Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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3

Durch diesen einzigen Satz bemächtigte Herr Galpin-Daveline sich eigenmächtig der Situation und wies dem Doktor Seignebos, Herrn Sénéchal und selbst dem Staatsanwalt die zweite Stelle zu.

Es existierte nichts mehr als ein Verbrechen, dessen Urheber entdeckt werden mußte, und der Richter in seiner Person.

Aber wie sehr er sich auch bemühte, seine gewohnte Steifheit und jene Verachtung jedes menschlichen Gefühls zu steigern, die der Justiz mehr Feinde zugezogen als ihre grausamsten Fehlgriffe, alles an ihm bebte vor verhaltener Genugtuung, alles bis auf die Haare seines wie die Buchsbäume von Versailles zugespitzten Bartes.

»Also, Herr Doktor«, fuhr er fort, »haben Sie etwas dagegen, daß ich den Verletzten verhöre?«

»Besser wäre es ohne Zweifel«, brummte der Doktor Seignebos, »ihn in Ruhe zu lassen, soeben habe ich ihn eine Stunde lang gemartert, und in einigen Augenblicken werde ich von neuem anfangen, die Schrotkörner herauszuziehen, die in dem Fleisch stecken . . . Doch wenn Sie darauf bestehen . . .«

»Ich bestehe darauf . . .«

»Nun, dann beeilen Sie sich, das Fieber wird nicht mehr lange ausbleiben.«

»Daveline«, sagte Herr Daubigeon, der seine Unzufriedenheit ohne Hehl sehen ließ, »Daveline!«

Der andere schien es nicht zu hören.

»Fühlen Sie sich imstande, auf meine Fragen zu antworten, Herr Graf?« fragte er.

»Oh, vollkommen!«

»Dann haben Sie die Güte, mir zu sagen, was Sie von den unheilvollen Begebenheiten dieser Nacht wissen.«

Von seiner Gemahlin und dem Doktor Seignebos unterstützt, richtete der Graf von Claudieuse sich in seinen Kissen auf.

»Was ich weiß«, begann er, »wird leider der Nachforschung der Justiz nichts helfen. Es mochte etwa elf Uhr sein, denn ich könnte nicht einmal die Stunde genau angeben, ich hatte mich niedergelegt und seit geraumer Weile mein Licht ausgelöscht, als ein sehr greller Schein durch die Fensterscheiben brach. Ich wunderte mich darüber, aber ohne mich zu bedenken, denn ich befand mich bereits in jenem Stadium von Halbschlummer, der, ohne eigentlicher Schlaf zu sein, doch auch kein Wachen mehr ist. Ich fragte mich wohl was das sei, stand aber nicht auf. Erst ein lautes Geräusch, wie von einer einstürzenden Mauer, brachte mich zum Bewußtsein. – Aber dann sprang ich aus meinem Bett und wußte: es brennt.

Meine Unruhe verdoppelte sich, als mir zum Bewußtsein kam, daß in meinem Hof und um die Gebäude sechzehntausend Holzhaufen vom Schlag des vergangenen Winters lagen. Halb angekleidet stürzte ich auf die Treppe hinaus. Ich war sehr verstört, ja ich gestehe, ich war es in solchem Grade, daß es mir nur mit der größten Mühe gelang, die äußere Türe zu öffnen. – Ich brachte es dennoch zustande. Aber kaum hatte ich den Fuß auf die Schwelle gesetzt, als ich auf der rechten Seite einen furchtbaren Schmerz empfand und dicht neben mir einen lauten Knall hörte.«

Mit einer Handbewegung unterbrach der Untersuchungsrichter: »Ihre Erzählung, Herr Graf, ist vollkommen klar; dennoch ist es notwendig, einen Umstand genauer anzugeben. Schoß man genau in dem Augenblick, als Sie erschienen, die Flinte auf Sie ab?«

»Ja, mein Herr.«

»Also war der Mörder ganz bereit, auf der Lauer . . . Er wußte, daß die Feuersbrunst Sie unvermeidlich heraustreiben würde, und wartete.«

»Das war und das ist auch jetzt noch mein Eindruck«, erklärte der Graf.

Herr Galpin-Daveline wandte sich zu Herrn Daubigeon. »Also«, sagte er, »ist der Mord das Hauptfaktum, welches die Anklage im Auge behalten muß. Die Feuersbrunst ist nur ein die Strafbarkeit erhöhender Umstand, das von dem Schuldigen ersonnene Mittel, um der Vollführung des Verbrechens sicherer zu sein« . . . worauf der Untersuchungsrichter mit den Worten: »Fahren Sie fort, mein Herr!« sich wieder zu dem Grafen wandte.

