man hat noch nicht das, was allein diesem Pessimismus und der hohen Reizbarkeit, die die Vorbedingung alles genialen Schaffens bildet, die Waage zu halten vermag: das klare und sichere Bewußtsein einer Aufgabe. Die Unmöglichkeit, im bisherigen Zustand der Konvention, des Schülers zu leben, ist bereits erkannt, die Möglichkeit, schöpferisch zu wirken, eine eigene Welt zu gestalten und zu lehren, ist noch nicht erkannt. Das erschreckte Auge erblickt daher überall nur negative Instanzen. Es ist ein Stadium der völligen Selbstverneinung, der Selbstmordstimmung. Aber gerade darum vor allem müssen wir Luther ein Genie nennen, weil er, von allen erfolgreichen Reformatoren jener Zeit der einzige, sich in dämonischem Ringen eine eigene Welt aufgebaut hat.
Die Wurzel jener großen Verzweiflung, die Luther damals zu Boden drückte und fast zu vernichten drohte, war die Angst vor Gott und seinem Gesetz. Es war dieselbe furchtbar aufwühlende Frage, die auch Paulus gepeinigt hatte, als er noch Pharisäer war: wie kann ich den Zorn Gottes vermeiden, wie seinem Eifer und seinen so strengen, fast unerfüllbaren Geboten Genüge tun? Es war, wie man sieht, der Judengott, der Luther so entsetzlich schreckte. Wieder einmal wurde ein wahrhaftiger, für Kompromisse und Zweideutigkeiten nicht geschaffener Mensch durch jene schauerliche Paradoxie in Verwirrung gebracht, die durch das ganze Christentum geht, jenen ungeheuren Riß, den zu verkleistern bereits fünfzig Menschengenerationen vergeblich ihren Scharfsinn, ihr Wissen und ihren Glauben aufgeboten hatten: er besteht darin, daß man einen rein national gedachten, nur den Interessen seiner Landsleute zugewandten, jede Konkurrenz unversöhnlich verfolgenden harten und herrischen Firmenchef, wie es der Judengott ist, mit Gott zu identifizieren suchte. Etwas Ähnliches hatten ja auch schon die Stoiker unternommen, indem sie behaupteten, Gott sei nichts anderes als der vergeistigte Zeus. Das eine ist so blasphemisch wie das andere. Ganz folgerichtig erklärten denn auch die Marcioniten, die klarsten und schärfsten Denker unter den frühen Christen, es existierten zwei Gottheiten, nämlich der »Demiurg«, der die Welt geschaffen habe (unter »Welt« verstanden sie »Juden« und erklärten daher den Weltschöpfer für etwas Bösartiges), und der »höchste Gott«, der zur Erlösung von der Welt seinen Sohn gesandt habe. Sie empfanden ganz richtig, daß, wenn man sich schon nicht entschließen könne, den Judengott ganz zu leugnen wie irgendeinen anderen Volksgott, die einzige logische Möglichkeit in der Annahme der Zweigötterei bestehe, einer Art Dualismus nach persischem Vorbild, wobei der Judengott natürlich den Geist der Finsternis vertritt; da aber eine solche Auslegung nichts war als ein maskierter Rückfall ins Heidentum, so konnte die Kirche sie natürlich nicht akzeptieren. Die Marcioniten (und andere) hatten übrigens auch vorgeschlagen, das Alte Testament einfach hinauszuwerfen, aber auch damit drangen sie nicht durch: Jehovah, auch darin ein echter Jude, ließ sich nicht hinauswerfen, und so ist bis zum heutigen Tage die reinste Religionslehre, die jemals in die Welt getreten ist und jemals in die Welt treten wird, verdorben und verwirrt durch das Gespenst eines rabiaten und nachträgerischen alten Beduinenhäuptlings.
Aber eines Tages erlebte auch Luther sein Damaskus. Nur rief ihm der Heiland nicht zu: »Warum verfolgst du mich?«, sondern: »Warum glaubst du dich von mir verfolgt? Mein Vater ist nicht Jehovah!« Er erkannte, daß der Christengott kein »gerechter« Gott ist, sondern ein barmherziger Gott, und daß der Inhalt des Evangeliums nicht das Gesetz ist, sondern die Gnade.
Es ist erschütternd, zu beobachten, daß Luther in der Zeit seiner inneren Kämpfe sogar eine Art Haß gegen Gott faßte: es gab Augenblicke in seinem Leben, wo er Gott aus der Welt hinwegwünschte. Und in der Tat: was man ganz und aus vollstem Herzen lieben soll, das muß man irgendwann einmal auch inbrünstig gehaßt oder doch einmal heiß und fast hoffnungslos umworben haben; und dies gilt gewiß auch nicht zuletzt von der Frömmigkeit: erwirb, um zu besitzen! Im Grunde war Luthers Glaubenskampf der Kampf gegen das billige Weidebehagen und Kuhglück der in Gott Saturierten, gegen die tiefe Unsittlichkeit, die in der gedankenlosen Unangefochtenheit und trägen Selbstverständlichkeit aller Durchschnittsreligiosität verborgen liegt.
Luthers Jugendgeschichte hat einen wahrhaft dramatischen Charakter; sein Mönchsgelübde unter Blitz und Donner, sein Thesenanschlag, die Disputation zu Leipzig, die Verbrennung der Bannbulle, seine Verteidigung auf dem Reichstag zu Worms: das sind große Szenen von welthistorischem Wurf und Gepräge, die in starken und großzügigen Bildern die jeweilige Situation prägnant und unvergeßlich zusammenfassen. Und mit einem überwältigend sicheren Griff, der gleichfalls etwas Dramatisches hat, hat Luther die katholische Kirche gerade an jenem Mißstand gepackt, der nicht nur der aufreizendste und widersinnigste, sondern auch der ostensibelste und einleuchtendste war: am Ablaßhandel. Es hatte sich im Laufe der Zeit eine richtige Börse für Sündenvergebung entwickelt, alles hatte seinen Kurs: Meineid, Schändung, Totschlag, falsches Zeugnis, Unzucht, in Kirchen verübt; Sodomie notierte in Tetzels Instruktion mit zwölf Dukaten, Kirchenraub mit neun, Hexerei mit sechs, Elternmord (merkwürdig wohlfeil) mit vier. Ja man konnte sogar, nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis, für gewisse Sünden vorausbezahlen und sich sozusagen eine Art Ablaßdepot anlegen; und das ganze Geschäft war an große Bankhäuser und Handelsfirmen verpachtet, die mit ganz modernen Mitteln der Reklame und des Kundenfangs arbeiteten: bei einer Verlosung in Bergen op Zoom waren zum Beispiel nebeneinander »köstliche Preise« und Ablässe zu gewinnen. Weiter konnte man die Entwürdigung und Merkantilisierung der Religion nicht treiben, und daß alle diese Usancen mit dem Christentum nichts mehr zu tun hatten, ja dessen offizielle und zynische Verleugnung und Verhöhnung bedeuteten, mußte auch dem einfachsten Kopf in die Augen springen.
Den Höhepunkt der publizistischen Wirksamkeit Luthers bezeichnet das Jahr 1520, wo er die drei kleinen, aber überaus gehaltvollen Schriften »An den christlichen Adel deutscher Nation«, »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« und »Von der Freiheit eines Christenmenschen« erscheinen ließ: sie sind von einer Kraft und Tiefe, Gedrängtheit und Fülle, Klarheit und Ordnung, wie er sie später nie wieder erreicht hat. Er lehrt darin mit hinreißender Beredsamkeit, daß jeder Christ wahrhaft geistlichen Standes sei; daß der Papst mitnichten der Herr der Welt sei, denn Christus habe vor Pilatus gesagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; daß als Sakrament nur gelten könne, was Christus selbst eingesetzt hat, nämlich Taufe, Buße und Abendmahl; daß durch die übrigen angemaßten Sakramente und die päpstlichen Ansprüche auf Weltherrschaft die Kirche unter die Botmäßigkeit einer ihr fremden und feindlichen Macht gelangt sei gleich den Juden in Babylon; daß ein Christenmensch ein ganz freier Herr aller Dinge sei und niemandem Untertan und zugleich ein ganz dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan: das erste ist er durch den Glauben, das zweite durch die Demut. Dort allein ist ein wahrhaft christliches Leben, wo der Glaube wahrhaft tätig ist durch die Liebe, wo er mit Freudigkeit an das Werk der freiesten Dienstbarkeit geht, in der er den anderen umsonst und freiwillig dient. »Wer mag begreifen den Reichtum und die Herrlichkeit eines Christenlebens, das alle Dinge vermag und hat und keines bedarf, der Sünde und des Todes und der Hölle Herr, zugleich jedoch allen dienstbar und willfährig und nützlich!« Hier ist Luther in die Nähe seiner großen Jugendlehrer, der Mystiker, gelangt, und dies hat ihn auch befähigt, die große Streitfrage des Christentums nach dem Verhältnis des Glaubens zu den Werken, auf die wir noch zurückkommen, mit der größten Reinheit und Einfachheit zu lösen; aber er hat später, durch kleinliche Reibereien und Ränke verbittert, in Arbeitsmühsal und Sektenpolemik verkalkt und vor allem aus Angst, mißverstanden zu werden (einer eines großen Genius unwürdigen Angst), diesen Gipfel wieder verlassen.
Daß aber diese große Bewegung nicht von dem gelehrten Paris, glänzenden Rom oder dem weltbeherrschenden Madrid ihren Ausgang nahm, sondern von der armseligen, eben erst gegründeten Universität Wittenberg, beruht auf der sonderbaren historischen Tatsache, daß es fast immer die Peripherie ist, die die neuen schöpferischen Kräfte entbindet und die bedeutenden geistigen Umwälzungen inauguriert. Auch das Christentum ist in einer verachteten kleinen Provinz des römischen Weltreichs geboren worden, der mosaische Monotheismus ist fern von den großen orientalischen Metropolen ans Licht getreten und der Mohammedanismus hat in der arabischen Wüste seinen Siegeslauf begonnen. Und es war ebenso notwendig, daß Luther auch im sozialen Sinne ein Kind der Peripherie war, daß er aus niederem Stande, aus Dunkel und Nichtigkeit hervorging. Dies ist immer notwendig, wenn Gott sich, stark oder schwächer, leuchtend oder nur in leisem Schimmer, für alle Welt oder nur für eine kleine Gemeinde, in einem Menschen offenbart. Das Göttliche wandelt auf Erden überall in Knechtgestalt.
Wir sagten vorhin: Luther sei in vielem noch eine durchaus mittelalterliche Erscheinung gewesen. Und in der Tat: er ist im höchsten Maße autoritätsgläubig, bis zur Blindheit. Er negierte zwar den Papst, aber »die Welt«, das hat schon sein Zeitgenosse Sebastian Franck erkannt, »will und muß einen Papst haben, dem sie zu Dienst wohl alles glaube, und sollte sie ihn stehlen oder aus der Erde graben; und nähme man ihr alle Tage einen, sie sucht bald einen anderen«. Luthers Papst war die Bibel. Was dort stand, war für ihn wörtlich und buchstäblich wahr, ohne die geringste Modifikation oder Einschränkung, und dabei führte er, wie gesagt, auch das Alte Testament überall mit sich, gleich einem unnützen Rudiment aus einer früheren Entwicklungsperiode, das längst seine Funktion verloren hat, und identifizierte das »Wort« mit seiner eigenen, oft irrtümlichen oder beschränkten Auslegung. Ein klassisches Beispiel für seinen engen Buchstabenglauben ist die berühmte Debatte über das Abendmahl auf dem Marburger Religionsgespräch. Als die Einsetzungsworte » , « zur Sprache kamen, erklärte Zwingli, sie seien nur symbolisch zu nehmen, das sage hier keine Identität aus, sondern sei mit significat zu übersetzen. Hierüber ärgerte sich aber Luther sehr: er klopfte während dieser Erörterungen fortwährend mit dem Finger unter den Tisch und wiederholte halblaut die Worte: est, est. Für ihn war eben nur die äußere grammatikalische Form maßgebend.
Und doch erkennen wir auch in diesem starren Wortaberglauben bereits den modernen Einschlag, der für Luther ebenfalls charakteristisch ist. Denn er ersetzt die bisherige oberste Instanz, den Papst, der eine lebendige Autorität von Fleisch und Blut war, durch die tote Autorität der »Schrift«, die aus Druckerschwärze und Papier besteht; an die Stelle des menschlichen Irrens und Rechtbehaltenwollens eines einzelnen tritt eine ganz unmenschliche Form der Irrlehre und Rechthaberei: die wissenschaftliche, an die Stelle der Theologie die Philologie (und schließlich sogar die Mikrologie), an die Stelle der heiligen Kirche das Unheiligste: die Schule. In der sich unwillkürlich vollziehenden Tatsache, daß im Mittelpunkt des Glaubens nicht mehr das Leben und Leiden des Erlösers steht, sondern der Bericht darüber, das »Buch«, erfüllt sich der Sieg des schreibenden, druckenden, lesenden, szientifischen Menschen, der die Neuzeit regiert, kündigt sich der Anbruch eines literarischen Zeitalters an. Auch die Sakramente wirken nach protestantischer Auffassung nicht mehr durch geheimnisvolle Magie, sondern lediglich durch das Wort. Kurz: der Gutenbergmensch triumphiert über den gotischen Menschen. Von hier führt eine gerade Linie zur reinen Verstandeskultur und Verstandesreligion, zur »Aufklärung«. Luther selbst hat diese unvermeidlichen Konsequenzen weder selbst verkörpert noch auch nur vorausgesehen, aber die von ihm gegründete Kirche hat sie vollzogen; und auch seine eigene Wirksamkeit und Wirkung ist bereits ohne Druckerpresse nicht zu denken: er ist der größte Publizist, den das deutsche Volk hervorgebracht hat, und die fünfundneunzig Thesen sind die erste Extraausgabe der Weltgeschichte.
Harnack sagt einmal in seiner Dogmengeschichte, Luther habe wie ein Kind im Hause der Kirche geschaltet. Dieses Wort umreißt fast erschöpfend alle Stärken und Schwächen des Reformators. Sein Werk zeigt die Undifferenziertheit und Ungeschicklichkeit, Beschränktheit und Gedankenflucht, aber auch die Reinheit und Innigkeit, Herzensfülle und Unwiderstehlichkeit eines Kindes. Weil er ein Kind war, konnte er dem Volke eine Religion geben; weil er ein Kind war, vermochte er kein religiöses Lehrgebäude zu errichten. Und weil die treibende Kraft in ihm eine kindliche Impulsivität, Sprunghaftigkeit und Eigenwilligkeit war, entbehrte auch sein Wirken der Kontinuität und Folgerichtigkeit. Er ist später in vielen Punkten rezidiv, sich selbst und dem wahren Protestantismus untreu geworden. Protestantismus ist klarer mutiger Protest gegen jederlei Glaubenszwang, Formelwesen, Lippengläubigkeit, ist Rückkehr zur Reinheit der evangelischen Lehre und den Grundtatsachen des Christentums, ist Verwerfung jeglichen Mittlertums, das sich zwischen Gott und den Gläubigen stellen will, ist Frömmigkeit und Nachfolge Christi als wahres und alleiniges Priestertum; aber schon zu Luthers Lebzeiten und nicht ohne sein Dazutun ist ein großer Teil von alldem, in dessen Bekämpfung seine historische Mission bestand, wieder zurückgekehrt: ein neues System klerikaler Herrschsucht und toter Anbetung äußerer Formen machte sich breit, ein neues Fassadenchristentum stand im höchsten Ansehen, eine neue Dialektik, die an Spitzfindigkeit und Widersinnigkeit die katholische weit hinter sich ließ, hielt ihren Einzug und verdunkelte das Evangelium zum zweitenmal und mit weit weniger großartigen Mitteln, und wiederum zerfiel die Menschheit in Christen erster und zweiter Klasse: aber während der katholische Priester seine Superiorität aus einer transzendenten Quelle schöpft, gründete sich die Hegemonie der protestantischen Pastoren und Theologen auf den viel armseligeren und gebrechlicheren Anspruch, vor dem Laien das wahre wissenschaftliche Verständnis der Bibel vorauszuhaben.
Und was konnte Luther, was konnten die Lutheraner denn von dem Phänomen des Heilands verstehen? Die Erscheinung Christi in ihrer Umwelt ist für ein modernes, überhaupt für ein europäisches Gefühl etwas gänzlich Fremdes, fast Unbegreifliches; es ist ein magisches Leuchten um sie, ein zauberhafter Opalglanz, in dem sich endlose braune Wüste, Fata morgana, zitternde Mittagsstille spiegelt: eine Lebensform, die wir kaum mehr nachempfinden können, und darüber hinaus noch ein Abtun selbst dieser Lebensform. Die ganze glitzernde und doch so lautlose Buntheit, die unnachahmlich erhabene Schlichtheit und Eindeutigkeit des Orients ist im frühen Christentum und daneben ein fast hysterisches Mitfühlen mit dem Herzschlag jeglicher Kreatur und eine Negierung der eigenen Existenz, die mit solch klarer Entschiedenheit nur in der Seele sehr später Menschen zum herrschenden Pathos werden kann. Eine höchst primitive und zugleich uralte Kultur spricht aus den Evangelien: die Einfachheit des Naturmenschen, vereinigt mit der Weisheit des Jahrtausendmenschen. Ein Luther kann den Christusglauben vom obersten Überzug jahrhundertelanger barbarischer Mißverständnisse reinigen, er kann ihn konzentrieren, vereinfachen, handlicher und übersichtlicher machen, der Rationalisierung entgegenführen; aber die unendliche Zartheit, Fragilität und Hyperästhesie dieser Seelenwelt kann ein kerngesunder deutscher Bauer, die funkelnde exotische Farbenpracht dieser Bilderwelt kann ein biederer sächsischer Theologieprofessor, die abgrundtiefe Urweisheit dieser so selbstverständlich im Unendlichen wohnenden Glaubenswelt kann der Sohn einer anbrechenden Zeitungskultur nicht nacherleben.
