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Drittes Kapitel

Die Inkubationszeit

Gehe deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung, nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurückzugehen! Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist.
Lessing

Die Erfindung der Pest

Wenn wir den Entwicklungsabschnitt, in dem sich der Mensch der Neuzeit vorbereitet, die »Inkubationszeit« nennen, so kann dadurch leicht der Eindruck erweckt werden, daß das Neue, das hier in die Welt trat, ein Giftstoff gewesen sei. Es war auch einer; wie wir später sehen werden. Jedoch dies nur zum Teil, denn auf unserem Erdball pflegt sich Heilsames und Verderbliches zumeist in gemischtem Zustand auszuwirken; und außerdem ist ja Vergiftung, wie wir im ersten Kapitel darzulegen versuchten, sehr oft die Form, hinter der sich eine Erneuerung, Bereicherung und Vervollkommnung des organischen Daseins zu verbergen liebt: wenn die Einführung scheinbar feindlicher, schädlicher und wesensfremder Stoffe an Pflanzen gefüllte Blüten, an Tieren neue Köpfe zu erzeugen vermag, warum sollte sie nicht an ganzen Zeitaltern ähnliche Wirkungen hervorbringen können: neue Köpfe wachsen machen, strotzendere, gefülltere, blütenreichere Lebensformen heraufführen? Doch wie dem auch sei: wir wollen mit dem Namen Inkubationszeit zunächst kein positives oder negatives Werturteil aussprechen, sondern einfach jene anderthalb Jahrhunderte bezeichnen, in denen das Neue im Schöße der Menschheit wächst, reift, ausgetragen wird, bis es schließlich stark und groß genug geworden ist, um ans Licht treten zu können.

Ich sagte: die Geburtsstunde der Neuzeit wird durch eine schwere Erkrankung der europäischen Menschheit bezeichnet: die schwarze Pest. Damit soll aber nicht ausgedrückt sein, daß die Pest die Ursache der Neuzeit war. Sondern es verhielt sich gerade umgekehrt: erst war die »Neuzeit« da, und durch sie entstand die Pest. In seinem ungemein gedankenreichen Werk »Gesundheit und Krankheit in der Anschauung alter Zeiten« sagt Troels-Lund: »Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Krankheiten ihre Geschichte haben, so daß jedes Zeitalter seine bestimmten Krankheiten hat, die so nicht früher aufgetreten sind und ganz so auch nicht wiederkehren werden.« Dies läßt sich offenbar nur so erklären, daß jedes Zeitalter sich seine Krankheiten macht, die ebenso zu seiner Physiognomie gehören wie alles andere, was es hervorbringt: sie sind gerade so gut seine spezifischen Erzeugnisse wie seine Kunst, seine Strategie, seine Religion, seine Physik, seine Wirtschaft, seine Erotik und sämtliche übrigen Lebensäußerungen, sie sind gewissermaßen seine Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiete des Pathologischen. Es ist der Geist, der sich den Körper baut: immer ist der Geist das Primäre, beim einzelnen wie bei der Gesamtheit. Wenn wir die – allerdings auf mehr als einer Seite hinkende – Vergleichung mit dem Individuum festhalten wollen, so müssen wir sagen: die schwarze Pest ist ebensowenig die Ursache der Neuzeit wie die Schwangerschaft die Ursache eines neuen Organismus ist, sondern hier wie dort besteht die wahre Ursache darin, daß ein neuer Lebenskeim in den Mutterkörper eintritt, und die Folge und der Ausdruck dieser Tatsache ist die Schwangerschaft. Der »neue Geist« erzeugte in der europäischen Menschheit eine Art Entwicklungskrankheit, eine allgemeine Psychose, und eine der Formen dieser Erkrankung, und zwar die hervorstechendste, war die schwarze Pest. Woher aber dieser neue Geist kam, warum er gerade jetzt, hier, wie er entstand: das weiß niemand; das wird vom Weltgeist nicht verraten.

Es ist auch völlig unenträtselt, unter welchen näheren Umständen die Pest, gemeinhin der schwarze Tod oder das große Sterben genannt, von Europa plötzlich Besitz ergriff. Einige behaupten, sie sei durch die Kreuzzüge eingeschleppt worden, aber es ist merkwürdig, daß sie unter den Arabern niemals auch nur annähernd jene Furchtbarkeit erreicht hat wie bei uns; andere verlegen ihren Ursprungsort bis nach China. Die Zeitgenossen machten die Konstellation der Gestirne, die allgemeine Sündhaftigkeit, die Unkeuschheit der Priester und die Juden für sie verantwortlich. Genug, sie war auf einmal da, zuerst in Italien; und nun schlich sie über den ganzen Erdteil. Denn sie verbreitete sich, was ihre Unheimlichkeit erhöhte, nicht reißend wie die meisten anderen Epidemien, sondern zog langsam, aber unaufhaltsam von Haus zu Haus, von Land zu Land. Sie ergriff Deutschland, Frankreich, England, Spanien, zuletzt die nördlichsten Länder bis nach Island hin. Was sie noch grausiger machte, war ihre Unberechenbarkeit: sie verschonte bisweilen ganze Landstriche, zum Beispiel Ostfranken, und übersprang einzelne Häuser, sie verschwand oft ganz plötzlich und tauchte nach Jahren wieder auf. Bis tief in die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts hinein wird ihr Erscheinen in den Chroniken immer wieder verzeichnet: »Pest in Böhmen«; »großes Sterben am Rhein«; »Pest in Preußen«; »Sterben auf dem Lande«; »allgemeines Sterbejahr«; »zehntausend sterben in Nürnberg«; »Pest in ganz Deutschland, starke Männer sterben, wenig Frauen, seltener Kinder«; »große Pestilenz in den Seestädten«. Es war allem Anschein nach eine Form der Bubonenpest: sie äußerte sich in Anschwellung der Lymphdrüsen, den sogenannten Pestbeulen, heftigem Kopfschmerz, großer Schwäche und Apathie, bisweilen aber auch in Delirien und führte nach den zeitgenössischen Berichten am ersten, zweiten, spätestens am siebenten Tage zum Tode. Die Sterblichkeit war überall entsetzlich. Während ihrer Höhezeit starben zum Beispiel in Bern täglich sechzig Menschen, in Köln und in Mainz täglich hundert, in Elbing im ganzen dreizehntausend; von der Oxforder Studentenschaft zwei Drittel, von der Yorkshirer Priesterschaft drei Fünftel; als die Minoriten nach dem Aufhören der zweijährigen Seuche ihre Toten zählten, waren es über hundertzwanzigtausend; der Gesamtverlust Europas hat nach neueren Berechnungen fünfundzwanzig Millionen betragen: die damalige Menschheit aber meinte, es sei leichter, die Übriggebliebenen zu zählen als die Umgekommenen.

Die Parallelepidemie

Eine Begleiterscheinung der Pest waren die Geißlerfahrten. Die Flagellanten, exaltierte Religiöse, zogen in großen Scharen von Ort zu Ort, fahnenschwingend, düstere Lieder singend, mit schwarzen Mänteln und absonderlichen Mützen bekleidet, von denen ein rotes Kreuz leuchtete. Bei ihrem Erscheinen läuteten alle Glocken, und alles strömte zur Kirche: dort warfen sie sich nieder und geißelten sich unter stundenlangen Liedern und Gebeten, verlasen vom Himmel gefallene Briefe, die das sündhafte Treiben der Laien und Pfaffen verdammten, und mahnten zur Buße. Ihre Doktrin, wenn man von einer solchen sprechen kann, war zweifellos häretisch: sie lehrten, daß die Geißelung das wahre Abendmahl sei, da sich dabei ihr Blut mit dem des Heilands vermische, erklärten die Priester für unwürdig und überflüssig und duldeten bei ihren Andachtsübungen keinen Geistlichen. Ihre Wirkung auf die verängstigte, an der Kirche und am Weltlauf verzweifelnde Menschheit war ungeheuer. Allmählich erhielten sie Verstärkung durch allerlei unreine Elemente: Abenteurer, Deklassierte, Bettelvolk, Maniker, Pervertierte; und es muß ein beispiellos aufwühlender Eindruck für die Zeitgenossen gewesen sein, aus Furcht und Hoffnung, Ekel und Gottesschauer seltsam gemischt, wenn diese grauenhafte Lawine von Fanatikern, Irrsinnigen und Verbrechern sich heranwälzte, schon von fernher durch ihren gruselig monotonen Gesang angekündigt: »Nun hebet auf eure Hände, daß Gott dies große Sterben wende! Nun hebet auf eure Arme, daß Gott sich über uns erbarme! Jesus, durch deine Namen drei, mach, Herre, uns von Sünden frei! Jesus, durch deine Wunden rot, behüt uns vor dem jähen Tod!«

Diese Geißlerfahrten waren jedoch keine einfache Folgeerscheinung der Pest, etwa der bloße Versuch einer Art religiöser Therapie, sondern höchstwahrscheinlich eine Parallelepidemie, ein weiteres Symptom der allgemeinen Psychose: die Pest war nur ein äußerlicher Anknüpfungspunkt. Für diese Annahme spricht die Tatsache, daß derartige seelische Massenerkrankungen zu jener Zeit auch unabhängig von der Pest auftraten. Schon ein Jahr vorher sah man Männer und Frauen Hand in Hand stundenlang im Kreise tanzen, in immer wilderer Raserei, bis sie, Schaum vor dem Munde, halb ohnmächtig zu Boden sanken; während des Tanzes hatten sie epileptoide Anfälle und Visionen. Es war dies der bekannte Veitstanz, der sehr bald größere Kreise ergiff, in seinem weiteren Verlauf immer mehr einen sexuellen Charakter annahm und schließlich eine Art Mode wurde, so daß Vagabunden sich dadurch, daß sie die Zuckungen nachahmten, ihren Unterhalt verdienen konnten. In denselben Zusammenhang gehört der merkwürdige Kreuzzug der Kinder von Schwäbisch-Hall, die, plötzlich von einer religiösen Hypnose erfaßt, zur Verehrung des Erzengels Michael nach dem Heiligen Michaelsberg in der Normandie aufbrachen. Die Fixierung an diese Idee war so stark, daß Kinder, die man mit Gewalt zurückhielt, schwer erkrankten, ja zum Teil den Geist aufgaben.

Die Brunnenvergifter

Einen pathologischen und epidemischen Charakter trugen auch die damaligen Judenverfolgungen, aber man kann nicht sagen, daß wir es hier mit einer Erscheinung zu tun haben, die nicht zu allen Zeiten möglich wäre. Plötzlich sprang in Südfrankreich das Gerücht auf, die Juden hätten die Brunnen vergiftet, und drang, schneller als die Pest, in die benachbarten Länder. Es kam zu scheußlichen Judenschlächtereien, bei denen die Geißler die Stoßtruppe bildeten und die Juden jenen blinden Heroismus bekundeten, der in ihrer ganzen Geschichte von Nebukadnezar und Titus bis zu den russischen Pogromen zutage tritt. Mütter, die ihre Gatten auf dem Scheiterhaufen verbrennen sahen, stürzten sich mit ihren Kindern zu ihnen in die Flammen; in Eßlingen versammelte sich die gesamte Judenschaft in der Synagoge und zündete sie freiwillig an; in Konstanz hatte ein Jude sich aus Angst vor dem Feuertode taufen lassen, wurde aber später von Reue ergriffen und verbrannte sich und seine ganze Familie in seinem Hause. Die Judenverfolgungen hatten in erster Linie religiöse, daneben aber sicher auch soziale Gründe. Die Stellung der damaligen Welt zur Judenfrage war eine zwiespältige. Die geistlichen und weltlichen Machthaber tolerierten die Juden, ja ließen ihnen sogar eine gewisse Protektion angedeihen; sie konnten sie nicht gut entbehren, nicht nur wegen ihrer größeren wirtschaftlichen Begabung, die damals noch viel mehr ins Gewicht fiel als heutzutage, sondern auch wegen ihrer höheren Bildung: sie waren an den Höfen als Vermittler der arabischen Kultur und besonders auch als Ärzte geschätzt; vor allem aber waren sie ein ebenso ergiebiges wie handliches Besteuerungsobjekt: unter den Einnahmequellen, die den einzelnen Herrschaften als Privilegien verliehen werden, figurieren neben dem Münzrecht, dem Zoll, den Salinen und dergleichen auch immer die Juden. Das Volk aber hatte niemals vergessen, daß es die Juden gewesen waren, die den Heiland getötet hatten, und wenn einzelne milddenkende Prediger einzuschärfen versuchten, daß man für diese Schuld nicht alle Nachkommen verantwortlich machen dürfe, so lag der Einwand nahe, daß ja die Judenschaft bis zum heutigen Tage das Evangelium verleugne und sogar insgeheim befehde; und mit diesem in der Tat ungeheuerlichen Faktum, daß unter allen Kulturvölkern des Abendlandes das kleinste, schwächste und verstreuteste sich als einziges dem Licht des Christentums hartnäckig entzogen hat, vermochte man sich in der damaligen Zeit noch nicht psychoanalytisch abzufinden. Dazu kam nun noch die wirklich harte Bedrückung durch den jüdischen Wucher. Die Juden waren die einzigen, denen ihre Relgion das Zinsnehmen nicht verbot, ja es mochte in ihren Augen sogar verdienstlich erscheinen, den irrgläubigen »Goj« möglichst zu schädigen, und zudem waren ihnen alle anderen Berufe verschlossen, da selbstverständlich nur ein Christ in eine Zunft aufgenommen werden konnte. Und so gab es nicht wenige, die es bei diesen Verfolgungen weniger auf die Verbrennung der Juden abgesehen hatten als auf die Verbrennung der Schuldbriefe. »Ihr Gut«, sagt ein zeitgenössischer Chronist, »war das Gift, das sie getötet hat.«

Kosmischer Aufruhr

Aber nicht bloß die Menschen, auch Himmel und Erde waren in Aufruhr. Unheildrohende Kometen erschienen, in England wüteten furchtbare Stürme, wie sie nie vorher und nie nachher erlebt worden sind, riesige Heuschreckenschwärme suchten die Felder heim, Erdbeben verheerten das Land: Villach wurde mit dreißig umhegenden Ortschaften verschüttet. Der Boden verweigerte seine Gaben: Mißwachs und Dürre verdarben allenthalben die Ernte. Es handelte sich bei diesen Erscheinungen weder um »zufällige Naturspiele« noch um »abergläubische Auslegungen« der Zeitgenossen. Wenn es wahr ist, daß damals ein großer Ruck, eine geheimnisvolle Erschütterung, ein tiefer Konzeptionsschauer durch die Menschheit ging, so muß auch die Erde irgend etwas Ähnliches durchgemacht haben, und nicht bloß die Erde, sondern auch die Nachbarplaneten, ja das ganze Sonnensystem. Die Zeichen und Wunder, die die »beschränkte Leichtgläubigkeit« jener Zeit erblickte, waren wirkliche Zeichen, deutliche Äußerungen eines wunderbaren Zusammenhanges des gesamten kosmischen Geschehens.

Weltuntergang

Der Mensch aber, durch so viel Schlimmes und Widerspruchsvolles an Gegenwart und Zukunft irre geworden, taumelte erschreckt umher und spähte nach etwas Festem. Die Ernsten zogen sich gänzlich auf ihren Gott oder ihre Kirche zurück, fasteten, beteten und taten Buße. Die Leichtfertigen stürzten sich in ein zügelloses Welttreiben, öffneten der Gier und dem Laster alle Ventile und machten sich aus dem Leben eine möglichst fette Henkersmahlzeit. Viele erwarteten das Jüngste Gericht. In alledem: in den pessimistischen und asketischen Strömungen ebensogut wie in der ungesund aufgedunsenen »Lebensfreude«, die bloß eine Art Tuberkulosensinnlichkeit und Déluge-Genußsucht war, zittert eine allgemeine Weltuntergangsstimmung, die, ausgesprochen oder unausgesprochen, bewußt oder unbewußt, das ganze Zeitalter durchdringt und beherrscht.

Und der Instinkt der Menschen hatte vollkommen recht: die Welt ging auch wirklich unter. Die bisherige Welt, jene seltsam enge und lichte, reine und verworrene, beschwingte und gebundene Welt des Mittelalters versank unter Jammer und Donner in die finsteren Tiefen der Zeit und der Ewigkeit, von denen sie nie wieder zurückkehren wird.

Entthronung der Universalien

Das Fundament, auf dem die Weltanschauung des Mittelalters ruhte, war der Grundsatz: das Reale sind die Universalien. Wirklich ist nicht das Individuum, sondern der Stand, dem es angehört. Wirklich ist nicht der einzelne Priester, sondern die katholische Kirche, deren Gnadengaben er spendet: wer er ist, bleibt ganz gleichgültig, er kann ein Prasser, ein Lügner, ein Wüstling sein, das beeinträchtigt nicht die Heiligkeit seines Amtes, denn er ist ja nicht wirklich. Wirklich ist nicht der Reiter, der im Turnier sticht, um Minne wirbt, im gelobten Lande streitet, sondern das große Ideal der ritterlichen Gesellschaft, das ihn umfängt und emporträgt. Wirklich ist nicht der Künstler, der in Stein und Glas dichtet, sondern der hochragende Dom, den er in Gemeinschaft mit vielen geschaffen hat: er selbst bleibt anonym. Wirklich sind auch nicht die Gedanken, die der menschliche Geist in einsamem Ringen ersinnt, sondern die ewigen Wahrheiten des Glaubens, die er nur zu ordnen, zu begründen und zu erläutern hat.

Alle diese Vorstellungen beginnen sich aber am Ende des Mittelalters zu lockern und zu verflüssigen, um sich schließlich in ihr völliges Gegenteil umzukehren. Der große Johannes Duns, wegen seiner Abstammung Scotus, wegen der Feinheit und Schärfe seiner Distinktionen doctor subtilis genannt, Schulhaupt der Scotisten, im Jahr 1308, erst vierunddreißigjährig, gestorben, ist noch gemäßigter Realist: er meint, alle Wissenschaft müßte sich auflösen, wenn das Allgemeine, das doch das Ziel aller wissenschaftlichen Erkenntnis sei, in bloßen Vernunftbegriffen bestünde. Aber er erklärt zugleich, daß die Realität sich sowohl gegen die Allgemeinheit wie gegen die Individualität indifferent verhalte und daher beides in sich verkörpern könne; und ein andermal sagt er geradezu: die Individualität sei nicht eine mangelhaftere, sondern eine vollkommenere Wirklichkeit, sie sei ultima realitas. Und der Franziskaner Pierre Aureol, dessen etwas später verfaßte Schriften obskur geblieben sind, ist bereits Konzeptualist, das heißt: er erklärt die Universalien für bloße Begriffe, conceptus, die von den Einzeldingen abgezogen seien und in der Natur nicht vorkämen; an Sokrates sei nur die Socratitas wirklich, nicht die humanitas. Noch viel weiter aber ging der eigentliche Begründer des Nominalismus und berühmteste Schüler des Schotten, Wilhelm von Occam, der doctor singularis, venerabilis inceptor und doctor invincibilis, gestorben im Jahr der schwarzen Pest. Zunächst erklärt er ebenfalls, das Allgemeine sei ein bloßer conceptus mentis, significans univoce plura singulari, es existiere nicht in den Dingen, sondern nur im denkenden Geiste; daraus, daß wir mit Hilfe allgemeiner Begriffe erkennen, folge nicht, daß das Allgemeine Realität habe. Von da schreitet er aber zu einem vollkommenen Phänomenalismus fort. Hatte Duns in den Vorstellungen noch wirkliche Abbilder der Dinge erblickt, so sieht Occam in ihnen nur noch Zeichen, signa, die in uns durch die Dinge hervorgerufen und von uns auf die Dinge bezogen werden, ihnen aber deshalb keineswegs ähnlich zu sein brauchen, wie ja auch der Rauch ein Zeichen des Feuers und der Seufzer ein Zeichen des Schmerzes sei, ohne daß der Rauch mit dem Feuer, der Seufzer mit dem Schmerz irgendeine Ähnlichkeit habe. Und im weiteren Verlauf der Deduktionen gelangt er zu einem eigenartigen Indeterminismus. Gott ist an keinerlei Gesetze gebunden, nichts geschieht mit Notwendigkeit: sonst wäre die Tatsache des Zufalls und des Bösen in der Welt unerklärlich. Gott mußte nicht gerade diese Welt schaffen, er hätte auch eine ganz andere schaffen können, auch gar keine. Es gibt auch keine allgemein gültigen ethischen Normen: Gott hätte auch Taten der Lieblosigkeit und des Eigennutzes für verdienstlich erklären können. Der Dekalog ist kein absolutes Sittengesetz, er hat nur bedingte Gültigkeit. Er verbietet den Mord, den Diebstahl, die Polygamie. Aber Abraham wollte seinen Sohn opfern, die Israeliten nahmen die goldenen Gefäße der Ägypter mit, die Patriarchen betrieben Vielweiberei; und Gott hat es gebilligt. Diese Darlegungen (die zum Teil von Occam, zum Teil schon von Duns Scotus herrühren) wollen offenbar besagen: Gott steht jenseits von Gut und Böse. Den Gipfel der Occamschen Philosophie bildet aber das Bekenntnis zum Irrationalismus und Agnostizismus: alle Erkenntnis, die über die unmittelbare Augenblickserfahrung hinausgeht, ist Sache des Glaubens; Gott ist unerkennbar, sein Dasein folgt nicht aus seinem Begriff; die Existenz einer ersten Ursache ist unerweisbar, es könnte auch eine unendliche Reihe von Ursachen geben; mehrere Welten mit verschiedenen Schöpfern sind denkbar; Trinität, Inkarnation, Unsterblichkeit der Seele können niemals den Gegenstand logischer Demonstration bilden.

Christus im Esel

Man würde aber sehr irren, wenn man nach alledem in Occam einen Freigeist, etwa einen Vorläufer Voltaires oder Nietzsches erblicken wollte. Occam war zwar ein energischer Anhänger der damaligen »Modernisten«, die gegen die Alleinherrschaft des Papstes und für die Unabhängigkeit des Kaisers und der Bischöfe kämpften, aber er war gleichwohl streng gläubig: seine skeptischen und kritischen Grübeleien sind gerade der stärkste Ausdruck seiner Religiosität. Der Gedanke der unbegrenzten göttlichen Willkür hat für ihn nichts Aufreizendes, sondern etwas Beruhigendes: seine Gottesunterwürfigkeit kann sich nur in der Vorstellung einer durch nichts, auch nicht Kausalität und Moral eingeschränkten Allmacht Genüge tun; dadurch, daß er die Unbeweisbarkeit der christlichen Mysterien betont, entzieht er sie ein für allemal jedem Angriff und Zweifel; und durch die Einsicht in die Unverständlichkeit, ja Widersinnlichkeit der Kirchenlehren wird der Glaube für ihn erst zu einem Verdienst. Das Prinzip des credo quia absurdum hat durch ihn noch einmal in gewaltiger Stärke und feinster Vergeistigung seine höchste und letzte Zusammenraffung erfahren. Der Nachdruck liegt bei ihm noch vollkommen auf dem credo: daß Glauben und Wissen zweierlei sind, gerade das rettet den Glauben. Wie aber, wenn die Menschen es sich eines Tages einfallen ließen, den Akzent auf das absurdum zu legen und zu folgern: daß Glauben und Wissen zweierlei sind, das vernichtet den Glauben und rettet das Wissen? Ein flacher, aber höchst gefährlicher Gedanke; auf den Occam aber noch nicht gekommen ist. Vielmehr ist er unermüdlich bemüht, alle möglichen Widersinnigkeiten herbeizuschleppen, um sie mit dem Glauben in Verbindung zu bringen. So spricht er einmal einen Satz aus, der uns wie eine furchtbare Blasphemie anmutet, zu seiner Zeit aber nicht den geringsten Anstoß erregt hat: wenn es Gott gefallen hätte, so hätte er sich gerade so gut in einem Esel verkörpern können wie in einem Menschen.

An diesem Beispiel, dem man viele ähnliche an die Seite setzen könnte, sieht man deutlich, wie das Prinzip der Widervernünftigkeit bei Occam über sein Ziel hinausschießt, sich überschlägt und schließlich gegen sich selbst wendet und wie es gänzlich wesensverschieden ist von der naiven Wundergläubigkeit des Mittelalters. Ganz ohne Occams Wissen und Willen wechselt es sozusagen die Pointe und erscheint plötzlich mit umgekehrtem Vorzeichen. Er überspannt die Sache: so daß sie reißen muß; er spitzt sie übermäßig zu: so daß sie abbrechen muß.