»Da ich mich verwundet fühlte«, fuhr Herr von Claudieuse fort, »war meine erste, übrigens ganz instinktive Bewegung, dem Orte zuzustürzen, von wo, wie mir schien, der Schuß gefallen war. Ich hatte nicht drei Schritte gemacht, als ich mich von neuem an der Schulter und am Halse getroffen fühlte . . . Diese zweite Verletzung war ernsthafter als die erste, denn mein Herz hörte auf zu schlagen, mein Kopf schwindelte, ich fiel nieder . . .«

»Sie wurden des Mörders nicht einmal gewahr?«

»Doch – im Augenblick, als ich stürzte, glaubte ich zu sehen, wie ein Mann hinter einem Holzhaufen hervorstürzte, den Hof durcheilte und draußen im Felde verschwand . . .«

»Würden Sie ihn wiedererkennen?«

»Nein.«

»Aber haben Sie gesehen, wie er gekleidet war, können Sie mir sein Signalement angeben?«

»Auch das nicht. Es war wie ein Nebel vor meinen Augen, und er glitt vorbei gleich einem Schatten.«

Es gelang dem Untersuchungsrichter nur schlecht, eine Bewegung des Unmuts zu unterdrücken.

»Gleichviel, wir werden ihn auffinden . . . Aber fahren Sie fort, mein Herr!«

Der Graf schüttelte den Kopf.

»Ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen, mein Herr«, sagte er. »Ich war ohnmächtig geworden und bin erst einige Stunden später, hier auf diesem Bett, wieder zum Bewußtsein gekommen.«

Mit der äußersten Sorgfalt notierte Herr Galpin-Daveline die Antworten des Grafen.

»Wir werden«, sagte er, nachdem er seine Notizen beendet, »auf das Sorgfältigste auf die näheren Umstände des Mordes zurückkommen. Für den Augenblick ist es wichtig, Herr Graf, zu wissen, was nach Ihrem Sturz weiter vorfiel. Wer kann mir darüber Auskunft geben?«

»Die Gräfin, mein Herr.«

»So dachte ich auch. Die Frau Gräfin ist vermutlich mit Ihnen zugleich aufgestanden?«

»Meine Frau schlief noch nicht.«

Hastig wandte der Richter sich zur Gräfin um, und ein Blick genügte ihm, um sich zu überzeugen, daß die Toilette der Gräfin nicht die einer durch den Brand ihres Hauses aus dem Schlaf geweckten Frau war.

»In der Tat«, murmelte er.

»Berthe, unsere jüngste Tochter, die Sie dort in Decken gehüllt auf dem Bette liegen sehen, ist von den Masern befallen und ernstlich krank . . . Meine Frau war bei ihr geblieben. Unglücklicherweise gehen die Fenster meiner Töchter auf den Garten, auf die entgegengesetzte Seite des Flügels, wo man das Feuer angelegt hatte.«

»Und auf welche Weise wurde die Frau Gräfin von dem Unglück benachrichtigt?« fragte der Untersuchungsrichter.

Ohne eine direktere Frage abzuwarten, trat Frau von Claudieuse vor.

»Wie mein Mann Ihnen soeben sagte«, antwortete sie, »hatte ich darauf bestanden, bei meiner kleinen Berthe zu wachen. Da ich schon die vorhergehende Nacht bei ihr verbracht hatte, war ich ein wenig müde und endlich eingeschlafen, als ich durch einen Schuß geweckt wurde . . . so schien es mir wenigstens. Ich fragte mich, ob es nicht eine Einbildung gewesen, als fast unmittelbar darauf ein zweiter Knall folgte. Mehr erstaunt als beunruhigt, verließ ich das Zimmer meiner Töchter . . . Oh, mein Herr, so groß war schon die Wut des Feuers, daß es auf der Treppe hell war wie am Tage . . . Ich eilte die Treppe hinab. Die äußere Türe war offen, ich trat hinaus. – Auf fünf oder sechs Schritt sah ich beim Lichte der Flammen den Körper meines Gatten liegen . . . Ich warf mich über ihn, er hörte mich nicht mehr; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, ich glaubte ihn tot, ich rief mit verzweifelter Stimme um Hilfe . . .«

Man hörte Herr Sénéchal und Herrn Daubigeon aufseufzen.