So ist auch Luthers Bibelübersetzung eine Leistung, die man, je nach dem Gesichtspunkt, von dem aus man sie betrachtet, als mißlungen oder als ein Meisterwerk bezeichnen kann. Von dem Duft, dem Lokalkolorit, dem ganzen Ambiente der biblischen Welt, ja selbst von den Gefühlen und Gedanken der Verfasser ist nicht allzuviel hinübergerettet worden: aber dafür ist es Luther gelungen, mit seiner in jederlei Sinn verdeutschten Bibel das deutscheste Buch der deutschen Literatur zu schreiben. Man hat daher oft die überschwengliche Behauptung aufgestellt, er sei der Schöpfer des Neuhochdeutschen gewesen, und eine Autorität vom Range Jacob Grimms hat dieser Ansicht zugestimmt: »Luthers Sprache«, sagt er, »muß ihrer fast wundervollen Reinheit, auch ihres gewaltigen Einflusses halber für Kern und Grundlage der neuhochdeutschen Sprachniedersetzung gehalten werden.« Nun läßt es sich ja anderseits nicht leugnen, daß Luther, wie er selbst ausdrücklich betont hat, die sogenannte »Sprache der sächsischen Kanzlei« geschrieben hat, eine Art Einheitsidiom, das, zwischen Mitteldeutschem und Süddeutschem die Mitte haltend, bereits um 1350 von der Kanzlei der luxemburgischen Könige in Prag begründet wurde und sich von da über die anderen deutschen Hofkanzleien verbreitete. Aber es ist doch zweierlei zu berücksichtigen: erstens, daß es zur Zeit Luthers im Volke tatsächlich noch keine Gemeinsprache gab, sondern nur eine Unzahl von Dialekten, und nur durch die außerordentliche Verbreitung und Wirkung seiner Schriften, vor allem seiner Bibel, diese Einheitssprache allmählich in weite Kreise drang und als allgemeines Schriftdeutsch akzeptiert wurde, und zweitens, daß dieses Gemeinsächsisch eben nichts anderes war als ein trockener, schwerlebiger und wortarmer Kanzleijargon, während Luther derselben Sprache das Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste an Ausdruck entlockt und sie zum Organ für alle erdenklichen Bewußtseinserlebnisse gemacht hat. Er hat aus dem Material, das er vorfand, gerade das Gegenteil eines Kanzleistils geschaffen, indem er, wie er selbst in seinen »Tischgesprächen« erzählt, die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markte befragte und ihnen aufs Maul sah, wie sie redeten: auf diese geniale Weise hat er mit einem Einfühlungs- und Nachahmungstalent, das dem schauspielerischen verwandt ist, das Kunststück zuwege gebracht, die subtilsten und gelehrtesten Dinge so gut wie die einfachsten und alltäglichsten in einer Sprache voll Natürlichkeit, Lebendigkeit, Verständlichkeit und Schlagkraft zur Darstellung zu bringen: wir stoßen hier wiederum auf jene eigentümliche dramatische Begabung, die Luther innewohnte; sie äußert sich auch in seinen Lehr- und Streitschriften, die, indem sie immer einen fiktiven Gegner supponieren, einen unterirdischen Dialogcharakter an sich tragen und hierin an Lessing erinnern. Und so dürfte es denn in der Tat nicht zuviel gesagt sein, wenn man behauptet, daß ohne Luther Deutschland heute höchstwahrscheinlich ein zweisprachiges Land wäre, das zur einen Hälfte niederdeutsch und zur andern Hälfte oberdeutsch reden würde.
Auch Luthers nicht geringe Musikalität spricht aus seinem Stil: vor allem ist er ein Meister des kunstvoll gesteigerten Furioso. Er hat auch einige seiner Kirchenlieder selbst komponiert, spielte Laute und Flöte, verstand und würdigte polyphone Sätze und war ein großer Verehrer der niederländischen Kontrapunktiker; er hat den deutschen Kirchengesang zu einem festen Bestandteil des protestantischen Gottesdienstes gemacht und wollte ihn auch fleißig in der Schule geübt wissen. Bei jeder Gelegenheit preist er mit begeisterten Dankesworten die »Musica«, die »herrliche schöne Gabe Gottes, nahe der Theologia«.
Wenn wir uns aber zu den übrigen Künsten begeben, so stoßen wir bereits auf die großen Beschränkungen dieses großen Mannes. Schon zur Poesie hatte er kein rechtes Verhältnis. Von allen Dichtungsgattungen schätzte er am höchsten die didaktische Fabel, weil sie am nützlichsten sei zur Erkenntnis des äußeren Lebens: eine ziemlich banausische Ansicht, die aber in der Zeit lag. Ähnlich utilitaristisch äußerte er sich über das Drama: die Komödien des Terenz seien ein lehrreicher Spiegel der wirklichen Welt, die lateinischen Schuldramen eine gute Sprachübung, die geistlichen Spiele ein wirksames Mittel zur Verbreitung der evangelischen Wahrheit. Die bildende Kunst scheint für ihn überhaupt nicht existiert zu haben. Er reiste im Jahr 1511, zur Höhezeit der Renaissance, über Oberitalien nach Rom; aber er findet kein einziges Lobeswort für die Schönheit der Kunstwerke: in Florenz imponieren ihm am meisten die sauber eingerichteten Spitäler und in Rom beklagt er bloß, daß für die Bauten so viel Geld aus Deutschland fließe; auch am Kölner Dom und am Ulmer Münster interessiert ihn nur die schlechte Akustik, die den Gottesdienst erschwere. Und für die geschichtliche Größe Roms scheint er ebensowenig Verständnis gehabt zu haben wie für die künstlerische, ja er scheint überhaupt, im Gegensatz zu seinem Freund Melanchthon, gänzlich des historischen Sinnes entbehrt zu haben. Von Julius Cäsar sagt er zum Beispiel, er sei »nur ein Affe« gewesen; Cicero rühmt er als einen Weisen, der Aristoteles weit übertroffen habe, denn er habe seine Kräfte dem Staatsdienst geweiht, aber Aristoteles sei nur ein »müßiger Esel« gewesen: derartige Urteile über das größte strategische und politische Genie des alten Rom und über den umfassendsten und tätigsten Geist des alten Hellas, der das gesamte antike Wissen versammelt, geordnet und dargestellt und darüber hinaus noch ein halbes Dutzend neuer Wissenschaften begründet hat, kann man doch wohl nicht mehr mit »Subjektivismus«, sondern nur mit einer völligen Blindheit für historische Zusammenhänge erklären.
Dieser essentielle Mangel an geschichtlichem Verständnis hat sich am krassesten in seinem Verhalten gegen die aufständischen Bauern gezeigt, wodurch ein häßlicher Fleck auf sein ganzes Leben gefallen ist. Der Bauernkrieg war der größte Versuch einer sozialen Revolution, den Deutschland jemals erlebt hat, und nur die rohe Undiszipliniertheit der Bauern und die dünkelhafte Eifersucht ihrer Führer hat verhindert, daß sie zum Ziele gelangte. Sie ging, wie wir bereits erwähnt haben, von urchristlichen Ideen aus und richtete sich in erster Linie gegen die reiche Hierarchie, viel weniger gegen die weltlichen Fürsten, gar nicht gegen den Adel; und vom Kaiser hoffte man sogar, daß er sich an die Spitze der Bewegung stellen werde. Auch von Luther, der immer die Rückkehr zum Evangelium gepredigt hatte, nahm man dies als ganz selbstverständlich an. Das Gefährlichste an der Erhebung war, daß sie sich von allem Anfang an keineswegs auf das flache Land beschränkte, sondern auch auf die Städte übergriff, wo unter den proletarischen Elementen längst eine heftige Gärung bestand, dazu kam noch die große Zahl der armen Geistlichen, kurz, es handelte sich um eine Bewegung des ganzen vierten Standes von außerordentlicher Breite und Tiefe.
Die berühmten »zwölf Artikel« vom Jahr 1525 stellten noch durchaus gemäßigte Forderungen: die Gemeinde soll sich ihren Pfarrer selbst wählen dürfen; der Kornzehnte soll bestehen bleiben, die übrigen Abgaben aber nicht mehr; die Leibeigenschaft soll aufgehoben werden, Jagd, Fischfang und Beholzung sollen frei sein. Daran schlossen sich im weiteren Verlauf der Revolution noch einige andere sehr vernünftige Postulate: Maß- und Münzeinheit für ganz Deutschland, Abschaffung aller Zölle, Reform des Gerichtswesens. Für die aus diesen Neuordnungen fließenden Verkürzungen sollten die Adeligen aus den Kirchengütern entschädigt werden, deren vollständige Säkularisation einen der wichtigsten Programmpunkte bildete. Die Gegner wollten sich jedoch zu keinerlei Konzessionen herbeilassen, und so kam es zum Krieg: »gleichwie die Bienen, wann sie stoßen« strömten von allen Seiten die Bauern zusammen. Die Städte leisteten keinen ernsthaften Widerstand; binnen wenigen Wochen unterwarfen sich alle Fürsten in Franken und am Rhein; ein großes Bauernparlament wurde nach Heilbronn berufen, um über eine vollständige Reform des Reiches zu beraten. Gleichzeitig machte in Thüringen eine um vieles radikalere Gruppe von kommunistischer Tendenz, die »Wiedertäufer« unter der Führung Thomas Münzers, siegreiche Fortschritte. Hätten sich damals die Franken mit den Thüringern zu einem Hauptschlag vereinigt, so wäre eine Niederlage der »Weißen« kaum zu vermeiden gewesen; aber sie verzettelten und zerstückelten ihre Kräfte in Belagerungen und Plünderungen und wurden in allen sieben Schlachten, die nun rasch aufeinander folgten, gänzlich geschlagen, hauptsächlich durch die Reiterei, an der es ihnen überall fehlte. Im September des Jahres war der Aufstand bereits vollständig niedergeworfen. Aber die Borniertheit, Grausamkeit und Selbstsucht, mit der die Bauernfrage im Bauernkrieg behandelt worden ist, zieht ihre Folgen durch alle kommenden Jahrhunderte, ja sie steht indirekt auch im Zusammenhang mit der heutigen Verwirrung.
In dieser großen Entscheidungsstunde des deutschen Volkes hat Luther vollkommen versagt. Er zitiert Jesus Sirach: »Dem Esel gehört sein Futter, Last und Geißel« und meinte damit den Bauern: er sah also im Landmann nicht den Ernährer, sondern das Lasttier der menschlichen Gesellschaft. Greueltaten sind im Bauernkrieg auf beiden Seiten verübt worden, aber sicher mehr von der Gegenpartei, auch gehörten sie als etwas Selbstverständliches zum Charakter der Zeit. Daß Luther sich im Krieg extrem feindlich gegen die Bauern zeigte, ließe sich noch einigermaßen daraus erklären, daß er von ihrem Betragen ganz einseitige Schilderungen empfangen hatte und außerdem einen nicht unberechtigten Unwillen darüber empfinden mußte, daß seine rein religiöse Sache politisiert wurde; aber völlig unverzeihlich ist es, daß er diese übelwollende Haltung schon vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten einnahm. In seiner Erwiderung auf die zwölf Artikel lehnt er fast alle darin enthaltenen Ansprüche rundweg ab. Zu der durchaus billigen Forderung, daß vom Zehnten fortan die Pfarrer bezahlt und von dem Rest die Armen der Gemeinde unterstützt werden sollen, bemerkt er: »Dieser Artikel ist eitel Raub und Strauchdieberei, denn da wollen sie den Zehnten, der nicht ihr ist, sondern der Obrigkeit, zu sich reißen und damit machen, was sie wollen. Wollt ihr geben und Gutes tun, so tut es von eurem Gute« (als ob der Zehnte, diese höchst ungerechte und drückende Auflage, die oft ein Drittel des Einkommens betrug und niemals irgendeinem gemeinnützigen Zwecke zugute kam, nicht ebenfalls das Gut der Bauern gewesen wäre!), und die Leibeigenschaft erklärt er für eine durchaus gottgefällige Einrichtung, wobei die zu allem brauchbare Bibel als Argument herhalten muß, denn auch Abraham habe Leibeigene gehabt, und Paulus lehre, daß jeder in dem Beruf bleiben solle, zu dem er berufen worden sei. Aber auch später, als er schon einigen Anlaß zur Mißbilligung hatte, hat er sich zum mindesten im Ton vergriffen. In seiner Schrift »Wider die räuberischen und mörderischen Bauern« heißt es: »Hohe Zeit ist's, daß sie erwürgt werden wie tolle Hunde« und: »Hie soll zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann... Solche wunderliche Zeiten sind jetzt, daß ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen besser verdienen kann denn andere mit Beten.« Hier steckt der rohe Heide, Barbar und Gewaltmensch, der, nur mühsam gebändigt, auf dem Grunde von Luthers Seele hauste, seinen Kopf hervor, und wir stoßen auf die erschreckende Tatsache, daß in diesem gottverlassenen sechzehnten Jahrhundert, das als die große Epoche der Erneuerung des Christentums gilt, die Christen überhaupt ausgestorben waren.
Das Schlimmste an dem ganzen Handel aber war, daß Luther in seinem verblüffend brutalen und unvernünftigen Vorgehen zu einem guten Teil durch Opportunismus bestimmt war. Nun ist ja Opportunismus eine Eigenschaft, mit der man nicht allzu streng ins Gericht gehen soll, sie ist zu menschlich, als daß man sie sehr tadeln dürfte, und sie ist oft gerade eine Schwäche der starken Geister, die, in ihren eigenen Kreisen lebend und um deren Störung ängstlich besorgt, nur zu oft um ihrer inneren Ruhe und Freiheit willen zum Paktieren mit den Prätensionen der Außenwelt geneigt sind. Weder Goethe noch Schiller, weder Kant noch Schopenhauer, weder Descartes noch Galilei waren frei von Opportunismus. Daß vollends jeder staatsmännische Geist opportunistisch orientiert sein muß, ja daß seine Lebensfunktion im Grunde in nichts anderem besteht als in der Betätigung eines mehr oder minder treffsicheren, akkommodationsmächtigen und weitblickenden Opportunismus, ist völlig klar. Aber man wird doch sagen dürfen: einer darf niemals Opportunist sein: der Reformator! Denn dies ist ja eben sein innerster Beruf, seine tiefste Mission, nicht zu lavieren, Kompromisse zu schließen, »einzulenken«, »sich auszugleichen«, sondern ein bestimmtes Lebensideal, das von seiner ganzen Seele tyrannisch Besitz ergriffen hat, ohne die geringste Konzession und Einschränkung der Praxis aufzuzwingen. Jeder Reformator ist ein Monomane.
Auch Luther war es anfangs, und darauf allein beruhte seine Macht über die Zeitgenossen und seine Nachwirkung in der Geschichte. Später bog er um, verließ sich nicht mehr auf seinen gesunden Instinkt für das Rechte und Wahre, der seine stärkste Potenz war, sondern versuchte es mit allerlei Mittelwegen und Finessen der Diplomatie, die seine schwächste Seite war. Vielleicht glaubte er damit der »Sache« zu nützen, die Ausbreitung der protestantischen Kirche zu erleichtern, aber er vergaß dabei, daß seine Sache, für die Gott ihn in die Welt gesandt hatte, in etwas ganz anderem bestand: nämlich darin, jeweils immer das auszusprechen, was in ihm war, ohne Milderung, ohne Abzug, ohne Rücksicht nach rechts und nach links. Vielleicht lag der Grund für sein so plötzliches Erschlaffen auch in einem gewissen taedium vitae, das ihn merkwürdig früh ergriff: schon im Jahr 1530 schrieb er an Ludwig Senfl, den bedeutendsten Kirchenmusiker des damaligen Deutschland: »Fürwahr, ich glaube, daß mein Leben bald zu Ende geht. Die Welt haßt mich und kann mich nicht leiden; mich hingegen ekelt die Welt an, ich verachte sie.« Er gehörte wahrscheinlich zu jenen vulkanischen Naturen wie Herder, Rousseau oder Nietzsche, die sich in einigen gewaltigen Eruptionen aufbrauchen und keinen Herbst haben.
Wir sagten vorhin, Luther habe nicht die Gabe besessen, historisch zu denken; er war aber überhaupt ein unwissenschaftlicher Kopf. Er verfügte nicht über die Fähigkeit, seine Gedanken zu ordnen, zu gliedern und auseinander abzuleiten, und dies ist um so merkwürdiger, als die wissenschaftliche Literatur des sechzehnten Jahrhunderts an lichter Architektonik, Bündigkeit und Übersichtlichkeit Ausgezeichnetes geleistet hat. Von Luthers Unvermögen, klar, systematisch und folgerichtig zu denken, leitet sich ein großer Teil des späteren Geschwätzes und Gezänks der protestantischen Theologie her. Dies zeigt sich bereits bei seinen Ansichten über das Wesen der Kommunion.
Die Vorstellung der Brotverwandlung machte der Weltanschauung des Mittelalters keine Schwierigkeiten, da, wie wir ausführlich dargelegt haben, für sie nur die Universalien wirklich waren. Wirklich war ja nicht die einzelne Hostie, sondern allein das höchste Universale, der allgegenwärtige Gott, der in ihr erscheint. Allerdings hat es schon früh gewisse Freigeister gegeben, die die reelle Transsubstantiation bestritten, aber sie drangen nicht durch. Am berühmtesten ist der berengarische Streit. Um die Mitte des elften Jahrhunderts lehrte Berengar von Tours, die Einsetzungsworte seien tropisch zu verstehen. Seine Doktrin wurde verdammt, er selbst zum Widerruf gezwungen, worin er erklärte, daß der Leib Christi beim Abendmahl von den Gläubigen mit den Zähnen zerbissen werde. Demgegenüber behaupteten die Schweizer Zwingli, Calvin und ihre Anhänger, daß das Abendmahl bloß ein symbolischer Akt, eine Erinnerungsfeier sei und die Hostie nur den Leib Christi bedeute. Beide Anschauungen sind vollkommen klar, und man kann sich mit voller Bestimmtheit zwischen ihnen entscheiden. Es ist noch heute jedermann möglich, sich die Vorstellung der wahren Brotverwandlung zu eigen zu machen, und es ist jedermann möglich, das Abendmahl als einen rein geistigen Vorgang zu begreifen. Luthers mittelalterlich orientierte Religiosität neigte zweifellos zu der ersteren Anschauung, und er hat sie auch, wie wir bereits hörten, im Marburger Religionsgespräch hartnäckig vertreten, aber er wollte nicht zugeben, daß die Katholiken in irgendeinem Punkte recht hätten; die Calvinische Ansicht war ihm aber wiederum zu modern. Infolgedessen wählte er eine mittlere Auslegung, unter der kein Mensch sich etwas vorstellen kann: er erklärte, daß der Körper Christi sich in den geweihten Stoffen befinde wie das Feuer im erhitzten Eisen; wie Eisen und Feuer zusammen bestünden, so auch Hostie und Leib Christi; oder, wie Voltaire dies einmal frivol, aber anschaulich ausdrückt: die Papisten genießen Gott, die Calvinisten Brot und die Lutheraner Brot mit Gott. Unheilbarer kann man die Sache nicht verwirren. Luther tilgt das Mysterium (und zwar aus purem antipapistischen Eigensinn) und verwirft die philosophische Erklärung: er lehrt eine Verwandlung, bei der sich beides verwandelt und nichts verwandelt.
Aber das Kernproblem, von dem die ganze reformatorische Bewegung ausging und um das sie sich in ihrer ganzen weiteren Entwicklung drehte, war die Frage nach dem Wesen der Rechtfertigung. Nach katholischer Auffassung besteht die Buße aus drei Stücken: der contritio cordis, der confessio oris und der satisfactio operis; von diesen hat Luther nur das erste: die Reue des Herzens, für legitim erklärt und sich fanatisch und, was schlimmer ist, wiederum völlig unklar gegen die beiden anderen: Beichte und Werke, gewendet. Hiermit verknüpft sich aber eine noch tiefer liegende Frage. Der Punkt, von dem hier offenbar alles abhängt, ist die Entscheidung über die menschliche Willensfreiheit oder die Geltung der Prädestination. Es ist klar, daß dieses Problem das primäre ist: zuerst muß überhaupt entschieden werden, ob der menschliche Wille frei ist, und dann erst kann der Untersuchung über Art und Form der Rechtfertigung nähergetreten werden. In beiden Fragen haben auf Luther, wie er selbst oft und freudig bekannt hat, zwei der größten Kirchenlehrer einen tiefen und dauernden Einfluß ausgeübt: Paulus und Augustinus.