Völlig bewußt aber war ihm sein Nominalismus. Die fünfhundertjährige Arbeit der Scholastik mündet in einen Satz, der die ganze Scholastik aufhebt: die Universalien sind nicht wirklich, sie sind weder ante rem noch in re, sondern post rem, ja noch mehr, sie sind pro re: bloße stellvertretende Zeichen und vage Symbole der Dinge, vocalia, termini, flatus vocis, nichts als künstliche Hilfsmittel zur bequemeren Zusammenfassung, im Grunde ein leerer Wortschwall: universalia sunt nomina.

Der Sieg des Nominalismus ist die wichtigste Tatsache der neueren Geschichte, viel bedeutsamer als die Reformation, das Schießpulver und der Buchdruck. Er kehrt das Weltbild des Mittelalters vollständig um und stellt die bisherige Weltordnung auf den Kopf: alles übrige war nur die Wirkung und Folge dieses neuen Aspekts.

Die zwei Gesichter des Nominalismus

Der Nominalismus hat ein Doppelantlitz, je nachdem man das Schwergewicht in sein negatives oder sein positives Ergebnis verlegt. Die negative Seite leugnet die Realität der Universalien, der Kollektivvorstellungen, der übergeordneten Ideen: aller jener großen Lebensmächte, die das bisherige Dasein erfüllt und getragen hatten, und ist daher identisch mit Skepsis und Nihilismus. Die positive Seite bejaht die Realität der Singularien, der Einzelvorstellungen, der körperlichen Augenblicksempfindungen: aller jener Orientierungskräfte, die das Sinnendasein und die Praxis der Tageswirklichkeit beherrschen, und ist daher identisch mit Sensualismus und Materialismus. Wie diese beiden neuen Dominanten sich im Leben der Zeit auswirkten, das werden wir jetzt etwas näher zu betrachten haben.

Dämmerzustand

Es war, als ob die Menschheit plötzlich ihr statisches Organ verloren hätte. Es ist dies im Grunde der Charakter aller Werde- und Übergangszeiten. Das Alte gilt nicht mehr, das Neue noch nicht, es ist eine Stimmung wie während einer Nordnacht: das gestrige Licht schwimmt noch trübe am fernen Horizont, das morgige Licht tagt eben erst schwach herauf. Es ist ein vollkommener Dämmerzustand der Seele: alles liegt in einem Zwielicht, alles hat einen doppelten Sinn. Man vermag die Züge der Welt nicht mehr zu entziffern. Wir könnten auch sagen, es sei wie bei Abendeinbruch: zum Lesen bei der Sonne schon zu dunkel, zum Lesen bei der Lampe noch zu hell; und wir werden später sehen, daß dieses Bild, auf den Beginn der Neuzeit angewendet, sogar einen ganz besonderen Nebensinn hat: bei dem natürlichen Licht Gottes im Buche der Welt zu lesen, hatten die Menschen schon verlernt; und bei dem künstlichen Licht der Vernunft, das sie sich bald selbst anzünden sollten, vermochten sie es noch nicht.

Folie circulaire

Die Folge einer solchen vollkommenen Desorientierung ist zunächst ein tiefer Pessimismus. Weil man an den Mächten der Vergangenheit verzweifeln muß, verzweifelt man an allen Mächten; weil die bisherigen Sicherungen versagen, glaubt man, es gebe überhaupt keine mehr. Die zweite Folge ist ein gewisser geistiger Atomismus. Die Vorstellungsmassen haben keinen Gravitationsmittelpunkt, keinen Kristallisationskern, um den sie sich anordnen könnten, sie werden zentrifugal und lösen sich auf. Und da es an einer übergeordneten Zentralidee fehlt, so ist auch das Willensleben ohne Direktive, was sich aber ebensowohl in Abulie wie in Hyperbulie, in Hemmungsneurosen wie in Entladungsneurosen äußern kann. Die Menschheit verfällt abwechselnd in äußerste Depression und Lethargie, in stumpfe Melancholie und Reglosigkeit oder in die maniakalischen Zustände eines pathologischen Bewegungsdrangs: es ist jenes Krankheitsbild, das die Psychiatrie als folie circulaire beschreibt. Und schließlich kann es nicht ausbleiben, daß der Mangel an Fixierungspunkten sich auch in der Form der Perversität äußert: auf allen Gebieten, in Linien, Farben, Trachten, Sitten, Denkweisen, Kunstformen, Rechtsnormen wird das Bizarre, Gesuchte, Verborgene, Verzerrte, das Disharmonische, Stechende, Überpfefferte, Abstruse bevorzugt: man gelangt zu einer Logik des Widersinnigen, einer Physik des Widernatürlichen, einer Ethik des Unsittlichen und einer Ästhetik des Häßlichen. Es ist wie bei einem Erdbeben; die Maßstäbe und Richtschnüre der gesamten normalen Lebenspraxis versagen: die tellurischen, die juristischen und die moralischen.

Anarchie von oben

Alles wankte. Die beiden Koordinatenachsen, nach denen das ganze mittelalterliche Leben orientiert war, Kaisertum und Papsttum, beginnen sich zu verwischen, werden bisweilen fast unsichtbar. In der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts sah das Reich die seltsame Farce einer gemeinsamen Doppelregierung Ludwigs von Bayern und Friedrichs von Österreich, und von da an kam es nicht mehr zur Ruhe, bis das Jahr 1410 drei deutsche Könige brachte: Sigismund, Wenzel und Jost von Mähren. Und fast genau um dieselbe Zeit, im Jahr 1409, erlebte die Welt das Unerhörte, daß drei Päpste aufstanden: ein römischer, ein französischer und ein vom Konzil gewählter. Dies hieß für die damaligen Menschen ungefähr so viel, wie wenn man ihnen plötzlich eröffnet hätte, es habe drei Erlöser gegeben oder jeder Mensch besitze drei Väter. Und da sowohl Kaiser wie Päpste sich gegenseitig für Usurpatoren, Gottlose und Betrüger erklärten, so lag es nahe, sie auch wirklich dafür zu halten, alle drei, ja noch mehr: in ihrem ganzen Amt keine gottgewollte, sondern eine erschlichene Würde, nicht mehr den Gipfel geistlicher und weltlicher Hoheit, sondern einen erlogenen Scheinwert zu erblicken und den Schluß des Nathan zu machen: »Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren.« Schon die bloße Möglichkeit der Tatsache eines Schismas mußte die Idee des Papsttums entwurzeln und aushöhlen.

Auflockerung der Stände

Wir haben also hier den Fall, daß die Auflösung zuerst das Haupt ergriff, daß die Anarchie bei der obersten Spitze der Gesellschaft ihren Anfang machte. Aber alsbald begann sie alle Schichten zu ergreifen. Eine allgemeine Deroute ist die soziale Signatur des Zeitalters. Die Vasallen leisten nur noch Heeresfolge, wenn es ihnen beliebt oder persönlichen Nutzen verspricht: das Verhältnis der vielbesungenen mittelalterlichen Lehenstreue verwandelt sich in ein kühl geschäftsmäßiges, das nicht mehr durch Pietät, sondern durch Opportunität bestimmt wird. Die Hörigen verlassen ihre Scholle, mit der sie bisher ein fast pflanzlich verbundenes Dasein geführt hatten; in den Städten sinkt das Patriziat, bisher durch Geburt und Tradition herrschberechtigt, aber in der Gewohnheit des Besitzes allmählich erschlafft und verrottet, als trüber Bodensatz nach unten und neue frische Kräfte, unbeschwert durch Vorurteile und Vergangenheit, steigen aus den Niederungen nach oben; und schon melden sich, ihnen nachdrängend, die völlig Deklassierten und Enterbten, die Mühseligen und Beladenen mit allerlei kommunistischen Programmen, die damals noch eine christliche Färbung hatten. Und die Stände gelten überhaupt als nichts Heiliges mehr, sie befehden sich gegenseitig mit giftigem Spott und maßloser Verachtung, wovon die Dichtung der Zeit ein scharfes Spiegelbild bietet: der Bauer wird in den städtischen Fastnachtsspielen so gut wie in den letzten dünnen Nachklängen der ritterlichen Epik als roher Schwachkopf, als eine Art dummer August verhöhnt; aber er bleibt die Antwort nicht schuldig und zeigt in den Erzählungen vom Till Eulenspiegel, kostbaren Gemeinheiten voll Saft und Niedertracht, wie der Bauer sich nur dumm stellt, um den Städter aufs empfindlichste zu blamieren und zu prellen. Die Verkommenheit des Adels wiederum ist ein stehendes Thema der ganzen zeitgenössischen Dichtung, und die Sittenlosigkeit des Klerus hat im »Reineke Fuchs« eine vernichtende satirische Behandlung erfahren. Aber so hochmütig und lieblos auch jeder gegen den fremden Stand loszieht, es will doch keiner in seinem eigenen bleiben, denn das mittelalterliche Prinzip, daß der Stand dem Menschen angeboren ist wie seine Haut, hat längst nicht mehr Geltung: der Bauer will ein feingekleideter Städter werden, der Städter ein eisenbeschienter Ritter, Bauern fordern sich zu lächerlichen Zweikämpfen heraus, Handwerkerinnungen sagen einander Fehde an, der Ritter wieder blickt voll Neid auf den Bürger und seinen behaglichen Wohlstand. Das Schicksal der Torheit, die ihren natürlichen Platz verachtet und unzufrieden nach dem Los der anderen schielt, hat im »Meier Helmbrecht« eine erschütternd lebensvolle Darstellung gefunden: es ist die Geschichte eines reichen Bauernsohns, der um jeden Preis Ritter werden will und dabei elend zugrunde geht. Und in demselben Roman sehen wir auch, wie die Familie kein heiliges Band mehr ist: Sohn und Tochter sprechen von ihren Eltern in Ausdrücken, die selbst heute Befremden erregen würden. Alle diese Auflockerungen und Unterwühlungen vollzogen sich jedoch nirgends in langsamer, friedlicher Entwicklung, sondern die Zeit ist ein riesiges Schlachtfeld voll unaufhörlicher innerer und äußerer, offener und unterirdischer Fehden: Kampf der Konzilien gegen die Päpste, der Päpste gegen die Kaiser, der Kaiser gegen die Fürsten, der Fürsten gegen die Stadtherren, der Stadtherren gegen die Zünfte, der Zünfte gegen die Pfaffen und aller untereinander.

Erkrankung des metaphysischen Organs

Gegenüber einem solchen katastrophalen Zusammenbruch aller Werte, einer solchen radikalen Lösung aller Bindungen gibt es nur zwei Positionen: vollkommene Kritiklosigkeit, blinde Prostration vor dem Schicksal: Fatalismus, oder Hyperkritik, gänzliche Leugnung jeglicher Nezessität: Subjektivismus. Den ersten Standpunkt nehmen die Scotisten ein. Sie wenden sich gegen die Thomisten, die behauptet hatten, alles Vernünftige sei gottgewollt, und erklären: alles Gottgewollte sei vernünftig; man dürfe nicht sagen: Gott tut etwas, weil es gut ist, sondern: etwas ist gut, weil Gott es tut. Die subjektivistische Anschauung vertraten die »Brüder vom freien Geiste«, die »fahrenden Begharden«, zügellose Banden, die in der Rheingegend und anderwärts ihr Wesen trieben und vom Bettel, aber auch von Erpressung und Raub lebten, den sie für erlaubt erklärten, da Privatbesitz Sünde sei. Ihre Lehre verbreiteten sie in Predigten und Flugschriften und in Diskussionen, bei denen sie viel Scharfsinn und Schlagfertigkeit entwickelt haben sollen: ihre »behenden Worte« waren berühmt und gefürchtet. Ihre Hauptsätze lauteten: ein überweltlicher Gott existiert nicht: der Mensch ist Gott; da der Mensch Gott gleich ist, so bedarf er keines Mittlers: das Blut eines guten Menschen ist ebenso verehrungswürdig wie das Blut Christi; sittlich ist, was die Brüder und Schwestern sittlich nennen; die Freiheit kennt keine Regel, also auch keine Sünde: vor dem »Geist« gibt es weder Diebstahl noch Hurerei; das Reich Gottes und die rechte Seligkeit sind auf Erden: darin besteht die wahre Religion. Kurz: das nur auf sich selbst gestellte, durch keinerlei Gewissensskrupel belastete Ich ist der wahre Christus.

Beide Standpunkte sind nihilistisch. Der Scotismus betont die Allmacht und alleinige Realität Gottes so stark, daß er das Ich auslöscht; das Stirnertum der Begharden betont die Allmacht und alleinige Realität des Ichs so stark, daß es Gott auslöscht. Man könnte auf den ersten Blick glauben, daß der Scotismus der Gipfelpunkt der Religiosität sei, aber bei näherer Betrachtung erkennt man: er wurzelt nicht im höchsten Vertrauen in die göttliche Vernunft, sondern in der tiefsten Verzweiflung an der menschlichen Vernunft. Es ist dieselbe Exaltation des Gefühls, dieselbe Erkrankung des metaphysischen Organs, die aus beiden Lehren spricht. Übermäßige Hitze und übermäßige Kälte pflegen die gleichen physiologischen Wirkungen zu erzeugen. Und so sehen sich die Sätze, die aus diesen beiden polaren Weltanschauungen hervorgehen, oft zum Verwechseln ähnlich, und viele Aussprüche der ausgehenden Scholastik unterscheiden sich, wie wir bei Occam gesehen haben, von äußersten Gotteslästerungen nur noch durch ihre Tendenz.

Praktischer Nihilismus

Und zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts beginnt der Nihilismus des Zeitalters auch praktisch zu werden: in der Hussitenbewegung, in der zum erstenmal der idealistische Zerstörungstrieb des Slawentums auf dem Schauplatz der europäischen Geschichte erscheint. Durch die kurzsichtige, grausame und hinterhältige Politik der Gegner zu übermenschlichen Energieleistungen aufgestachelt, haben die tschechischen Heere Taten vollbracht, die der Schrecken und das Staunen der Zeit waren: sie haben eine ganz moderne Taktik erfunden, die sich als unwiderstehlich erwies, und, emporgetragen von dem dreifachen Auftrieb der religiösen, der nationalen und der sozialen Begeisterung, alles niedergerannt, was sich ihnen in den Weg stellte. Die wilde Flut des Hussitentums trat sehr bald über die Grenzen des eigenen Landes und überschwemmte halb Deutschland, überall mit einem sinnlosen Vandalismus wütend, der ohne Gewinnsucht und ohne Rachsucht nur vernichtet, um zu vernichten: es ist der blinde, ratlose Haß des Slawentums gegen die Realität, der es allein verständlich macht, daß die Russen jahrhundertelang den Zarismus ertragen haben und jetzt vielleicht wieder jahrhundertelang die Sowjetherrschaft ertragen werden.

Die Situation, in der sich die Seele damals befand, läßt sich in den Worten zusammenfassen, mit denen Petrarca die Zustände am päpstlichen Hof zu Avignon schildert: »Alles Gute ist dort zugrunde gegangen, zuerst die Freiheit, dann die Ruhe, die Freude, die Hoffnung, der Glaube, die Liebe: ungeheure Verluste der Seele. Aber im Reiche der Habsucht wird das nicht als Schaden gerechnet, wenn nur die Einkünfte ungeschmälert bleiben. Das zukünftige Leben gilt da als eine leere Fabel, was von der Hölle erzählt wird: alles Fabeln, die Auferstehung des Fleisches, der Jüngste Tag, Christi Gericht: lauter Torheiten. Wahrheit hält man dort für Wahnsinn, Enthaltsamkeit für Unsinn, Scham für Schande, ausschweifende Sünde für Großherzigkeit; je befleckter ein Leben ist, desto höher wird es gewertet, und der Ruhm wächst mit dem Verbrechen.«

Gesteigertes Wirtschaftsleben

Es ist aber jetzt an der Zeit, auch die positiven Züge des Zeitalters ins Auge zu fassen. Sie äußerten sich, wie bereits angedeutet wurde, in der Richtung des Materialismus. Es ist eine Zeit außerordentlichen wirtschaftlichen Aufschwungs, und zwar sowohl eines inneren wie eines äußeren: einer zunehmenden Rationalisierung und Verfeinerung der Produktion und einer wachsenden Ausdehnung und Ergiebigkeit des Güterverkehrs. Es fragt sich nun: war der immer mehr um sich greifende Materialismus eine Folge des gesteigerten Wirtschaftslebens, oder verhielt es sich umgekehrt? Nach allen bisherigen Erörterungen wird der Leser nicht im Zweifel sein, daß wir uns nur für die zweite Antwort entscheiden können. Zuerst ist eine bestimmte Seelenverfassung, eine bestimmte Gesinnung da, und aus dieser geht dann ein bestimmter Entwicklungsgrad der ökonomischen Zustände hervor. Ist der Mensch mit seinem Interesse vorwiegend auf die unsichtbare Innenwelt seines Geistes und Gemütes oder auf die geheimnisvolle Oberwelt Gottes und des Jenseits gerichtet, so wird er starke und fruchtbare Schöpfungen auf dem Gebiete des Glaubens, des Denkens, des Gestaltens hervorbringen, sein Wirtschaftsleben aber wird einförmig und primitiv bleiben; lenkt er sein Augenmerk am intensivsten auf die greifbare, sichtbare, schmeckbare Umwelt, so kann es unter gar keinen Umständen ausbleiben, daß er eine hohe wirtschaftliche Blüte erlangt: neue Werkzeuge und Techniken erfindet, neue Bereicherungsquellen entdeckt, neue Formen des Komforts und des Genusses ins Leben ruft und sich zum Herrn der Materie macht.

In den Wirtschaftsgeschichten wird viel von den »fördernden Umständen«, den »günstigen Bedingungen« geredet. Aber die Bedingungen und Umstände sind immer da, sie werden nur in den verschiedenen Zeitaltern verschieden ausgenutzt. Und selbst wenn sie nicht da wären, so würde der wirtschaftliche Wille, wenn er nur mächtig genug ist, sie aus dem Nichts hervorzaubern und sich gewaltsam jede Bedingung zur »günstigen« und jeden Umstand zum »fördernden« umprägen.

Infolge des rapiden Verfalls von Byzanz hatte der Levantehandel, der wichtigste für Europa, allmählich die alte Donaustraße aufgegeben und den Seeweg eingeschlagen. Im vierzehnten Jahrhundert finden wir in Italien eine Reihe wahrhaft königlicher Stadtrepubliken, an der Spitze die venezianische, die unumschränkte Herrin des ganzen östlichen Mittelmeerbeckens, das sie sich (in der Art, wie das heute England tut) durch eine Reihe wertvoller Stützpunkte: Dalmatien, Korfu, Kreta, Zypern dauernd gesichert hatte. Die Gebiete der Nord- und Ostsee beherrschte mit fast ebenso absoluter Machtvollkommenheit die Hanse, jene eigenartige Organisation von Kaufleuten, die – lediglich auf der Basis privater Verträge, von keinem Landesherrn verteidigt und selber nur selten zum Schwert greifend – anderthalb Jahrhunderte lang über ungeheure Land- und Wasserstrecken eine souveräne Handelsdiktatur ausgeübt hat. Und zwischen diesen beiden Riesenmächten des Nordens und Südens entfaltete sich eine Fülle kleinerer, aber höchst ansehnlicher Wirtschaftszentren: von Oberitalien eine emsig belebte Handelslinie rheinabwärts nach Flandern, Frankreich und England, das damals noch völlig zurückstand (die hansischen Kaufleute pflegten zu sagen: wir kaufen vom Engländer den Fuchspelz um einen Groschen und verkaufen ihm dann den Fuchsschwanz um einen Gulden); im Westen ein Kranz blühender Seestädte; in Mitteldeutschland ein Kreis vielgepriesener Handwerkerstädte; Tuchstädte, Bierstädte, Seidenstädte, Heringsstädte: ein bienenfleißiges Hämmern, Weben, Feilschen, Verladen von Gotland bis Neapel.

Heraufkunft der Zünfte

Die mittelalterliche Gesellschaft hatte ihre Physiognomie durch den Ritter und den Kleriker erhalten; jetzt wird der Bürger und der Handwerker tonangebend und sogar der Bauer beginnt sich zu fühlen: die drei realistischen Berufe. Diese Umwälzung der sozialen Wertungen vollzieht sich in erster Linie durch das allmähliche Heraufsteigen der Zünfte. Wir haben bereits erwähnt, daß die Herrschaft der sogenannten »Geschlechter«, die eine Art Bürgeradel darstellten, im Laufe des vierzehnten Jahrhunderts fast überall gestürzt wurde. Sie waren die Alten, die Satten, die trägen Erben, die stumpfen Männer des Gestern. Die Zunftleute aber waren die Modernen jener Zeit, die den Sinn der Lebensmächte, die sich zur Herrschaft anschickten, in sich aufzunehmen wußten. Sie waren in ihrer Politik national und antiklerikal; aus ihren Reihen gingen die Künstler hervor; sie brachten allem Neuen Verständnis entgegen: den Prinzipien der Geldwirtschaft so gut wie den Lehren der Mystik; aus ihnen rekrutierte sich das Fußvolk, die Truppengattung der Zukunft; sie kämpften für Arbeit und Aufklärung, für das Laienchristentum und die Volksrechte; sie trieben eine etwas enge und nüchterne, aber gesunde und fromme Mittelstandspolitik: sie waren im wahren Sinne des Wortes christlich-sozial.

Fachdilletantismus

Ihre Organisation war noch ganz patriarchalisch. Sie war keine bloße wirtschaftliche Interessengemeinschaft, sondern eine ethische Vereinigung. Der Geselle trat nicht bloß ins Geschäft, sondern auch in die Familie des Meisters ein, der für die moralische Führung seiner Schüler ebenso verantwortlich war wie für ihre technische Ausbildung. Und ebenso stand auch das einzelne Mitglied zur Zunft nicht so sehr in einer juristischen Unterordnung als in einem Pietätsverhältnis. Es war weniger eine ökonomische Frage als eine Ehrensache, möglichst gute Arbeit zu liefern, und es war andererseits die vornehmste Pflicht der Zunft, ihren Mitgliedern entsprechende Absatzmöglichkeiten und, wenn sie krank oder arbeitsunfähig wurden, Pflege und Nahrung zu bieten. Gesellige Zusammenkünfte in besonderen Versammlungsräumen, korporative Feste und Umzüge, gemeinsame Grußformen und Zechsitten erhöhten den Zusammenschluß. Es konnte allerdings nicht ausbleiben, daß dieser schöne Genossenschaftsgeist mit der Zeit in kleinliche Bevormundung, steife Routine und gedankenlose Schablone degenerierte: in all das, was man noch heute im abfälligen Sinne als »zünftlerisch« bezeichnet. Alles war peinlich geregelt: die Anrede und das Zutrinken so gut wie die Zahl der Lehrlinge und die Größe des Ladens. Es soll kein Geselle zum Bier gehen, bevor die Glocke drei geschlagen hat; es sollen an einem Abend nicht mehr als sechs Gulden verspielt werden; es darf nur Selbstverfertigtes verkauft werden, damit kein Großbetrieb entstehen kann; die Werkstatt muß auf die Gasse gehen, damit die Arbeit stets kontrolliert werden kann; es darf keine neue Arbeit übernommen werden, ehe die früher bestellten fertig sind; an subtilen Sachen darf nur bei Tageslicht gearbeitet werden: alles gut gemeint und vernünftig, aber auf die Dauer doch unerträgliche Beschränkungen. Es fehlte eben an der Möglichkeit, große Zusammenhänge zu überblicken, Widersprüche organisch zu vereinigen: der Mangel jeder Betrachtungsweise, die auf die nächste Realität eingeengt ist. Das ganze Leben schreitet in einem schweren Panzer von Formen und Formeln einher, in die es von einem geistfremden Fachdilettantismus gezwängt worden ist; überall ein zähes Kleben an der kompakten Materie des Daseins ohne schöpferische Freiheit, ohne Fruchtbarkeit, ohne Genialität. Aber auf seinem Gebiet hat dieser Materialismus große Siege errungen: es war eine Blütezeit der treuen, sorgfältigen, kunstreichen Materialbearbeitung, der Veredelung und Verschönerung aller Stoffe, der Achtung und Andacht vor dem Arbeitsgegenstand, von der wir uns zur heutigen Zeit kaum mehr einen Begriff machen können, wo kein Prunkhaus mehr mit so viel Erfindungsgeist, Liebe und Eigenart gebaut wird wie damals ein Türschloß oder ein Kleiderschrank; es war das Heroenzeitalter des Philistertums.

Erwachen – der Rationalismus

Mit steigendem Wirklichkeitssinn pflegt sich immer auch eine gewisse Rationalisierung und zweckvollere Behandlung des Daseins zu verbinden; und in der Tat bemerken wir schon in dieser Zeit die ersten, wenn auch noch recht schüchternen Ansätze zu einer wissenschaftlichen Bewältigung der Lebensprobleme. Auf dem Gebiet der Naturforschung freilich herrscht noch große Konfusion: man macht wohl allerlei wertvolle Entdeckungen, aber planlos, ohne Methode; und selbst ein so gründlicher und vielseitiger Kopf wie Regiomontanus wirkt mehr wie ein gelehrter Sammler von Kuriositäten, der seine kostbaren Funde in purer Amateurfreude unsystematisch nebeneinander speichert. Konrad von Megenbergs »Buch der Natur« wiederum, eine Art Lehrbuch der Zoologie, hat eine sehr gute systematische Anordnung, bringt aber zum Teil Abbildungen und Beschreibungen von Fabelwesen: Drachen, geflügelten Pferden, Seejungfern, Sphinxen, Zentauren, feuerspeienden Hunden und dergleichen. Das einzige Gebiet, auf dem eine fruchtbare und lückenlose empirische Tradition herrschte, war eben das Handwerk: hier erfand man auf dem Wege experimentierender Vervollkommnung eine Reihe exquisiter Spielereien: originelle Uhren und Schlösser, kunstvolle Wasserwerke, subtile Instrumente für Goldschmiedearbeit, prachtvolle Orgeln; aber dies alles nicht in wissenschaftlicher Absicht, sondern zur Erhöhung des Lebensschmuckes und der Bequemlichkeit. Auch hat die Geldwirtschaft erst sehr langsam den Sinn für numerische Exaktheit gestärkt. Man half sich noch meistens mit ganz primitiven und summarischen Verfahrensweisen; Rechenfehler sind etwas Gewöhnliches und von niemandem Gerügtes; der Begriff der Rechnungsprobe fehlt noch vollständig; die Verwendung der Null zur Bezeichnung des Stellenwertes ist unbekannt; man operierte mit dem Rechenbrett, einem ebenso umständlichen wie unzuverlässigen Apparat; Dividieren war eine Kunst, die fast niemand beherrschte: man »tatonnierte«, das heißt: man versuchte es so lange mit verschiedenen Resultaten, bis ein einigermaßen plausibles herauskam; das Zahlengedächtnis, das uns heute als etwas Selbstverständliches erscheint, war noch ganz unentwickelt.

Auf dem Gebiet der Historik wurden erhebliche Fortschritte gemacht. Das Bedürfnis nach Aufzeichnung der gegenwärtigen und Rekapitulation der vergangenen Ereignisse wird allgemein, Archive werden angelegt, fast jede Stadt hat ihre Chronik. Eine Gestalt wie Froissart, der »französische Herodot«, steht allerdings auf einsamer Höhe, aber daß sie überhaupt auftauchen konnte, ist für das ganze Zeitalter bemerkenswert. Sein Werk zeigt zum erstenmal das spezifisch gallische Erzählertalent in seiner großartigen Fülle: ein reich kolorierter Bilderbogen voll Zeitaroma und fließender Bewegung; und auch darin erinnert er an Herodot, daß er ein wirklicher Chroniqueur ist: ein Liebhaber der histoire intime, der Anekdote und des interessanten Klatschs, der die Weltgeschichte als seine Privatangelegenheit auffaßt und seinen eigenen Augen und Ohren mehr vertraut als den »Quellen«. Sein Gegenstück ist in gewisser Hinsicht Marsilius von Padua, das Urbild des mißtrauischen, scharfsinnigen und rechthaberischen Polyhistors: Arzt, Weltgeistlicher und Jurist, Schöpfer der modernen Staatstheorie und Verfasser des antipapistischen »Defensor pacis«, des Musters einer politischen Denkschrift.

Wirklichkeitsdichtung

Das stärkste und sprechendste Denkmal des erwachenden Realismus aber ist die Dichtung der Zeit. Wir haben schon die starke Verbreitung der satirischen Literatur erwähnt. Nun ist ja die Satire an sich schon immer eine realistische Dichtungsgattung: sie kann ihren Gegenstand nicht treffen, wenn sie nicht auf das Tatsächliche, auf alle konkreten Einzelzüge ausführlich und präzis, man möchte fast sagen: liebevoll eingeht. Verwandt mit den satirischen Fastnachtsspielen waren die in ganz Europa beliebten Moralitäten, moralités, moralities, lehrhafte Schauspiele, in denen die Laster und Tugenden auftraten, zunächst freilich als trockene Allegorien, aber doch auch scharfe Lichter auf die wirklichen Zustände werfend. Auch in die Passionsspiele waren regelmäßig burleske Szenen eingeflochten, was den unverbildeten Geschmack der damaligen Menschheit noch nicht verletzte, und hier bot sich reichliche Gelegenheit zu bunten Lebensbeobachtungen und saftigen Aktualitäten. Und in Frankreich entstand die Farce, die schon alle Bestandteile der modernen Posse enthält: im »Maître Pathelin«, dem berühmtesten Exemplar dieses Genres, steckt bereits embryonal der ganze Molière. Auch das Epos bewegte sich in der Richtung der didaktischen Charakterzeichnung, obgleich es nirgends auf dem Kontinent die klassische Höhe der »Canterbury tales« erreicht hat, in denen Chaucer, der »englische Homer«, eine komplette vielfarbige Landkarte der englischen Gesellschaft entworfen hat, in allen ihren Schattierungen, Abstufungen, Übergängen und Mischungen: »Ich sehe«, sagt Dryden, »alle Pilger, ihre Stimmungen, Züge, ja ihren Anzug so deutlich, als hätte ich mit ihnen im ›Tabard‹ in Southwark zu Nacht gespeist.«

Die Entwicklung der lyrischen Dichtung ist durch eine plötzliche Neublüte der Volkspoesie gekennzeichnet. Überall sprudeln Quellen von Liedern auf, alles singt: der Müller, der Wanderbursche, der Bergknappe, der fahrende Scholar, der Bauer, der Fischer, der Jäger, der Landsknecht, sogar der Kleriker. Alles nimmt die Gestalt des Liedes an: Liebe, Spott, Trauer, Andacht, Geselligkeit; die erzählende Dichtung geht in die konzentrierte Form der Ballade über. Überall herrscht eine anschauliche Gegenständlichkeit und greifbare Körperlichkeit: die Steine der verfallenen Schlösser beginnen zu reden, die Linde biegt sich traurig im Winde, die Haselstaude mahnt das verliebte Mädchen zur Vorsicht. Das Mädchen steht überhaupt von nun an im Mittelpunkt der Poesie, während der Gegenstand der ritterlichen Lyrik fast immer die verheiratete Frau war. Und was besungen wird, ist nicht mehr die unerreichbare spröde Dame, nach deren Minne der Dichter vergeblich schmachtet, sondern das erreichte Ziel, das »Verhältnis«, der »Bettschatz«, und viel häufiger dreht sich die Klage um den Wankelmut des Erhörten als um die Kälte der Begehrten: die tragische Figur ist nicht mehr der unglückliche Liebhaber, sondern die verlassene Geliebte. Und der Professionist dieser Poesie ist nicht mehr der adelige Sänger, sondern der fahrende Spielmann, eine viel derbere, realistischere und volkstümlichere Gestalt. Seine Weisen und Geschichten sind knapp, gedrängt, pointiert. Die Anekdote beginnt eine außerordendiche Beliebtheit zu erlangen, und ebenso das Aperçu: die »behenden Worte« der Begharden, von denen wir vorhin sprachen, waren offenbar nichts anderes als prägnante Aphorismen, scharf geschliffene Bonmots. Auch hat kein zweites Zeitalter einen solchen Reichtum an vortrefflichen Sprichwörtern besessen und ihnen in der Ökonomie des Lebens und Denkens einen so breiten und gebietenden Platz eingeräumt. Auf dem Gebiet der bildenden Kunst ist das Pendant des Volkslieds die Miniaturmalerei, die das ganze Leben und Treiben der Zeit in primitiven, aber sehr ähnlichen kleinen Genrebildchen aufgefangen hat.

Emanzipationen

Rationalistische Strömungen pflegen stets Emanzipationsbewegungen im Gefolge zu haben, und diese charakterisieren denn auch das Zeitalter in hervorragendem Maße: jeder will sein eigener freier Herr sein. Wir sehen dies auf allen Gebieten: »los von Rom« war die Parole der Könige, »los vom Reich« war die Parole der Fürsten, »los vom Landesherrn« war die Parole der Städte, »los von der Scholle« war die Parole der Fronbauern. Die Leibeigenschaft wurde aber nicht abgeschafft, sie löste sich nur langsam von selbst auf. Soziale Befreiungen geschehen niemals durch Dekrete, die gleich lächerlich sind, ob sie von oben oder von unten kommen: das k. k. Patent des Lesebuchkaisers Josef war ein ebenso kindischer Akt wie die Proklamation der Menschenrechte in Paris; sondern sie treten automatisch und unwiderstehlich in dem Augenblick ein, wo der Zeitgeist sie fordert. Wo die Leibeigenen verschwanden, da verdankten sie ihre Befreiung nicht einer pathetischen Zeremonie, auch nicht einer tumultuarischen Erhebung, sondern sie waren einfach auf einmal nicht mehr da. Sie verkrümelten sich: in die Städte. Wenn sich irgendwo ein dichteres Lebenszentrum befindet, so kann keine Macht der Welt verhindern, daß die Moleküle zu ihm hinstreben: sie müssen nach diesem Kraftherd mit derselben Notwendigkeit gravitieren, mit der ein Meteor in eine Sonne fällt.

Die radikale Emanzipation von allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen hatte, wie wir sahen, ihre Vertreter in den »Brüdern vom freien Geiste«, die man heute wahrscheinlich Edelkommunisten nennen würde, in den Hussiten, deren Schlachtruf lautete: kein Mein, kein Dein!, und in der Masse der arbeitsscheuen Proletarier, der bunten Gesellschaft der »Fahrenden«, die sich aus den Entgleisten aller möglichen Berufe und Stände zusammensetzte. Und der »Roman de la Rose«, vielleicht das gelesenste Buch der Zeit, lehrt sogar den sexuellen Kommunismus:

Nature n'est pas si sote
Qu'ele féist nostre Marote.
Ains nous a fait, biau filz n'en doutes,
Toutes por tous et tous por toutes,
Chascune por chascun commune,
Et chascun commun por chascune.

Verfall des Rittertums

Die subjektive Seite des Materialismus äußert sich in einem immer mehr einreißenden Plebejismus. Brauch und Sitte, Rede und Geste: alles, was sozusagen die innere Melodie des Lebens ausmacht, wird unfeiner, derber, vulgärer, direkter. Es liegt dies zum Teil an dem Heraufdrängen der niederen Schichten; aber alle Lebenskreise bekamen zusehends eine rohere, sinnlichere Färbung. Auch die Ritter sind keine Ritter mehr. Treue, Ehre, »Milde«, »Stete«, Mäßigkeit waren die Tugenden, die die höfische Poesie lehrte. Das änderte sich jetzt vollständig. Der Adelige, soweit er nicht einfach Räuber war, wurde ein besserer oder vielmehr ein schlechterer Bauer oder ein lästiger Raufbold. Bisher hatten ihn die Fragen der Minne am lebhaftesten beschäftigt: Liebeshöfe, Liebesregeln, Taten und Leiden zu Ehren der Erwählten; Kindereien, wenn man will, aber lauter ideale Probleme. Wenn früher zwei Junker zusammenkamen, so sprachen sie von diesen Dingen oder von religiösen oder poetischen Themen; jetzt beginnen sie jene Gegenstände zu erörtern, von denen bis zum heutigen Tage die Junker fast ausschließlich reden: Pferde, Dirnen, Duelle und Kornpreise. Geiler von Kaisersberg sagt: »Nur der Name des Adels ist geblieben, nichts von der Sache bei denen, die edel heißen. Es ist eine Nußschale ohne Kern, aber voller Würmer, ein Ei ohne Dotter, keine Tugend, keine Klugheit, keine Frömmigkeit, keine Liebe zum Staate, keine Leutseligkeit, ... sie sind voll Lüderlichkeit, Übermut, Zorn, den übrigen Lastern mehr ergeben als alle anderen.«

Daran ist das Rittertum zugrunde gegangen, nicht, wie so oft behauptet wird, am Schießpulver. Denn erstens sind sie ja nicht durch die neuen Formen der Kriegführung depossediert worden, sondern durch ihre Beschränktheit und Überheblichkeit, die sie verhinderte, sich rechtzeitig diesen veränderten Bedingungen anzupassen, und zweitens hat sich der Gebrauch der Feuerwaffen ungeheuer langsam durchgesetzt. Die Mongolenheere Ogdai Khans, die in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts das östliche Europa überschwemmten, führten bereits kleine Feldgeschütze in die Schlacht, die sie aus China mitgebracht hatten. Um die Mitte desselben Jahrhunderts gab Marcus Graecus ein genaues Rezept für die Bereitung des Schießpulvers, und der berühmte Scholastiker Roger Bacon erkannte es in seinen gleichzeitigen Schriften als den wirksamsten Sprengstoff. Aber die Europäer waren noch nicht reif dafür und mußten es daher, obwohl sie es schon hatten, etwa hundert Jahre später durch Berthold Schwarz noch einmal erfinden lassen. In der Schlacht bei Crécy, 1346, schießen die Engländer mit Bleistücken, »um Menschen und Tiere zu erschrecken«, und in demselben Jahr gibt es in Aachen eine Büchse, »Donner zu schießen«; die Araber verwendeten schon 1331, drei Jahre bevor Berthold Schwarz seine Versuche machte, bei der Belagerung von Alicante Pulvergeschütze. Aber auch dann hat es noch über anderthalb Jahrhunderte gedauert, bis das Feuergewehr zur dominierenden Waffe wurde. Die Ritter hätten also reichlich Zeit gehabt, sich »umzugruppieren«. Statt dessen waren sie in dünkelhafter Verbohrtheit bemüht, das alte System immer einseitiger und starrer auszubauen. Sie umgaben ihren ganzen Leib mit beweglichen Schienen und Platten, die Gelenke waren durch Ringgeflechte gedeckt, die Köpfe durch Helme mit verschiebbarem Visier, kein Fleck des Körpers war unbeschirmt. So wurden sie schließlich zu wandelnden Festungen, zu reitenden Tanks. Aber eben daß sie beritten waren, machte den ganzen Apparat wertlos, denn die Pferde konnte man nicht so vollständig schützen; und zu Fuße waren sie schwerfällig wie Schildkröten. Dazu hatten sie noch in der Schlacht bei Sempach, die ihnen eine ungeheure Niederlage brachte, die damalige Stutzermode der spitzen, nach oben geschweiften Schuhe übernommen und ihre Füße in lächerliche Eisenkähne gesteckt, in denen sie kaum watscheln konnten.

Diese Schlacht ist durch Arnold von Winkelried entschieden worden. Man sagt uns zwar, die Erzählung von seiner Heldentat sei eine viel später entstandene Sage. Aber dies ist eine oberflächliche Auslegung der Tatsachen der Völkergeschichte. Diese Sage ist völlig wahr, in einem höheren Sinne wahr, so wahr, wie nur irgendeine Erzählung sein kann. Die ganze Eidgenossenschaft war der Winkelried, der die Garbe der österreichischen Speere packte und zerbrach: jenes Bündel von ritterlicher Frechheit und Unfähigkeit, habsburgischer Herrschgier und Unmenschlichkeit, das sich für die Blüte der Menschheit hielt. Es war das erste Empordrängen einer Nemesis für die Herzensträgheit, Ungerechtigkeit und Selbstsucht einer aufgeblasenen Abenteurerkaste. Im Bauer siegte der neue Wille; aber der wahre Erbfeind und Überwinder des Feudalismus saß ganz wo anders.

Denn nun taucht aus dem dunkeln Grunde der Zeit die Hochburg des neuen Geistes herauf, mit allen ihren Lichtern und Schatten: das geheimnisvolle Phänomen der Stadt.

Die große Umwertung

Städte gab es schon zu Beginn des zweiten Jahrtausends, ja im ganzen Mittelalter; aber erst jetzt erstarken sie zu allmächtigen Dominanten des ganzen Daseins. Was ist eine Stadt? Man kann es eigentlich nur negativ definieren: sie ist der schärfste Gegensatz des »Landes«. Der Bauer lebt vegetativ und organisch, der Städter zerebral und mechanisch; auf dem Lande ist der Mensch ein natürliches Produkt der Umwelt, in der Stadt ist die Umwelt ein künstliches Produkt des Menschen.

In einer Stadt ist alles anders: die Gesichter bekommen einen bisher unbekannten, gespannten und abgespannten, zugleich müden und erregten Ausdruck, die Bewegungen werden hastiger und ungeduldiger und dabei durchdachter und zielbewußter, ein völlig neues Tempo, ein unheimliches Staccato tritt ins Dasein. Und die ganze Landschaft verwandelt sich: die Stadt mit ihren eigensinnigen, bizarren, unnatürlichen Formen, die bewußt oder unbewußt den Gegensatz zum Gewachsenen, Erdvermählten des »Landes« betonen, beherrscht schon von ferne die Perspektive; Wald, Feld und Dorf sinken zu einem bloßen Zubehör, einer Garnierung und Staffage herab; alles ist nach jenem Herzkörper orientiert, von dem der gesamte Blutkreislauf des politischen und wirtschaftlichen Lebens der »Umgebung« reguliert wird. Die ganze Gesetzgebung schon der spätmittelalterlichen Städte zeigt diesen unerbittlichen Willen zum beherrschenden Zentralorgan, das alles in sich hineinsaugt, was irgend in seiner Reichweite liegt: das Bannrecht verbietet den Umwohnern jeden Handel und die Erzeugung von Gegenständen, die in der Stadt hergestellt werden, und schafft so ein vollständiges Monopol, das Stapelrecht zwingt alle durchziehenden Kaufleute, in der Stadt ihre Waren feilzuhalten, was, da der Magistrat das Recht hat, die Preise zu bestimmen, schon ein wenig an Straßenraub grenzt.

Die Geburt der Stadt ist zu allen Zeiten identisch mit der Geburt des modernen Menschen. Es kann daher nicht überraschen, daß alle Züge, die für das Zeitalter besonders charakteristisch sind, in der Stadt auch besonders stark zur Ausprägung gelangen. Zunächst der Materialismus, der sich unter anderem auch darin äußert, daß jede Stadt ein extrem egoistisches Gebilde ist, ein Mikrokosmos, der nur sich selbst gelten läßt, nur sich als lebensberechtigt empfindet und alles andere nur als Werkzeug zu seiner Wohlfahrt ansieht. Jeder Nichtbürger ist der natürliche Feind, einfach schon darum, weil er nicht dazugehört. Da das städtische Leben komplizierter und labiler ist, kann es auch leichter zum Brutherd für allerlei Neurosen werden; zugleich ist es bewußter, nüchterner, überlegter: rationalistischer, auch jeglicher Emanzipation zugänglicher: schon gegen Ende des Mittelalters galt der Satz,daß Stadtluft frei mache; und da Freiheit eine gewisse Gleichheit oder doch Angleichung der Lebensformen zu erzeugen pflegt, ist von hier auch zuerst jene plebejische Welle ausgegangen, die bald alle Schichten ergriff«.

Pittoresker Dreck

Eine jede solche Stadt ist nichts anderes als ein Festungsbezirk, entstanden aus dem Gedanken eines möglichst sicheren Schutzes nach außen und einer möglichst vollständigen wirtschaftlichen Autarkie im Innern. Durch die komplizierten und zahlreichen Befestigungsanlagen: die Gräben und Wälle, Tore und Türme, Ringmauern und Bollwerke, Ausfallbrücken und Auslugzinnen erhielt die äußere Silhouette der Stadt ihren vielgerühmten malerischen Charakter. Noch pittoresker wirkte aber das innere Profil. Da die Straßen in den seltensten Fällen gradlinig waren, sondern meist krumm und gewunden verliefen, entstanden zahllose Winkel und Buchtungen, Ecken und Unregelmäßigkeiten, ein wahres Chaos sich kreuzender, brechender, verschränkender Häuserlinien. Dazu kam noch, daß die Sitte bestand, die höheren Stockwerke in die Straßenfront vorzubauen: das Obergeschoß ragte über das Erdgeschoß hinaus und darauf saß oft noch ein zweiter Stock, der wiederum ein Stück weiter hervorsprang. Diese »Überhänge« oder »Ausschüsse«, die oft noch mit zierlichen Erkern und Türmchen geschmückt waren, mögen sehr bildhaft gewirkt haben, machten aber die Straßen eng, luftarm und finster. Sie waren nur dadurch ermöglicht, daß zu jener Zeit der Holzbau noch vollständig dominierte, was wiederum zu regelmäßigen großen Feuersbrünsten führte. Zu ebener Erde gab es eine Menge Werkstätten und Verkaufsbuden, die von der Straße Besitz ergriffen und die Passage oft fast gänzlich versperrten; selbst der Keller streckte seinen »Hals« in die Straße. Die Pflasterung war miserabel oder vielmehr so gut wie nicht vorhanden: man versank in Schmutz und Morast, ohne schwere hölzerne Überschuhe konnte niemand den Fahrdamm überschreiten. Schornsteine waren unbekannt, die Dachtraufen so primitiv angelegt, daß sie ihren Inhalt mitten in die Straße ergossen; mitten in der Straße befand sich auch der Rinnstein. Ein regelmäßiges Attribut der Häuser war der stattliche Dunghaufen, der sich vor dem Tor erhob; auf den Hauptplätzen stand der meist sehr unhygienische Ziehbrunnen. Ferner war es Sitte, alles auf die Gasse zu werfen: Abfälle, Unrat, tote Tiere. Noch viel lästiger waren aber die lebenden Tiere, die Ochsen, Kühe, Gänse, Schafe, Schweine, die in Massen über die Straße getrieben wurden und unaufgefordert in fremde Häuser liefen. Die Dächer waren häufig noch aus Stroh, die Fassaden schmucklos, dürftig, verwahrlost, nur in vereinzelten Fällen durch Schnitzereien oder schöne Bemalung verziert, die Fenster noch nicht verglast, sondern teils ganz ohne Schutz, teils mit Lumpen oder ölgetränktem Papier ausgekleidet. Ganz so romantisch, wie wir es uns vorstellen, war also das Exterieur der damaligen Städte nicht. Was aber einen Spaziergänger von heute am meisten befremdet hätte, war der Mangel an jeglicher Beleuchtung. Es gab keine Straßenlampen, keine lichtglänzenden Auslagen, keine erhellten öffentlichen Uhren, und in den Häusern brannten düstere Talgkerzen, Kienspäne oder Trankrüge, deren Strahlen nicht bis auf die Straße drangen. Wer abends ausging, mußte seine eigene Laterne haben oder sich einen Fackelträger mieten; nur wenn ein Potentat oder sonst ein hoher Würdenträger die Stadt mit seinem Besuch beehrte, wurde illuminiert. Nach neun versank das ganze Leben in tiefen Schlummer, nur die Obdachlosen und Wegelagerer in ihren Verstecken und die Trinker und Spieler in ihren Schenken waren noch auf den Beinen.

Orientalischer Tumult

Bei Tage aber herrschte ein ungemein buntes und bewegtes Treiben, ein unaufhörliches Kommen und Gehen, Messen und Wägen, Schwitzen und Schwatzen. Eine wüste Symphonie aus allen erdenklichen Geräuschen erfüllte die Gassen: alle Augenblicke Glockengeläute und fromme Gesänge, dazwischen das Brüllen und Grunzen des Viehs, das Gröhlen und Randalieren der Nichtstuer in den Wirtshäusern, das Hämmern, Hobeln und Klopfen der Tätigen in den offenen Werkstätten, das Rattern der Wagen und Stampfen der Zugtiere und dazu der melodische Lärm der zahllosen Ausrufer, die in einer Zeit des allgemeinen Analphabetismus das Plakat ersetzen mußten: »Gemalte Rößlin, gemalte Buppen, Lebkuochen, Rechenpfening, Roerlin, Oflaten, Kartenspil!«, »Ich han gut Schnur in die Unterhemd, auch hab ich Nadeln, Pursten und Kem, Fingerhut, Taschen und Nestel vil, Heftlein und Heklein, wie mans will«, »Hausmeid, die alten Korb heraus!«, »Hol Hipp! So trage ich hole Hipplein feil!«, »Heiß Speckkuch! Ir Herren, versucht mein heiß Speckkuchen!«, »Heiß Fladen! Ir Herren, so trage ich Fladen feil!«, »Zen außprechen! Her an, her an, her an, welcher do hat ein posen Zahn!«

Die Menschen waren damals noch sehr matinal; dieser Tumult begann im Sommer um vier, im Winter um fünf Uhr morgens, dafür war meist schon um drei Uhr Feierabend. Nimmt man zu diesen optischen und akustischen Eindrücken noch die sonderbar gemischten Gerüche, die eine solche Stadt durchströmten: die eben erwähnten fetten heißen Kuchen, die brutzelnden Würste und Selchwaren, die dampfenden Werkstätten, die ja alle nach der Straße zu gingen, die rauchenden Pechsiedereien, die mitten in der Stadt standen, die Mistgruben und Kuhfladen, die überall verstreuten Obst-, Blumen- und Gemüsestände, die Weihrauchwolken aus den zahlreichen Kirchen, so hat man ungefähr ein Bild, wie es noch heute die Städte des Orients bieten.