Mit Paulus tritt der erste leibhaftige greifbare Mensch in die Welt des Neuen Testaments. Die Evangelien zeigen uns ihre Gestalten in einer zuckenden, schwimmenden, man wäre fast versucht zu sagen: impressionistischen Beleuchtung, bald in nebliger Verhüllung, bald in blitzartiger Überhelle. In den Briefen des Paulus aber redet zu uns eine Stimme ganz aus nächster Nähe, eine dramatische Gestalt, die wir kämpfen, straucheln, siegen sehen, ein Sterblicher, der die Haupteigenschaft alles Lebens: die Paradoxie, leuchtend verkörpert, der seinen vollen Anteil hat an Zorn und Zärtlichkeit, Grenzenlosigkeit und Schranke, Narrheit und Heiligkeit der irdischen Kreatur. Und eben darum, weil er in jederlei Sinn der menschlichiste aller Menschen war, von denen die Geschichte des werdenden Christentums zu berichten weiß, ist er an fast allen religiösen Wendepunkten späteren Zeiten Führer und Sinnbild gewesen. An Paulus haben die großen Erneuerer des Christentums immer wieder angeknüpft: es war unvermeidlich, daß auch Luther diesen Weg ging.
Es gibt über die Rolle, die Paulus in der Entwicklung des Christentums gespielt hat, zwei extrem entgegengesetzte Ansichten. Die eine, die behauptet, daß ohne Paulus die Lehren des Evangeliums niemals die Welt erobert hätten, und daher in ihm den eigentlichen Stifter des Christentums erblickt, ist so töricht und niedrig, daß wir es für unwürdig halten, uns mit ihrer Widerlegung zu befassen. Die andere stammt von dem geistesmächtigen Bekämpfer des kirchlichen Christentums, Friedrich Nietzsche, der mit richtigem Instinkt gegen diesen größten aller Kirchenväter seine Hauptangriffe gerichtet hat. Mit dem Pinsel eines Dante malt er in seinem nachgelassenen Fragment »Der Antichrist« die Entwicklung des Urchristentums, wie sie sich ihm darstellt. »Dieser frohe Botschafter«, sagt er über Christus, »lebte, wie er lehrte nicht um die Menschen zu erlösen, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat ... Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht, er tut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus ... Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun ... Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich machen ... Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, ihn lieben ... Im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das Evangelium starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an Evangelium heißt, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: eine schlimme Botschaft, ein Dysangelium ... Offenbar hat die kleine Gemeinde gerade die Hauptsache nicht verstanden, das Vorbildliche in dieser Art zu sterben, die Freiheit, die Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment ... Aber seine Jünger waren ferne davon, diesen Tod zu verzeihen was evangelisch im höchsten Sinne gewesen wäre.« (Es sei bei dieser Gelegenheit in Parenthese bemerkt, daß ein »Antichrist«, der solche Sätze niederzuschreiben vermag, dem Verständnis des Heilands doch wohl näher stehen dürfte als jene Pastoren, die ihr Christentum dadurch zu erweisen suchen, daß sie die Sätze des Evangeliums so lange fletchern, bis sie jeden Geschmack verloren haben. Möge uns Gott nur noch recht viele solcher »Atheisten« schicken, wie Friedrich Nietzsche einer war! Wenn sie eine so tief adelige Seele und ein so reines Feuer des Wahrheitsdranges besitzen und wenn sie ein so vorbildliches Heiligen- und Dulderleben führen, so werden sie damit Gott mehr dienen als dadurch, daß sie sich zu ihm bekennen.)
Werden wir aber nun mit Nietzsche sagen dürfen, daß der Paulinismus nichts anderes war als ein einziger großer Racheakt der Tschandalaseelen, eine Barbarisierung und völlige Entchristlichung des Christentums? Das wäre doch wohl ungerecht. Was an der Geschichte Jesu am meisten zum Nachdenken reizte, war die Tatsache seines Todes. Hier war das schlechthin Neue, das unfaßbar Grauenvolle und Wundervolle: der Größte, den Gott je in die Welt gesandt, nicht erhöht über alle Menschen als ihr Lenker, Lehrer und König, sondern grausam hingerichtet, eines schmählichen Sklaventodes gestorben, den er freiwillig gesucht hatte! Hier erhob sich die Frage: wie ist das zu erklären? Da ergab sich nur die eine Antwort: für uns, die anderen hat diese grandiose Umkehrung der Weltordnung stattgefunden, für uns Ungerechte hat der Gerechteste Unrecht gelitten, der Schuldloseste Strafe erduldet, damit wir gesühnt und selig seien! Anders konnte sich Paulus die Sache nicht begreiflich machen, und bis zum heutigen Tage haben alle christlichen Bekenntnisse, Lehren wie Irrlehren, keine andere Erklärung gefunden.
Wollte man die geschichtliche Bedeutung des Paulus in einem Schlagwort zusammenfassen, so könnte man sagen: er war der erste christliche Theologe. Er hat die religiösen Gedanken, die in den frühesten Christenvereinigungen verbreitet waren, in eine Art System gebracht, in eine sich logisch entwickelnde Abfolge von Begriffen, die sich leicht einprägen, behalten und weitertragen ließ. Man darf von dieser Tätigkeit des Paulus nicht gering denken. Jeder Genius spricht seine eigene Sprache, ein Spezialidiom, das naturgemäß außer ihm nur sehr wenige verstehen. Er braucht daher einen Übersetzer, eine geistige Kraft, die den Versuch macht, sein Unaussprechliches auszusprechen, sein Undeutbares zu deuten, sein Ewiges und Grenzenloses in irdische und faßbare Formen zu gießen. Eine gute Formel soll man nicht verachten, sie ist auch Geist: der Spiritus, der manche Dinge, die sonst zerfallen würden, für spätere Zeiten konserviert. Einen solchen Dienst hat zum Beispiel Aristoteles dem griechischen Gedankenleben geleistet. Durch die Formel vom gekreuzigten Gottessohn, der die Schuld der Welt getilgt hat, ist Tausenden, die für die reine Lehre Jesu noch nicht reif waren, ein wertvolles Symbol gegeben worden, das sie theoretisch und praktisch zu handhaben vermochten.
Aber ein Wort in der Lehre des Paulus will nicht recht in den Geist des Evangeliums passen: es ist das Wort »Sühne«. Der Gott Jesu ist die Gnade, die grundlose und grenzenlose, die jenseits von aller Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit waltet, nicht als Lohn oder Ausgleich, sondern einfach nur deshalb, weil sie die Gnade ist: Gott ist nicht der Richter, der freispricht, sondern der Vater, der verzeiht. Bei Paulus aber stehen Gott und Mensch irgendwie in einer geheimnisvollen Verrechnung. Es scheint, daß Paulus den Gedanken, daß Gott nicht gerecht, sondern übergerecht ist, nicht ertragen hat, und in der Tat: dieser Gedanke wäre für die meisten Menschen keine Befreiung, sondern ein quälendes Rätsel gewesen, er war zu weit und zu groß, zu schwer und zu tief für sie. Die Juden konnten ihn nicht verstehen, denn für sie war seit Jahrtausenden Gott und Gesetz dasselbe, und es ist ja auch der frühere Pharisäer in Paulus, der ihm die Lehre vom Opfertod Christi eingab; die Römer waren in ihrem Denken viel zu sehr juristisch geschult, um auf den Satisfaktionsbegriff verzichten zu können; und den Griechen schließlich in ihrem durchaus konkreten und körperhaften Denken und ihrem alles klar umgrenzenden Rationalismus wäre ein Gott der uferlosen Gnade völlig unfaßbar gewesen.
Deshalb hat auch Lagarde nicht ohne Berechtigung den zunächst höchst paradox klingenden Satz aufstellen können, Paulus sei der jüdischste aller Apostel gewesen. Die Annahme, daß Gott die Erbsünde nur durch das Opfer seines Sohnes tilgen konnte, geht eben noch auf den alttestamentarischen Judengott zurück, der vor allem gerecht ist: es gilt auch hier noch irgendwie das Aug' um Auge, Zahn um Zahn; es ist eine Art Handel. Aber nur diese Grundvoraussetzung, daß die Gnade Gottes durch den Tod eines Unschuldigen erkauft, daß sie überhaupt gekauft werden mußte, ist anstößig; innerhalb seiner Erlösungslehre hat Paulus den juristisch-talmudischen Standpunkt vollständig verlassen und immer wieder betont, daß der Mensch nicht durch Werke, sondern nur durch die Gnade und den Glauben gerechtfertigt werde: »Denn es ist hier kein Unterschied,« heißt es im Römerbrief, »sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollten; und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist... So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«; und im Epheserbrief: »Denn aus Gnade seid ihr selig worden durch den Glauben, und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme«: hierin hegt zugleich eine gewisse Leugnung der Willensfreiheit. Aber schon der Brief des Jakobus, der Luther auch darum so unsympathisch war, lehrt den sogenannten Synergismus, das Zusammenwirken von Glauben und Gnade: »Was hilft's, lieben Brüder, so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? ... Der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist tot in ihm selber ... da siehest du, daß der Glaube mitgewirkt hat () an den Werken, und durch die Werke ist der Glaube vollkommen worden.« Also schon innerhalb des Neuen Testaments erhebt sich ein Widerstreit der Satisfaktionslehren.
Was nun den zweiten großen Lehrer Luthers, Augustinus, anlangt, so behauptete er mit aller Bestimmtheit die Unfreiheit des Willens und die Prädestination: für ihn ist die Menschheit ein großer Sündenblock, eine massa peccati und daher eine massa perditionis; aus dieser wird durch die gratia gratis data ein certus numerus electorum gerettet. Nur Adam besaß die Freiheit, nicht zu sündigen, das posse non peccare; durch die Erbsünde befindet sich der Mensch in dem Stande der Unfreiheit, des non posse non peccare. Hierdurch verlieren natürlich auch die Werke jegliche Bedeutung. Dem Einwand, warum Gott in seiner ewigen Voraussicht nicht das Böse unerschaffen gelassen habe, begegnet Augustinus mit einem ästhetischen Argument: auch die Sünde gehöre zum Gesamtbild der Welt, wie schwarze Farbe an rechter Stelle zu einem vollkommenen Gemälde notwendig sei oder ein schönes Lied aus Gegensätzen bestehe. Die gegnerische Lehre des Pelagius wurde auf dem Konzil von Ephesus verdammt; allein noch bei Lebzeiten des Augustinus wurde von den »Massiliensern«, Mönchen in Massilia, im Mittelalter Semipelagianer genannt, ein vielfach akzeptierter Vermittlungsstandpunkt eingenommen: daß nämlich die Gnade zwar unentbehrlich, in ihrer Wirkung aber auf den freien Willen des Menschen angewiesen sei und die Prädestination auf der Allwissenheit Gottes beruhe, die vorhergesehen habe, wie die künftigen Menschen aus freiem Willen handeln würden; auch lehrten sie die Kooperation von Glauben und Werken. Seitdem hat sich, schüchterner in der Theorie, nachdrücklicher in der Praxis, die Werkheiligkeit im Katholizismus immer mehr festgesetzt; dieser Begriff hat jedoch eine außerordentliche Spannweite: er umfaßt in gleicher Weise die abscheulichsten Ablaßpraktiken wie das erhabenste Heiligenleben und trägt daher keineswegs von vornherein jenen anrüchigen und widerchristlichen Charakter, den ihm die Protestanten anzuheften suchen.
Auch ist ein äußerlich den Geboten entsprechendes Werk nach katholischer Lehre nicht schon deshalb ein gutes Werk. Die Güte erhält es erst durch die intentio, die Gesinnung, in der es getan wird; und umgekehrt gilt auch nach katholischer Auffassung die bloße Gesinnung, wenn ihr die Gelegenheit oder die Möglichkeit zur Betätigung mangelt, für ebenso wertvoll wie das getane Werk. Das Konzil von Trient sagt: »Der Glaube ist der Anfang alles Heils, die Grundlage und die Wurzel aller Rechtfertigung; denn ohne ihn ist es unmöglich, Gott zu gefallen und zu seiner Kindschaft zu gelangen.« Ganz ähnlich sagt Luther: »Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute fromme Werke ... Wie die Bäume müssen eher sein denn die Früchte und die Früchte machen die Bäume weder gut noch böse, sondern die Bäume machen die Früchte, also muß der Mensch in der Person zuvor fromm oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut.« Luthers Baum entspricht offenbar der katholischen intentio, aber in dem Gleichnis, wenn wir es zu Ende denken, liegt auch die Anerkennung der natürlichen Notwendigkeit der Werke: denn es hegt im Wesen des Baumes und zumal jedes guten Baumes, daß er Früchte hervorbringt. Den Vorwurf aber, daß die katholische Doktrin die Werkheiligkeit und Selbstgerechtigkeit befördere, hat Adam Möhler in seiner »Symbolik« mit den schönen Worten widerlegt: gerade darin gehe die Bestimmung dieser Lehre auf, heilige Werke zutage zu fördern und zu bewirken, daß wir selbst gerecht werden.
Versuchen wir, den Sachverhalt vorurteilslos zu überblicken, so kommen wir zu einem merkwürdigen Resultat. Der Protestantismus leugnet die Rechtfertigung durch Werke und verlegt die Buße ins Innere, in den bloßen Glauben; aber er fordert zugleich ein tätiges, praktisches Christentum und gelangt so wiederum zu einer Art Werkheiligkeit, ja er tut noch mehr, er heiligt, wie wir bald sehen werden, sogar die profanen Werke: der äußerste Grad von »Werkheiligkeit«! Der Katholizismus bejaht die Rechtfertigung durch Werke, erblickt in ihnen aber nur Leistungen zweiten Grades und gelangt so zur Apotheose des völlig weltfernen, weltflüchtigen, ganz auf die innere Buße und Einkehr konzentrierten Lebens, das von Werken im profanen Sinne nichts mehr weiß. Somit enden beide Richtungen bei entgegengesetzten Ausgangspunkten in genau umgekehrten Ergebnissen. Der werkfeindliche Protestantismus mündet in eine Glorifikation der weltlichsten Dinge: des Staats, der Obrigkeit, der Familie, des Handwerks, der Wissenschaft, sogar des Krieges; der weltliche Katholizismus gipfelt in der tiefsten Verachtung aller dieser Dinge: Kaiser, Weib, Vernunft, Besitz, vita activa sind Mächte, die er auf seinen Höhen flieht und verwirft. Dabei ergab sich im historischen Verlauf noch die weitere Paradoxie, daß der reaktionäre Katholizismus oft viel toleranter, konzilianter und anpassungsfähiger war als der freiheitliche Protestantismus, wie dies schon ein so unverfänglicher Beurteiler wie Zinzendorf betont hat: »Die Katholiken führen das Anathem gegen die Gegner wohl im Munde und im Panier, haben aber oft viel Billigkeit gegen sie in praxi; wir Protestanten führen libertatem im Munde und auf dem Schild, und es gibt bei uns in praxi, das sage ich mit Weinen, wahre Gewissenshenker.«
Es handelt sich freilich bei der ganzen Frage nach der Rechtfertigung im Grunde um einen puren Theologenstreit. Nie hat ein Katholik, der ein wahrer Christ war, geglaubt, daß die Werke allein genügen; nie hat ein Protestant, der ein wahrer Christ war, geglaubt, daß der Glaube allein genüge. Denn Glaube an Christus und Nachfolge Christi sind vollkommen identisch. Wer an ihn glaubt, muß ihm nachleben oder doch nachzuleben versuchen; wer dies tut, ist ein Christ und hat seinen Glauben auf die beste Weise bewiesen, die möglich ist. Die einseitig den Wert des Glaubens und die einseitig den Wert der Werke betonen: beide haben Christus nicht verstanden. Für ihn waren Lehre und Leben untrennbar vereinigt. Eben dadurch, daß er seine Lehre so vollständig bis zur letzten Konsequenz lebte, wurde er ja zum Heiland. Eben dadurch, daß sein Leben so beschaffen war, wurde es ja zur Lehre.
Gleichen sich auf diese Weise echter Katholizismus und echter Protestantismus gegeneinander aus, so bleibt doch dem letzteren ein großer Mangel: die prinzipielle Verwerfung des Mönchtums. Es muß in einer Welt des Schachers, des Mordes und der Brunst die Möglichkeit geben, daß eine bestimmte Klasse von Menschen nur Gott lebt, sowohl ihrethalben wie als Beispiel für die anderen. Zweifellos sind nicht alle katholischen Mönche richtige Mönche gewesen und zweifellos hat nur einen Bruchteil von ihnen die Sehnsucht, Gott zu dienen, ins Kloster getrieben; aber daß im Protestantismus für so etwas überhaupt kein Platz ist, ist das Bedenkliche. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, daß hier platt utilitaristische Tendenzen mitgespielt haben, die in einem anbrechenden Zeitalter des Merkantilismus »Müßiggängern« keine Existenzberechtigung zuerkennen wollten.
Im allgemeinen können wir in der Religiosität der Reformationszeit drei Stufen unterscheiden. Die unterste Stufe stellt der landläufige Katholizismus dar, der, vielleicht nicht in der Theorie, sicherlich aber in der Praxis, nichts war als rohe Anbetung äußerer Riten und Zeremonien, mechanischer Bußen und Leistungen. Gegen ihn wandten sich die reformierten Lehren, in denen wir die zweite Stufe erblicken dürfen: sie betonten die alleinige Heilkraft des Glaubens, der aber doch noch in vielen Punkten, besonders in der Deutung, die ihm später gegeben wurde, unfreier enger Doktrinarismus, kompakter Dogmatismus geblieben ist. Die höchste Stufe bezeichnen die sogenannten Radikalen, die mit der Rückkehr zum Urchristentum vollen Ernst machten; sie umfaßten in zahlreichen Färbungen und Schattierungen gleichsam das ganze Spektrum der unbedingten Religiosität: von den extremen Umsturzphantasien der Wiedertäufer bis zu den reinsten Spekulationen der protestantischen Mystik. Sind die Reformierten Ketzer des Katholizismus, so sind die Radikalen Ketzer zweiten Grades, nämlich Ketzer der Reformation; die ersteren wollten eine christliche Kirche ohne Papst, die letzteren ein Christentum überhaupt ohne Kirche.
Ihre reinste Ausprägung hat die zweite, die protestantische Stufe im Calvinismus gefunden. In der Republik Genf begründete Calvin eine Kirchenherrschaft, die alles hinter sich ließ, was jemals an katholischer Bevormundung und Gewissensinquisition versucht worden war. In alles mischte sich diese klerikale Polizei, fast jede Äußerung natürlichen Lebensdrangs und unbefangenen Frohsinns wurde beargwöhnt, untersagt und bestraft. Jegliche Art von Festlichkeit und Unterhaltung: Spiel, Tanz, Gesang, Theater, sogar das Lesen von Romanen war verboten. Der Gottesdienst ging in kahlen Wänden vor sich, kein Schmuck, kein Gepränge, kein Altar, nicht einmal ein Christusbild durfte ihn verschönen. Auf Fluchen, Kegelspiel, laute Scherze, leichtsinnige Reden standen hohe Bußen, auf Ehebruch der Tod. Calvin war, im Gegensatz zu Luther, ein deduktiver Kopf, ein sicher gliedernder und disponierender Intellekt: in ihm kommt zum erstenmal der lateinische Geist der Ordnung und Logizität, Systematik und Organisation, aber auch der Uniformität und Mechanik zur Herrschaft, der für die ganze spätere Kulturentwicklung Frankreichs so charakteristisch ist. Es besteht eine seltsame Ähnlichkeit zwischen dem Genfer Glaubensregiment Calvins und dem scheinbar so ganz anders gearteten Jakobinismus. Trägt man nämlich den christlichen Lack ab, mit dem dieses evangelische Gemeinwesen überzogen war, so kommt ganz dasselbe halb skurrile, halb schreckliche Gebilde aus Unverstand und Größenwahn zum Vorschein, das sich auf zwei ganz unhaltbaren Voraussetzungen aufbaut: nämlich erstens der lächerlichen Annahme, daß alle Menschen von Natur gleich seien oder doch durch einen richtig gebauten und richtig gehandhabten Prägestock gleich gemacht werden können, und zweitens der ebenso absurden Ansicht, daß der Staat berechtigt, ja sogar verpflichtet sei, sich um alles zu bekümmern, während doch gerade umgekehrt sein Wesen und seine Aufgabe darin besteht, ausschließlich das zu besorgen, womit sich der Private entweder nicht befassen will oder nicht befassen kann. Daß sich dieses schauerliche Monstrum bei Calvin als Theokratie gebärdet, bei den Jakobinern im Namen der »Philosophie« auftritt, macht nur einen sehr sekundären Unterschied; und übrigens zeigen sich selbst in der rationalistischen Auffassung der Religion gewisse Übereinstimmungen.
Der Calvinismus ist einerseits ganz mittelalterlich: denn er verwirklicht tatsächlich den geistlichen Staat, die Omnipotenz der Kirche, die immer der Traum des Papsttums gewesen war, ja er ist sogar antik: nämlich alttestamentarisch; anderseits ist er aber wieder viel moderner als das Luthertum, nämlich erstens durch seinen viel radikaleren Purismus der völligen Bildlosigkeit und der symbolischen Auffassung der Sakramente, zweitens durch seine nachdrückliche Betonung des republikanisch-demokratischen Elements und seine absolutistische Polizierung des Untertans, drittens durch seine humanistisch-kritische Behandlung der theologischen Probleme und viertens und vor allem durch seinen militanten, aggressiven, expansiven Imperialismus. Von Genf ist das ebenso paradoxe wie historisch bedeutsame Phänomen eines Christentums des Schwerts ausgegangen: französische Weltpolitik, holländische Kolonialeroberung, englische Seeherrschaft haben hier ihren Ursprung.
Die Verbrennung Servets ist nicht etwa ein »Fleck« in der Geschichte Calvins, der dem Verhalten Luthers im Bauernkriege analog wäre, sondern eine logische Folge seines Systems. Der Calvinismus war eine nackte Hierarchie, zu der Ketzerverbrennungen als organische Bestandteile gehörten. Servet, der zugleich einer der größten Physiologen seiner Zeit war, hatte die Trinität geleugnet, die er für unbiblisch, tritheistisch und atheistisch erklärte. Daraufhin machte ihm Calvin den Prozeß, und Melanchthon nannte diese Tat ein »frommes und denkwürdiges Beispiel für die ganze Nachwelt«. So dachten damals fast alle Protestanten über Religionsfragen, und die allgemein verbreitete Vorstellung, daß sie die Vorkämpfer der Freiheit, die Katholiken die Diener der Finsternis gewesen seien, beruht auf einer liberalen Geschichtsfälschung. Ja der Protestantismus konnte sogar mit viel besserem Gewissen Verirrte vernichten, denn er glaubte an die Prädestination: Luther, wie wir sahen, neigte ihr zu, äußerte sich aber über sie sehr unklar und widersprechend; der Katholizismus hat sie nie gebilligt und nur aus Respekt vor Augustinus nicht offiziell verdammt; Calvin jedoch hat diese Lehre, von der Karl der Fünfte sagte, sie scheine ihm mehr viehisch als menschlich zu sein, mit unerbittlicher Konsequenz vertreten.
Je ketzerischer ein Glaube ist, desto reiner pflegt er zu sein, und tatsächlich geht ja auch das Wort Ketzer auf das griechische katharos zurück. Wirkliche Freireligiöse waren in jener Zeit nur die Radikalen: Karlstadt, Münzer, die Wiedertäufer und die Mystiker. Was Karlstadt anlangt, so war er einer jener alles entstellenden und kompromittierenden Wirrschädel, wie sie jede neue Bewegung hervorzubringen pflegt. Weniger leicht ist es, über Münzer ein abschließendes Urteil zu fällen. Luther nannte ihn und seine Anhänger »Mordpropheten und Rottengeister«; er wiederum nannte Luther das »geistlose, sanft lebende Fleisch zu Wittenberg« und einen »Erzbuben, Erzheiden, Wittenberger Papst, Drachen und Basilisken«. Er wollte nicht bloß den römischen Stuhl, die Prälaten, Bischöfe und Mönche, sondern alles geistliche Mittlertum ausgetilgt sehen und mit dem Satz Ernst machen, daß jeder Gläubige sein eigener Priester sei und nur im direkten Verkehr mit Gott sein Heil finden könne; er wollte nicht bloß Pfründen und Klöster aufgehoben wissen, sondern jederlei Herrschaft, Bevorrechtigung und Unterdrückung, ja sogar das persönliche Eigentum; er bekämpfte nicht bloß die Autorität der Kirchentradition, sondern auch die Autorität des Schriftbuchstabens und berief sich allein auf das innere Wort, das Gott auch heute noch jedem Erleuchteten verkünde. Er war zweifellos ein Fanatiker, der vor wilden Gewalttaten, Zerstörungen und Blutopfern nicht zurückschreckte, aber ein Fanatiker von sehr hoher Religiosität. Die meisten, lehrt er, pochen sträflicherweise auf den süßen Christus und sein stellvertretendes Leiden, wollen sich mit seinem Kreuz das eigene Kreuz ersparen und mit dem bloßen Glauben die Bitterkeit der Wiedergeburt: hier verwirft er mit Entschiedenheit und mit den triftigsten Gründen die lutherische Rechtfertigungslehre. Nur in der Verzweiflung und Trostlosigkeit, im Fegefeuer und in der Hölle werde der Glaube geboren; den Weg zu Gott müsse jeder selbst von neuem finden unter allen Schmerzen und Ängsten der Nacht. Die Offenbarung des inneren Wortes ist nur möglich, wenn das Ich, die Welt und das Fleisch abgetötet sind. Im fleischlichen Menschen kann Christus nicht Mensch werden, der Geist sich nicht offenbaren. Darum glaubte Münzer aber anderseits auch an die Möglichkeit von Visionen und Erleuchtungen, an höhere Inspirationen und unmittelbare Eingriffe Gottes.
Mit Münzer berührten sich die Wiedertäufer oder Anabaptisten. Sie lehrten ebenfalls, daß die Angehörigen des »neuen Reichs Christi« nur direkt von Gott ihre Eingebungen empfingen: durch ein Versinken in die »Gelassenheit«, worin alle Affekte und natürlichen Regungen verlöschen. Weil eine solche Beziehung zum Ewigen nur dem reifen Christen möglich ist, verwarfen sie die Kindertaufe. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinde war persönliches Christentum und sittliche Heiligkeit; den Sakramenten maßen sie keinen Wert bei. Viele von ihnen huldigten chiliastischen Vorstellungen. Den Eid erklärten sie für Sünde, die Kirchen für Götzenhäuser, darin noch über die Bilderstürmer hinausgehend. Ein hoher Idealismus, getragen von einem freudigen Willen zum Märtyrertum, lebte in ihren Lehren, die von den Protestanten fast noch mehr verworfen wurden als von den Altgläubigen.
Aber wenn man von der deutschen Reformation spricht, so sollte man immer an erster Stelle die Mystiker nennen, die den religiösen Willen der Zeit und des Volkes am reinsten und tiefsten verkörpert haben. Jedoch die Geschichte ist eine philiströse Macht: sie bewahrt nur die Namen der Erfolgreichen in fetten Lettern, während sie die Menschen, die im Strome der Zeit vorausschwammen, oft aus dem Auge verliert und sich ihrer höchstens einmal wieder im Kleingedruckten erinnert.
Die bedeutendsten Mystiker des Protestantismus sind Kaspar Schwenckfeld, Valentin Weigel und vor allem Sebastian Franck.
Schwenckfeld, ein Schlesier, von Luther erbittert angefeindet, hat sein ganzes Leben der Polemik gegen den Schriftbuchstaben gewidmet, in dem er eine neue Knechtung des Geistes, eine neue Veräußerlichung des Christentums erblickte. Die Pastoren, die so vermessen sind, sich allein im Besitz der wahren Bibelerklärung zu wähnen, stellen ihm nur ein neues System des überhebungsvollen monopolsüchtigen Klerikalismus dar: die äußere Kirche muß überhaupt aufgehoben werden, und an ihre Stelle soll die innere treten. Weigel, dessen Schriften zu seinen Lebzeiten nur handschriftlich verbreitet waren, lehrt, daß wir nur das erkennen können, was wir in uns tragen. Darum, wenn der Mensch sich selbst versteht, so hat er auch das All begriffen: er erkennt die irdische Welt, weil sein eigener Leib die Quintessenz aus allen sichtbaren Substanzen ist, er erkennt die Welt der Geister und Engel, weil sein Geist von den Sternen stammt, und er erkennt Gott, weil seine unsterbliche Seele göttlichen Ursprungs ist. Seine selbstgewählte Grabschrift lautete: »Summa Summarum, o Mensch, lerne dich selber erkennen und Gott, so hast du genug, hier und dort.« Sebastian Franck aus Donauwörth, zuerst katholischer Priester, dann lutherischer Prediger, schließlich konfessionslos, hat ein unstetes Wanderleben geführt; unter vielen Anfechtungen, da auch er sich zu Schwenckfelds Lehre bekannte, daß der Buchstabe das Schwert des Antichrists sei, das Christum töte: er selbst wollte »ein frei, ohnsektisch, unparteiisch Christentum, das an kein äußerlich Ding gebunden ist«; »es sind zu unserer Zeit fürnehmlich drei Glauben aufgestanden, die großen Anhang haben: Lutherisch, Zwinglisch, Täufrisch, das vierte ist schon auf der Bahn: daß man alle äußerlich Predigt, Ceremoni, Sakrament, Bann, Beruf als unnötig will aus dem Wege räumen und glatt ein unsichtbar geistlich Kirchen, allein durchs ewig unsichtbar Wort von Gott ohn äußerlich Mittel regiert, will anrichten.« Aus dieser sozusagen kirchlich exterritorialen Stellung fließt ihm zugleich die höchste Toleranz: »Der törichte Eifer vexiert jetzt jedermann, daß wir parteiisch glauben wie die Juden, Gott sei allein unser, sonst sei kein Himmel, Glaube, Geist, Christus als in unserer Sekte, jede Sekte will eifrig Gott niemandem lassen, so doch ein gemeiner Heiland der ganzen Welt ist... mir ist ein Papist, Lutheraner, Zwinglianer, Täufer, ja ein Türke ein guter Bruder ... ganz und gar will ich einen freien Leser und Beurteiler und will niemand an meinen Verstand gebunden haben.«
Nicht nur das Abendmahl, sondern alle Lehren und Einrichtungen der christlichen Religion betrachtet Franck symbolisch. Adams Sündenfall und Christi Himmelfahrt sind die ewige Geschichte des Menschengeschlechts: in jedem Menschen vollziehen sie sich aufs neue; Ostertag und Pfingsttag sind nur vergängliche Gleichnisse für das ewige Ostern und Pfingsten Gottes; auch die Schrift ist eine ewige Allegorie. Wie gar viele, ohne es zu wissen, Adam sind, so sind viele, ohne es zu wissen, Christus. Christus wird noch heute täglich gekreuzigt: »es hat seine Pharaones, Pilatos, Pharisäer, Schriftgelehrten, die Christum für und für in ihnen selbst, obwohl nicht äußerlich nach dem Buchstaben und der Historie kreuzigen.« Es ist überhaupt nichts gewesen, das nicht auf seine Weise noch ist und sein wird bis zum Ende: Antiochus, Sanherib, Herodes leben noch. Gott selber aber ist undefinierbar; was man von ihm sagt, ist nur Schein und Schatten. Er ist und wirkt alles, und wäre die Sünde etwas und nicht nichts, so wäre Gott auch die Sünde im Menschen. Er verdammt niemanden, sondern ein jeder sich selbst, dem Frommen aber ist er auch ferne nah, ja niemals näher, als wenn er am fernsten zu sein scheint. Dem Gottlosen schaden gute Werke mehr, als sie ihm nützen. Denn gute Werke machen nicht fromm, wie böse nicht verdammen, sondern sie zeugen nur von den Menschen. Darum sind alle im Glauben getanen Werke gleich. Gott ist der Welt Gegensatz und Widerpart, der Welt Teufel und Antichrist; der Welt Reichtum und Weisheit ist vor Gott die größte Armut und Torheit, Weltherrschaft ist die größte Knechtschaft. Dagegen wieder: der Antichrist, Satan und sein Wort: das ist der Welt Christus, Gott und Evangelium.
Was tat nun in all diesen Verwirrungen und Klärungen der Geburt der deutsche Kaiser? Man kann sagen: er tat, bei aller seiner klugen Geschäftigkeit und erfolgreichen Wirksamkeit, eigentlich nichts, nämlich nichts, was seinem welthistorischen Range und der welthistorischen Stunde entsprochen hätte. Die große Politik Europas ging damals ganz andere Wege als reformatorische und religiöse. Eben damals begannen sich die Großmächte zu konsolidieren und in jenen Umrissen festzusetzen, die sie im großen und ganzen die Neuzeit hindurch beibehalten haben: die Westmacht Frankreich, die Nordmacht England, die Mittelmacht Habsburg, von allen die ausgedehnteste und gefährlichste, denn sie umspannte nicht bloß die österreichischen Erbländer, zu denen bald Böhmen und Ungarn kamen, sondern auch Spanien, die Neue Welt, die Niederlande, die Franche Comté, Neapel, Sizilien, Sardinien, Teile von Süddeutschland (das sogenannte Vorderösterreich), ja sogar eine Zeitlang ganz Württemberg: sie erschien fast unüberwindlich und rief daher immer von neuem weitverzweigte Allianzen ins Leben. Der große Gegensatz Frankreich Habsburg, der den größten Teil der neueren europäischen Geschichte bestimmt, trat zum erstenmal in voller Schärfe und Deutlichkeit ins Licht. Die wichtigsten Streitobjekte waren das Herzogtum Mailand, Süditalien und Burgund; denn beide Teile behaupteten, historische Ansprüche auf diese Gebiete zu besitzen. Karl der Fünfte hat sich immer in erster Linie als König von Spanien betrachtet und sich auch als Kaiser nicht als deutsches Oberhaupt, sondern als Weltbeherrscher, als Monarch des mittelalterlichen Universalreichs empfunden. Mit ihm und seinem ihm noch überlegenen Schüler und späteren Gegner Moritz von Sachsen gelangt die Kabinettspolitik ans Ruder, jene bloß vom persönlichen dynastischen Vorteil diktierte verruchte Diplomatie der lügnerischen Ränke, des unklaren Drohens, halben Versprechens, perfiden Lavierens und planmäßigen Durcheinanderhetzens, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ihre höchsten Triumphe gefeiert hat; und gleichzeitig entwickelt sich jenes großartige Bestechungssystem, das in diesem Umfang und dieser Skrupellosigkeit neu und erst in einem Zeitalter der Geldwirtschaft möglich war: Geld und Politik vereinigen sich überhaupt erst jetzt zu jenem unzertrennlichen Bündnis, das für die Neuzeit charakteristisch ist. Schon die Art, wie die Wahl Karls des Fünften zustande kam, ist hierfür bezeichnend. Für die Kaiserkrone kamen außer ihm noch drei Kandidaten ernsthaft in Betracht: der Kurfürst von Sachsen Friedrich der Weise (der der geeignetste gewesen wäre), Franz der Erste von Frankreich und Heinrich der Achte von England. Aber Karl der Fünfte siegte; nicht etwa, weil er mehr Sympathien besaß oder weil politische Erwägungen für ihn gesprochen hätten, sondern einfach deshalb, weil das große Bankhaus Fugger für die Summen, die er den Kurfürsten versprochen hatte, garantierte. Also schon damals war die eigentliche Großmacht nicht Spanien, Frankreich oder England, sondern der Wechsler mit seinem Geldsack.
Die Stellung Karls des Fünften zur evangelischen Frage ist niemals von irgendeiner Rücksicht auf die Bedürfnisse des deutschen Volkes diktiert worden, sondern immer nur von der momentanen Lage der Außenpolitik. Die drei Bestimmungsstücke, aus denen er seine jeweilige Haltung konstruierte, waren: Papst, Orient, Frankreich. Die ganze Geschichte der deutschen Reformation von Luthers Bruch mit dem Papst bis zum Augsburger Religionsfrieden zeigt das mit vollkommener Deutlichkeit. Im Jahr 1521 braucht Karl der Fünfte die Bundesgenossenschaft des Papstes für seinen ersten Krieg gegen Franz von Frankreich: das Wormser Edikt verbietet daher alle Neuerungen, und Luther wird in die Reichsacht erklärt. 1526 schließt der Papst mit Frankreich die gegen den Kaiser gerichtete Heilige Liga von Cognac, und alsbald erhalten die Evangelischen auf dem ersten Speierer Reichstag einen für die Ausbreitung der Lehre günstigen Reichsabschied. Aber das Jahr 1529 bringt den allgemeinen Frieden von Cambrai und infolgedessen auf dem zweiten Speierer Reichstag die Erneuerung des Wormser Edikts. Im darauffolgenden Jahre wird Karl der Fünfte vom Papst gekrönt, und die Revanche dafür ist ein äußerst schroffer Reichsabschied auf dem großen Reichstag zu Augsburg. Aber in den nächsten Jahren wird die Türkengefahr immer drohender, und es kommt daher 1532 zum Religionsfrieden von Nürnberg, worin den Protestanten bis zu einem allgemeinen Konzil freie Religionsübung zugestanden wird. Durch den Frieden von Crespy und den Waffenstillstand mit den Türken bekommt der Kaiser jedoch wieder freie Hand und sucht die Kircheneinheit gewaltsam wieder herzustellen. Es kommt zum Schmalkaldischen Krieg, und es gelingt Karl, durch den glänzenden Sieg bei Mühlberg den Protestanten das Augsburger Interim aufzuzwingen, von dem es im Volksmund hieß, es habe »den Schalk hinter ihm«. Aber durch den Abfall des Kurfürsten Moritz von Sachsen wendet sich die Situation vollständig: im Passauer Vertrag wird das Interim abgeschafft, und im Augsburger Religionsfrieden erhalten die Landesherren und freien Städte das Recht, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen: cuius regio, eius religio.