Lebensstandard

Der Komfort war für unsere Begriffe sehr bescheiden. Die Treppen waren finster, labyrinthisch und unbequem, die Fußböden und Wände nur selten mit Teppichen belegt, die Möbel auf das Notwendigste beschränkt. Ein gewisser Luxus wurde mit Schaugefäßen getrieben: auf den Borden standen schön ziselierte Becher, Krüge und Kannen, die Küchen der Wohlhabenden glitzerten von roten Kupferkesseln und weißem Zinngeschirr. Die Betten waren breit und weich, fast immer mit einem Himmel geschmückt, Federkissen sind allgemein in Gebrauch, dagegen Nachthemden noch unbekannt: man schlief splitternackt. Auch von der wohltätigen Erfindung der Gabel weiß man noch nichts: man zerlegt das Fleisch, falls es nicht schon vorgeschnitten ist, mit dem Messer und ißt es mit den Fingern, Gemüse und Saucen mit dem Löffel. Der Blumenscherben und das Vogelbauer gehören zum Inventar jeder besseren Wohnung, Bilder findet man noch selten, dagegen überall reichliches Ungeziefer. Die »Stankgemächer«, wie man die Klosetts damals nannte, befanden sich in keinem sehr erfreulichen Zustand; immerhin gab es schon öffentliche Aborte, und zwar sehr öffentliche. Im allgemeinen aber ist der Sinn für Reinlichkeit sehr entwickelt: in den öffentlichen Badehäusern spielt sich ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens ab, es wird dort gegessen, getrunken, gewürfelt, musiziert und natürlich vor allem geliebt; die reichen Leute haben eigene Bäder, in denen sie für ihre Freunde Jours abhalten. Sonst gibt es an Unterhaltungsgelegenheiten noch die Trinkstuben der Zünfte, die öffentlichen Tanzfeste, Schützenfeste, Fastnachtsfeste, die Jahrmärkte, Weihnachtsfeiern, Johannisfeiern und die Bewirtungen zu Ehren durchziehender Fürsten.

Einen auffallenden Kontrast zu der Dürftigkeit der Privatbauten bilden die öffentlichen Anlagen: die kunstvollen Brunnen und Stadttore, die prachtvollen Kirchen mit ihren Kuppeln, Skulpturen und riesigen Türmen, die Rathäuser mit ihren Dächern und Glasmalereien, weiten Ratskellern und lichten Repräsentationsräumen, die Tuchhallen, Kornhallen, Schuhhallen, Ballhäuser, Schlachthäuser, Weinhäuser: überall ein gediegener und großzügiger Prunk.

Die Landstraße

Die Mittelpunkte des mittelalterlichen Verkehrs waren das Dorf (oder der Einzelhof) und das Kloster, das in gewisser Beziehung der Stadt entsprach. Größere Klöster umfaßten ein sehr bedeutendes Areal und beherbergten viele hundert Personen: nicht bloß die Mönche, sondern auch Laien, die Asyl suchten, Schulkinder, zahlreiche Handwerker und Dienstleute. Das berühmte Kloster von Sankt Gallen enthielt ein Gestüt, eine Brauerei, eine Bäckerei, eine Molkerei, eine Schäferei; Werkstätten für Sattler, Schuster, Walker, Schwertfeger, Goldschmiede; Gärten für Obst, Gemüse und Heilkräuter; ein Schulhaus, ein Novizenhaus, ein Krankenhaus, ein Badhaus, ein Haus »für Aderlaß und Purganz«, ein Unterkunftshaus für Pilger und daneben (sozusagen mit Stern im Baedeker) ein Hospiz für vornehme Fremde. Es ist nun wiederum für den plebejischen Charakter der neuen Zeit bezeichnend, daß sich jetzt zwei ganz andere Zentren herausbilden, die Stadt und die Straße.

Richtige Landstraßen gab es damals noch nicht: sie befanden sich in einem ebenso desolaten Zustand wie die Gassen der Städte. Die prachtvollen Römerstraßen, die bereits allenthalben angelegt waren, ließ man verfallen; man kann eigentlich nur von breiten Feldwegen reden, die dadurch, daß sie oft beritten und befahren wurden, eine gewisse Richtung erlangt hatten. Aber das hinderte nicht, daß sich über sie ein sehr dichter und turbulenter Verkehr ergoß. Auf so einer damaligen Straße muß sich ein pittoreskes klinisches Bild entfaltet haben, ein verkleinertes Lichtbild der ganzen Zeit, eine Karawane aller Vazierenden: Mönche und Nonnen, Scholaren und Handwerksburschen, Söldner und Klopffechter, Begharden und Beghinen, Geißler und Spielleute, Hausierer und Schatzgräber, Zigeuner und Juden, Quacksalber und Teufelsbeschwörer, heimische Wallfahrer und Jerusalempilger: die Palme tragend, zum Zeichen, daß sie aus dem gelobten Lande kamen; zahllose Bettlerspezialitäten: die »Valkenträger«, die den blutig angestrichenen Arm in der Binde trugen, die »Grautener«, die sich epileptisch stellten, die falschen Blinden, die Mütter mit gemieteten verkrüppelten Kindern und noch viele andere Sorten; alles erdenkliche Varietévolk, die sogenannten Joculatores: Akrobaten, Tänzer, Taschenspieler, Jongleure, Clowns, Feuerfresser, Tierstimmenimitatoren, Dresseure mit Hunden, Böcken, Meerschweinchen; und alle diese Menschen waren »organisiert«. Das Genossenschaftswesen ist nämlich eines der hervorstechendsten Merkmale der Zeit: es ergreift alle Berufe, alle Betätigungen, alle Lebensformen. Es gibt Diebszünfte und Bettlerzünfte, Ketzergesellschaften und Vereine gegen Fluchen und Zutrinken; sogar die Huren und die Aussätzigen haben »Betriebsräte«. Die Korporationen sind die Surrogate für die untergegangenen Stände; aber während die Stände etwas Gewachsenes waren, sind die Korporationen etwas Gemachtes, sie verhalten sich zu diesen wie die künstlichen zu den natürlichen Pflanzenklassen.

Die heilige Feme

Ein Produkt dieses Genossenschaftsgeistes ist auch jene Einrichtung des Zeitalters, die am meisten von sich reden gemacht hat und bis in unsere Tage, sehr im Widerspruch mit den Tatsachen, von geheimnisvoller Romantik umwittert geblieben ist: die Feme, die in Wirklichkeit ein sehr philiströses und prosaisches Institut war. Ihre Sitzungen wurden weder in unheimlichen Vermummungen noch in schauerlichen unterirdischen Gewölben abgehalten, sondern ganz offen auf freiem Feld und bei Tage; und die mysteriösen Gebräuche, über die so viel gemunkelt wurde, bestanden in nichts anderem als in einigen von den Mitgliedern peinlich geheimgehaltenen Grußformen und Erkennungszeichen: etwa so, wie dies heute bei den Freimaurern der Fall ist. Das Gerichtsverfahren war sehr roh und primitiv, indem das Urteil einfach von der Zahl der Eideshelfer abhängig gemacht wurde, die für oder gegen den Angeklagten auftraten. Da ein »Wissender«, so hießen die Mitglieder der Feme, natürlich leichter die nötigen Zeugen fand, so drängten sich viele zur Aufnahme, die jedem Unbescholtenen freistand. Immerhin ergänzte die Feme in gewisser Weise die reguläre Rechtspflege, die ebenso ohnmächtig wie parteiisch und außerdem um vieles brutaler war: denn die einzige Strafe, die die Feme verhängte (und übrigens in der Mehrzahl der Fälle nicht exekutieren konnte), war das Hängen, während bei den öffentlichen Gerichten auf die meisten Vergehen (und zum Teil auch auf solche, die nach unseren Begriffen verhältnismäßig leicht oder überhaupt nicht kriminell sind) die grausamsten Strafen standen: Falschmünzer wurden »versotten«, Ehebrecherinnen lebendig begraben, Landesverräter gevierteilt, Verleumder gebrandmarkt, Mörder gerädert oder geschunden, Gotteslästerern und Meineidigen wurde die Zunge ausgerissen, Aufrührern die Hand abgehauen oder das Ohr abgeschnitten. Diese Strafen wurden allerdings nirgends konsequent vollzogen, wie es ja überhaupt der Rechtsprechung jener Zeit noch an Logik und Kontinuität fehlte.

Erotik durch Sexualität verdrängt

Der Ton war überaus roh. Auch in den höchsten Kreisen war lautes Fluchen, Rülpsen, Furzen etwas Gewöhnliches: »daß dich ein böß Jar ankomme«, »daß dich die Pestilentz ankomme«, »daß dich das höllisch Fewer verbrenne« waren landläufige Redensarten. Die Entscheidung darüber, welche Naturalien als shocking gelten, ist lediglich Sache der jeweils geltenden Mode: kultiviertere Jahrhunderte werden es sicher einmal ebenso skandalös finden, daß unsere Zeit die Geselligkeit zu dem unappetitlichen Vorgang der gemeinsamen Nahrungsaufnahme mißbrauchte. Es herrschte damals auf allen Gebieten eine Vorliebe für das Klobige, Kompakte, Massive. Im Verkehr der Geschlechter wird die Erotik durch die Sexualität verdrängt. Die Frau ist nicht mehr ein Ideal, ein höheres Wesen, ein Stück Märchen im Dasein, sondern ein Genußmittel. Es ist sehr bemerkenswert, daß in diesem Zeitraum die männliche Kleidung farbenprächtiger, extravaganter und auffallender ist als die weibliche: der Mann wird zum Lachs, zum Kammolch, zum Truthahn, zum Paradiesvogel, der Brunstschmuck und »Hochzeitskleider« anlegt; es ist der völlig animalische Standpunkt. Es hegt darin wohl einesteils eine Erniedrigung des Weibes zum bloßen Sexualobjekt, andererseits aber wieder eine Erhöhung. Denn dadurch, daß man sie zum überirdischen Anhimmelungsgegenstand machte, war die Frau im Mittelalter zur Puppe, zur Attrappe, zum Luxusspielzeug herabgewürdigt worden, sie stand völlig neben dem Leben, ähnlich wie heute in Amerika. Jetzt betritt sie die Erde und wird zum Menschen. Sie wird von den allgemeinen Emanzipationsbestrebungen des Zeitalters ergriffen, ihr Auftreten wird freier, ihre rechtliche Stellung in Familie und Öffentlichkeit selbständiger, ja man kann sagen: sie hat in diesem Zeitraum den geistlichen und sittlichen Primat. Sie beteiligt sich an allen religiösen und wissenschaftlichen Bestrebungen des Zeitalters, worüber später, wenn wir auf die Mystik zu sprechen kommen, noch einige Worte zu sagen sein werden.

Eßkultur

Das Essen und Trinken spielt natürlich in dieser materiellen Zeit eine große Rolle. Aber auch hier herrscht ein recht vulgärer Geschmack, der mehr darauf ausgeht, daß man eine Speise möglichst stark auf der Zunge spürt. Daher eine Abundanz an Gewürzen, die für unsere differenzierteren Gaumen unerträglich wäre: bei allen möglichen Gerichten gelangt Zimt, Pfeffer, Rhabarber, Kalmus, Zwiebel, Muskat, Ingwer, Safran und dergleichen zu ausschweifender Verwendung. Nelken, Zitronen und Rosinen werden bei Anlässen gebraucht, wo ein heutiger Koch sie um keinen Preis mehr dulden würde; selbst als Näscherei zwischen den Mahlzeiten genoß man »Gewürzpulver«: ein Gemisch aus Pfeffer und Zucker, über Brot geröstet. Die Quantitäten, die verzehrt wurden, waren sicher größer als heutzutage, doch hat man sich davon übertriebene Vorstellungen gemacht. Ein Menü lautet zum Beispiel folgendermaßen: erster Gang: Eiermus mit Pfefferkörnern, Safran und Honig darein, Hirse, Gemüse, Hammelfleisch mit Zwiebeln, gebratenes Huhn mit Zwetschgen; zweiter Gang: Stockfisch mit Öl und Rosinen, Bleie in Öl gebacken, gesottener Aal mit Pfeffer, gerösteter Bückling mit Senf; dritter Gang: sauer gesottene Speisefische, ein gebacken Parmen (nach Sturtevant: Äpfel in Butter), kleine Vögel in Schmalz gebraten mit Rettich, Schweinskeule mit Gurken. Ein anderes: erstens: Hammelfleisch und Hühner in Mandelmilch, gebratene Spanferkel, Gänse, Karpfen und Hechte, eine Pastete; zweitens: Wildbraten in Pfeffersauce, Reis mit Zucker, Forellen mit Ingwer gesotten, Fladen mit Zucker; drittens: Gänsebraten und Hühnerbraten mit Eiern gefüllt, Karpfen und Hechte, Kuchen. Das ist weder übermäßig luxuriös, da es sich um ganz große Paradeessen handelte, noch übermäßig viel, wenn man bedenkt, daß die einzelnen Gerichte, aus denen die Gänge bestanden, zur Auswahl gereicht wurden, in der Art, wie unsere Hors d'oeuvres, die noch viel zahlreichere Platten enthalten: der eine nahm von diesem, der andere von jenem, nur besondere Vielfraße von allem. Vom Standpunkt eines heutigen Gourmets ist die Zusammenstellung allerdings barbarisch, besonders die kleinen Vögel (vermutlich Spatzen) in Schmalz und Rettich müssen scheußlich geschmeckt haben. Die Alltagsmahlzeiten waren auch in reichen Häusern recht einfach. Ein Gast aus unserer Zeit hätte wohl am meisten den Zucker vermißt, der noch sehr kostbar war und nur bei besonderen Anlässen und als Heilmittel gebraucht wurde. Ferner enthielt der Speisezettel noch fast gar kein Gemüse, höchstens einmal Kraut oder Hirse; grüne Erbsen galten als Delikatesse; Reis ist schon bekannt, kommt aber nicht häufig auf den Tisch. Und vor allem fehlten zwei Dinge, ohne die wir uns eine Mahlzeit überhaupt nicht vorstellen können: die Suppe und die Kartoffel.

Getrunken wurde regelmäßig und reichlich, besonders in Deutschland, und zwar hauptsächlich Bier; der Wein war sauer und schlecht gepflegt, man verbesserte ihn durch Honig und Gewürze. Die schmackhaften Südweine tranken auch reiche Leute nur als Aperitif. Man brachte dem Wein noch eine Art ehrfürchtiger Andacht entgegen und betrachtete ihn als eine Medizin: als Körperreiniger, Schlafmittel und Verdauungsbeförderer und zugleich als ein Göttergeschenk, wie dies das schöne Trinklied ausdrückt: »Nu gesegen dich Got, du allerliebster Trost! Du hast mich offt von großen Durst erlost und jagst mir alle meine Sorge hinwegk und machest mir alle meine Glieder keck, wenn du machest manchen Pettler frolich, der alle Nacht leyt auf einem posen Strolich; so machst du tanntzen Munchen und Nunnen, das sie nicht teten, truncken sie Prunnen.«

Der Weltalp

Wir kommen jetzt zu einer der wichtigsten Eigenschaften des Zeitalters, die wir als Diabolismus oder Satanismus bezeichnen könnten. In den damaligen Menschen, wenigstens in einem großen Teile von ihnen, war nämlich in der Tat etwas Teuflisches; etwas Teuflisches lag aber auch in den äußeren Ereignissen, die auf sie einstürmten. Es ist daher kein Wunder, daß in vielen dieser verstörten und verängstigten Köpfe sich die Meinung festsetzte, der Antichrist habe die Herrschaft über die Welt angetreten, das Reich des Bösen, das dem Jüngsten Tag vorhergeht, sei bereits angebrochen. Das Grundgefühl, das sie beherrschte, läßt sich vielleicht am ehesten in dem Begriff »Weltalp« zusammenfassen: die äußeren Eindrücke und Geschehnisse wirken nur noch wie ein ungeheurer Alpdruck, ein böser, spukhafter Traum; die gequälte Menschheit befindet sich in einer andauernden Angstneurose, die nur krampfhaft übertäubt wird durch eine ebenso angstvolle Jagd nach Besitz und Genuß. Die Menschen jener Zeiten zeigen schon in ihrem Exterieur diesen devastierten Zustand. Sie sind für unsere Begriffe ausgesprochen häßlich: entweder dürr und ausgemergelt oder schwammig und gedunsen, oft beides in grotesker Verbindung: auf mageren Beinen ruht ein massiger Bauch, über verfetteten Brüsten erheben sich eingefallene Gesichter. Die Augen bücken seltsam starr und geschreckt, wie hypnotisiert von einer unsichtbaren entsetzlichen Vision, die Körperhaltung ist entweder schwerfällig und roh oder eckig und befangen, deutet entweder auf übertriebene Schüchternheit oder deren Kehrseite: Brutalität, die die innere Angst zu überschreien sucht.

Die vierfache Zange

Die politischen Zustände waren bis zum Irrsinn verworren. Blinde Gier, die nur für sich selbt möglichst fette Brocken erraffen will, ohne an das Wohl des Nächsten, ja auch nur an die eigene nächste Zukunft zu denken, charakterisiert die Diplomatie der meisten Machthaber. Dabei wachsen die Bedrängnisse von allen Seiten ins Gespenstische. Wie von einem Polypen scheint Mitteleuropa umklammert, aus jeder der vier Windrichtungen erhebt sich eine drohende Zange, um den Weltteil zu zerfleischen. Im Osten ist die slawische Gefahr: Litauen, unter den Jagelionen mit Polen vereinigt, ein Riesenreich, das sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte und außer den Stammländern noch Galizien, Wolhynien, Podolien, Rotrußland, die Ukraine und, nachdem es in der Schlacht bei Tannenberg die Herrschaft des Deutschen Ordens zertrümmert hatte, auch Westpreußen und Ostpreußen umfaßte. Im Norden die Kalmarische Union, die mächtige Vereinigung der drei skandinavischen Reiche, im Westen die neue Großmacht der Herzöge von Burgund, die immer größere Stücke vom Deutschen Reich abzusprengen suchen, und vor allem im Süden der Vorstoß der Türken, dieses einzigartigen Volkes, das alle Lebensäußerungen dem ausschließlichen Zweck der militärischen Eroberung dienstbar macht, einer Eroberung, die weder religiöse noch nationale noch soziale Ziele verfolgt, sondern einfach um ihrer selbst willen da ist, nicht organisch wachsend wie ein Lebewesen, das Benachbartes sich einverleibt und assimiliert, sondern anorganisch, sinnlos und grenzenlos sich ausdehnend wie ein Kristall, das durch »Apposition« wächst. Ihre Erfolge verdankten die Osmanen in erster Linie ihrer ebenso einfachen wie straffen Organisation, die in der damaligen Zeit ein Unikum war: dem Sultan unterstanden die beiden Beglerbegs von Asien und Europa, diesen die Begs der einzelnen Sandschakate, diesen die Alaibegs, die Scharenführer, und diesen die Timarli, die Inhaber der kleinen Reiterlehen; der Großherr brauchte also nur ein Zeichen zu geben, und sogleich setzte sich dieses kolossale Heerlager in Bewegung. Es ist selbst für den heutigen Beobachter noch höchst unheimlich, zu verfolgen, wie sich die türkische Eroberung immer mehr in den Körper Europas hineinfrißt; die Zeitgenossen aber scheinen diese Gefahr lange Zeit hindurch nicht so bedenklich gefunden zu haben, sie rafften sich nur selten zu einer energischen und niemals zu einer gemeinsamen Aktion auf: die Westmächte machten ihre Hilfe von der Unterwerfung der orientalischen Kirche unter die römische abhängig, und während die kostbare Zeit in spitzfindigen Streitigkeiten über die Bedingungen dieser Union verzettelt wurde, machte der Vormarsch der Türken reißende Fortschritte. 1361 eroberten sie Adrianopel, ein Menschenalter später zerschmetterten sie in der furchtbaren Schlacht auf dem Amselfeld das großserbische Reich, noch in demselben Jahr bestieg Sultan Bajazeth, genannt II Derim, der Wetterstrahl, den Thron und gewann bald darauf über ein Kreuzheer, das endlich zusammengebracht worden war, bei Nikopolis einen entscheidenden Sieg: er tat den Schwur, er werde nicht eher ruhen, als bis er den Altar von Sankt Peter zur Krippe für sein Pferd gemacht habe. Etwa ein halbes Jahrhundert später versetzte der Fall Konstantinopels das ganze Abendland in Schrecken, fünf Jahre nachher wurde Athen besetzt, im Laufe des nächsten Jahrzehnts Bosnien, die Walachei, Albanien: auf dem ganzen Balkan war die Herrschaft der Türken dauernd befestigt; schon bedrohten sie Ungarn.

Der luxemburgische Komet

In Zentraleuropa herrschten von der Mitte des vierzehnten bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die Luxemburger, dieses sonderbare bigotte und gottlose, verwegene und wankelmütige, staatskluge und geisteskranke Geschlecht, das wie ein farbiger Komet in dieser allgemeinen Nacht des Niedergangs aufleuchtet, um sich ebenso plötzlich wieder im Dunkel zu verlieren. Sie sind nicht mehr als ein Zwischenfall in der deutschen und europäischen Geschichte; aber ein sehr merkwürdiger, wenn man bedenkt, daß sie, wenn ihnen ihre weit ausgreifenden, kühn und erfolgreich begonnenen Pläne bis zu Ende geglückt wären, heute eine Macht besäßen, wie sie seither keine Dynastie in Europa erlangt hat. Aber dies eben war die Wurzel ihres schließlichen Mißerfolges, daß sie zu viel wollten: sie erstrebten nicht weniger als eine Vereinigung der drei Ländergruppen, die später die österreichische und die preußische und vorher die böhmische Expansionssphäre gebildet haben, sie trieben gleichzeitig habsburgische, hohenzollerische und ottokarische Hausmachtpolitik. Ihre Entwürfe waren allzu großartig, wie Riesenbauten, die niemals fertig werden, ihre politische Phantasie litt, sehr im Sinne der Zeit, an Elefantiasis.

Die Regierung des ersten Luxemburgers, Karls des Vierten, ist verklärt durch kluge und liebevolle Förderungen der Wissenschaft und Kunst und vor allem durch die blendende Erscheinung Rienzos, des »letzten Tribunen«, eines feurigen Phantasten aus der Familie jener pittoresken Abenteurer, die in der Geschichte keine dauerhaften Spuren zurücklassen und sich dennoch der Erinnerung tiefer einprägen als ihre fruchtbarsten Zeitgenossen. Es war etwas genial Unbedingtes, Konzessionsloses, Weiträumiges in seinem Denken, das alle bezwang, freilich auch etwas Undiszipliniertes, Wildschweifendes und Uferloses, das ihn nur zu bald die Grenzen des Möglichen überschreiten ließ und zu seinem Untergange führte. Aber seine grandiosen Träume von der Wiedergeburt der einstigen Größe Roms, von der Wiederaufrichtung eines europäischen Weltkaisertums sind nicht mit ihm gestorben, und so lebt er bis zum heutigen Tage fort in der Reihe jener glänzenden Fabelwesen, deren legendarisch gefälschtes Bild unsere Phantasie mehr befruchtet als hundert »epochemachende« Tatsachen der wirklichen Geschichte.