Karl der Fünfte war während seiner ganzen Regierung von unerhörtem Glück begleitet: siegreich gegen innere und äußere Feinde, gegen aufständische Spanier und Niederländer, Päpste und Ketzer, deutsche Fürsten und tunesische Seeräuber, Franzosen und Engländer, Indianer und Türken; und doch haben alle diese Siege im Grunde zu nichts geführt, was wert wäre, in einer Geschichte der europäischen Kultur als bedeutsam verzeichnet zu werden. Dies: das Leerlaufen aller seiner Erfolge lag in seinem Charakter und im Charakter der Habsburger überhaupt.
Dieses Geschlecht, das länger als ein halbes Jahrtausend die Geschicke Europas so wesentlich mitbestimmt hat, ist ein psychologisches Rätsel. Hermann Bahr sagt in seiner Monographie »Wien«, einem Meisterwerk der psychologischen Vivisektion: »Unter den habsburgischen Fürsten sind genialische und simple, stürmische und stille, leutselige und mürrische, siegende und geschlagene, gesellige und vereinsamte gewesen, Menschen jeder Art, aber allen ist gemein, daß ihnen der Sinn für das Wirkliche fehlt.« Und in seiner knappen, aber gehaltvollen Schrift »Das Geschlecht Habsburg« bezeichnet Erich von Kahler als einen der entscheidendsten Grundzüge der Habsburger ihre Entrücktheit. »Wenn etwas die Habsburger unter den Sprossen anderer Geschlechter besonders auszeichnet, so ist es dies, daß sie alle ... stetig von Geheimnis umzogen sind. An jedem von ihnen und in jeder ihrer Bewegungen, von der Staatsaktion bis zur unwillkürlichen Wendung des Körpers, spürt man ein Ferngehaltensein.« Die eine Beobachtung ergänzt die andere. Sie hatten keinen Sinn fürs Wirkliche, weil sie selbst nicht wirklich waren. Der Bischof Liudprand von Cremona, der um die Mitte des zehnten Jahrhunderts Konstantinopel besuchte, berichtet über seine Audienz beim byzantinischen Kaiser: »Nachdem ich zum drittenmal nach der Sitte mich vor dem Kaiser anbetend in den Staub geworfen hatte, erhob ich mein Antlitz, und ihn, den ich eben noch in mäßiger Höhe über der Erde hatte thronen sehen, sah ich jetzt in ganz neuem Gewand fast die Decke der Halle erreichen. Wie das kam, konnte ich nicht begreifen, wenn er nicht vielleicht durch eine Maschine emporgehoben wurde.« Einer derartigen Maschinerie haben sich die Habsburger auf psychologischem Gebiet bedient. Oder eigentlich gar nicht einmal bedient: es war ihre natürliche Mitgift und ererbte Fähigkeit, in jedem Augenblick »in ganz neuem Gewand« hoch über der Erde schweben zu können. Alle Habsburger kann man irgendwie auf diesen Generalnenner bringen. Sie sind da und nicht da, zugleich stärker als das Wirkliche und schwächer als das Wirkliche, wie ein Alpdruck, ein böser Traum. Sie sind diaphan, zweidimensional, nicht zu fassen. Sie haben keine Brücken zu den Menschen und die Menschen keine zu ihnen. Sie sind Inseln. »Die Wirklichkeit soll sich nach ihnen richten, nicht sie nach der Wirklichkeit«: aber das wäre ja die Definition des Genies; denn was ist das Genie anderes als ein höchstgespannter Wille, der die Welt, die Zeit gebieterisch nach seinem Ebenbilde modelt? Aber sie waren leider keine Genies. Ohne diese Voraussetzung jedoch ist, wer eine solche Veranlagung besitzt, ein gefährlicher Phantast, ein Feind des Menschengeschlechts.
Sie haben aus einer selbstgeschaffenen Scheinwelt heraus, die sie nie verließen, jahrhundertelang die wirkliche Welt beherrscht: ein sehr sonderbarer Vorgang.
Nur die Kehrseite dieser seltsamen Verstiegenheit ist die große Nüchternheit, der Mangel an Begeisterung, Schwung, Hingabe, wodurch alle Habsburger charakterisiert sind. Und im Zusammenhang damit steht ihre vollständige Unbelehrbarkeit, der berühmte habsburgische Eigensinn, der es verschmäht, an Menschen, Dingen, Ereignissen etwas zuzulernen, am Leben zu wachsen und sich zu wandeln: sie haben alle keine Entwicklung. Ob sie papistische Fanatiker waren wie Ferdinand der Zweite oder liberale Weltverbesserer wie Joseph der Zweite, starre Legitimisten wie Franz der Zweite oder halbe Anarchisten wie der Kronprinz Rudolf: immer nehmen sie die Materialien zu dem Weltbild, das sie der übrigen Menschheit aufzwingen wollen, ganz aus sich selbst, wie die Spinne die Fäden zu ihrem Gewebe aus ihrem eigenen Leib zieht. Für alle diese Eigenschaften kann Franz Joseph der Erste als klassisches Beispiel dienen: in einem fast neunzigjährigen Leben ist ihm nie irgendein Mensch, irgendein Erlebnis nahe gekommen, in einer fast siebzigjährigen Regierung hat er nie einem Ratgeber oder dem Wandel der Zeiten Einfluß auf seine Entschließungen eingeräumt, nie ist ein farbiges oder auch nur ein warmes Wort, eine starke Geste, eine besonders hohe oder besonders niedrige Handlung, die ihn als Bruder der übrigen Menschen enthüllt hätte, von ihm ausgegangen: es war, als ob die Geschichte alle Wesenszüge des Geschlechts in dem letzten habsburgischen Herrscher noch einmal vorbildlich hätte zusammenfassen wollen. In dem letzten: denn dies ist der tragisch-ironische Epilog dieses sechshundertjährigen Schicksals die große Reihe endet mit einer Null. Karl der Erste war nur noch ein Linienoffizier. Die Zeit des Geschlechts Habsburg war erfüllt.
Mit jenem anderen Karl dem Ersten aber, der als deutscher Kaiser der Fünfte hieß, beginnt die Reihe der echten Habsburger. Maximilian war noch ein normaler deutscher Fürst: heiter, sportfreudig, redselig, von hebenswürdiger Sprunghaftigkeit, für alles mögliche lebhaft, wenn auch etwas oberflächlich interessiert, ein Mensch unter Menschen. Um seinen Enkel liegt der habsburgische Flor. Wer hat je in seiner Seele gelesen? War er ein Machtbesessener, ein unersättlicher Länderfresser, der alles Nahe und Ferne dem Riesenleib seines Weltreichs assimilieren wollte: afrikanische Küsten, amerikanische Märchenreiche, Italien, Deutschland, Ostfrankreich? Aber von seinem Erbe verschenkte er schon beim Antritt seiner Regierung fast die Hälfte an seinen Bruder, und auf der Höhe seines Lebens dankte er plötzlich ab, ging ins Kloster, wurde Gärtner und Uhrmacher und ließ seine eigene Totenmesse lesen. War er ein treuer Sohn der römischen Papstkirche, der gewaltsam das Mittelalter verlängern und die Kirchenspaltung um jeden Preis verhindern wollte? Aber er hat sein halbes Leben lang den Papst erbittert bekämpft, und seine Landsknechte haben das heilige Rom in der furchtbarsten Weise geplündert und verwüstet. War er deutsch wie sein Vater, spanisch wie seine Mutter, niederländisch wie seine Heimat, französisch wie seine Muttersprache? Er war nichts von alledem: er war ein Habsburger.
Tizian hat in seinen beiden Bildnissen mit fast unbegreiflicher Genialität dieses geheimnisvolle, weltentrückte, außermenschliche Wesen des Kaisers erfaßt. Im Morgengrauen läßt er ihn über das Schlachtfeld von Mühlberg reiten: als schwarzen gepanzerten Ritter, mit eingelegter Lanze langsam daherkommend wie ein unwiderstehliches Schicksal, ein Sieger, der aber seines eigenen Triumphes nicht froh werden kann: die Welt liegt ihm zu Füßen; aber was ist die Welt? Und auf dem Münchener Porträt läßt er ihn einfach still dasitzen, in schlichtes Schwarz gekleidet, den Blick in unergründliche Fernen gerichtet, als sei alles um ihn herum Luft oder Glas, durch das er teilnahmlos hindurchsieht: ein tiefeinsames, gegen alles Leben völlig abgeriegeltes Geschöpf; die ganze Tragik des Herrschens ist in diesen Gemälden aufgefangen und der ganze Fluch dieses Geschlechts, kein Herz besitzen zu dürfen.
Weil Kaiser Karl kein Herz hatte, hat ihm all sein scharfer Verstand, seine souveräne Diplomatie, sein weitschauendes Bauen und Planen nichts genützt. Er hat den Zentralgedanken der Zeit nicht erfaßt. Er hatte es damals in der Hand, gestützt auf Ritter, niederen Klerus, Städte und Bauern, die Macht der Landesfürsten zu brechen und eine wirkliche Monarchie zu errichten. Diese Ansicht hat kein Geringerer vertreten als Napoleon der Erste. Die Zeit drängte auf eine solche Entwicklung hin: in allen übrigen Großstaaten ist das Experiment gelungen. Es läßt sich aber fragen, ob es für Deutschland ein Glück gewesen wäre, wenn der Kaiser dem Gebot der Stunde gefolgt wäre. Es wäre sehr bald aus der demokratischen Monarchie eine absolute, aus dem Nationalstaat ein »Einheitsstaat«, aus dem deutschen Volke eine uniforme, despotisch (und dazu noch von Spanien aus) regierte Masse geworden.
Der eigentliche Gewinner in diesen Kriegen, die die erste Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erfüllen, war das fast immer besiegte Frankreich: es arrondierte sein Gebiet aufs vorteilhafteste, indem es aus den deutschen Wirren Metz, Toul und Verdun erbeutete und den Engländern Calais entriß. Diese kamen zur Reformation bekanntlich auf eine sehr sonderbare Weise: nämlich durch die Geilheit ihres Königs, der sich von der römischen Kirche trennte, weil der Papst nicht in seine Ehescheidung und Wiedervermählung willigen wollte. In Schweden wurde der neue Glaube durch Gustav Wasa eingeführt, der sein Land von der dänischen Oberherrschaft befreite und den Grund zu dessen späterer Großmachtstellung legte. Auch in Ländern, die heute wieder ganz katholisch sind, wie Österreich, Bayern, Ungarn, Polen, war der Protestantismus in siegreichem Vordringen.
Auf deutschem Boden hat der Umsturz die verschiedenartigsten Formen angenommen: er war kommunistisch in der Wiedertäuferbewegung, sozialistisch in der Bauernrevolution, demokratisch in den städtischen Tumulten, aristokratisch in den Erhebungen Sickingens, Huttens und des niederen Adels. An allen diesen Vorstößen hat sich jedoch der Protestantismus nicht beteiligt, und so kam er schließlich an die Fürsten: er wurde duodezabsolutistisch, höfisch, partikularistisch. Dieses Antlitz hat er dauernd behalten, und daß er es nicht verstanden hat, sich mit den anderen wahrhaft modernen Bewegungen zu verschmelzen, ist sein Verhängnis gewesen. Schon Luther hat in seiner späteren Zeit, um seine eigene derbe Sprache zu gebrauchen, den großen Herren gern nach dem Maul geredet, noch viel mehr tat dies sein Kollaborator Melanchthon. Ein Zug von Servilismus, Leisetreterei, Lavieren, Um-die-Ecke-Sehen gelangt seither in den Betrieb der Kirchen und Universitäten; der Typus des vor dem Patronatsherrn buckelnden Theologen, des unterwürfigen Hauslehrers, um sein Futter zitternden Schulmeisters, devoten »staatserhaltenden« Leibpfaffen wird geboren, und zwar aus dem Protestantismus. Denn hinter dem katholischen Geistlichen steht immer noch, sein Selbstgefühl stärkend, die allmächtige Kirche, hinter dem evangelischen nur seine kleine geduckte Parochie. Dort ist man immerhin der Knecht der Idee der einen großen allgemeinen Papstkirche, hier der Lakai irgendeines kleinen Landesherrn. Damit hängt es auch zusammen, daß der Protestantismus nicht nur eine ebenso starre Intoleranz im Gefolge gehabt hat wie der Katholizismus, sondern auch eine viel querköpfigere, kleinlichere, lokalere, sektiererhafte.
Obgleich es gewiß nicht an Männern gefehlt hat, die wie Melanchthon die Geheimnisse der Gottheit lieber verehrt als erforscht wissen wollten und von dem Prinzip ausgingen: »Christus erkennen, heißt seine Wohltaten erkennen, nicht aber seine Naturen und die Arten seiner Fleischwerdung betrachten«, so bedeutet doch, wenn man die Summe im großen zieht, die Reformation keineswegs den Durchbruch eines reineren, tieferen, ursprünglicheren Verhältnisses zur Gottheit, sondern ganz im Gegenteil den Sieg der Wissenschaft vom Glauben über den Glauben selbst. Es triumphiert im Endresultat nicht die Religion, sondern die Theologie.
Und in der Praxis triumphiert ebenfalls nicht die Religion, sondern die Partei. Der Glaube wird immer mehr zu einer Sache der Gemeinsamkeit und Gemeinschaft. Nun kann man wohl in Massen Steine klopfen und im Varieté sitzen, man kann in Massen essen und trinken, politisieren und Menschen umbringen, aber man kann nicht in Massen Gott verehren, sowenig wie man in Massen lieben kann. Das für den modernen Menschen charakteristische unsinnige Vorurteil, daß alle menschlichen Lebensäußerungen gemeinsam verrichtet werden können, ja sollen, der Wille zur Neuzeit, der aus der ganzen Menschheit eine Fabrik, eine Kaserne, ein Riesenhotel, einen Trust, eine Korrektionsanstalt zu machen sucht, ergreift zunächst die Religion. Die Folge dieser massiven Massenreligiosität war der Dreißigjährige Krieg.
Die Reformation war keine schöpferische religiöse Bewegung. Es hat Menschen gegeben, die allen Ernstes Luther unter die Religionsstifter eingereiht wissen wollten. Aber die Gestalt des Religionsstifters war nur im Orient und im Altertum möglich; heute ist sie vielleicht wieder in Rußland möglich. Die Luft des sechzehnten Jahrhunderts war nicht die der Religiosität, dazu war sie viel zu trocken, zu kühl, zu scharf. Es war eine Welt von Kauffahrern, Diplomaten, Antiquaren, Skribenten, fern jedem Ewigkeitsbedürfnis, ganz dem Diesseits verschrieben: der Macht dieses Zeitgeists vermochte sich selbst ein Luther nicht ganz zu entziehen.
Man ist angesichts dieser Menschheit fast versucht, an das traurige Wort Goethes zu glauben: »Die Menschen sind nur dazu da, einander zu quälen und zu morden; so war es von jeher, so ist es, so wird es allzeit sein.« Und dennoch besitzt der nachchristliche Mensch einen ungeheuren Vorsprung vor dem antiken: das schlechte Gewissen. Die Menschen haben sich nicht geändert. Sie leben den Sinnen, denken auf ihren Vorteil, lieben sich selbst, gebrauchen Gewalt, Betrug und Unrecht. Aber sie tun es nicht mehr unbefangen und gutgläubig, nicht mehr leichten Herzens und freien Kopfes, sondern bleich, heimlich und ängstlich. Sie haben nicht mehr die gute Laune des Raubtiers. Dies ist vielleicht der einzige bisherige Erfolg des Christentums.
Hier berühren wir das Zentralproblem des Christentums, die ungeheure Frage: wie kommt es, daß der Mensch einerseits ein ganz unleugbar böses Geschöpf ist und anderseits doch nicht böse sein will? Warum trifft er keine klare Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten, die ihm gegeben sind? Er ist weder Tier noch Engel. Das Tier unternimmt ohne moralische Skrupel alles, was ihm oder seiner Nachkommenschaft nützt. Der Engel besitzt Gewissen und handelt danach. Der Mensch tut weder das eine noch das andere. Er lebt weder »gottgefällig« noch »natürlich«. Durch dieses monströse Dilemma wird er zum grotesken Unikum, zum Absurdissimum in der gesamten Schöpfung. Er ist eine grandiose Mißgeburt, ein wandelnder Fragebogen. Wenn er gut ist, warum tut er das Böse? Wenn er böse ist, warum liebt er das Gute? Diese beiden beängstigenden Fragen stellt jedes Menschenschicksal von neuem.
Johannes V. Jensen macht einmal bei der Schilderung Pekings die frappante, aber aufschlußreiche Bemerkung, die heutigen Chinesen der höheren Stände erinnerten an die Menschen der Reformationszeit. »So ein listiger alter Chinese könnte ganz gut einer von den großen Männern der Reformationszeit gewesen sein, wie wir sie aus Bildern kennen, mit einer verschlossenen Physiognomie, aber innerlich erfüllt von der Religionspolitik der Zeit, von ihrer Strenge und Begehrlichkeit ... Trotz den vortrefflichen Porträts, die man aus jener Zeit hat, und trotz allem, was die Geschichte bis zu den kleinsten Einzelheiten aufbewahrt hat, habe ich mich immer vergeblich bemüht, mir die Menschen jener Zeit lebend vorzustellen, obwohl man weiß, daß sie gelebt haben. Ich habe sie nicht richtig hören und sehen können. Einen Anhaltspunkt hat man an den Bauern der jetzigen Zeit etwas von der Maske; aber erst in China erlebt man wirklich das Mittelalter so waren sie, eigentümlich zögernd, mit Willen, aus Stilgefühl zögernd, wie ja auch die Bauern noch heute sind, vor allem andern langsam.« In der Tat: die Kultur jener Zeit war vorwiegend bäurisch, auch die Fürsten, ja selbst die Gelehrten und Künstler waren nur bessere Bauern, und wir begreifen, daß einem subtilen komplizierten Geist, einem Menschen, der Finger für Nuancen und eine Ahnung von der tiefen Ironie alles Daseins besaß wie Erasmus, diese Welt unerträglich sein mußte. Und etwas von der Verschmitztheit und Verschlagenheit des Mongolen, die wie ein selbstverständliches Naturprodukt wirkt und daher nichts Unmoralisches hat, werden jene Menschen schon auch besessen haben, freilich ohne den tiefen seelischen Takt, den Jensen den Chinesen nachrühmt. Denn die Zeit war äußerst roh, und gerade der erwachende Rationalismus, der sie kennzeichnet, verleiht ihren Schöpfungen etwas primitiv Konstruiertes, kindisch Mechanisches. Die Humanisten, die auch in Deutschland in Wissenschaft und Poesie den Ton angaben, wirkten wie ordinäre Kopien des italienischen Humanismus, den sie in billigem Farbendruck wiederholen. Gleichwohl hat es unter ihnen sehr merkwürdige Begabungen gegeben. Einer der interessantesten war Konrad Celtes, der »deutsche Erzhumanist«, schon wegen seiner erstaunlichen Vielseitigkeit: er war der erste deutsche Dichter, der zum poeta laureatus gekrönt wurde, und der erste deutsche Gelehrte, der über allgemeine Weltgeschichte und deutsche Reichsgeschichte las; er ist der Auffinder der berühmten tabula Peutingeriana, einer römischen Reisekarte aus dem dritten Jahrhundert nach Christus; er hat den Nürnberger Holzschnitt reformiert, einen neuen Tonsatz, den sogenannten Odenstil, angeregt und die lateinischen Dramen der Nonne Roswitha herausgegeben, ja man hat sogar eine Zeitlang geglaubt, daß er sie selbst geschrieben habe.