Auch der letzte Luxemburger, Sigismund, hat eine, freilich sehr anders geartete, legendäre Berühmtheit erlangt durch den Verrat an Huss, den er durch seinen Geleitsbrief in den Tod gelockt haben soll. In Wirklichkeit war sein Verhalten nach den damaligen Anschauungen kein Rechtsbruch, und kein einziger namhafter Zeitgenosse hat sich in diesem Sinne geäußert, so sehr man sonst in juristischen, politischen und auch theologischen Kreisen gegen das Konzil polemisierte; und doch müssen wir auch hier in der ungeschichtlichen Volksauffassung die wahrere Wahrheit erkennen. Denn in einem höheren und tieferen Sinne hat er dennoch treulos gehandelt, als er sich gegen die vorwärtsweisenden Kräfte seines Kernlandes stellte und, einerlei wie die Rechtsfrage lauten mochte, den Mann fallen ließ, der den Willen des Volkes verkörperte. Man glaubt ihn vor sich zu sehen, wie er gleißnerisch hin und her schwankte, nach seichten Kompromissen suchend, bald Huss zur Nachgiebigkeit beredend, bald den Kirchenfürsten schmeichelnd, dieser geile Beau und feile Schönredner mit dem roten gabelförmigen Bart, Feinschmecker glitzernder Bonmots, eleganter Kurtisanen und erlesener Fischgerichte: glatt, leer, ohne Richtung, ohne Überzeugung, ohne Haß, ohne Liebe, ein gänzlich unwirklicher Mensch, ein glänzend poliertes Nichts.

Gekrönte Paranoiker

Es ist übrigens bemerkenswert, daß in jenem Zeitraum einmal fast gleichzeitig zwei wahnsinnige Könige herrschten: nämlich Karl der Sechste von Frankreich, 1380 bis 1422, und Wenzel, 1378 bis 1419, ein grotesk-dämonischer Sadist und Alkoholparanoiker. Als ihm sein Koch einige Speisen schlecht zubereitet hatte, ließ er ihn auf den Spieß stecken und braten. Ein anderes Mal rief er den Scharfrichter zu sich und sagte, er wolle doch gerne einmal wissen, wie einem Menschen zumute sei, der enthauptet werden soll. Er entblößte seinen Hals, verband sich die Augen, kniete nieder und befahl dem Scharfrichter, ihm den Kopf abzuschlagen. Dieser berührte nur den Hals des Königs mit dem Schwerte. Wenzel ließ nun den Mann niederknien, verband ihm die Augen und schlug ihm den Kopf mit einem Hiebe ab. Eines Tages begegnete ihm auf der Jagd ein Mönch; er spannte den Bogen, schoß ihn tot und sagte zu den Umstehenden: ich habe ein sonderbares Wild erlegt. Wegen dieser Untaten schrieb jemand an eine Wand: Wenceslaus, alter Nero; Wenzel schrieb darunter: si non fui, adhuc ero. (Alle diese Einzelheiten berichtet Dynter, der um 1413 Gesandter an Wenzels Hof war.) Allgemein bekannt ist, daß er Johann von Nepomuk, den späteren tschechischen Nationalheiligen, in der Moldau ertränken ließ, allem Anschein nach, weil er ihm das Beichtgeheimnis seiner Gemahlin nicht verraten wollte: wir haben es hier mit einer Äußerung des Eifersuchtswahns zu tun, der eine regelmäßige Begleiterscheinung der Alkoholparanoia bildet. Dabei war er ein äußerst gerissener, überschlauer Diplomat, der alle seine Handlungen sehr scharfsinnig zu begründen wußte, was wiederum mehr ins Gebiet der folie raisonnante gehören dürfte. Und zu diesen beiden Wahnsinnigen kämen noch zwei Schwachsinnige: Heinrich der Sechste von England, der es notorisch war, und Friedrich der Dritte, der zumindest nicht weit davon entfernt war, jener Kaiser, der dreiundfünfzig Jahre lang über Deutschland herrschte oder vielmehr nicht herrschte, völlig apathisch, kindisch dahindämmernd. Als die Kunde vom Fall Konstantinopels nach Deutschland kam, schrieb ein deutscher Chronist: »Der Kaiser sitzt daheim, bepflanzt seinen Garten und fängt kleine Vögel, der Elende!«

Englisch-französisches Chaos

Englische und französische Geschichte lassen sich in diesem Zeitraum nicht getrennt betrachten, da sie fast ununterbrochen ineinander verfließen. Sie bieten ein grauenvolles Schauspiel blutgieriger Fehden, tückischer Morde und Wortbrüche, tiefster politischer Gemeinheit. Shakespeare hat die Akteure jener Greuel in eine verwirrende Aura von narkotischer Dämonie getaucht und ihnen einen seltsam irisierenden Schlangenglanz angezaubert, der zugleich abstößt und fasziniert: seine Königsdramen sind die funkelnde Höllenfahrt eines ganzen Zeitalters, das, ergreifend hin und her gejagt zwischen übermenschlichem Heroismus und tierischer Niedertracht, unrettbar in den selbstgeschaffenen Abgrund saust. Natürlich ist hier die Wirklichkeit magisch gesteigert, aber etwas von alledem lag in der Zeit. Diese Menschen wirken auf uns wie gewisse prachtvolle Giftpilze oder wie die bösen fleischfressenden Orchideen, deren Grausamkeit und Hinterlist ein versöhnendes Aroma von mysteriöser Schönheit ausstrahlt.

Über ein Jahrhundert währten die Sukzessionskriege, hervorgerufen durch den Anspruch der englischen Könige auf den Thron Frankreichs, ein entnervendes Wechselspiel von Vormärschen und Rückzügen der Engländer, die glänzende Siege erfechten, oft große Teile Frankreichs besetzt halten, sich aber doch nirgends dauernd zu halten vermögen und schließlich auf den Brückenkopf Calais beschränkt bleiben. Die Wendung bringt Jeanne d'Arc, die Jungfrau von Orléans, eine ebenso unwirkliche Erscheinung wie Sigismund, nur in ganz entgegengesetztem Sinne, ein Wesen, das dauernd im Transzendenten lebte, in jener Welt des Geistes, deren Existenz, da wir über sie nichts Positives auszusagen wissen, von seichten Empirikern bestritten wird, deren deutlich spürbare Wirksamkeit aber die ganze Menschheitsgeschichte durchdringt und in ihren Höhepunkten bestimmt.

Auch die innere Geschichte der beiden Staaten ist ebenso blutig wie verworren. In England die Rosenkriege, die jene besonders unmenschlichen Formen annahmen, wie sie bei Kämpfen zwischen nahen Verwandten die Regel sind, und daneben die grausamen Verfolgungen der Lollharden, der Anhänger Wiclifs; in Frankreich Bürgeraufstände in Paris und eine große Bauernrevolte in den Provinzen: die Jacquerie, so genannt nach ihrem Führer Caillet, der den Beinamen Jacques Bonhomme trug, eines der greuelreichsten Ereignisse der Weltgeschichte; später Kämpfe zwischen dem erstarkenden Königtum und den großen Vasallen, die ihre Selbständigkeit zu behaupten suchen: unter dem klugen, energischen und perfiden Ludwig dem Elften wird das Reich immer mehr zentralisiert; aber dieser Erfolg ist mit dem Zerfall des burgundischen Reichs bezahlt, in dem alles versammelt gewesen war, was der Kultur des Zeitalters Wert und Bedeutung verlieh: hier standen die schönsten und blühendsten Städte, hier wurden die erlesensten Werke des Gewerbfleißes und der Handwerkskunst geschaffen, hier lebten die großen Maler, Musiker und Mystiker. Die burgundische Kultur darf überhaupt als die stärkste Repräsentation der »Inkubationszeit« gelten: eine Welt voll Blut und Farbe, roter Brunst und lichtem Schönheitswillen, blühend und finster, kindlich und pervers, dumpf und überprächtig, ein diamantener barbarischer Fiebertraum: als »Herbst des Mittelalters« schildert sie der holländische Gelehrte Huizinga in einem erst jüngst erschienenen vortrefflichen Werk. Für uns ist sie ein geheimnisvoller Vorfrühling, das unterirdische Erwachen eines neuen Lebens unter Schneestürmen, Hagelgüssen und allen launischen Zuckungen einer erwartungsvoll erregten Natur.

Die beiden einzigen Aktivposten, die die europäische Politik in diesem Zeitraum zu verzeichnen hat, sind die Verdrängung der Araber aus Spanien und die Vernichtung der Mongolenherrschaft in Rußland.

Antiklerikalismus

Wie es um die Kirche stand, haben wir bereits mehrfach angedeutet. Eine wilde Verachtung des Klerus ist die Signatur des Zeitalters. Bei allen erdenklichen Anlässen wird die Roheit und Unwissenheit, die Schwelgerei und Unzucht, die Habsucht und Trägheit der Geistlichen gerügt. Sie spielen, trinken, jagen, denken nur an ihren Bauch, laufen jedem Weiberrock nach: besonders in Italien ist Pfaffe und Cicisbeo fast gleichbedeutend. Zahlreiche öffentliche Äußerungen, stehende Redensarten und Sprichwörter spiegeln die landläufige Auffassung, die man diesem Stande entgegenbrachte. Allgemein war man der Ansicht, ein Bischof könne nicht in den Himmel kommen; eine besonders reichliche und üppige Mahlzeit nannte man ein Prälatenessen; vom Zölibat sagte man, es unterscheide sich von der Ehe dadurch, daß der Laie ein Weib habe, der Geistliche aber zehn; »solange der Bauer Weiber hat, braucht der Pfaffe nicht zu heiraten«; »ich kreuzige mein Fleisch, sagte der Mönch, da legte er Schinken und Wildbret kreuzweis übers Butterbrot«. Konkubinen waren beim größten Teil der Kleriker eine Selbstverständlichkeit: man nannte sie, weil sie das ständige Zubehör der Seelenhirten bildeten, »Seelenkühe«; übrigens erklärte selbst eine theologische Autorität wie der Kanzler Gerson, das Gelübde der Keuschheit bedeute nur den Verzicht auf die Ehe; und wenn man jemandem besondere Ausschweifung vorwerfen wollte, so sagte man: er hurt wie ein Karmeliter. Daß Pfaffen Schenken besuchten, zum Tanz aufspielten, Zoten zum besten gaben, war etwas ganz Gewöhnliches, selbst im Vatikan erheiterte man sich gern an Vorlesungen pornographischer Geschichten; zum Konzil von Konstanz strömten aus allen Weltgegenden Kurtisanen, Gaukler und Kuppler herbei, und Avignon galt, seit die Päpste dort residierten, als Bordellstadt. Ja man kann sogar noch weiter gehen und sagen, daß ein Teil des Klerus von einer atheistischen Strömung erfaßt war, die wiederum im Volke ihre Resonanz fand,

Wiclif

Doch dies waren nur verstreute Einzelsymptome eines dumpfen Widerstandes, dem noch das Zielbewußtsein und die Einheitlichkeit fehlte. Die erste gesammelte Attacke gegen die Papstkirche geht von Wiclif aus, der mit wissenschaftlicher Systematik und Präzision, mit Temperament und polemischer Schleuderkraft, ja mit einer fast dichterischen Darstellungsgabe bereits alle Gedanken vertreten hat, die später die Grundlage der Reformation gebildet haben, und sogar in einigen Punkten weit über die Reformation hinausgelangt ist. Er geht von dem einfachen und klaren Prinzip aus, daß die Kirche nicht mehr die Kirche, der Papst nicht mehr der Papst sei. Dieser habe nicht der herrschsüchtige Statthalter, sondern der demütige Diener Christi zu sein, die Regierung über die Seelen sei ihm von Gott nur zum Lehen gegeben, wenn er aber ein schlechter Vasall sei, der das Gesetz seines Herrn nicht halte und sich mit dessen Todfeinden: der weltlichen Begierde und dem weltlichen Besitz, einlasse, so müsse ihm sein Lehen wieder abgenommen werden. Das Papsttum lasse sich überhaupt aus Gottes Gesetz nicht begründen: die Kirche hat kein sichtbares Oberhaupt. Wiclif will also nicht mehr und nicht weniger als eine papstlose Kirche; er führt aber noch zwei weitere wichtige Momente ein: er verlangte für den Laien das Recht, die Bibel zu lesen, die er zu diesem Zweck ins Englische übersetzte, und er bekämpfte fast den ganzen äußeren Apparat der kirchlichen Praxis: Wallfahrten und Reliquiendienst, Beichte und letzte Ölung, Zölibat und hierarchische Gliederung, ja er bestritt sogar das Dogma von der Transsubstantiation. Der Hussitismus hat das System Wiclifs in keinem Punkt erweitert und in vielen Punkten verengert, er ist nichts als eine schwächere und leerere Dublette des Wiclifismus und enthält nicht einen einzigen originalen Zug; aber die Gestalt Hussens wurde furchtbar durch ihren Ernst, ihre Charakterstärke und ihren unbeugsamen Wahrheitswillen, dem freilich auch viel Chaotik, Stiernackigkeit und Engstirnigkeit beigemischt ist: ein Charakteristikum fast aller slawischen Denker.

Papa triumphans

Auf dem Programm des Konstanzer Konzils standen drei Hauptpunkte: die causa unionis, die causa reformationis und die causa fidei; keine dieser drei Fragen ist einer Lösung auch nur nähergeführt worden. Der Konziliarismus war fast eine Art republikanischer Bewegung innerhalb der Kirche, er wollte das Papsttum zu einer Scheinmonarchie, einer Art Mikadotum herabdrücken und die eigentliche Regierung in die Hände des Konzils, des Parlaments der Bischöfe legen; und das Endresultat war nicht nur der Sieg des Kurialismus über alle diese Bestrebungen, sondern der päpstliche Absolutismus.

Das Papsttum war also völlig siegreich, siegreicher denn je. Es triumphierte über die Bischöfe und Landeskirchen, es triumphierte über die Ketzer und Häretiker, es triumphierte über Kaiser und Reich; nur an einem Orte triumphierte es nicht, dem wichtigsten, dem allein entscheidenden: in den Herzen der Menschen. Und darum versinkt es mit einem Male in Ohnmacht, Altersstarre und Asphyxie. Äußere Siege und Niederlagen entscheiden nichts im Gange der Geschichte. Der Kaisergedanke war tot, nicht wegen seiner Niederlagen, der Papstgedanke starb, trotz seiner Siege. Wie der Schatten eines Gespenstes liegt er nur noch über der Welt. Der Papst herrschte unumschränkt; aber man nahm ihn nicht mehr ernst. Man glaubte ihm nicht mehr. Darauf allein aber kommt es an. Er war nicht mehr der Nachfolger Petri, der Hirt der Völker, der Statthalter Christi, er war nur noch der mächtige Kirchenfürst, der oberste Bischof, ein König mit Krone, Geldsack und Kirchenstaat, ein reicher alter Mann wie andere auch.

Was half ihm seine Tiara? Er war nicht mehr der Heilige Vater. Alle mochten ihm huldigen, ihm die Herrschaft über diese Welt zuerkennen, ihm die Herrschaft über jene Welt zuerkennen, es half nichts: er war es nicht. Hätten sich die Päpste redlich bemüht – soweit es in ihren geringen menschlichen Kräften stand – Ebenbilder nicht etwa Christi, nein: bloß Petri zu werden, Ebenbilder des einfältigen, mißverstehenden, wankelmütigen, aber in seiner Einfalt gotterfüllten, in seinem Unverstand inbrünstig nach Verständnis ringenden, in seinem Wankelmut ergreifend menschlichen guten alten Fischers: ganz Europa wäre noch bis zum heutigen Tage katholisch und gläubig katholisch.

So aber dachten sie es sich nicht. Sie wollten ein unerlaubtes Geschäft machen: die Seelen beherrschen und zugleich irdische Herrscher sein; sich von dem Gesetz emanzipieren, daß die eine Herrschaft nur durch den Verzicht auf die andere erkauft werden kann. An dieser Unwahrheit, dieser Unmöglichkeit, dieser verwegenen und ungerechten Herausforderung der moralischen Weltordnung sind sie gescheitert.

Das Einfache siegt immer. In diesem Falle war es die einfache Erwägung: da hält einer Hof in Gold und Purpur, gebietet Millionen, spricht Millionen schuldig, will dem Kaiser seine Rechte nehmen und leitet die Befugnis zu alledem davon ab, daß er der irdische Stellvertreter Eines sei, der als verachteter Bettler unter den Menschen lebte, niemandem gebieten konnte, niemandem gebieten wollte, niemanden schuldig sprach und dem Kaiser gab, was des Kaisers ist: Kaiphas als Statthalter Christi!

Bei alledem dürfen wir aber eines nicht außer acht lassen: abgesehen vom Wiclifismus, der bald nach Wiclifs Tod unter dem Haus Lancaster fast völlig ausgerottet wurde, und vom Hussitismus, der in einem Kompromiß versandete, war die Bewegung vorerst nur antiklerikal, nicht antikatholisch. Das macht einen großen Unterschied. Man bekämpfte nicht die Dogmen und Einrichtungen, sondern bloß deren Verfälschung und Entwürdigung: die Mißbrauche, nicht den Brauch selbst. Es war also gewissermaßen mehr eine juristische Polemik als eine theologische.

Dämonen und Zauberer

In diesem Stadium einer Erschütterung und Desorientierung des Glaubens, wo die Menschheit an den Dienern der Kirche völlig irre geworden war, ohne doch den Mut zu finden, an der Kirche selbst zu verzweifeln, kamen sonderbare Strömungen nach oben, die schon immer unterirdisch wirksam gewesen waren, nun aber durch die allgemeine Ratlosigkeit eine neue Macht im Leben wurden. Da Gott nicht aus seinen Priestern sprach, suchte man nach anderen Verkündern seines Willens und geriet so in einen abenteuerlichen, oft formidabeln und bisweilen skurrilen Dämonenglauben, einen nur sehr notdürftig maskierten Polytheismus. Überall treiben allerlei phantastische Mittelformen zwischen Gott und Mensch ihr Wesen, und die Höllengeister erwecken mehr Angst und Ehrfurcht als die Heiligen. Die ganze Luft ist erfüllt von groben und feinen, klugen und törichten, harmlosen und boshaften Teufelchen: »sie sind so zahlreich wie die Stäubchen im Sonnenstrahl«. Sie sitzen am Eßtisch, in der Werkstatt, auf dem Bettrand, sie reiten auf Böcken durch die Luft, sie erscheinen in Gestalt von Raben, Ratten und Kröten. Und daneben führen in Busch und Wald, in Quell und See, in Feuer und Wind allerlei Naturgeister, trübe Erinnerungen an die antike Mythologie, ein geheimnisvolles Leben. Alle die wundersamen Geschöpfe, die noch heute unsere Kindermärchen bevölkern, beherrschten damals das ganze Tun und Lassen der Erwachsenen: Elfen und Nixen, Feen und Hexen, Nachtmare und Kobolde. Ja selbst die Heiligen der Kirche werden zu Naturgöttern, zu heidnischen Elementarwesen. Auch die Juden, die Ketzer und die Mohammedaner erregten nicht bloß Haß und Abscheu, sondern ebensosehr Angst und ehrfürchtiges Grauen, alle Welt glaubte an die Hostienschändungen, Teufelsmessen und Ritualmorde. Es hieße aber die wahre Triebfeder dieses Aberglaubens sehr verkennen, wenn man ihn auf wahnwitzigen religiösen Fanatismus oder gar auf bewußte böswillige Verleumdung zurückführen wollte. Das Volk erblickte in diesen gottfeindlichen Handlungen keine bloße Negation, sondern einen sehr realen Teufelsdienst, eine Art gewendetes Christentum, zu dem es mit derselben Bewunderung emporblickte wie zur Gestalt des Antichrist. Die damaligen Menschen waren, wie wir bereits betont haben, von der mehr oder minder klaren Überzeugung durchdrungen, daß der Teufel die Welt beherrsche, und es war daher nur logisch, daß sie auch an die geheime Existenz einer Teufelskirche, einer Teufelsgemeinde, eines Teufelsrituals glaubten.

Daneben gewann ein abstruser, aber systematischer Zauberglaube immer mehr an Ausdehnung. Besprechen und Wahrsagen, Auslegung der Träume und des Vogelflugs, Befragung der Stunden und der Planeten gehörte zur Ökonomie des täglichen Lebens. In allem erblickte man eine Vorbedeutung: im Pferdegewieher und im Wolfsgeheul, in der Richtung der Winde und in der Gestalt der Wolken. Flüche und Segenssprüche besaßen eine bannende oder herbeiziehende Kraft; bestimmte Zeichen und Gesten konnten binden und lösen. Begegnete man einem Buckligen, so bedeutete es Glück, begegnete man einem alten Weib oder – was sehr bezeichnend ist – einem Geistlichen, so verhieß es Unheil. Auch in zahlreichen Legenden spiegelt sich der Glaube an die allgegenwärtige und oft siegreiche Macht des Bösen, so vor allem in der weitverbreiteten Sage vom Zauberer Virgilius, einer luziferischen Gestalt, die erfolgreich den Geboten Gottes trotzt, durch schwarze Kunst Gold und Herrschaft erwirbt und in ihrem magischen Spiegel alles Wissen der Welt erschaut: der Vorläufer des Faust. Und über alledem wölbt sich wie eine finstere Kuppel ein weltumspannender Fatalismus, der in der tatlosen Prostration vor dem längst in den Sternen verzeichneten Schicksal die letzte Weisheit erblickt.

Geldwirtschaft mit schlechtem Gewissen

Und nun bricht noch, um das Unglück voll zu machen, über diese religionslose Welt die trübe gelbe Flut des Goldes herein. Reichtum, zumal plötzlicher, wirkt immer depravierend; hier aber handelte es sich noch dazu um eine junge, gänzlich unvorbereitete Menschheit, der die mittelalterliche Anschauung von der Sündhaftigkeit des Geldnehmens noch tief im Blute saß. »Gott hat drei Leben geschaffen: Ritter, Bauern, Pfaffen. Das vierte schuf des Teufels List: das Leben Wucher genennet ist«, sagt Freidank; er versteht aber unter Wucher offenbar jegliche Art von Handel. Dieselbe Ansicht faßt Cäsarius von Heisterbach in dem lapidaren Satz zusammen: Mercator sine peccamine vix esse potest. Auch die Bettelmönche vertraten ähnliche Anschauungen, und wenn man sie darauf verwies, daß ja selbst der Heiland sich des Geldes bedient habe, so erwiderten sie: »Ja, aber den Säckel gab er Judas!« Und noch Geiler von Kaisersberg sagt: »Mit Geld wuchern heißt nicht arbeiten, sondern andere schinden in Müßiggang.« Man hatte offenbar die Ansicht, daß Zinsnehmen, Warenvertreiben, überhaupt aller Erwerb, der nicht aus der Erzeugung, sondern aus dem Umsatz von Gütern fließt, nur eine feinere und verstecktere Form des Betruges sei. Diese Auffassung ist gar nicht so paradox, wie sie dem modernen Empfinden auf den ersten Blick erscheinen mag; wir bekennen uns zu ihr bis zu einem gewissen Grade noch heute, nämlich in der sogenannten guten Gesellschaft. Auch dort nämlich würde eine Person sogleich der sozialen Achtung verfallen, wenn man von ihr erführe, daß sie sich damit befaßt, Freunden und Bekannten gegen Zinsen (und seien es auch ganz bürgerliche Zinsen) Geld zu leihen oder ihnen mit Nutzen (und sei es auch ein ganz bescheidener Nutzen) Gegenstände weiterzuverkaufen: hier hat sich also ein ethisches Prinzip, das früher alle Welt beherrschte, noch in einem Kreis, der gewissermaßen eine Enklave des Anstands und der guten Sitten bildet, lebendig und wirksam erhalten. Übrigens ist es noch gar nicht so lange her, daß man in England auf das Prädikat gentleman nur Anspruch erheben konnte, wenn man keine merkantile Beschäftigung ausübte.

Das Handwerk galt nicht als Handel und war es auch nicht, denn hier wurde die Arbeit bezahlt, nicht die Warenvermittlung, wie denn auch in den meisten Fällen die Rohstoffe noch von der Kundschaft geliefert wurden: man brachte dem Schneider Tuch, dem Schuster Leder, dem Bäcker Mehl, dem Lichtzieher Wachs. Nun gab es aber doch schon zahlreiche Personen, die von Kauf und Verkauf lebten. Diese befanden sich nun in einer sehr sonderbaren psychischen Verfassung. Einerseits teilten sie selber die Anschauungen des Zeitalters, andererseits wollten sie aber doch von ihrer einträglichen Beschäftigung nicht lassen: sie trieben Handel, aber mit schlechtem Gewissen. Ein solcher Zustand mußte aber sehr demoralisierend wirken, indem er Desperadogefühle erzeugte: man empfand sich als outlaw, als jenseits von Gut und Böse des Zeitalters und geriet so in die Psychose des Immoralisten.

Das Weltbordell

Wenn wir jetzt auf die Unsittlichkeit des Zeitalters zu sprechen kommen, so müssen wir dabei zunächst zweierlei erwägen: erstens, daß im Grunde jedes Zeitalter »unsittlich« ist, und zweitens, daß Unsittlichkeit oft nichts anderes bedeutet als eine höhere freiere kompliziertere Form der Sittlichkeit. In unserem Falle aber wird man doch wohl sagen dürfen, daß jenes normale und sozusagen legitime Ausmaß an Sittenlosigkeit, das wahrscheinlich zum eisernen Bestand der Menschheit gehört, beträchtlich überschritten worden ist und daß alle jene Lebensäußerungen, die vielleicht unter anderen Umständen als Ausdruck einer wachsenden Vorurteilslosigkeit und einer feineren Empfindlichkeit für sittliche Nuancen angesprochen werden könnten, hier ganz im Gegenteil die Symptome eines moralischen Starrkrampfs, einer völligen Anästhesie gegen alle sittlichen Empfindungen darstellen.

Für die Freiheit im Geschlechtsverkehr sind vor allem die Badehäuser charakteristisch, die sich überall, sogar in Dörfern fanden und nichts anderes waren als Rendezvousplätze für Liebespaare oder Gelegenheitsorte für Anknüpfung von Bekanntschaften. Männer und Frauen badeten völlig nackt, höchstens mit einem Lendenschurz bekleidet, und meist vom Morgen bis zum Abend: entweder in derselben Wanne zu zweit oder in großen Bassins, die von Galerien für Zuschauer umgeben waren; natürlich gab es dort auch Séparées. Diese Lokale wurden durchaus nicht bloß von Dirnen und leichtfertigen Frauen, sondern von aller Welt besucht. Ein noch viel lockereres Leben entfaltete sich in den Badeorten, wo, wie dies ja zu allen Zeiten gewesen ist, neben den Heilsuchenden auch alle Arten von Abenteurern, Lebemännern und liebeshungrigen Frauen zusammenströmten. Ein Badesegen jener Zeit lautet: »Für die unfruchtbaren Frauen ist das Bad das Beste. Was das Bad nicht tut, das tun die Gäste.« Andererseits hört man auch wieder viel von Kindesabtreibung in vornehmen Kreisen. So sagt schon Berthold von Regensburg: »Sie wollen nur ihr Vergnügen mit den Männern haben, aber nicht die Arbeit mit den Kindern.« Die »Frauenhäuser« waren zahlreicher als je vorher und nachher: jedes kleine Städtchen besaß deren mehrere. Bezeichnend sind die Magistratsverordnungen, die verbieten, »Mädchen aufzunehmen, die noch keine Brüste haben«: es war also allem Anschein nach nicht ungebräuchlich, Kinder ins Bordell zu bringen. Ebenso charakteristisch ist das Verbot, zwölf- bis vierzehnjährige Knaben weiterhin als Gäste ins Frauenhaus zu lassen. Auch verheiratete Frauen begaben sich nicht selten dorthin. Die »Hübschlerinnen« genossen übrigens ein gewisses soziales Ansehen: man war noch weit entfernt von unserer Tartüfferie, die diese Märtyrerinnen der Gesellschaft mit Verachtung belohnt. Bei den offiziellen Empfängen der Fürsten erschienen sie korporativ, denn sie waren, wie bereits erwähnt wurde, ebenso organisiert wie jedes andere Gewerbe, und das unbefugte Treiben der »Bönhäsinnen«: der Mägde, Kellnerinnen und Bürgerstöchter wurde von ihnen scharf kontrolliert; besonders schwer hatten sie über die Schmutzkonkurrenz der Nonnenklöster zu klagen, wie überhaupt im damaligen Sprachgebrauch Nonne und Hure fast synonyme Begriffe waren. Als einmal die Zustände in einem fränkischen Kloster so skandalös wurden, daß der Papst eine Untersuchung anordnete, mußte der damit beauftragte Kommissär berichten, er habe fast alle Nonnen in gesegneten Umständen angetroffen. Auch die Männerklöster waren oft der Schauplatz von Orgien, und die Homosexualität war unter den Ordensmitgliedern beiderlei Geschlechts in weitem Umfange verbreitet.

Eine merkwürdige Sitte waren die »Probenächte«. Sie bestanden darin, daß das Mädchen dem Liebhaber jede Zärtlichkeit erlaubte, ohne sich ihm hinzugeben. Auf diese Weise konnten beide Teile sich von den Qualitäten des Partners überzeugen, und dieser Verkehr führte durchaus nicht immer zur Ehe, auch war das Mädchen ebensooft die verzichtende Partei wie der Mann. Es erinnert dies einigermaßen an das »Fensterln« oder »Gasseln«, wie es noch heute hier und da auf dem Lande üblich ist, nur war dieser Brauch damals in allen Kreisen, auch in den allerhöchsten, gang und gäbe. Ja, es kam sogar nicht selten vor, daß ein Ehemann seinen Gast, um ihn besonders zu ehren, bei seiner Frau »auf Treu und Glauben liegen« ließ. Andererseits hatten die Ehemänner nicht nur häufig offizielle Konkubinen, sondern die unehelichen Kinder wurden auch mit den ehelichen zusammen erzogen.

Es herrschte eben auf sexuellem Gebiet die größte Unbefangenheit. Unflätige und unzüchtige Lieder waren bei den öffentlichen Tanzbelustigungen etwas Gewöhnliches (wie übrigens auch heute noch bei den Bauern), Küsse und Umarmungen waren die offizielle Form der Galanterie; wenn ein Kurmacher einer Dame, die er eben kennen gelernt hatte, seine Verehrung beweisen wollte, griff er ihr einfach in den Busen. Daß Männer und Frauen sich in ungeniertester Weise voreinander entkleideten, kam nicht nur in den Badehäusern, sondern bei jeder Gelegenheit vor: als Ludwig der Elfte in Paris einzog, wählte man die schönsten Mädchen der Stadt aus und ließ sie splitternackt allerlei Schäferspiele vor dem König aufführen. Schließlich wollen wir nicht unerwähnt lassen, daß es behördlich konzessionierte Falschspieler gab.

Wir haben gar keinen Anlaß, uns über diese Zustände pharisäisch zu entrüsten: es geschah damals nur offen und unverblümt, was später geheim und maskiert vor sich ging; aber eben die Tatsache, daß diese Dinge von der öffentlichen Meinung sanktioniert waren, ist ein Symptom für die Hemmungslosigkeit des damaligen Menschenschlags.

Das Narrengewand

Der ganze Geist der Zeit prägt sich eindringlich und klar in dem Kostüm aus, das damals aufkam. Es ist die Kleidung von Erotomanen und Verrückten, ein wüster Hexensabbat von Formen und Farben, wie er in der Geschichte der Trachten vielleicht einzig dasteht. Die Frauen tragen kreisrunde Löcher im Gewand, die die nackten Brüste sehen lassen, der Gürtel drängt den Busen gewaltsam nach oben, um ihn möglichst voll erscheinen zu lassen, auch durch Ausstopfen wird gern nachgeholfen; an den Hosen der Männer, die ganz prall anliegen, um die Formen möglichst stark zur Geltung zu bringen, sind weithin sichtbare Penisfutterale angebracht, oft von riesigen Dimensionen. Mit diesen exhibitionistischen Moden kontrastiert seltsam die oft völlige Verhüllung des Antlitzes durch groteske Kapuzen, die Gugeln, die nur einen Ausschnitt für die Augen freilassen. Daneben macht sich ein Zug zum Perversen geltend: die Damen tragen Pagenfrisuren, die Männer kokette Locken, die sorgfältig mit Eiklar gekräuselt sind, und nicht selten sogar Zöpfe, sie schnüren sich und machen sich künstliche Brüste. Falls Vollbärte getragen werden, sind sie von bizarren Formen: entweder gabelförmig geteilt oder ganz spitz, mit zwirndünnen Enden, die im Bogen nach oben gedreht werden; dabei immer stark parfümiert und mit Vorliebe rot gefärbt: diese diabolische Farbe, die sonst gewöhnlich ein gewisses Odium an sich hat, wird jetzt die bevorzugte Mode. Abenteuerlich nach oben gekrümmt sind auch die riesigen Schuhe, deren Spitzen bisweilen bis zum Knie reichen und dort mit Schnüren befestigt werden müssen. Dazu kommen bei den Frauen enorme Schleppen und monströse Hauben, von denen lange Schwänze bis zum Boden herabschleifen, bei den Männern Zuckerhüte oder hohe Turbane und geschlitzte Wämser, von denen dicke Quasten und Troddeln oder lange gezackte Tuchstreifen, die sogenannten Zatteln, herunterbaumeln. Die Kleider waren mit Gold, Perlen und Edelsteinen und seltsamen eingestickten Figuren geschmückt: Blitzen, Wolken, Dreiecken, Schlangen, Buchstaben, symbolischen Zeichen. Die Farben waren glänzend und unruhig: Zinnoberrot, Grasgrün, Lachsrosa, Schwefelgelb waren besonders beliebt. Zugleich sollte die Kleidung einen möglichst gescheckten, gewürfelten Eindruck machen: man nähte daher die Röcke aus vielerlei verschiedenfarbigen Lappen zusammen, trennte die Ärmel auf, so daß das grellbunte Futter hervorsah, und wählte für Schleppen und Zatteln besondere Einfassungen, auch die beiden Hosenbeine durften nicht die gleiche Couleur haben. Dazu kam ein reicher Besatz von Goldstücken oder silbernen Schellen, die bei jeder Bewegung klingelten, kurz: es ist das stereotype Gewand, unter dem wir uns noch heute einen Narren vorstellen, und es fehlt nichts als die Pritsche.

Die Vision

Blicken wir auf alles noch einmal zurück, so haben wir die Impression eines tollen, grauenvoll unwirklichen Höllenspuks, und zwar, wie nochmals hervorgehoben werden muß, auch in jenen Partien des Bildes, die den Eindruck eines behaglich gefestigten, im praktischen Tun sicher verankerten Daseins machen. Denn auch hier ist die realistische Lebenshaltung nur Hülle und Maske, die harte und glänzende Schale, die einen giftigen und verfaulten Kern deckt: die Flucht in die Welt ist nicht Selbstzweck, nur Flucht vor sich selber. So hat es auch jener große englische Dichter gesehen, der in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts unter dem Namen William Longland die »Vision Peters des Pflügers« schrieb: in einer Reihe von erschütternden Gesichten zieht das Zeitalter mit allen seinen Lastern vorüber, die sich von Gesang zu Gesang zu immer unerträglicherer Schreckhaftigkeit steigern; und als der Dichter endlich aus seinen Träumen erwacht, muß er bitterlich weinen.

Der Börsianer auf dem Thron

Wenn wir nun eine repräsentative Erscheinung nennen sollten, die das Bild des Zeitalters in verkürzten, aber eben darum übersichtlicheren Linien darstellt, so befinden wir uns in großer Verlegenheit: die Zeit hat nirgends solche Männer hervorgebracht. Es ist alles noch eine Masse, ein Rohstoff, ein Sauerteig, ein allgemeines Suchen und Tasten, das sich an keinem Punkte in einem starken Individuum zur selbstbewußten Klarheit kristallisiert. Wir müssen zu diesem Zwecke um fast hundert Jahre zurückgehen, und da finden wir allerdings zwei Persönlichkeiten, die die beiden antagonistischen Tendenzen des Zeitalters sozusagen vorverkörpert haben: zwei deutsche Kaiser, Rudolf von Habsburg und Friedrich der Zweite. Insofern sie das Vorstellungsleben späterer Generationen antizipiert haben, besaßen sie beide etwas Geniales, obschon man sich bei dem Habsburger zu diesem Prädikat wohl nur in dem Sinne wird entschließen können, daß er die Wesenszüge des ungenialen und antigenialen Menschen mit solcher Energie in sich konzentriert und zum höchsten Extrem gesteigert hat, daß man eben auch darin wieder eine schöpferische Tat erblicken muß. Vorauseilend hat er den ganzen Materialismus der städtischen Kultur in sich bereits erlebt und inkarniert; in einer Zeit, die die Zusammenhänge des Lebens noch vorwiegend romantisch sah. Es ist weder einem kuriosen Zufall noch einem schlauen Frontwechsel der kurfürstlichen Politik zu verdanken, daß nach den Hohenstaufen ein solcher Mann auf den Thron gelangte. In diesem Geschlecht hatte die Kaiseridee ausgeblüht; das deutsche Königtum hatte von nun an nur noch zwei Möglichkeiten: entweder völlig abzudanken oder aber sich auf eine neue Basis zu stellen, sein Gesicht so vollständig zu verändern, daß eine Negation des Bisherigen herauskommen mußte. Dies tat Rudolf von Habsburg: darum war er der rechte Mann. Und es ist klar, daß auch nur ein Mensch mit seinen Eigenschaften im Deutschen Reich Ordnung machen konnte: ein völlig feuerloser, idealloser, nur auf das Handgreiflichste und Nächste gerichteter, dies aber fest und sicher erfassender Geist. Rudolf von Habsburg ist der erste große Philister der neueren Geschichte, der erste bürgerlich orientierte Mensch im Königsmantel; in ihm gelangt der Geschäftsmann, der Realpolitiker, der Hausmachtschieber ans Staatsruder, der Mann ohne Vorurteile, das heißt: ohne Gewissen und ohne Phantasie.

Eine eigentümliche, fast unheimliche Glanzlosigkeit liegt um seine Gestalt und seine Regierung. Wie sein Gewand, so war dieser ganze Mensch: grau, farblos, abgetragen, unansehnlich, unrepräsentativ. Seine vielgerühmte »Schlichtheit« hatte ihre Wurzel teils in schlauer Berechnung, einem Werben um Lesebuchsympathien, teils in Kleinlichkeit und Geiz, teils in einem völligen Mangel an Temperament. Er war eine vollkommen amusische Natur, ohne Verständnis oder auch nur Sympathie für die Künste, gegen die Dichter seines Hofes knauserig und sie nur so weit fördernd, als er in ihnen eine »gute Presse« witterte, wie er denn überhaupt alle Menschen nur unter dem Gesichtspunkt seines persönlichen Vorteils ansah, den er ebenso vorsichtig zu erspähen wie energisch festzuhalten wußte: der Prototyp des biegsamen und zähen, fischblütigen und gewalttätigen, versierten und skrupellosen selfmademan. Römisch war er aus reiner Politik, weder aus Frömmigkeit noch aus Überzeugung, auch nicht aus Bigotterie: denn in diesem engen Herzen hatte nicht einmal der Fanatismus Platz. Er war, wie alle Geschäftsleute, sehr peinlich um den äußerlich guten Ruf der Firma besorgt, was ihn natürlich nicht hinderte, überall, wo es sich vertuschen oder beschönigen ließ, zu den gröbsten Unredlichkeiten und Brutalitäten zu greifen und bei jeder passabeln Gelegenheit zu schnorren und zu erpressen. Sehr treffend sagt Johannes Scherr von ihm, daß er heutzutage wahrscheinlich an der Börse gespielt hätte wie Louis Philipp. Er erinnert auch darin an einen modernen Finanzmann, daß er die typische Börsianersexualität besaß, jene grobe Form der Geilheit und Potenz, die bei großen Geldmännern sehr häufig angetroffen wird. Schon die Zahl seiner legitimen Kinder war sehr groß, und er heiratete noch mit Sechsundsechzig Jahren ein vierzehnjähriges Mädchen, aber auch das scheint ihm nicht genügt zu haben, denn er hielt sich »auf Anraten der Ärzte« dazu noch mehrere Mätressen.

Der Instinkt der Geschichte hat aber trotz oder vielmehr wegen dieser dubiosen Charaktereigenschaften durchaus das Richtige getroffen, wenn er in ihm den Inaugurator einer neuen Zeit und, im besonderen, den Begründer der österreichischen Großmacht erblickt hat. Denn er war es in der Tat, der den Kanevas geschaffen hat, nach dem Österreich groß geworden ist und allein groß werden konnte: er ist der Urheber der Austria-nube-Politik und der Erfinder jener Taktik des »Temporisierens«, Lavierens, Hinhaltens, halben Versprechens, die sich sechs Jahrhunderte lang für die Habsburger so erfolgreich erwiesen hat; und er hat schon damals mit klarem Blick die Trassen für das spätere österreichisch-ungarische Staatsgebilde abgesteckt: Böhmen, Ungarn, Südslawien, gruppiert um den festen Kern der deutschen Stammländer. Er war die siegreiche Verkörperung eines Seelenzustandes, den die Welt erst viel später in seiner Nützlichkeit und in seiner Nichtsnutzigkeit begriff und dem erst Kürnberger einen Namen gegeben hat: der »österreichischen Haus,- Hof- und Staatspflicht: nicht zu sein, sondern zu scheinen«.

Der Nihilist auf dem Thron

Eine Figur von ganz anderem Guß ist Friedrich der Zweite: einer der genialsten Menschen, die jemals eine Krone getragen haben. Er erinnert in seiner humanen Universalität und weitblickenden Staatsklugheit an Julius Cäsar, in seiner Freiheit und Geistigkeit an Friedrich den Großen und durch sein Feuer, seinen Unternehmungsgeist und eine gewisse künstlerische Lausbubenhaftigkeit an Alexander den Großen. Alle diese Eigenschaften haben aber bei ihm eine ausgesprochen nihilistische Färbung: sein universelles Verständnis für alles Menschliche wurzelt weniger in der Erkenntnis, daß alles Lebende gleichberechtigt ist, als in der Überzeugung, daß niemand recht hat; seine Denkfreiheit ist eine Form des Atheismus, seine feine und überlegene Geistigkeit Skeptizismus, sein Temperament und seine Energie eine Art schöpferisches Auflösen aller politischen und religiösen Bindungen: er war nur ein Zertrümmerer, freilich ein grandioser und dämonischer.

Fühlte sich Rudolf von Habsburg sozusagen moralisch exterritorial, weil er in seinem extremen Materialismus ethische Gesichtspunkte überhaupt nicht bemerkte, so kam bei Friedrich eine ganz ähnliche Geisteshaltung dadurch zustande, daß er diese Gesichtspunkte tief unter sich erblickte. Er war ungefähr das, was Nietzsche unter einem »freien Geist« versteht: von einer großartigen Gewissenlosigkeit, einer antiken Ruchlosigkeit, wie sie etwa in Gestalten wie Alkibiades und Lysander verkörpert ist, dabei, wie fast alle freien Geister, »abergläubisch«, der Astrologie und Nekromantik ergeben, alles Geschehen mit dem kalten Blick des Fatalisten abmessend, der sich als Schachfigur einer blinden und oft absurden Notwendigkeit empfindet. Es steht dazu in gar keinem Widerspruch, daß er zugleich ein eminent wissenschaftlicher Kopf war, Studien und Untersuchungen förderte, die der damaligen Anschauung als wertlos oder gottlos erschienen, Universitäten, Bibliotheken und den ersten zoologischen Garten gründete, ein geradezu leidenschaftliches Interesse für Naturkunde besaß, selber eine ausgezeichnete ornithologische Abhandlung verfaßte und alles in die Einflußsphäre seines Hofes zu ziehen suchte, was vorwärtsdrängend, geistig regsam, philosophisch orientiert war: in den Dichtern freilich hat er, obgleich er selber einer der ersten war, die italienische Verse schrieben, ebenfalls nur politische Werkzeuge erblickt, aber er hat sich ihrer in unvergleichlich großzügigerer und verständnisvollerer Weise bedient als Rudolf. Dabei war er aufs tiefste von seinem Gottesgnadentum durchdrungen, das er aber auf eine für mittelalterliche Ohren höchst befremdliche Weise als eine naturgesetzliche Notwendigkeit definierte. Daß er die Sarazenen lieber hatte als die Christen, ist bekannt: diese feinen, kühlen Weltleute mit ihrer raffinierten Diplomatie und Liebeskunst, ihrer toleranten und schon etwas senilen Philosophie, ihrer hochentwickelten Algebra und Medizin, Sternwissenschaft und Chemie mußten einer Natur wie der seinigen viel näher stehen. Sein Vorgehen in Palästina ist ein Unikum in der ganzen Geschichte der Kreuzzüge. Obgleich vom Papst gebannt und von den Kreuzrittern nicht unterstützt, ja befehdet, hat er dennoch größere positive Erfolge erzielt als alle seine Vorgänger, und zwar ganz einfach durch gütliche Verhandlung mit der arabischen Regierung. Es stellte sich sehr bald heraus, daß der Sultan ein ebenso feingebildeter, wohlerzogener und einsichtsvoller Kavalier war wie der Kaiser, und es am sehr bald zu einer für beide Teile günstigen Lösung des Palästinaproblems. Aber das Vernünftige und Natürliche hat für die Menschen niemals großen Reiz besessen, und die Zeitgenossen haben Friedrich für seine unblutigen Siege im gelobten Land wenig gedankt.

Die drei Betrüger

Weltbekannt ist der Ausspruch, den er getan haben soll: die drei größten Betrüger, die je gelebt haben, seien Moses, Christus und Mohammed gewesen; ja man behauptet sogar, daß ein Buch dieses Inhalts »De tribus impostoribus« von ihm verfaßt worden sei. Dies ist ganz bestimmt falsch; aber auch der Ausspruch ist nicht nachweisbar. Ein andermal soll er beim Anblick eines Kornfeldes ausgerufen haben: »Wie viele Götter wird man aus diesem Getreide entstehen sehen?« Einem sarazenischen Fürsten, der ihn bei einer Messe fragte, was die erhobene Monstranz bedeute, soll er geantwortet haben: »Die Priester erdichten, dies sei unser Gott.« Auch diese Worte sind wahrscheinlich legendär. Es liegt jedoch in solchen Anekdoten, die hartnäckig die Jahrhunderte überdauern, immer eine tiefere Wahrheit. Auch Galileis Ausspruch: » E pur si muove« ist nicht historisch, und Luther hat niemals gesagt: »Hier steh ich, ich kann nicht anders.« Mit solchen Erdichtungen soll aber ausgedrückt werden, daß diese Männer diese Worte damals gesagt haben könnten, ja daß sie sie eigentlich hätten sagen müssen: sie haben den Zweck, die tatsächliche Situation einheitlicher und eindrucksvoller zusammenzufassen, und sind daher in gewissem Sinne wahrer als die Wahrheit der Geschichte. Ebenso verhält es sich mit der Bemerkung von den »drei Betrügern«. Der Kaiser wollte mit ihr wahrscheinlich folgendes sagen: ich sehe, daß die Jünger Mosis unablässig gegen die zehn Gebote sündigen; ich sehe, daß die Schüler Mohammeds gegen den Koran leben; ich sehe, daß die Bekenner Christi in seinem Namen hassen und morden; wenn dem so ist, dann sind alle drei Religionen: Judentum, Islam und Christentum ein großer Betrug. Hingegen ist es gänzlich unwahrscheinlich, daß er damit irgendeine Gehässigkeit gegen die Person der drei Religionsstifter zum Ausdruck bringen wollte: dazu hätte er ein fanatischer religiöser Desperado oder ein moderner aufgeklärter Schwachkopf sein müssen. Er war aber keines von beidem, sondern das Erschütternde an seiner Gestalt ist eben der völlige religiöse Indifferentismus, der ihn durchdrang: er haßte und bekämpfte keines der drei monotheistischen Bekenntnisse, sondern sie waren ihm alle drei gleichgültig. Auch die Überzeugung von der Fluchwürdigkeit einer Glaubenslehre ist noch ein Glaube; Friedrich aber glaubte an gar nichts. Nietzsche korrigiert einmal: » Tout comprendre c'est tout mépriser«: dieser mépris für alle und alles war das verheerende Grundpathos in der Seele Friedrichs des Zweiten.

Es ist begreiflich, daß diese geheimnisvolle Persönlichkeit bei den Zeitgenossen ebensoviel Abscheu wie Bewunderung erregt hat: die einen nannten ihn stupor mundi, das Wunder der Welt, die anderen erblickten in ihm den Antichrist. »Aus dem Meer ist ein Tier aufgestiegen«, beginnt ein Sendschreiben Gregors des Neunten, »voll Namen der Lästerung, mit den Füßen eines Bären, dem Rachen eines wütenden Löwen und an allen übrigen Gliedern einem Pardel gleich. Betrachtet genau Haupt, Mittel und Ende dieses Tieres, das sich Kaiser nennt.« Das Volk aber machte aus ihm einen Nationalheiligen, eine unvergängliche Sagengestalt. Es hieß, er sei gar nicht gestorben, sondern werde eines Tages wiederkehren, um den päpstlichen Stuhl umzuwerfen, ein Reich des Glanzes und der Herrlichkeit zu errichten und allen Mühseligen und Beladenen als Heiland und Befreier zu erscheinen. Immer wieder tauchten von Zeit zu Zeit falsche Friedriche auf, der letzte erst im Jahre 1546. Dann wieder hieß es, er schlafe im Kyffhäuser, und diese Legende ist erst im prosaischen neunzehnten Jahrhundert auf seinen viel unbedeutenderen Großvater Friedrich den Ersten übertragen worden, dessen roter Bart seither zum Entzücken aller Oberlehrer um den Marmortisch wächst.