Einer der hervorstechendsten Grundzüge des Zeitalters ist der sogenannte Grobianismus. Der Ausdruck leitet sich von Sebastian Brant her, der ihn nicht erfunden, aber populär gemacht hat: »Ein neuer Heiliger heißt Grobian, den will jetzt führen jedermann.« Bei nahezu allen Schriftstellern der Zeit ist das »Läuten mit der Sauglocke« gang und gäbe: bei Luther, der in seiner Polemik fast immer maßlos war (gegen Erasmus schrieb er zum Beispiel: »Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt tot noch mehr als lebendig«); bei Fischart, der den rüden Ton bekämpfte, aber auf eine so rüde Weise, daß er sich selber desavouiert; selbst bei einem so feingebildeten Gelehrten wie Reuchlin, der seine Gegner giftige Tiere, bissige Hunde, Pferde, Maulesel, Schweine, Füchse, reißende Wölfe nennt. Aus dem Streben nach Volkstümlichkeit und dem Wunsch, das Objekt möglichst empfindlich zu treffen, erwächst die Satire zu einer Hegemonie, wie sie sie so unumschränkt in der deutschen Literatur weder vorher noch nachher ausgeübt hat. Am behebtesten ist der Vorwurf der Narrheit: »Narr« ist vielleicht das Wort, das damals am häufigsten geschrieben und gedruckt wurde. Brants Hauptwerk führt den Titel »Das Narrenschiff«; Thomas Murners bekannteste Schrift heißt »Die Narrenbeschwörung«; das geistreichste Buch des Zeitalters ist das »Lob der Narrheit« des großen Erasmus: darin wird alles als Torheit gegeißelt, nicht bloß die Geldgier, die Trunksucht, die Unbildung, die Ruhmliebe, der Krieg, sondern auch die Ehe, das Kindergebären, die Philosophie, die Kunst, die Kirche, das Staatsleben; auch bei Hans Sachs wimmelt es von Narren.
Das satirische Genie des Zeitalters, von dem alle bewußt oder unbewußt borgten, lebte freilich nicht in Deutschland, sondern in Frankreich: François Rabelais. Seine Form ist für heutige Leser im ganzen ungenießbar. Es lebte in ihm mit übermächtiger Kraft das, was der Franzose la nostalgie de la boue nennt: er ergeht sich mit einer fast pathologischen Behaglichkeit und Breite in allen jenen Naturalien, die vielleicht vom moralischen Standpunkt aus nicht schimpflich sind; daß sie es aber auch nicht vom ästhetischen Standpunkt aus sind, kann nur ein ganz engstirniger à tout prix- Naturalist leugnen oder einer von jenen weitverbreiteten Philistern mit umgekehrtem Vorzeichen, die eine Sache schon deshalb kraftvoll und suggestiv finden, weil sie anstößig oder unappetitlich ist. Ebenso unerträglich wie seine Koprophilie ist seine Überladenheit und Verzwicktheit, seine Lust am Verschnörkeln, Verdrehen, Auswalken jedes Objekts seiner Darstellung. Sein Grundwesen war eine gigantische Weitläufigkeit, Geschmacklosigkeit und Abgeschmacktheit: seine Lust an insipiden Kalauern war so groß, daß er sogar seinen Tod zum Gegenstand eines Wortwitzes gemacht haben soll, indem er sich einen Domino anzog, weil in der Schrift geschrieben steht: Beati, qui moriuntur in domino. Aber eben weil bei ihm alles dieselben überlebensgroßen Dimensionen hat wie die Gestalt, Tapferkeit und Gefräßigkeit seines Helden Gargantua, darf man an ihn nicht die Maße normaler Schönheit und Logik anlegen. Der Appetit nach Leben und Lebensschilderung, der ihn erfüllte, war offenbar riesenhaft und sein einziger Fehler vielleicht nur der, daß er im Leser dieselbe überschäumende Vitalität voraussetzte. Nie ist in jener extrem spottlustigen, kirchenfeindlichen und antischolastischen Zeit Kirche und Scholastik auch nur annähernd so großzügig verspottet worden wie von ihm. Er war eine Art satirischer Menschenfresser, der ungemessene Portionen von heuchlerischen Pfaffen, sterilen Gelehrten, korrupten Beamten verschlang. Der esprit gaulois, der esprit gaillard gelangt bei ihm siegreich und elementar zum Durchbruch, mit der Vehemenz eines Naturereignisses, gegen das zu polemisieren völlig sinnlos wäre. Und doch wirkt er wiederum ganz unfranzösisch, da es ihm völlig an der Schmucklosigkeit, Durchsichtigkeit, Feinheit und Formsicherheit fehlt, die den höchsten literarischen Ruhm des Landes der clartè und des bon goût ausmacht. Aber diese Literatur sollte erst kommen; so, wie er war, ist er der hinreißendste und prägnanteste Ausdruck aller Stärken und Gebrechen seiner Zeit gewesen: unmäßig lebensgierig aus geheimem Lebensekel, überlaut lustig aus tiefer Melancholie und Zerrissenheit, beißend boshaft aus Menschenliebe und Herzensfülle, ausschweifend närrisch aus hellster Vernünftigkeit.
Der Norden, und zumal der deutsche, trug damals, wir erwähnten es schon, eben noch einen sehr plebejischen Charakter. In seinem Bericht über Deutschland vom Jahr 1508 sagt Machiavell: »Sie bauen nicht, sie machen für Kleider keinen Aufwand, sie verwenden nichts auf Hausgeräte; ihnen genügt, Überfluß an Brot und Fleisch und eine geheizte Stube zu haben.« Und von den deutschen Gasthäusern gibt Erasmus von Rotterdam folgende überaus anschauliche Schilderung: »Bei der Ankunft grüßt niemand, damit es nicht scheine, als ob sie viel nach Gästen fragten, denn dies halten sie für schmutzig und niederträchtig und des deutschen Ernstes für unwürdig. Nachdem du lange vor dem Hause geschrien hast, steckt endlich irgendeiner den Kopf durch das kleine Fensterchen heraus gleich einer Schildkröte ... diesen Herausschauenden muß man nun fragen, ob man hier einkehren könne. Schlägt er es nicht ab, so begreifst du daraus, daß du Platz haben kannst. Die Frage nach dem Stall wird mit einer Handbewegung beantwortet. Dort kannst du nach Beheben dein Pferd behandeln; denn kein Diener legt eine Hand an ... Ist das Pferd besorgt, so begibst du dich, wie du bist, in die Stube, mit Stiefeln, Gepäck und Schmutz. Diese geheizte Stube ist allen Gästen gemeinsam. Daß man eigene Zimmer zum Umkleiden, Waschen, Wärmen und Ausruhen anweist, kommt hier nicht vor ... So kommen in demselben Raum oft achtzig oder neunzig Gäste zusammen, Fußreisende, Reiter, Kaufleute, Schiffer, Fuhrleute, Bauern, Knaben, Weiber, Gesunde, Kranke. Hier kämmt sich der eine das Haupthaar, dort wischt sich ein anderer den Schweiß ab, wieder ein anderer reinigt sich Schuhe und Reitstiefel ... Es bildet einen Hauptpunkt guter Bewirtung, daß alle vom Schweiße triefen. Öffnet einer, ungewohnt solchen Qualms, nur eine Fensterritze, so schreit man: Zugemacht! ... Endlich wird der Wein, von bedeutender Säure, aufgesetzt. Fällt es nun etwa einem Gaste ein, für sein Geld um eine andere Weinsorte zu ersuchen, so tut man anfangs, als ob man es nicht hörte, aber mit einem Gesichte, als wollte man den ungebührlichen Begehrer umbringen. Wiederholt der Bittende sein Anliegen, so erhält er den Bescheid: In diesem Gasthause sind schon so viele Grafen und Markgrafen eingekehrt, und noch keiner hat sich über den Wein beschwert; steht er dir nicht an, so suche dir ein anderes Gasthaus. Denn nur die Adeligen ihres Volkes halten sie für Menschen ... Bald kommen mit großem Gepränge die Schüsseln. Die erste bietet fast immer Brotstücke mit Fleischbrühe, hierauf kommt etwas aus aufgewärmten Fleischarten oder Pökelfleisch oder eingesalzener Fisch ... Dann wird auch etwas besserer Wein gebracht. Es ist zum Verwundern, welches Schreien und Lärmen sich anhebt, wenn die Köpfe vom Trinken warm geworden sind. Keiner versteht den andern. Häufig mischen sich Possenreißer und Schalksnarren in diesen Tumult, und es ist kaum glaublich, welche Freude die Deutschen an solchen Leuten finden, die durch ihren Gesang, ihr Geschwätz und ihr Geschrei, ihre Sprünge und Prügeleien ein solches Getöse machen, daß der Stube der Einsturz droht ... Wünscht ein von der Reise Ermüdeter gleich nach dem Essen zu Bett zu gehen, so heißt es: er solle warten, bis die übrigen sich niederlegen. Dann wird jedem sein Nest gezeigt, und das ist weiter nichts als ein Bett, denn es ist außer den Betten nichts vorhanden, was man brauchen könnte. Die Leintücher sind vielleicht vor sechs Monaten zuletzt gewaschen worden.«
Das Bedenkt man, daß das Gasthauswesen einen ziemlich präzisen Gradmesser der jeweiligen materiellen Kultur darstellt und daß in nicht bloß das niedere Volk, sondern auch die Creme verkehrte, so gewinnt man den Eindruck, daß es den damaligen Deutschen noch an jeglicher Delikatesse und Differenzierung der Lebensführung gefehlt hat. Hingegen waren in quantitativer Hinsicht die Ernährungsverhältnisse zweifellos günstiger als heutzutage. Man hört zum Beispiel, daß in Sachsen die Werkleute ausdrücklich angewiesen wurden, sich mit zwei täglichen Mahlzeiten von je vier Gerichten: Suppe, zweierlei Fleisch und Gemüse, zufrieden zu geben. Ein Pfund Bratwurst kostete einen Pfennig, ein Pfund Rindfleisch zwei Pfennig, während der durchschnittliche Taglohn für einen gewöhnlichen Arbeiter achtzehn Pfennig betrug. Wenn in gewissen Gegenden die Armen sich bisweilen eine Woche lang kein Fleisch leisten konnten, so wird das immer mit besonderem Staunen hervorgehoben. Man wird überhaupt sagen dürfen, daß das sechzehnte Jahrhundert für Deutschland das klassische Zeitalter des Fressens und Saufens war; selbst von Luther wird berichtet, daß er sich hierin manchmal übernahm: überhaupt galten die Evangelischen als besondere Trunkenbolde und Vielfraße. Bei einem Essen, das der Nürnberger Doktor Christoph Scheurl Melanchthon zu Ehren veranstaltete, gab es folgende Gerichte: Saukopf und Lendenbraten in saurer Sauce; Forellen und Äschen; fünf Rebhühner; acht Vögel; einen Kapaun; Hecht in Sülze; Wildschweinfleisch in Pfeffersauce; Käsekuchen und Obst; Pistaziennüsse und Latwergen; Lebkuchen und Konfekt. Diese Unmenge von Fisch, Schwein, Geflügel und Süßigkeiten vertilgte eine Tischgesellschaft von nur zwölf Personen; dazu tranken sie so viel Wein, daß auf jeden dritthalb Liter kamen. Von vielen Fürstlichkeiten wird berichtet, daß sie fast täglich betrunken waren; nicht anders hielt es die Mehrzahl der Bürger, Soldaten und Bauern; auch bei den Frauen war der Alkohol bis in die höchsten Stände hinauf sehr beliebt. Und während man sich bisher auf nicht allzu stark eingebrautes Bier und dünnen Wein beschränkt hatte, lernte man jetzt auch die schweren Biere und hochgradigen Weine schätzen, und um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kam das Branntweinbrennen auf: der Kornschnaps wurde ein vielbegehrtes, wahrscheinlich aber noch nicht allgemeines Getränk, denn er war verhältnismäßig teuer. Es wurden zwar Mäßigkeitsvereine gegründet und Gesetze gegen Trunksucht erlassen; aber ohne jeden Erfolg. Was die damaligen Menschen an normalen Mahlzeiten vertrugen, zeigt eine zeitgenössische Schilderung des Tiroler Badelebens: »Des Morgens um sechs Uhr vor dem Bade Setzeier, eine Rahmsuppe, zwischen sieben und acht Uhr eine Pfanne voll Eier oder ein Milchmus, dazu Wein. Um neun Uhr genießt man Schmarren und kleine Fische oder Krebse. Dazu gehört ein Trunk. Zwischen zehn und elf findet das Mittagsmahl statt: fünf bis sieben Gerichte. Bis zwei Uhr geht man dann spazieren und ißt um zwei Uhr vor dem Bade eine Pfanne mit Dampfnudeln, eine Hühnerpastete. Zwischen drei und vier Uhr gesottene Eier oder ein Hähnchen. Zum Nachtmahl vier bis fünf kräftige Speisen, um acht Uhr vor dem Schlafengehen ein Schwingmus und eine Schüssel Wein mit Brot, Gewürz, Zucker.« Nachmittags gab es noch die »Jause«: sie bestand nach demselben Gewährsmann aus Salat mit Butter, harten Eiern, gebratenen Hühnern, Fisch, Schmarren und reichlichem Wein. Diese Menschen haben also fast ununterbrochen gegessen, und besonders unverständlich ist es, wie sich dies mit dem Baden vertrug.
Was die sogenannte »Sittlichkeit« anlangt, so ist eine gewisse Besserung gegenüber den Zuständen der Inkubationszeit zu verzeichnen: die Frauenhäuser sind weniger zahlreich, die Badhäuser kommen langsam außer Gebrauch, der Geschlechtsverkehr ist weniger zügellos und schamlos; aber diese Veränderungen sind höchstwahrscheinlich auf zwei Ursachen zurückzuführen, die außerhalb der Moral liegen: das Auftreten der Syphilis und das Muckertum des Protestantismus. Die Sitten jedoch sind fast noch roher als vordem: daß Männer ihre Frauen prügeln, kommt selbst in fürstlichen Kreisen vor, in der Kindererziehung spielt die Rute die Hauptrolle, Reden und Umgangsformen strotzen von Derbheiten und Unflätigkeiten. Selbst auf den Schlössern wurde der Kamin regelmäßig als Pissoir benutzt, und Erasmus ermahnt in seiner Schrift »Von der Höflichkeit im Umgang« den Leser, in feiner Gesellschaft Winde »durch Husten zu übertönen«.
Auch im Norden geht im Kostüm eine Stilwandlung vor sich. Aber das Majestätische und Imposante der italienischen Kleidung wird hier zum Breiten und Breitspurigen, Platten und Plattfüßigen, zur skurrilen und täppischen Schullehrer-, Pastoren- und Duodezfürstenwürde.
Es ist eben kein eingeborener gewachsener Stil, sondern eine importierte gewollte Mode. Man gibt sich ein Air, man will etwas bedeuten, ohne etwas zu sein. Es fehlt die Selbstverständlichkeit, die die Kennmarke jedes geistigen oder physischen Adels bildet. Für den Nordländer ist sein Zeitkostüm wirklich nur ein Kostüm, eine Maskerade, eine Theatergarderobe, die er mit Aufdringlichkeit, Unterstreichung, Aplomb und zugleich mit Beengtheit, Unsicherheit, Lampenfieber trägt: er will um jeden Preis zeigen, welche große Rolle er spielt, und er erreicht damit, daß er wirklich nur eine Rolle spielt. Auf fast allen Bildnissen tritt uns dieser gravitätische Faltenwurf im Antlitz und im Kleide, dieses Herausstaffierte, bäurisch Geputzte, Endimanchierte entgegen; am deutlichsten in Lukas Cranachs vierschrötigen, aufgeblasenen, wichtigtuerischen, wie für den Vorstadtphotographen in Pose gestellten Porträtfiguren.
Der »Individualismus« der Renaissance äußert sich darin, daß eine luftigere, leichtere Kleidung bevorzugt wird, in der man sich frei und bequem bewegen kann. An die Stelle der früheren übertrieben engen Beinkleider, die ganz prall anlagen, tritt zunächst die ungeheuerlich weite Pluderhose, die, eine Unmenge Stoff in Anspruch nehmend, vom Gürtel bis zum Schuh schlottert; später gliedert sich von ihr der Strumpf ab. Auch in der Fußbekleidung löst ein Extrem das andere ab: statt der Schuhe mit den grotesk langen, nach oben gekrümmten Spitzen trägt man jetzt die ganz kurz abgeschnittenen, breiten und stumpfen »Kuhmäuler«. Es ist bezeichnend, daß für diese ganze Mode der deutsche Landsknecht tonangebend war, die roheste und geschmackfernste Menschenklasse des ganzen Zeitalters, von ihm stammt die allgemein akzeptierte Sitte des Zerschlitzens der Kleidungsstücke, die das Hauptcharakteristikum der nordischen Renaissancetracht bildet. Es wird alles geschlitzt: Wams, Ärmel, Hose, Kopfbedeckung, Schuhe; darunter wird das Futter sichtbar, das dadurch zur Hauptsache wird. In der weiblichen Kleidung kommt die protestantische Prüderie zu Wort, indem nackte Schultern und Brüste verpönt werden und das Hemd, später auch das ganze Kleid bis zum Halse reicht; beiden Geschlechtern gemeinsam ist der Puffärmel und das Barett, das, anfangs nur mit einer einzelnen Feder geschmückt, später oft einen ganzen Wald von Straußfedern trägt. Für Mäntel und Überwürfe sind Atlas, Samt und Goldbrokat die beliebtesten Stoffe, die Pelzverbrämung ist allgemein, sogar bei Bauern. Humanisten, Poeten und Kleriker gingen meist bartlos, die übrige Männerwelt bevorzugte den kurzgeschnittenen Vollbart und liebte auch das Kopfhaar schlicht und ziemlich kurz; Mädchen trugen lange Zöpfe, reifere Frauen umgaben das Haar gern mit einem Goldnetz. Die ganze Tracht hat etwas Gemessenes, Viereckiges, betont Ehrbares und anderseits wiederum etwas Hemmungsloses, Verzwicktes, Unausbalanciertes: es ist die berüchtigte »deutsche Renaissance«, die bekanntlich in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Auferstehung gefeiert hat, jene eigentümliche Mischung aus Spießbürgerlichkeit und Phantastik, Verzierlichung und Schwerfälligkeit; jener verkräuselte und verschnörkelte, dumpfe und träumerische, knitterige und gedunsene, haltlos ornamentsüchtige Lebensstil, der unseren Großeltern für den Inbegriff der Romantik galt; die »abenteuerliche und ungeheuerliche Weise«, die Fischart geißelt und von der selbst Dürer, das Genie des Zeitalters, bekannte, daß er ihr allzusehr gehuldigt habe. Es ist für Dürers Lust am Wirren und Verästelten, am Dunkel und Dickicht bezeichnend, daß sein graphisches Meisterwerk, die »Apokalypse«, sich das Thema stellt, das undurchdringlichste Buch der Bibel, ja vielleicht der Weltliteratur in die Sprache des anschaulichen Bildes zu übersetzen. Wem anders als einem Zeitgenossen und Mitstreiter der deutschen Reformation konnte diese fast unlösbare Aufgabe gelingen?