Coincidentia oppositorum

Aber im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert war Europa überhaupt von lauter kleinen Rudolfen und Friedrichen bevölkert. Nun entspringen ja Materialismus und Nihilismus einer ganz ähnlichen Seelenverfassung. Beide leugnen die Wirksamkeit höherer Kräfte im Dasein: der Nihilismus, weil er nicht mehr, der Materialismus, weil er noch nicht an sie glaubt. Beide sind Krankheitserscheinungen, pathologische Lebensaspekte: der Nihilismus, weil er zu sehr von der Realität abrückt, sie aus einer zu fernen Perspektive ansieht, in der alles zu wesenlosem Dunst und Nebel verschwimmt, der Materialismus, weil er zu wenig von der Realität abrückt, sie aus seiner nahen Perspektive ansieht, in der die großen und wesentlichen Züge nicht erkennbar sind. Der Nihilismus leidet an Herzerweiterung, indem er alles gleichberechtigt anerkennt, was so viel heißt wie: nichts; das Gebrechen des Materialismus ist die Engherzigkeit, die nichts gelten läßt als das direkt Greifbare und den gröbsten Sinnen Eingängige, das heißt: das Wertlose und Unwichtige. Beide Standpunkte repräsentieren eine unernste Auffassung des Daseins, beide sind unfundiert, wurzellos. Der Philister hängt genau so in der Luft wie der Freigeist.

Dies ist die geheime innere Verwandtschaft, die zwischen diesen beiden Geistesrichtungen besteht. In ihrer Auswirkung und äußeren Erscheinung jedoch sind sie extreme Gegensätze, völlig polare Lebensanschauungen. Von allen möglichen Formen, unter denen sich die Wirklichkeit begreifen läßt, sind sie offenbar die beiden verschiedensten. Wie war es nun möglich, daß zwei so schroffe Kontraste in demselben Zeitalter, ja oft in demselben Menschen nebeneinander bestehen konnten? Hier gelangen wir zu dem Zeitgedanken, der diese ganze »Inkubationszeit« erfüllt und beherrscht hat; und während wir bei der Feststellung der repräsentativen Persönlichkeiten zu einem künstlichen Auskunftsmittel, einer Notkonstruktion greifen mußten, befinden wir uns hier in einer weit günstigeren Lage. Denn eben dies: daß das Leben in der Vereinigung scheinbar ganz unvereinbarer Gegensätze bestehe, daß der Mensch nichts anderes sei als das Zusammentreffen zweier Widersprüche, ist der Grundgedanke der Zeit, und er ist von dem größten, ja vielleicht einzigen Philosophen des Zeitalters mit leuchtender Klarheit formuliert worden.

Nikolaus Cusanus

Dieser Philosoph war Nikolaus aus Kues bei Trier, genannt Cusanus, gestorben 1464, einer der vielseitigsten Gelehrten des Zeitalters, der vom Sohn eines armen Moselfischers zum einflußreichen Kirchenfürsten emporstieg. In den großen theologischen Streitigkeiten seines Jahrhunderts hat er eine entscheidende Rolle gespielt: er vertrat dabei die moderne, die konziliare Anschauung, die er in seinem großen Werk »de concordantia catholica« dem Baseler Konzil unterbreitete. Sein Hauptgegner war Johannes de Torquemada, der in seiner Abhandlung »Summa de ecclesia et eius auctoritate« für Jahrhunderte die Grundlinien der papalistischen Doktrin festgelegt hat. Nikolaus Cusanus war auch der erste, der die konstantinische Schenkung bezweifelte, die dann Laurentius Valla als Fälschung entlarvte; er hat ein Religionsgespräch verfaßt, in dem er für die Vereinigung sämtlicher Konfessionen: der Christen, Juden, Türken, Inder, Perser eintritt; er beantragte in der Schrift »De reparatione calendarii« eine Kalenderreform, die die gregorianische vorwegnimmt, und er lehrte die Kugelgestalt und Achsendrehung der Erde. In seiner Philosophie ist er, als früherer Zögling der Fraterherren von Deventer, teilweise Mystiker; aber auch gewisse scholastische und naturphilosophische Gedankengänge finden in seinem Lehrgebäude ihren Platz, und so kommt es, daß ihn die verschiedensten Schulen für sich reklamiert haben. In Wirklichkeit war er ein umfassender Geist vom Schlage Leibnizens und Hegels, der den gesamten Bildungsgehalt seiner Zeit in sich zur organischen Einheit assimiliert hatte.

Auf der Rückfahrt von Konstantinopel, wo er sich als päpstlicher Gesandter aufgehalten hatte, 1438, ging ihm das Grundprinzip seiner Philosophie auf: die coincidentia oppositorum. Alles Existierende ist, lebt und wirkt dadurch, daß es der Kreuzungspunkt zweier Gegensätze ist. Eine solche coincidentia oppositorum ist Gott, der das absolute Maximum darstellt, denn er ist die allumfassende Unendlichkeit, und zugleich das absolute Minimum, denn er ist in jedem, auch dem kleinsten Ding enthalten; eine coincidentia oppositorum ist die Welt, die in den Einzelwesen eine unermeßliche Vielheit, als Ganzes aber eine Einheit bildet; eine coincidentia oppositorum ist jedes Individuum, denn es ist nicht bloß im All enthalten, sondern auch das ganze All in ihm: in omnibus partibus relucet totum; eine coincidentia oppositorum ist der Mensch, der als ein Mikrokosmos, ein parvus mundus alle erdenklichen Gegensätze: Sterblichkeit und Unsterblichkeit, Körper und Seele, Tierheit und Gottheit in sich vereinigt und dazu noch von dieser Verknüpfung weiß; eine coincidentia oppositorum ist schließlich der Cusaner selbst, der Religion und Naturwissenschaft, Patristik und Mystik miteinander versöhnt hat, ein bedächtiger Bewahrer des Alten und feuriger Verkünder des Neuen, Weltmann und Gottsucher, Ketzer und Kardinal, der letzte Scholastiker und der erste Moderne.

Wie aber diese allseitige Konkordanz des scheinbar Feindlichen, diese Übereinstimmung des Widerstreitenden zustande kommt, das ist ein göttliches Geheimnis, das wir nicht durch den Verstand ergründen, sondern nur durch übersinnliches Schauen erfassen können: durch einen inneren Vorgang, den der Cusaner, indem er wiederum zwei Widersprüche zusammenkoppelt, als docta ignorantia, als comprehensio incomprehensibilis bezeichnet. Die Phänomene des Magnetismus und der Elektrizität waren ihm noch nicht bekannt, sonst hätte er auch aus ihnen die bedeutsamsten und sprechendsten Belege für seine Lehre von der Polarität entnehmen können. Es ist, alles in allem genommen, das Prinzip der schöpferischen Paradoxie, das er in die Philosophie eingeführt, auf allen Gebieten der inneren und äußeren Erfahrung aufgespürt und erläutert und in seinem eigenen Leben und Schaffen in höchst suggestiver Weise verkörpert hat.

Zweifache Wahrheit, doppelte Buchführung, Kontrapunkt und Totentanz

Wir sagten am Schlusse des vorigen Kapitels, der mittelalterliche Mensch mache einen widerspruchsvollen Eindruck. Aber diese Widersprüchlichkeit ist ganz wesentlich verschieden von der des Menschen der »Inkubationszeit«. Denn zunächst flossen diese Kontraste doch alle aus einer großen Einheit: dem Glauben, und sodann waren sie nur objektiv vorhanden: für den Betrachter; die Menschen selbst spürten sie nicht. Das ändert sich jetzt: die Zeitgenossen des Cusaners waren sich ihrer Widersprüche sehr wohl bewußt und litten unter ihnen. Durch alle Erscheinungen, die das Zeitalter hervorgebracht hat, geht ein Bruch, ein Riß, eine große Fuge, das Gefühl eines weltbeherrschenden Dualismus: der Zweiseelenmensch tritt in die Geschichte.

Wir haben bereits erwähnt, daß erst in jener Zeit der Dualismus zwischen Stadt und Land in seiner vollen Schärfe zutage tritt; es gibt von jetzt an zwei gegensätzliche Kulturen, eine ritterliche und eine merkantile: die eine ist in der Burg konzentriert, die andere im Bürger. Um dieselbe Zeit kommt in der Theologie die Lehre von der zweifachen Wahrheit zum Durchbruch: die Theorie, daß dieselbe Behauptung in der Theologie richtig und in der Philosophie falsch sein könne, womit sich zum erstenmal jene ungeheure Kluft zwischen wissenschaftlicher und religiöser Weltanschauung auftut, die das Mittelalter nicht kannte und die durch die ganze Geschichte der Neuzeit gähnt. Gähnt: denn es ist sehr unheimlich und nicht selten recht langweilig, die Anstrengungen all der Priester, Politiker, Künstler, Philosophen, Naturforscher zu verfolgen, die sich in meist sophistischen Deduktionen mit dieser Frage befassen, indem sie die beiden Erlebnisformen des Glaubens und des Wissens bald künstlich und oberflächlich miteinander zu versöhnen, bald in eine möglichst scharfe Gegensätzlichkeit zu treiben suchen, während das Mittelalter hier noch eine große Einheit empfand: ich glaube, was ich weiß; ich weiß, was ich glaube. Es ist jedoch eines der vielen seichten Mißverständnisse der liberalen Geschichtschreibung, wenn sie in der Annahme jener »zweifachen Wahrheit« nichts als Jesuitismus erblickt: es handelte sich vielmehr um eine neue Dominante der Weltanschauung. Daß wir es auch hier nur mit einer der vielen Formulierungen des Gedankens der coincidentia oppositorum zu tun haben, wird völlig klar in der Lehre von der Diskrepanz, die die Occamisten vertraten: über jede theologische Grundfrage: Sündenfall und Jüngstes Gericht, Inkarnation und jungfräuliche Geburt, Abendmahl und Auferstehung gebe es zwei widerstreitende Ansichten, in deren Vereinigung erst die höchste Wahrheit bestehe. Und auf einem ganz heterogenen Gebiet gelangt in diesem Zeitraum ebenfalls eine dualistische Technik zur Herrschaft: im kaufmännischen Rechnungswesen kommt die doppelte Buchführung auf, die partita doppia, die loi digraphique: die Usance, jeden Betrag auf zwei entgegengesetzten Seiten zu buchen; das Geschäftskonto wird zu einer coincidentia oppositorum. Den stärksten Ausdruck schafft sich das neue Weltgefühl aber in der Musik: das mittelalterliche Prinzip der Monodie wird von der Polyphonie abgelöst und der Kontrapunkt gelangt zur vollen Ausbildung: sein erster Klassiker ist John Dunstaple, gestorben 1453 in London. Ein sprechendes Symbol der coincidentia oppositorum sind auch die Totentänze, die danses macabres, die das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert in zahllosen bildlichen und dramatischen Darstellungen veranschaulicht hat: Jünglinge und Greise, Frauen und Kinder, Bauern und Bischöfe, Könige und Bettler, Narren und Heilige, alle erdenklichen Menschenklassen drehen sich in wildem Reigen, und der Tod spielt dazu die Fiedel. Plastischer und ergreifender läßt sich die Art, wie die Menschen damals aufs Leben blickten, nicht zum Ausdruck bringen: Tod und Tanz verschwistert, die trunkenste Daseinsbejahung ein Taumeln ins Grab. So zieht dieses ganze Zeitalter noch heute an uns vorüber: als ein tolles Ballfest von Todgeweihten; und seine vielgerühmte Lebenslust war die Euphorie des Irren.

Die Überseele

Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn wir eine dritte Strömung unerwähnt ließen, nicht die wichtigste, wohl aber die gewichtigste des ganzen Zeitalters. Wenn wir im Materialismus und Nihilismus die beiden Antagonisten der Doppelseele dieser Jahrhunderte erblickten, so haben wir es hier gewissermaßen mit einer Überseele zu tun, die in seliger Geborgenheit ruhevoll und geheimnisvoll über der Zeit schwebt. Wir sprechen von der Mystik.

Allem Anschein nach regierte damals der Teufel die Welt: die Menschen glaubten es, und uns selbst scheint es so. Aber es scheint nur so: denn in Wahrheit regiert er ja niemals die Welt. Gott war auch damals nicht tot, er lebte so stark wie je in den Gemütern der irrenden und suchenden Menschen. Eine ganz neue, wilde und innige Frömmigkeit brach gerade zu jener Zeit aus den tiefsten Wurzeln der Menschenseele hervor. Schlichte Männer aus dem Volke hatten allerlei bedeutsame Visionen. Ein Kaufmann in Straßburg, Rulman Merswin, griff auf die Urlehre vom allgemeinen Priestertum aller Christgläubigen zurück und erklärte, der gottbegnadete Laie, der »Gottesfreund« sei der berufenste Vermittler der himmlischen Gnade. Unter diesem Sammelnamen vereinigten sich alle, denen es um ihr Christentum ernst war, durch nichts verbunden als durch die Lauterkeit ihrer Gesinnung und die Tiefe ihrer Heilssehnsucht. Und ein Element vor allem begann in die religiöse Bewegung einzugreifen, das bisher fast ganz im Hintergrund geblieben war: die Frauen, denen noch vor kurzem von angesehenen Kirchenlehrern die Seele abgesprochen worden war. Religiös erweckte Frauen begannen ihre Gesichte und Entrückungen, ihre geheimnisvollen Erfahrungen im Verkehr mit Gott in Briefen und Tagebüchern, Memoiren und Lebensbeschreibungen aufzuzeichnen, eine ganz eigenartige Literatur der ekstatischen Beichten und Selbstbekenntnisse entstand. Bald taten sie sich auch in eigenen Klöstern zusammen: als Beghinen oder Betschwestern, denen erst später die männlichen Begharden an die Seite traten, und hier kam es zu großen mystischen Kollektiverlebnissen. Wir stehen hier vor einer wichtigen kulturhistorischen Tatsache, der wir noch oft begegnen werden: der Tatsache nämlich, daß große geistige Bewegungen, große seelische Erneuerungen sehr oft von den Frauen ihren Ausgang nehmen. Die Frau besitzt eine natürliche Witterung für alles Keimfähige, geheimnisvoll Werdende, für alles, was mehr der Zukunft angehört als der Gegenwart: dieser gewissermaßen telepathische Sinn ist bei ihr meist stärker entwickelt als beim Mann. Auch ist sie viel weniger konservativ und viel weniger einseitig als der Mann. Dieser bildet eine in sich abgeschlossene, scharf profilierte Einheit, er ist der geborene Berufsmensch und Fachmann; aber die Frau stellt eine Art Allheit dar, ihre Seele ist allen Möglichkeiten geöffnet, sie besitzt jene Gabe, alles zu sein, sich in alles verwandeln zu können, die unter den Männern nur dem Genie verliehen ist, weswegen man auch oft und mit Recht betont hat, daß jedem Genie etwas Weibliches anhafte.

Alle religiösen Erscheinungen des Zeitalters sind von einem großen gemeinsamen Grundwillen ins Leben gerufen worden: dem Willen, zu Gott zurückzufinden, nicht zu dem durch tausend äußere Zeremonien verdeckten und durch ein Gewirr spitzfindiger Syllogismen verdunkelten Kirchengott, sondern zu der tiefen, reinen und heiteren Quelle selbst, aus der alles Leben fließt. Innerhalb der Kirche waren die Hauptträger dieser Bewegung die Mönchsorden, vor allem die Dominikaner und die Franziskaner. Sie begannen, wie dies allemal der Fall gewesen ist, die Reform des christlichen Glaubens und Lebens mit der Rückkehr zu den urchristlichen Lehren und Sitten. Die Dominikaner vertraten eine mehr gemäßigte Richtung, sie erklärten, der Mensch habe sich in der Nachfolge Christi auf das »Notwendigste« zu beschränken, die Franziskaner machten jedoch vollen Ernst, sie lehrten, niemand könne selig werden, der nicht der Welt entsage und danach strebe, in seinem Wandel ein Ebenbild der Apostel zu werden, und dies gelte vor allem von den irdischen Nachfolgern Petri, den Päpsten. Kein Wunder, daß Papst Johann der Zweiundzwanzigste ihre Doktrin für häretisch erklärte. Auf dem Gebiete der Predigt bewahrten umgekehrt die Franziskaner einen größeren Zusammenhang mit der Welt, sie wollten ins Volk wirken, hielten daher vor allem auf Plastik und Eindringlichkeit und scheuten auch vor grobrealistischen und derbsatirischen Mitteln nicht zurück. Die Dominikaner dagegen sind die Klassiker der mystischen Philosophie geworden. Ihre größte Leuchte ist Meister Eckhart, einer der tiefsten und universellsten Köpfe, die Deutschland hervorgebracht hat.

Die neue Religion

Eckhart ist eine eigenartige Kreuzung aus einem kristallklaren Denker, einem Dichter von unvergleichlicher Wucht, Plastik und Originalität der Bildersprache und einem religiösen Genie. Seine Lehren, die nach seinem Tode von der Kurie verdammt wurden, ziehen die Summe aller mystischen Spekulation. Es versteht sich, daß er Agnostiker ist; von der Wahrheit sagt er: wäre sie begreiflich, so könnte sie gar nicht Wahrheit sein. In undurchdringlicher Finsternis, in unbeweglicher Ruhe thront die Gottheit; wir können von ihr nur Negationen aussagen: daß sie unendlich, unerforschlich, ungeschaffen sei; jedes positive Prädikat macht aus Gott einen Abgott. Gott ist nicht dies oder das: wenn einer wähnt, er habe Gott erkannt, und sich irgend etwas darunter vorstellt, so hat er wohl »irgend etwas« erkannt, nur Gott nicht. »Du sollst ihn erkennen ohne Hilfe eines Bildes, einer Vermittlung oder Ähnlichkeit. – ›Soll ich Gott so ohne Vermittlung erkennen, so muß ich ja geradezu er und er muß ich werden!‹ – Aber das meine ich ja gerade! Gott muß geradezu ich werden und ich geradezu Gott!« »Das geringste kreatürliche Bild, das sich in dir bildet, ist so groß wie Gott. Warum? Es benimmt dir einen ganzen Gott! Denn in dem Augenblick, wo dieses Bild in dich eingeht, muß Gott weichen mit aller seiner Göttlichkeit. Aber wo dieses Bild ausgeht, da geht Gott ein. Ei, lieber Mensch, was schadet es dir denn, wenn du Gott gönnest, in dir Gott zu sein?« »Nie hat ein Mensch sich irgendwonach so sehr gesehnt, wie Gott sich danach sehnt, den Menschen dazu zu bringen, daß er Gottes inne werde. Gott ist allezeit bereit, aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm fern; Gott ist drinnen, wir sind draußen; Gott ist bei uns heimisch, wir sind bei ihm Fremde!« Um nun zur reinen Anschauung Gottes, ja zur Einheit mit Gott, zur »Vergottung« zu gelangen, bedarf es nur des Stillehaltens: der Mensch muß schweigen, damit Gott sprechen kann, der Mensch muß leiden, damit Gott wirken kann. Alle Kreaturen sind ein lauteres Nichts: es gibt nur Gott, nicht Gott und die Kreatur, wie unser Unverstand glaubt. Daher müssen wir unsere Kreatürlichkeit abstreifen. Dazu gelangen wir durch die »Abgeschiedenheit«, nämlich die Loslösung von aller Sinnlichkeit und durch die Armut: ein armer Mensch ist, wer nichts weiß, nichts will und nichts hat. Solange der Mensch noch etwas Bestimmtes begehrt, ist er noch nicht recht arm, das heißt: noch nicht recht vollkommen. Deshalb sollen wir auch im Gebet um nichts bitten als allein um Gott: wer um etwas bittet, der bittet um ein Nichts. Auch die kirchlichen Gnadengaben sind für den wahrhaft Frommen überflüssig, ihm wird jede Speise zum Sakrament. Nicht auf Beichten, Messehören und dergleichen kommt es an, sondern auf die Geburt Christi in uns: auch Maria ist selig, nicht weil sie Jesum leiblich, sondern weil sie ihn geistig geboren hat, und das kann ihr jeder Mensch in jeder Stunde nachmachen. Tugend besteht nicht in einem Tun, sondern in einem Sein, die Werke sollen nicht uns, wir sollen die Werke heiligen. Heilig sind aber nur die Werke, die um ihrer selbst willen geschehen. »Ich behaupte entschieden: solange du deine Werke verrichtest um des Himmelreichs, um Gottes oder um deiner Seligkeit willen, also von außen her, so bist du wirklich nicht auf dem richtigen Wege. Man kann es ja wohl mit dir aushalten, doch das Beste ist das nicht.« Alles Höchste aber kann der Mensch erreichen, wenn er nur will, denn der Wille ist allmächtig: dich kann niemand hindern als du dich selber.

Es wird wohl schon aus diesen dürftigen Proben klargeworden sein, daß sich in Eckhart und seiner Schule nichts Geringeres vollzogen hat als die Geburt einer neuen Religion, eine völlige Umschöpfung des bisherigen christlichen Glaubens, zu der sich die lutherische Reformation verhält wie eine Erderschütterung zu einer geologischen Umbildung oder wie ein reinigendes und befruchtendes Gewitter zu einem irdischen Klimawechsel, der eine neue Fauna und Flora ins Leben ruft. Hätte diese Bewegung sich durchgesetzt, so wäre für Europa ein neues Weltalter angebrochen; sie ist aber von der Kirche unterdrückt worden, und daß dies so vollständig gelang, spricht weniger gegen die Kirche, die nur in ganz logischer Wahrung ihrer Interessen handelte, als gegen die europäische Menschheit, die offenbar für eine solche grundstürzende Erneuerung noch nicht reif war.

Die Schule Eckharts

Die Mystik enthält zwei Grundelemente: ein ekstatisches und ein praktisches. Dieses ist in Johannes Tauler aus Straßburg, jenes in Heinrich Suso aus Konstanz zu einseitiger, aber höchst eindrucksvoller Ausbildung gelangt. Tauler, der sich das Prädikat doctor sublimis erwarb, ist seinem Meister an Tiefe und Schärfe der Spekulation nicht ebenbürtig, aber auf diese legte er auch gar nicht das Schwergewicht: was er mit seltener Kraft und Innigkeit immer wieder als das »eine, was nottut« predigt, ist die unbedingte Nachfolge Christi. »Es soll sich niemand annehmen, hinaufzufliegen in die Höhe der Gottheit, er sei denn zuvor gewesen ein rechter, vollkommener, geübter Mensch mit einem wirkenden Leben und mit einer tapferen Nachfolgung des Lebens Christi. Danach nimm den Spiegel vor dich, der da ohne Makel ist, das vollkommene Bild, nämlich Jesu Christi, nach dem du all dein Leben einrichten sollst, inwendig und auswendig ... Alle Dinge müssen dir so bitter werden, wie es der Lust süß war, daß sie da waren.« Suso hingegen war ein so überschwenglicher Prediger der neuen Weisheit, daß man ihn den Minnesänger Gottes genannt hat. Im Mittelpunkt seiner lyrischen Rhapsodien steht der mystische Gedanke, daß die Seele die Braut Gottes sei, nach dem sie voll Inbrunst dürstet: »Wer gibt mir«, ruft er, »des Himmels Breite zu Pergament, des Meeres Tiefe zu Tinte, Laub und Gras zu Federn, damit ich voll ausschreibe mein Herzeleid?« Er trug acht Jahre lang ein nägelbeschlagenes Kreuz auf dem nackten Rücken, »dem gekreuzigten Herrn zum Lobe«.

Daneben wirkte Johann Ruysbroeck, der Stifter der Abtei Groenendael, von allen Mitlebenden angestaunt als ein Wunder göttlicher Erleuchtung, deren Eingebungen er in zahlreichen Werken von seltsam schwerfälliger Schönheit und einfältiger Tiefe aufzeichnete. Wenn die Veroneser Dante auf der Straße erblickten, so pflegten sie erschauernd zu ihren Kindern zu sagen: Eccovi l'uom ch'è stato all'Inferno, das ist der Mann, der in der Hölle war«; in ähnlicher Weise müssen die Zeitgenossen bei Ruysbroeck das erschütternde und beseligende Gefühl gehabt haben, daß er im Himmel gewesen sei. Er vereinigt die Heiterkeit eines Kindes, dem noch alles klar ist, mit der Hellsichtigkeit eines Greises, der schon Blicke ins Jenseits tut; seine Werke sind Bilderfibeln, die das Verborgenste darstellen. Die Kirche hat ihm den Namen doctor ecstaticus verliehen, seine Landsleute nannten ihn l'admirable, und als er 1381 hundertsiebenjährig starb, begannen alle Glocken der Umgebung von selber zu läuten. Einer seiner Jünger war Gerhard Groot, der in Deventer den Laienorden der »Brüder vom gemeinsamen Leben« stiftete, eine freie Vereinigung von Gläubigen, deren einziger Zweck die Förderung christlichen Wandels und der moderna devotio war, der neuen Hingabe an Gott, wie sie die Mystiker lehrten; bald gab es allenthalben in Deutschland und in den Niederlanden solche Bruderhäuser. Aus ihrem Kreise ging Thomas a Kempis hervor, dessen »Imitatio Christi«, nächst der Bibel das verbreitetste Buch der Erde und von Katholiken und Protestanten gleich begierig gelesen, in alle europäischen und in zahlreiche außereuropäische Sprachen übersetzt worden ist: sie popularisiert die Lehren der großen Mystiker auf eine sehr edle, freie und kraftvolle Art, das quietistische Element gelangt in ihr zu besonders scharfer Ausprägung. »So viel du kannst, hüte dich vor dem Getümmel der Menschen. Warum schwatzen wir so gern unter anderen, da wir doch selten ohne Versehrung unseres Gewissens wieder umkehren mögen zum Stillschweigen? Ich wollte, daß ich oft geschwiegen hätte und oft unter den Menschen nicht gewesen wäre.« Auch das viele Klügeln und Disputieren taugt nichts. »Ich will lieber, daß ich Buße und Reue in mir fände, als daß ich sagen und auslegen könnte, was Reue sei. Es ist alles lauter Nichtigkeit und Eitelkeit, außer Gott lieb haben und ihm allein dienen.« »Der ist recht groß, der große Liebe hat. Der ist recht groß, der in sich selbst klein ist und alle große Ehre für nichts schätzet. Der ist recht klug, der alles Zeitliche für Kot achtet, auf daß er Christum gewinne. Und der ist recht wohl gelehret, der seinen eigenen Willen verläßt und Gottes Willen tun und vollbringen lernet.«

Der »Frankforter«

Das schönste Denkmal aber hat sich der Zeitgeist in dem anonymen »Büchlein vom vollkommenen Leben« errichtet. Luther, der es neu herausgegeben hat, sagt in seiner Vorrede: »Zuvoran vermahnet dies Büchlein alle, die es lesen und verstehen wollen, daß sie nit sich selbst mit vorschnellem Urteil sich übereilen, da es in etlichen Worten untüchtig erscheinet und aus der Weise gewöhnlicher Prediger und Lehrer. Ja! Es schwebt nit oben wie Schaum auf dem Wasser, sondern es ist aus dem Grund des Jordans von einem wahrhaftigen Israeliten erlesen, welches Namen Gott weiß«, und zwei Jahre später: »Und daß ich nach meinem alten Narren rühme, ist mir nächst der Biblien und Sankt Augustinus nit vorkommen ein Buch, daraus ich mehr erlernt hab und noch lernen will, was Gott, Christus und alle Dinge seien. Gott geb, daß dieser Büchlein mehr an den Tag kommen, so werden wir finden, daß die deutschen Theologen ohne Zweifel die besten Theologen sind.« Dieses kleine, nicht viel mehr als fünf Bogen umfassende Werk ist in der Tat ein solches, das jedermann lesen müßte, ob hochgestellt oder niedrig, weise oder einfältig, gelehrt oder ununterrichtet, denn es wendet sich an jedermann, und das jedermann nicht bloß lesen, sondern sorgfältig studieren, innerlich nacherleben, am besten Wort für Wort auswendig lernen sollte, denn es ist eines der leuchtendsten Dokumente menschlicher Höhe und Tiefe, Größe und Demut. Es ist daher eigentlich ein müßiges Beginnen, wenn wir versuchen, den Grundgedanken des Werkes in Kürze wiederzugeben.

Der Mensch soll vollkommen werden. Was aber ist das Vollkommene und was das Stückwerk? Das Vollkommene ist das eine Wesen, das in seinem Sein alle Wesen begriffen und beschlossen hält. Das Stückwerk aber oder das Unvollkommene ist das, was aus diesem Vollkommenen entquollen ist oder was wird, wie ein Schein ausfließt aus der Sonne oder einem Lichte, und es erscheint als etwas, als dies oder das. Und das heißt Kreatur. Sünde bedeutet nichts anderes, als daß die Kreatur sich abkehrt von diesem Vollkommenen, diesem unwandelhaften Gut und sich zukehrt dem Besonderen, dem Wandelbaren und Unvollkommenen und vor allem sich selber. Also: wenn die Kreatur sich irgendein Gut annimmt, daß es das ihre sei, so kehrt sie sich ab. »Was tat der Teufel anderes, was war seine Abkehr oder sein Fall anderes, als daß er sich's annahm, er war auch etwas und wollte etwas sein, und es wäre etwas sein Eigen und kam ihm zu? Und was tat Adam anderes als auch dasselbe? Man sagt: darum, weil er den Apfel gegessen hat, war er verloren gegangen oder ›gefallen‹. Ich sage: es geschah durch sein Annehmen, sein ›Ich‹ und ›Mir‹ und ›Mein‹ und dergleichen! Hätt er sieben Äpfel gegessen und das Annehmen wär nicht gewesen, er wäre nicht gefallen!« Die Seele des Menschen hat zwei Augen. Das eine ist die Gabe, in die Ewigkeit zu blicken, das andere: in die Zeit zu blicken und in die Kreaturen und darin Unterschied wahrzunehmen. Und ein einziger Blick in die Ewigkeit ist Gott lieber als alles, was alle Kreaturen zuwege bringen als bloße Kreatur. Wer hierzu kommt, der fragt nicht mehr weiter: er hat das Himmelreich gefunden und das ewige Leben schon auf Erden. Er hat den innerlichen Frieden, den Christus meinte, der da durchdringt alle Anfechtung und Widerwärtigkeit, Druck, Elend und Schande, er hat die Ruhe, darinnen man fröhlich sein kann, wie die Apostel es waren, und nicht allein sie, sondern alle auserwählten Freunde Gottes und Nachfolger Christi. Der »alte Mensch« aber: das bedeutet Adam, Ungehorsam, Selbstheit, Etwasheit und dergleichen. Wer in seiner Selbstheit und »nach dem alten Menschen« lebt, der heißt und ist ein »Adamskind«, ja er kann so lange und so wesentlich darin leben, daß er des Teufels Kind und Bruder ist. »Alles dies läßt sich zusammenfassen in dieses kurze Wort: sei wohl geschieden von dir selbst!« Dies gilt auch von der Nachfolge Christi. Wer das Christenleben darum führt, weil er dadurch etwas erreichen oder verdienen will, der hat es als ein Löhner und nicht aus Liebe, das heißt: er hat es überhaupt nicht. Ein einziger wahrer Liebhaber ist Gott lieber als tausend Löhner und Mietlinge. Solange der Mensch »sein Bestes« sucht, kann er es nicht finden. Denn dann sucht er nur sich selber und wähnt, er selber sei das Beste. Da er aber das Beste nicht ist, so sucht er auch nicht das Beste, solange er sich sucht. Für den Menschen aber, der das Vollkommene geschmeckt hat, werden alle geschaffenen Dinge zunichte: er selber eingeschlossen. So erst hebt ein wahres, inwendiges Leben an. Und dann, in stetem Vorwärtsschreiten, wird Gott selber Mensch, bis nichts mehr da ist, das nicht Gott oder Gottes wäre. »Daß wir uns selber entweichen und unseres Eigenwillens sterben und nur noch Gott und seinem Wiüen leben, des helf uns der, der seinem himmlischen Vater seinen Willen aufgegeben hat, Jesus Christus.« »Hier endet sich der Frankfurter.«

Der Verfasser, »welches Namen Gott weiß«, war nämlich ein Mitglied des Deutschritterordens und in seinen letzten Lebensjahren Kustos des Deutschherrenhauses zu Frankfurt am Main. Das Buch ist etwa ein Menschenalter nach dem Tode Eckharts und ungefähr ebensolange vor dem Tode Ruysbroecks entstanden. Es kam wie alle übrigen mystischen Schriften auf den Index; aber es ist, ein hundertmal gebannter Geist, den Menschen immer wieder erschienen. Als Luther in seinen späteren Jahren selber ein Kirchenfürst wurde und sich zu manchen alten Dogmen und Zeremonien zurückwandte, hat es andere Verehrer gefunden. Es ist von Sebastian Franck, dem größten protestantischen Mystiker der Lutherzeit, sozusagen einem Häretiker innerhalb der Häresie, neuerlich hervorgeholt worden, es lebte in den Kreisen der Pietisten, es wurde ein Lieblingsbuch Schopenhauers, der den »Frankforter«, wie er ihn nannte, neben Buddha und Plato stellte. Und es wird noch oft wiederkehren und Herzen und Köpfe aufwecken, denn es ist ein Buch, das, ganz ebenso wie die Bibel, wirklich und wahrhaftig von Gott geschrieben wurde.

Die gemalte Mystik

Es besteht nun ein sehr merkwürdiger Zusammenhang zwischen diesen mystischen Spekulationen und der Malerei jener Zeit. Wir werden noch öfter sehen und später des näheren zu erörtern haben, daß die bildende Kunst, und vor allem die malende, beinahe stets den frühesten Ausdruck für das Neue findet, das sich in einer Zeitseele vorbereitet: sie ist unter allen künstlerischen Äußerungsformen die modernste; nicht immer, aber fast immer. So verhielt es sich auch diesmal. Die einsamen mystischen Denker haben Zusammenhänge erschaut, die der Fassungskraft der damaligen Menschheit weit vorauseilten; und die Bilder der großen deutschen und flämischen Meister sind gemalte Mystik.

Selbstverständlich hat sich auch der Materialismus und der Diabolismus des Zeitalters in der Malerei einen starken Ausdruck geschaffen. Auf den Porträts ist jedes Fältchen des Gesichts, jedes Härchen des Pelzes, jeder Faden des Rockes mit minutiöser und oft pedantischer Wirklichkeitstreue registriert. Nicht selten werden wir durch wahre Galgenphysiognomien voll verschmitzter Verkommenheit und teuflischer Niedertracht, durch gemeine Gebärden voll Roheit und Gier seltsam gepackt und erschreckt, und nicht bloß auf Darstellungen, wo dies durch den Gegenstand gegeben wäre, wie etwa bei Volksschilderungen oder Marterszenen, sondern auch dort, wo man es durchaus nicht erwarten würde: so machen zum Beispiel auf der »Anbetung des Kindes« von Hugo van der Goes die betenden Hirten den Eindruck von Sträflingen, die zur Sonntagsandacht geführt worden sind. Ein Meister der aufregenden, lebensvollen Darstellung grotesker Infamie und Brutalität war Hans Multscher in Ulm: er hat auf seinen Passionstafeln ganze Ameisenhaufen von fühllosen Halunken und hinterlistigen Banditen zusammengetrieben; und der anonyme »Meister des Amsterdamer Kabinetts« hat in seinen Kupferstichen eine ganze Zoologie von wüsten Kalibanwesen zusammengestellt: diese raufenden Bauern, lauernden Hurentreiber, zerlumpten Vagabunden und glotzenden Wüstlinge mit ihren stupiden Vogelgesichtern, geilen Schweinsschnauzen und skurrilen Tapirrüsseln haben nichts Menschliches mehr an sich. Auch bei ernsten und würdigen Vorwürfen frappieren die Menschen oft durch ihre Häßlichkeit. Die Eva Jan van Eycks auf dem Genter Altarwerk ist nichts weniger als idealisiert, sondern mit ihren abfallenden Schultern und dürftigen Extremitäten, ihrem Hängebusen und Spitzbauch die rechte Stammutter des Menschengeschlechts, das damals lebte.

Aber die realistischen Schöpfungen sind weder die ganz großen noch die repräsentativen. Die Höhepunkte sind durch jene Werke bezeichnet, in denen die Welt Eckharts, Ruysbroecks und Susos Farbe geworden ist. Wie sich stets die neuen Ausdrucksmittel finden, wenn der Wille zum Ausdruck stark genug ist, wurden gerade damals von den Brüdern Hubert und Jan van Eyck die Ölfarben erfunden, die nicht so rasch trockneten wie die Temperafarben und außerdem das Lasieren ermöglichten, wodurch dem Pinsel ganz neue Feinheiten der Mischung, Abstufung, Lichtverteilung erschlossen wurden; zugleich verliehen sie den Gemälden eine bisher unerreichte Pracht des Kolorits: die reichen Brokatstickereien, die schimmernden Seidenstoffe, die Juwelen, Goldgewebe, Rüstungen und edeln Hölzer vereinigten sich zu einem sprühenden Feuerzauber von märchenhaftem Glanz. Die größten Psychologen sind in Flandern der ältere van Eyck und Rogier van der Weyden, in Deutschland Stefan Lochner und Hans Memling. Die Anlage der Gemälde erinnert oft in seltsamer Weise an eine Theaterdekoration: die Bäume, Berge und Häuser sind flächenhaft gesehen wie Kulissen, der Durchblick gleicht einem heruntergerollten Bühnenhintergrund. Alles macht den Eindruck, als ob es einer Spielzeugschachtel entnommen wäre: es ist nicht bloß ein Theater, sondern ein Kindertheater. Diese Impression hat man zum Beispiel besonders stark bei Memlings sogenannten »Sieben Schmerzen Maria«: hier ist äußerst geschickt eine ganze Stadt aufgebaut mit Mauern, Toren, Türmen, Treppen, Durchbrüchen und Kreuzgängen; aber es wirkt wie ein »Modellierbogen« oder ein Ankersteinbaukasten. Und die Personen, die in die Umgebung dieser Bilder gesetzt sind, haben ebenfalls etwas primitiv Theatralisches mit ihren hölzernen, aber dramatischen Gebärden, ihrer schachfigurenartigen Anordnung, ihrer steifen, befangenen, puppenhaften Körperhaltung, ihren prächtigen weiten Gewändern, die die Hauptsache zu sein scheinen und in ihrem selbständigen breitgebauschten Faltenwurf das Gefühl erwecken, als ob sie gar nicht zum Körper gehörten: sie sind viel lebensvoller, reicher, bewegter gestaltet als das, was darunter ist. Aber zu dieser Wirkung tritt noch eine zweite, höchst geheimnisvolle.

Bisweilen (im ersten Frühling, um die Sommermittagsstunde, nach langem Wachen oder Fasten oder auch ohne sichtbaren Grund) erscheinen die Menschen und Dinge und wir selbst uns wie intangibel, von einer unerklärlichen isolierenden Aura umgeben. Nichts kann an uns heran, alles, auch unser eigener Körper, scheint seine lastende Realität, seine sinnliche Beglaubigung eingebüßt zu haben und schwerelos, materielos geworden zu sein. In ein solches Seelenklima entführen uns die Bilder der flandrischen und kölnischen Meister. Jene ernsten hageren Männer und herben zarten Frauen mit den schmalen traurigen Händen und den geschreckten übernächtigen Gesichtern leben in einer imaginären Welt: entrückte Wesen, ganz in Wehmut und Schwermut getaucht und dennoch getragen von einer ewigen seligen Zuversicht. Aus dieser tiefen Gewißheit des allgegenwärtigen Göttlichen und einer steten Furcht vor der täuschenden feindlichen Unsicherheit alles Irdischen sind diese Gestalten ergreifend gemischt. Sie sind gelähmt von der Angst vor dem Leben, die jede Kreatur quälend durchdringt, sie blicken mit fragenden, zagenden, maßlos erstaunten Augen ins Dasein, sie können sich noch gar nicht fassen vor unartikuliertem dunkeln Entsetzen: das ist die Welt? In ihrer Vereinigung von kindhafter Ratlosigkeit und engelhafter Luzidität sind sie Bürger eines höheren Traumreiches, das uns ganz fern und fremd und doch wiederum wie unsere eigentliche Heimat anmutet. Und die Welt, die Welt der Dinge und Taten ist nicht völlig abgetan oder geflissentlich ignoriert: sie ist da, aber draußen. Durch die hohen Fenster scheint sie herein, in zauberhaften Landschaftsformen: Berge, Städte, Burgen, Flüsse, Mühlen, Schiffe, aber alles wie durch ein Fernrohr gesehen, gleichsam nicht dazu gehörig: nur wie eine unwirkliche Vision oder eine schattenhafte Erinnerung flattert es um die Seele; die Seele aber, des Raumes ledig, ruht schon auf Erden in Gott. Und auch die Zeit scheint stillzustehen, Vergangenheit und Zukunft sind mit der Gegenwart eins, vor Gott haben sie keinerlei Bewegung: »da ist«, wie Meister Eckhart sagt, »alles ein Nun«.

Eine Parallele

Fassen wir alles noch einmal zusammen, so ergibt sich eine frappierende Ähnlichkeit mit unserer Zeit. Daß wir in einer Periode der epidemischen Psychosen leben, bestreitet heute wohl niemand mehr, und Meinungsverschiedenheit herrscht nur noch über den Sinn dieser Erscheinungen. Schon der Mensch des Fin de siècle war der typische Maléquilibré aus seelischer Überfülle. Der Pest entspricht der Weltkrieg, und wenn jemand bei dieser noch bezweifeln wollte, daß sie eine Schöpfung des Zeitalters gewesen sei: beim Weltkrieg wird es gewiß niemand in Abrede stellen können. (Von der »Schuldfrage«, einer Frage für Volksschüler, sehen wir hier natürlich ab: kein Kampf zwischen zwei gleichstarken Mächtegruppen kann entstehen, wenn nicht beide Teile wollen.) Ferner sehen wir heute dieselbe große Auflösung der bisherigen herrschenden Mächte, die das ausgehende Mittelalter charakterisiert. Das Ideal, das das politische Leben der letzten Generationen beseelte, war der Konstitutionalismus: er hat sich ebenso vollständig ausgelebt wie seinerzeit der Kaisergedanke, weder die Rechte noch die Linke nimmt ihn mehr ernst, die vorwärtstreibende Idee ist hier Diktatur des Proletariats, dort Diktatur eines Einzelnen: Cäsarismus. Was im Mittelalter die Kirche war, das war in den letzten Jahrhunderten die offizielle Wissenschaft, die Organisation der Gelehrten. Die ganze mittelalterliche Kultur war klerikal, alles Große, das damals geschaffen wurde, ist von Geistlichen geschaffen worden: in ihren Händen lag nicht nur die Kunst, die Wissenschaft und die Philosophie, sondern auch das höhere Handwerk, der rationelle Feldbau und die Industrie; sie haben nicht nur Dome und theologische Systeme gebaut, sondern auch Straßen und Brücken, sie haben nicht nur Bildung und Moral ins Volk getragen, sondern auch Wälder gerodet und Sümpfe ausgetrocknet; wo das Leben Fortschritte macht, erblicken wir sie am Werk, ob es sich um Buchmalerei und aristotelische Dialektik handelt oder um Stallfütterung und Dreifelderwirtschaft. In derselben dominierenden geistigen Position befand sich die zünftige Wissenschaft in den letzten Menschenaltern. Sie erhob, ganz ebenso wie seinerzeit die Kirche, den Anspruch, im vollen und im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein und jedem Lebenskreis und Beruf dogmatisch vorschreiben zu dürfen, was er zu denken und zu tun habe: dem Künstler, dem Forscher, dem Soldaten, dem Kaufmann, dem Arbeiter; sie war im vollsten Sinne des Wortes unsere Religion: das, woran wir wirklich glaubten. Sie besaß, und besitzt bis zum heutigen Tage, eine wohlgegliederte, sorgfältig abgestufte Hierarchie von hohen und niederen Würdenträgern, der nur der Papst fehlt, sie verfolgt mit pfäffischer Unversöhnlichkeit und Kurzsichtigkeit jegliche Häresie und wacht eifersüchtig darüber, daß niemand ihre Gnadengaben spende, der nicht ihre Weihen: die Prüfungen besitzt. Nun fußte aber die Macht der Kirche auf zwei Bedingungen: daß sie wirklich im Besitz der geistigen Hegemonie war und daß ihre Diener von ehrlich idealem Streben erfüllt waren. Um die Wende des Mittelalters begannen diese beiden Grundlagen zu verschwinden: die Kultur geriet immer mehr in die Hände der Laien, und die Majorität der Geistlichen übte ihren Dienst auf eine mechanische und banausische Weise. Und dazu kam noch, daß ein neues Weltbild heraufdämmerte, das der Kirchenlehre durchaus widersprach. In ganz derselben Situation befindet sich heute die Berufsgelehrsamkeit. Der Glaube an sie ist zusammengebrochen: er lebt nur noch in den niederen Schichten und bei den geistig Rückständigen; ihr Anspruch, eine weltumspannende katholische Lehre, eine Universitas zu sein, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, sie ist auf keinem Kulturgebiete mehr führend; und aus ihrem Schoße gehen keine unfehlbaren Kirchenväter, großen Konfessoren und kühnen Märtyrer mehr hervor, sondern nur noch Dutzendbeamte, Lippengläubige und Pfründner, in denen nicht der Heilige Geist lebt, sondern der profane Wunsch nach Brot und Ansehen.

Auch in der Kunst zeigen sich gewisse Gemeinsamkeiten: beide Male eine starke Tendenz zum Realismus in den niederen Gattungen und daneben ein ebenso starker Stilisierungswille auf dem Gebiet der hohen Dichtung und Malerei. Besonders bezeichnend hierfür sind die zum Teil ganz herrlichen Mysterienspiele und Passionsdramen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, in denen die klare Absicht wirksam ist, Typisches zu geben, das nicht für einmal, sondern ein für allemal gilt, kein Menschengeschehen zu zeigen, sondern ein Menschheitsgeschehen: Taten und Leiden, Höllenfahrt und Erlösung der ganzen Gattung. Und merkwürdig ist es, daß auch hier, ganz wie im expressionistischen Drama, das Pathos nicht selten in unbewußte Karikatur umschlägt. Auch der Mangel an repräsentativen Persönlichkeiten ist beiden Zeitaltern gemeinsam: es finden sich hier wie dort nur Lenins und Ludendorffs, Liebknechts und Mussolinis, die bloß die Verkehrtheiten der Zeit wie in einem verstärkenden Reflektor zusammenfassen und wieder zurückstrahlen; und mit dem Mangel an überragenden männlichen Kapazitäten kontrastiert das entscheidende Hervortreten der Frau, die beide Male im Geistesleben eine Stellung einnimmt, die ihr jahrhundertelang versagt war. Daß das Bürgertum sich heute in einer ähnlichen Lage befindet wie damals das Rittertum, wird sich schwer bezweifeln lassen; daß theosophische Strömungen heute einen größeren Raum einnehmen als seit langem, weiß jedermann; ja die Ähnlichkeit erstreckt sich sogar bis auf gewisse Äußerlichkeiten wie das gemeinsame Baden, das noch vor wenigen Jahren als shocking galt, die Herrenmode der Gürteltaillen und wattierten Brüste und die Damenmode der Pagenfrisuren. Und höchstwahrscheinlich wird einer späteren Zeit unser Jahrhundert ebenso gespenstisch und unwirklich vorkommen wie uns das vierzehnte.

Weltaufgang

In seinen ausgezeichneten Untersuchungen über den Begriff der Renaissance sagt Konrad Burdach: »Grenzenlose Erwartung der Seelen – das ist der Grundzug des vierzehnten Jahrhunderts.« Es ist dasselbe, was wir am Anfang dieses Kapitels als Weltuntergangsstimmung bezeichnet haben. Und Karl Kraus hat unsere Zeit in einem Werk von fanatischer Phantastik und übermenschlichem Pinselstrich, das ihre Züge für immer aufbewahren wird, ebenfalls apokalyptisch gesehen als die »letzten Tage der Menschheit«. Aber die Welt geht nicht unter, sooft es der Mensch auch geglaubt hat, und solche Stimmungen pflegen zumeist das gerade Gegenteil anzukündigen: einen Weltaufgang, das Emporsteigen einer neuen Art, die Welt zu begreifen und zu sehen.


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