Etwas Verspieltes und Bastelndes, Kindliches und Kindisches ist der gesamten Kunst der Deutschen im sechzehnten Jahrhundert eigentümlich. Es ist eine Art Lebkuchenstil. Der Mittelpunkt der damaligen Poesie und Bildnerei war Nürnberg, das noch heute die klassische Stadt der Zuckerbäcker und Spielwarenerzeuger ist. Etwas rührend Winterliches, beschaulich Enges, poetisch Eingeschneites liegt über allen Schöpfungen jener Zeit. Es fehlt völlig an Sinn für Strenge und Notwendigkeit, Maß und Bescheidung, Würde und Einfachheit; aber wir werden durch eine entzückende Naivität entschädigt, die sonst überall bereits im Begriff ist, verlorenzugehen. Die Kunst hat noch den Charakter einer geheimnisvollen, ehrfürchtig in Empfang genommenen Weihnachtsbescherung: gerade die Tatsache, daß sie noch immer einen vorwiegend handwerksmäßigen Charakter trägt, macht sie zum reizenden Spielzeug. Man betrachte zum Beispiel das berühmte »Haus zum Ritter« in Schaffhausen: welches Kind würde es nicht noch heute als seinen sehnlichsten Wunsch ansehen, ein so entzückend ausgemaltes Häuschen besitzen zu dürfen?
Auf allen Kunstgebieten dominiert noch das Kunstgewerbe, nicht bloß äußerlich, sondern auch der inneren Tendenz nach: es herrscht die Freude an der Niaiserie, am Nippeshaften, selbständig Ornamentalen. Wir haben bereits hervorgehoben, daß die Größe der italienischen Kunst, auch noch in der von uns als Niedergangsperiode angesehenen Hochrenaissance, auf ihrer Gabe der lichtvollen Gliederung beruhte, ihrer virtuosen Kraft der Proportion, ihrem souveränen Gefühl für Rhythmus und Harmonie, Maß und Metrum. Dieser Sinn für klare, aufs feinste abgewogene und aufs schärfste abgegrenzte Form durchdringt alle Kunst- und Lebensäußerungen: Gemälde und Gewänder, Denkmäler und Denkmünzen, Gebärden und Geräte. Selbst jeder Schrank, jeder Kamin, jede Tür, jede Truhe ist im Grunde ein wohlartikuliertes Gebäude. Von der deutschen Renaissancekunst kann man umgekehrt sagen: selbst das monumentalste und weitläufigste Gebäude ist von ihr nach Analogie eines Ziermöbels, eines Schmuckgegenstands, eines untergeordneten Bauteils erdacht. Dort ist jedes Ornament Architektur, aus architektonischem Geiste geboren, hier ist alle Architektur ornamental, aus dem Willen zum Ornament geboren. Die Italiener waren in allem, noch bis in ihre Kleinkunst hinein, Kompositeure, die Deutschen in allem Ziseleure, Goldschmiede, Stukkateure, Filigranarbeiter. Auch Albrecht Dürer ist seinem innersten Wesen nach Zeichner. Er ist am größten im Kleinsten: in Illustrationen, Kupferstichen, Radierungen, losen Blättern. Und vielleicht zu keiner Zeit hat das Kunstgewerbe so volle und runde, subtile und kraftvolle Werke zutage gefördert wie damals: die Graveure und Buchdrucker, Juweliere und Elfenbeinarbeiter, Schreiner und Holzschnitzer, Erzgießer und Waffenschmiede sind der Ruhm des Zeitalters, und alle Dinge, die das tägliche Leben umgaben, trugen ein ästhetisches Gepräge: Brunnen und Meßkrüge, Wetterfahnen und Wasserspeier, Leuchter und Gitter; sogar die Kanonen waren kleine Kunstwerke.
Die Kunst hatte sich auch noch nicht vom Leben als Sonderbetätigung abgegliedert. Die meisten Dichter und Bildner trieben irgendein ehrsames bürgerliches Gewerbe. Lukas Cranach war Buchdrucker und Apotheker, Sebastian Franck Seifensieder, Hans Sachs »ein Schuhmacher und Poet dazu«: das Dichten war offenbar die Nebenbeschäftigung. Etwas Meisterliches, im edeln Sinne Handwerkliches zeichnet denn auch alle seine Dichtungen aus, deren saubere und treuherzige Buntdrucktechnik den gleichzeitigen Werken der bildenden Kunst vollkommen konform ist. In jedem solid und kundig geübten Handwerk Hegt etwas, das zur Verehrung, ja zur Bewunderung herausfordert. Um einen Schrank, einen Rock, einen Krug wirklich gut zu machen, muß man eine gewisse Sittlichkeit besitzen: Achtung vor dem gottgeschaffenen Material, Selbstzucht, treue Hingabe an die Sache, Sinn für das Wesentliche. Ein Meister ist allemal etwas sehr Schönes, ob er eine Uhr baut oder einen Dom. Und es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß Hans Sachsens Schuhe, obwohl von ihnen nichts auf die Nachwelt gekommen ist, ebenso vorzüglich gearbeitet und allgemein geschätzt waren wie seine Fastnachtsspiele.
Auch auf musikalischem Gebiet äußert sich die Produktivität vorwiegend im Handwerklichen, nämlich weniger in originalen Kompositionen als in der Verbesserung der Tonwerkzeuge: zu Anfang des Jahrhunderts kommen Fagott und Spinett in Gebrauch und durch die Erfindung des Stegs, der es ermöglicht, jede einzelne der drei Saiten zu benützen, wird die Geige erst ihrer wahren Bedeutung zugeführt.
Daß es an Verirrungen des Geschmacks, ja an groben Taktlosigkeiten nicht gefehlt hat, ist die Kehrseite dieser handwerklich und das heißt: banausisch orientierten Kunst. Sie zeigen sich neben vielem anderen zum Beispiel in der Entstellung der Sprache durch abenteuerliche Wortverrenkungen und mißgewachsene Neubildungen, die originell und packend sein wollen, aber bloß kakophon und albern sind; in der bereits erwähnten Vorhebe für Ausdrücke und Gleichnisse aus der Exkrementalsphäre, die sich nicht selten bis zur Koprolalie steigert; in der Unsicherheit des Gefühls für die Zusammenhänge zwischen Form und Material (zum Beispiel in der Übertragung der Metalltechnik auf die Gebäudeornamente, die wie aus Stein geschnittenes Blechzeug wirken); in der Roheit der allegorischen Gemälde, deren berüchtigtstes Lukas Cranachs Weimarer Altarbild sein dürfte, wo er selbst, zwischen Luther und Johannes dem Täufer stehend, von einem Blutstrahl aus dem Herzen des gekreuzigten Heilands getroffen wird.
Auch die Rechtspflege war noch ebenso barbarisch wie bisher, der Aberglaube hatte durch die Reformation eher zugenommen. Früher galten nur Juden, Türken und Zauberer als Teufelsjünger, jetzt wurde die ganze Welt diabolisiert: der Papst war der Antichrist, jeder Papist des Satans, und die Katholiken wiederum sahen in Luther und allen seinen Anhängern Diener der Hölle. Zudem hatte der Protestantismus das Gefühl der Sündhaftigkeit gesteigert. Keiner konnte bestimmt wissen, ob er gerechtfertigt sei. Werke galten nichts; der Glaube aber war mehr eine der menschlichen Seele gestellte unendliche Aufgabe als ein Pfeiler der Gewißheit. Und zumal im Calvinismus mit seiner starren Prädestinationslehre vermochte niemand zu sagen, ob er zu den Erwählten oder zu den von aller Ewigkeit her Verdammten gehöre. Von Doktor Eck und vielen anderen seiner Gegner hat Luther behauptet, daß sie mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hätten, und der Breslauer Domherr Johann Cochläus wiederum erklärte in seiner Biographie Luthers, die schon drei Jahre nach dessen Tode erschien, daß dieser im Ehebruch mit Margarete Luther vom Teufel gezeugt worden sei. Daß Luther auf der Wartburg sein Tintenfaß nach dem Teufel geschleudert habe, wird neuerdings bestritten, daß er aber die ganze Welt von Teufeln erfüllt glaubte, geht aus zahllosen seiner Äußerungen ganz unwiderleglich hervor, und ebenso glaubte er an die Hexen, diese »Teufelshuren«, die er von offener Kanzel herab verfluchte und bedrohte. Er war darin nur, wie in allem, der legitime Sohn seiner Zeit. Denn in der Tat stieg gerade damals, als der Glaube an die christliche Lehre gespalten war und zu wanken begann, aus der Tiefe der Seelen ein schaudererregender, geheimnisvoller Bodensatz des Heidentums herauf.
Der Hexenglaube findet sich schon bei den Persern, im Alten Testament und in der griechischen und römischen Mythologie, ja in irgendeiner Form vielleicht in jeder Religion. Hexenbrände fanden jedoch nur vereinzelt im frühen Mittelalter statt: sie hatten damals noch den Sinn eines Menschenopfers und wurden von Karl dem Großen verboten. In Italien gab es in der Renaissancezeit ein besonderes Hexenland bei Norcia, das eine Attraktion für Fremde bildete, und die Hexe, die strega mit ihrer Kunst, der stregheria, wurde fast offiziell anerkannt und nur in Ausnahmefällen verfolgt. Erst gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts beginnt der Hexenwahn, und zwar von den nördlichen Gebieten aus, zu einer Geißel der Menschheit zu werden. Das entscheidende Datum ist das Jahr 1487, wo der berühmte »Hexenhammer«, der malleus maleficarum, herausgegeben von den beiden päpstlichen Inquisitoren Heinrich Institoris und Jakob Sprenger, zum erstenmal erschien. Darin wird das Hexenwesen, wenn man so sagen darf, einer wissenschaftlichen Bearbeitung unterzogen und streng systematisch abgehandelt. Im ersten Teil des Werkes werden Fragen gestellt, bejaht und ausführlich erörtert wie die folgenden: Gibt es eine Schwarzkunst? Ob der Teufel mit dem Schwarzkünstler zusammenwirke? Können durch Incubi (Drauflieger, das heißt: Teufel, die sich in Mannesgestalt mit Frauen vermischen) und Succubi (Drunterlieger: Teufel, die als Weiber mit Männern Unzucht treiben) Menschen erzeugt werden? Können Schwarzkünstler die Menschen zur Liebe oder zum Haß bewegen? Kann die Schwarzkunst den ehelichen Akt verhindern? Können Hexen das männliche Glied durch Zauberei so behandeln, als sei es vom Leibe getrennt? Können Hexen die Menschen in Tierleiber verwandeln? Der zweite Teil handelt mehr von Einzelheiten, zum Beispiel: wie die Hexen Gewitter und Hagel hervorrufen; wie sie die Kühe der Milch berauben; wie sie die Hühner am Eierlegen verhindern; wie sie Fehlgeburten verursachen; wie sie das Vieh krank machen; wie sie Besessenheit erregen; wie sie durch »Hexenschuß« die Glieder lähmen; warum sie besonders gern ungetaufte Kinder töten (Antwort: weil diese nicht in den Himmel eingelassen werden; das Reich Gottes und die endgültige Niederwerfung des Teufels tritt aber erst ein, wenn eine bestimmte Anzahl Seliger im Himmel versammelt ist; durch die Ermordung Neugeborener wird daher dieser Zeitpunkt hinausgeschoben).
Von den Hexen nahm man allgemein an, daß sie zu bestimmten Zeiten, vor allem in der Nacht des ersten Mai, der Walpurgisnacht, auf Stöcken oder Böcken nach gewissen verrufenen Bergen flögen, um dem Meister der Hölle durch Ringeltänze und Küsse auf die Genitalien und den Hintern zu huldigen (während er wiederum diese Ovation durch Ablassen von Gestank quittierte) und sich sodann mit den »Buhlteufeln« in üppigen Gelagen und wüster Unzucht zu vergnügen. Die »Hexenprobe« bestand zumeist darin, daß die Beschuldigte gebunden aufs Wasser gelegt wurde; sank sie nicht unter, so war sie überführt. In den Verdacht der Hexerei konnte jede auffallende Eigenschaft bringen: besonders hohe Gaben so gut wie besonders boshaftes Wesen, körperliche Gebrechen so gut wie erlesene Schönheit. Allmählich gewöhnte man sich daran, zur Erpressung des Geständnisses die Tortur anzuwenden, und nun ergab sich der Circulus vitiosus, daß diese Art des Prozeßverfahrens zahllose Beweise für Hexerei lieferte und die hierdurch gesteigerte Angst wiederum die Zahl der Anklagen und Prozesse vermehrte. Wenn auch bisweilen Geldgier und Rachsucht mitspielten, so kann doch keinesfalls daran gezweifelt werden, daß die meisten Richter optima fide gehandelt haben, wie ja auch ein heutiger Staatsanwalt sich als Hüter des Rechts und der Moral fühlt, wenn er seine Inkulpaten wegen Delikten verfolgt, deren Bestrafung einer späteren Zeit vollkommen unverständlich sein wird. Der Protestantismus hat hierin einen mindestens ebenso großen Fanatismus entwickelt wie der Katholizismus, was von liberalen und deutschnationalen Geschichtschreibern gern übersehen oder vertuscht wird, am krassesten wohl in der sehr gelehrten Hetzschrift des Grafen Hoensbroech »Das Papsttum in seiner sozial-kulturellen Wirksamkeit«, worin die Untaten der römischen Inquisition die breiteste und strengste Schilderung erfahren, während von evangelischen Hexenprozessen kein Wort erwähnt wird. Es handelte sich eben um eine Zeitkrankheit, von der alle ergriffen waren: Volk und Gelehrte, Papisten und Reformierte, Fürsten und Untertanen, Ankläger und Inquisitoren und sogar die Hexen selbst, denn viele der Opfer glaubten an ihre eigene Schuld. Selbst ein Forschergenie vom Range Johannes Keplers, dem es doch gewiß nicht an der Gabe des wissenschaftlichen Denkens fehlte, hat behauptet, die Hexerei lasse sich nicht leugnen, und es muß ihm mit dieser Erklärung sehr Ernst gewesen sein, denn eine seiner Verwandten ist als Hexe verbrannt worden, und seine Mutter war mehrere Male in Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden. Wir haben es bei dem ganzen Phänomen der Hexenverfolgung vermutlich mit einer Massenpsychose aus verdrängter Sexualität zu tun, die sich in der Form der Gynophobie manifestierte, und die Psychoanalyse, die sich so oft an unergiebigen Quisquilien abmüht, sollte dieses Problem einmal einer gründlichen Untersuchung unterwerfen. Der »Hexenhammer« gibt dafür einen ziemlich deutlichen Wink. Die Frage »Warum ist die Schwarzkunst bei den Frauen mehr verbreitet als bei den Männern?« beantwortet er mit den Worten: »Was ist denn das Weib anderes als eine Vernichtung der Freundschaft, eine unentfliehbare Strafe, ein notwendiges Unglück, eine natürliche Versuchung, ein begehrenswertes Unheil, eine häusliche Gefahr, ein reizvoller Schädling, ein Weltübel, mit schöner Farbe bestrichen?« Es äußert sich hierin die tiefe Angst des Mannes vor seiner geheimnisvollen Gefährtin, die erschütternde Ahnung von der unentwirrbaren Sündigkeit, dem unsichtbaren Verderben, das hinter der Geschlechtsgemeinschaft lauert, diesem grauenhaften schwarzen Wellentrichter, der tausend Taten und Tränen, Träume und Leidenschaften der irrenden Erdkreatur blind und gierig in sich hineinstrudelt: vom Hexenwahn der Reformationszeit führt eine lange, aber gerade Linie bis zu Strindberg. Daß es sich um kein religiöses, sondern nur um ein religiös verkleidetes sexuelles Problem handelt, kann man schon aus den wenigen Fragen des »malleus« ersehen, die wir angeführt haben: in den meisten von ihnen äußert sich die unterirdisch und, da sie über eine religiöse Deckung verfügt, hemmungslos entfesselte Phantasie der geschlechtlichen Unbefriedigtheit oder Impotenz, der Satyriasis und Perversität. Daß sich der Sexualhaß jetzt in so schauerlich grotesken Formen entlud, war eine der Folgen der vielgepriesenen »Befreiung des Individuums« durch Renaissance und Reformation.
Was bedeutet nun, so müssen wir uns zum Schluß fragen, die Reformation, im großen gerechnet, für die europäische Kultur? Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, Leben, Denken und Glauben der Menschheit zu säkularisieren. Seit ihr und mit ihr kommt etwas flach Praktisches, profan Nützliches, langweilig Sachliches, etwas Düsteres, Nüchternes, Zweckmäßiges in alle Betätigungen. Sie negiert prinzipiell und zielbewußt aus platt kurzsichtigem Rationalismus eine Reihe von höheren Lebensformen, die bisher aus der Religiosität geflossen waren und allerdings vom Standpunkt einer niederen utilitarischen Logik kaum zu rechtfertigen sind: die »unfruchtbare« Askese, nicht bloß die weltflüchtige und weltfeindliche, sondern auch ihre erhabenste Gestalt: die weltfreie; das »widernatürliche« Zölibat; die »sinnlosen« Wallfahrten; die »überflüssige« Pracht der Zeremonien; die »unnützen« Klöster; den »törichten« Karneval; die »zeitraubenden« Feiertage; die »abergläubische« Anrufung der Heiligen, die als freundliche Beistände, gleichsam als Unterbeamte Gottes, den ganzen Alltag licht und hilfreich begleitet hatten; die »ungerechtfertigte« Armenpflege, die gibt, um zu geben, ohne viel nach »Würdigkeit« und »Notwendigkeit« zu fragen. Alle Kindlichkeit weicht aus dem Dasein; das Leben wird logisch, geordnet, gerecht und tüchtig, mit einem Wort: unerträglich.
Es muß nochmals betont werden, daß Luther nicht in allen, aber doch in vielen dieser Fragen noch wesentlich mittelalterlich dachte. Das war ja eben seine Größe, daß er als Reformator rein religiös, nie politisch, »sozial«, »organisatorisch« empfand. Aber er hat, unter dem Druck der öffentlichen Meinung und auch aus einer Art eigensinnigem prinzipiellen Widerstand gegen alles, was katholisch war, doch alle diese Wandlungen gebilligt oder zumindest gewähren lassen.
Die Reformation heiligt erstens die Arbeit, zweitens den Beruf und damit indirekt den Erwerb, das Geld, drittens die Ehe und die Familie, viertens den Staat. Scheinbar zwar stellt sie ihn tiefer als das Mittelalter, nämlich außerhalb der Religion, aber gerade dadurch stellt sie ihn höher, begründet sie seine Souveränität. Indem sie ihn eximiert, emanzipiert sie ihn und schafft so die Geißel des Menschen der Neuzeit, den modernen Allmachtsstaat, der mit seinem Steuersystem das Eigentum, mit seiner allgegenwärtigen Polizierung die Freiheit, mit seinem Militarismus das Leben des Bürgers in Beschlag nimmt. Die scharfe Trennung des Weltlichen und Geistlichen, die Luther anstrebte, sollte offenbar den Zweck haben, die Religion frei zu machen; aber gerade das Gegenteil wurde erreicht: die protestantischen Fürsten entzogen sich zwar der päpstlichen Oberherrschaft, fühlten sich aber nun selber als Herren ihrer Landeskirchen und bevormundeten ihre Untertanen nun genau so in allen Glaubenssachen, wie dies bisher von Rom aus geschehen war. Statt eines Statthalters Christi, der den Menschen vorschreibt, welches Verhältnis sie zu ihrem Gott haben sollen, gab es jetzt deren viele und zweifellos weniger kompetente und infolge ihres kleineren Wirkungskreises auch weniger verantwortliche: das war der ganze Unterschied. Daß der Protestantismus, in krassem Widerspruch zu der Tendenz, die ihn ursprünglich ins Leben gerufen hatte, fast in allen Dominien, wo er siegreich war, ein System der starrsten Unduldsamkeit entwickelt hat, beruht auf seiner Begünstigung des Staatskirchentums; denn der Staat ist das intoleranteste Gebilde, das es gibt, und muß es sein; seiner innersten Natur nach.
Was die Ehe anlangt, so hat sie Luther als ein bloßes Zugeständnis an das Fleisch angesehen und offenbar nicht sehr hoch geschätzt. Er selbst hat zwar geheiratet, aber sicher nicht aus innerem Drange, sondern um ein befreiendes Beispiel zu geben und um die Katholiken zu ärgern, wofür bezeichnend ist, daß er sich gerade eine Nonne zur Frau wählte. Es spricht aber alles dafür, daß er in der guten Käthe bloß eine Wirtschafterin geheiratet hat; dies war überhaupt seine Ansicht vom Wert der Frauen: »Wenn man dies Geschlecht, das Weibervolk, nicht hätte, so fiele die Haushaltung, und alles, was dazugehört, läge gar darnieder.« Hingegen äußerte er sich schon im Jahre 1521, mitten in seinen Glaubenskämpfen, begeistert über den Aufschwung der grobmateriellen Kultur, der das Reformationszeitalter kennzeichnet: »So jemand lieset alle Chroniken, so findet er, von Christi Geburt an, dieser Welt in diesen hundert Jahren gleichen nicht, in allen Stücken. Solch Bauen und Pflanzen ist nicht gewesen so gemein in aller Welt, solch köstlich und mancherlei Essen und Trinken auch nicht gewesen so gemein, wie es itzt ist. So ist das Kleiden so köstlich geworden, daß es nicht höher mag kommen. Wer hat auch je solch Kaufmannschaft gesehen, die itzt umb die Welt fähret und alle Welt verschlinget?« Es besteht eben von vornherein ein unterirdischer Zusammenhang zwischen protestantischer und kapitalistischer Weltanschauung, der freilich erst im englischen Puritanismus ganz offen zutage tritt: der geistige Vater dieser aus Börse und Bibel gemischten Welt ist Calvin, der das kanonische Zinsverbot aufs schärfste bekämpfte; aber auch Luther hat schon auf gelegentliche Anfragen ein »Wücherlein« für erlaubt erklärt.
Auf Luther ist auch, wie Hans Sperber nachgewiesen hat, der Bedeutungswandel des Wortes »Beruf« zurückzuführen, das bis dahin soviel wie Berufung, Vokation bedeutete und erst bei ihm den heutigen Sinn von Handwerk, Fachtätigkeit annimmt: er erblickt in der Ausübung gewerblicher Arbeit, die im Altertum als deklassierend, als banausisch, im Mittelalter als profan, als ungöttlich galt, eine gottgewollte sittliche Mission. Bis dahin hatte man die Arbeit als eine Strafe, bestenfalls als ein notwendiges Übel angesehen; jetzt wird sie geadelt, ja heiliggesprochen. Von dieser Auffassung, die erst der Protestantismus in die Welt gebracht hat, geht eine gerade Linie zum Kapitalismus und zum Marxismus, den zwei stärksten Verdüsterern Europas, die beide, obgleich in ihren Zielen entgegengesetzt, dieselbe ethische und soziale Grundlage haben.
Es ist sehr merkwürdig, daß die Reformation, die doch behauptete, eine Rückkehr zum reinen Bibelwort zu sein, in allen diesen Punkten mit der Heiligen Schrift im schärfsten Widerspruch steht. Zu Adam spricht der Herr gleich am Anfang des Alten Testaments: »Dieweil du hast gehorchet der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach: du sollst nicht davon essen verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich drauf nähren dein Leben lang. Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen.« Von der »Heiligkeit«, vom »Segen« der Arbeit ist hier nichts zu hören; vielmehr wird Adam zur Arbeit verflucht, offenbar der furchtbarsten Strafe, die Gott, der ja noch ein Gott der Rache ist, für den Frevel der ersten Menschen zu ersinnen vermag. Und das Neue Testament predigt fast in jeder Zeile die Seligkeit und Gottgefälligkeit des Nichtstuns. Der Heiland selbst hat niemals eine Arbeit verrichtet, auch seine Apostel und Begleiter nicht; Petrus und Matthäus entzieht er ihren Berufen; ja er warnt geradezu vor der Arbeit: »Sehet die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln auch nicht in Scheuern, und euer himmlischer Vater nähret sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Schauet die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch aber, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine. Wenn aber Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, sollte er das nicht viel mehr euch tun, ihr Kleingläubigen?«
Hieraus ergibt sich auch mit vollkommener Deutlichkeit die Stellung Jesu zur »sozialen Frage«. Allerdings hat er die Armen den Reichen vorgezogen, indem er sagte, ein Reicher könne nicht ins Himmelreich kommen. Aber dieser Ausspruch hat durchaus keine sozialistische Pointe. Die Armen kommen eher ins Himmelreich als die Reichen, weil bei ihnen die Vorbedingungen für ein göttliches, dem Mammon abgewendetes Leben günstiger sind. Ein Reicher wird sich, ob er will oder nicht, mit seinen irdischen Gütern befassen müssen; der Arme ist in der glücklichen Lage, solche von Gott ablenkende Dinge nicht zu besitzen. Der Sozialismus will aber, ganz im Gegenteil, die Armen allmählich in die Vorteile einsetzen, die heutzutage nur die Reichen genießen; und er will, daß jeder Mensch, ob arm oder reich, arbeite. Jesus hingegen stellt die Lilien auf dem Felde und die Sperlinge auf dem Dache als Vorbilder hin. Er weiß, daß im »Segen der Arbeit« ein geheimer Fluch verborgen ist: die Gier nach Geld, nach Macht, nach Materie. Der Sozialismus will die Armen reich machen, Jesus will die Reichen arm machen; der Sozialismus beneidet die Reichen, Jesus bedauert sie; der Sozialismus will, daß womöglich alle arbeiten und besitzen, Jesus sieht den idealen Gesellschaftszustand darin, daß womöglich niemand arbeitet und besitzt. Das Verhältnis des Heilands zur sozialen Frage besteht also darin, daß er sie einfach ablehnt. Für ihn sind Dinge wie Güterverteilung, Besitz, gerechte Ordnung der Erwerbsverhältnisse das, was die Stoiker ein »Adiaphoron« und die Mathematiker eine »quantité négligeable« nennen: sie gehen ihn gar nichts an. Er erblickt seine Mission darin, die Menschen zum Göttlichen zu führen; ein »sozialer Reformator« hat es aber immer nur mit der Welt zu tun. Es ist daher die größte Blasphemie, die man gegen Jesus begehen kann, wenn man ihn in eine Reihe mit jenen Zwerggeistern stellt, die die Menschheit auf nationalökonomischem Wege erlösen wollten. Er ist von allen diesen nicht dem Grad, sondern der Art nach verschieden. Seine Wohltaten waren geistige, nicht materielle, und man kann ihn mit solchen Volksmännern überhaupt gar nicht vergleichen, so wenig wie etwa die Schöpfungen eines Dante oder Plato mit denen eines Marconi oder Edison. Jesus hat niemals gegen jene Mächte gekämpft, die der Gegenstand moderner Sozialpolemik sind, wie Bourgeoisie, Bürokratismus, Kapitalismus und dergleichen, weil ihm alle diese Dinge viel zu gleichgültig waren. Er hat immer nur einen Feind erbittert bekämpft: den Teufel im Menschen, den Materialismus. Aber unsere aufgeklärte Zeit glaubt ja nicht mehr an den Teufel, weil sie ihm derart verfallen ist, daß sie ihn gar nicht mehr sieht; und der »Geist« des Materialismus herrscht heute unter den Enterbten genau so wie unter den Besitzenden. Die einen haben Geld, die anderen haben noch keines; aber um Geld dreht es sich hier wie dort. Heute würde Jesus nicht mehr sagen: »Selig sind die Armen«, denn diese sind heute ebenso unselig geworden wie die Reichen: dank den sozialistischen Theorien, die die degenerierte Plattheit unserer Tage aus seinen Worten herausgelesen hat.
Ganz ähnlich verhält sich Jesus zum Staat. Er hat zwar gesagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist«, aber auch hier ist es wiederum die tiefe Geringschätzung irdischer Satzungen und Einrichtungen, aus der heraus er dieses Gebot aufstellt. Er empfiehlt, ruhig die vorgeschriebenen Steuern zu zahlen, weil es nicht der Mühe wert ist, sie zu verweigern; denn die Kinder Gottes haben sich um Höheres zu sorgen als um derlei niedrige Politika. Nur ein Mensch ohne Ohr für Nüancen und Untertöne kann die tiefe Ironie verkennen, mit der der Heiland über diese Fragen spricht, sooft er sie berührt. Einen zweifellos ironischen Charakter trägt auch seine Antwort: »Du sagst es« auf die Frage des Pilatus: »Bist du der Juden König?«: er hält es offenbar für seiner unwürdig, auf solche platte Mißverständnisse überhaupt einzugehen; nach Johannes gibt er jedoch eine kurze Erklärung ab, die den Statthalter darüber unterweist, daß er wohl ein König sei, aber ein ganz anderer, als die niedrige Fassungskraft der jüdischen Hierarchen sich vorzustellen vermag.
Die durchgängige Haltung Christi ist ganz einfach die, daß er alles Menschengeschaffene bis zur Lächerlichkeit gleichgültig findet. Dies ist auch seine Ansicht über Ehe und Familie. Ja noch mehr: er verwirft sie, aber in jener milden duldsamen Art, die den anderen nur das Richtige als Ideal zeigt, ohne es ihnen, wenn sie dafür noch nicht reif und frei genug sind, aufzwingen zu wollen. Das Wort Jesu an seine Mutter: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?«, wohl mehr erstaunt als erzürnt gesprochen, ist eine ungeheure Verlegenheit für die bürgerlichen Theologen, über die sie gern mit ein paar nichtssagenden Redensarten hinweggleiten. Als man ihm meldet, daß seine Mutter und seine Brüder mit ihm zu reden suchen, antwortet er nach Matthäus: »Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?« und, indem er seine Hand über seine Jünger ausstreckt: »Siehe da, meine Mutter und meine Brüder!« Eine ebenso deutliche Sprache redet die Mahnung: »So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.«
Was also die wahrhaft christliche Auffassung aller dieser Dinge ist, geht aus den Evangelien für jeden, der sie mit gesundem Verstand und reinem Gefühl zu lesen vermag, ganz unzweideutig hervor. Die Pastoren, die den Rabbinern an Talmudismus nichts nachgeben, haben natürlich versucht, alle diese Äußerungen zu verdrehen, zu verschleifen und in ihr Gegenteil zu kommentieren, und man kann ja in der Tat aus der Bibel alles herauslesen, was man will, wenn man es an der nötigen Aufrichtigkeit oder Unbefangenheit fehlen läßt: es hat ja sogar der General von Bernhardi, einer der hervorragendsten Lehrer der Strategie, aber kein ebenso begabter Bibelleser, in einem seiner Werke nachzuweisen versucht, daß Christus den Krieg gepredigt habe, denn er habe gesagt: »Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert«: eine Auffassung, deren Widerlegung wohl überflüssig sein dürfte.
Gott und die Seele sind die einzigen Wirklichkeiten, die Welt aber ist das Unwirkliche: dies ist der Sinn der frohen Botschaft Jesu. Wahres Christentum will niemals die Welt »vervollkommnen«, weder sozial noch politisch noch ökonomisch, ja nicht einmal moralisch; denn es läßt sie gar nicht gelten, es bemerkt sie überhaupt nicht. Eine »gerechter geordnete« Gesellschaft, ein der »allgemeinen Wohlfahrt« besser angepaßtes Dasein: was haben diese oder ähnliche Ziele mit dem Heil der Seele zu tun? Hierin unterscheidet sich das Christentum wesentlich von den beiden anderen monotheistischen Religionen: es ist weder flach weltordnend wie die jüdische Sittenlehre noch barbarisch welterobernd wie der Islam; es ist nicht Verbesserung der Welt nach irgendwelchen noch so edeln oder vernünftigen Prinzipien, sondern Erlösung von der Welt mit allen ihren schädlichen und wohltätigen, bösen und guten Mächten; es kümmert sich immer nur um die Einzelseele, niemals um die »Allgemeinheit«, den »Fortschritt«, das »Gedeihen der Gattung« und derlei niedrige Dinge. Wenn wir nun die Reformation vorurteilslos betrachten: nicht als das, was sie ursprünglich theoretisch wollte, sondern als das, was sie tatsächlich als historische Realität geworden ist, so müssen wir sagen, daß sie einen Rückfall in die beiden anderen monotheistischen Bekenntnisse vorstellt: sie wurde im Luthertum mosaischer Moralismus, im Puritanertum mohammedanischer Imperialismus und bedeutet somit in ihren beiden Hauptformen die völlige Umkehrung und Verneinung des ursprünglichen Sinnes der Verkündigung Christi. Denn diese will gar nichts »reformieren«: ein so platter Begriff hat in ihr gar keinen Raum. Die Reformation ist nichts als ein tief irreligiöser Versuch, Religion zu erneuern. Wir müssen jedoch hinzufügen, daß sie hierin nur dem Zuge der Zeit folgte: sie konnte gar nicht anders, als sich von der Religion wegbewegen; auch die »Gegenreformation« ist ja nichts als ein Versuch, die Welt ganz mit demselben Apparat, den der Protestantismus anwendete, wieder katholisch zu machen. Die »heidnische« Renaissance, die Reformation und die Gegenreformation haben dieselbe Wurzel: sie führen alle drei von Gott weg.
Die Heiligung des irdischen Daseins, die die Reformation vollzog, war in ihrer Art zweifellos eine Befreiungstat; aber sie war doch auch ebensosehr eine Entheiligung, Trivialisierung, Entleerung. Der Alltag, in Bausch und Bogen göttlich gesprochen, läßt nun für jenen edeln und sublimen, ja heroischen Dualismus, der der Sinn des Mittelalters war, keinen Raum mehr. Und es besteht die Gefahr, daß eine solche Religiosität, wenn man von ihr die starke persönliche Frömmigkeit ihres Begründers abzieht, ins Philisterium. mündet, zur Lieblingskonfession des Bourgeois wird, der im Namen Gottes und ihm zum Wohlgefallen Kohl baut, Kinder zeugt und Bilanz macht. Die große Wahrheit, daß Staat und Wirtschaft, Beruf und Erwerb, Gesellschaft und Familie unheilige Dinge sind, droht zu entschwinden; und sie verschwand auch in der Tat.
Es gibt eine alte jüdische Sage, die aber nicht in der Bibel steht, wonach nicht bloß Kain den Unwillen Gottes erregte, sondern auch sein Bruder Habel, »denn er schaute die Herrlichkeit Gottes mehr, als statthaft war«: in müßiger Betrachtung. Es ist begreiflich, daß der Judengott das nicht gerne sah, im Grunde aber war Habel der erste Dichter und zugleich der erste homo religiosus. Wie jedoch der Christengott über die Frage dachte, was besser sei: Schaffen oder Schauen, Arbeiten oder Nichtstun, darüber gibt uns die Geschichte von Martha und Maria die deutlichste Antwort: Maria setzte sich zu den Füßen des Herrn und hörte auf seine Rede, Martha aber wurde abgezogen durch mancherlei Dienstleistung. Und sie sprach zum Heiland: »Herr, fragst du nicht danach, daß meine Schwester mich allein dienen läßt? Sage ihr doch, daß sie es mit mir angreife.« Der Herr aber antwortete: »Martha, Martha, du hast viele Sorge und Mühe. Weniges aber tut not oder vielmehr eines. Denn Maria hat das gute Teil erwählt, das darum nicht von ihr genommen werden soll.«
Alle Arbeit hat den großen Nachteil, daß sie den Menschen ablenkt, zerteilt, von sich selbst entfernt. Und daher kommt es, daß alle Heiligen, alle Religionsstifter, alle Menschen, die in größerer Nähe zu Gott lebten, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen pflegten. Was taten sie dort? Nichts. Aber dieses Nichtstun enthielt mehr Leben und innere Aktivität als alles Tun aller anderen. Der größte Mensch wird immer der sein, der ein Spiegel zu sein vermag: kein zitternder, getrübter, ewig bewegter, sondern ein klarer, reiner, ruhender Spiegel, der alles göttliche Licht in sich einsaugen kann. Selig sind die Müßigen, denn sie werden die Herrlichkeit Gottes schauen; selig sind die Stunden der Untätigkeit, denn in ihnen arbeitet unsere Seele.