»Gut«, bestätigte mit befriedigter Miene Herr Galpin-Daveline, »sehr gut!« –

»Sie wissen«, fuhr die Gräfin fort, »wie tief der Schlaf der Bauern ist . . . Es scheint mir, daß ich sehr lange Zeit neben meinem Gatten kniend allein blieb. Endlich aber weckte die Helle der Feuersbrunst unsere Pächter, unsere Arbeiter und die Dienstboten. Mit dem Rufe: ›Es brennt! Es brennt!‹ stürzten sie jetzt heraus. Als sie mich erblickten, kamen sie herbei und halfen mir meinen Gatten einer Gefahr zu entziehen, die mit jedem Augenblicke wuchs. Durch einen heftigen Wind angefacht, verbreitete sich das Feuer mit erschreckender Schnelligkeit. Die Scheunen waren nur noch ein mächtiger Glutofen, die Meierei brannte, die mit Branntwein gefüllten Keller standen in Flammen, das Dach unseres Hauses entzündete sich von allen Seiten . . . Und dabei niemand, der Geistesgegenwart behielt! Mein Kopf war dermaßen verwirrt, daß ich meine Kinder vergaß und daß ihr Zimmer schon voll Rauch war, als ein braver, mutiger Bursche hinging, sie dem entsetzlichsten Untergange zu entreißen. Um mich wieder zu mir selbst zu bringen, bedurfte es der Ankunft des Doktors Seignebos und seines hoffnungsvollen Zuspruchs . . . Diese Feuersbrunst richtet uns vielleicht zugrunde; sei es darum – wenn nur meine Kinder und mein Mann gerettet sind!«

Mit verächtlicher Ungeduld hörte der Doktor Seignebos diese unvermeidlichen Auslassungen an.

Die andern, Herr Sénéchal, der Staatsanwalt, selbst die beiden Mägde, gewannen es kaum über sich, ihre Bewegung zu meistern.

Er aber zuckte die Achseln und murmelte zwischen den Zähnen: »Formalitäten! Kleinigkeiten! Kindereien!«

Nachdem er seine goldene Brille abgenommen, getrocknet und wieder auf die Nase gesetzt hatte, setzte sich der Doktor an den einzigen wackligen Tisch der ärmlichen Stube und zählte in einer Schale die Schrotkörner, die er aus den Wunden des Grafen gezogen hatte.

Nach den letzten Worten der Gräfin aber erhob er sich und sprach, sich in kurzem Tone an Herrn Galpin-Daveline wendend: »Jetzt werden Sie mir ohne Zweifel meinen Kranken wieder überlassen?«

Offenbar beleidigt – und das nicht ganz ohne Grund – runzelte der Untersuchungsrichter die Brauen und erwiderte kalt: »Ich begreife die Wichtigkeit Ihrer Verrichtungen sehr wohl, meine Aufgabe aber ist weder weniger ernst, noch weniger dringend.«

»Oh!«

»Deshalb werden Sie mir noch fünf Minuten bewilligen, Herr Doktor?«

»Zehn, wenn Sie es verlangen. Doch erkläre ich Ihnen, daß jede Minute, die von jetzt an verrinnt, das Leben des Verwundeten gefährdet.«

Sie waren aufeinander zugetreten, und mit zurückgeworfenem Kopf maßen sich gegenseitig ihre Blicke, aus denen der wütendste Haß blitzte. Fast schienen sie im Begriff, angesichts des Kranken in Streit zu geraten. Wenigstens schien die Gräfin es zu fürchten, denn mit vorwurfsvollem Tone sprach sie: »Meine Herren, um Gottes willen, meine Herren!«

Vielleicht hätte auch ihr Einschreiten nicht genügt, wären nicht Herr Sénéchal und Herr Daubigeon dazwischengetreten.

Von den beiden Gegnern schien Herr Galpin-Daveline der hartnäckigste; denn trotz alledem nahm er noch einmal das Wort: »Ich habe«, sprach er zu dem Grafen, »nur noch eine Frage zu stellen. Wie und wo standen Sie? Und welches war die Stellung Ihres Mörders in dem Augenblick, als er das Verbrechen ausführte?«

»Mein Herr«, sprach der Graf mit deutlich ermüdeter Stimme, »ich sagte Ihnen bereits, daß ich auf der Schwelle meiner Türe dem Hof gegenüberstand. Der Mörder mußte sich etwa auf zwanzig Schritt mir zur Rechten hinter einem Holzhaufen aufgestellt haben.«

Nachdem er die Antwort des Verwundeten notiert, wandte der Richter sich dem Arzt zu: »Sie haben gehört, Herr Doktor«, sprach er. »Jetzt ist es an Ihnen, die Voraussetzung über diesen entscheidenden Punkt näher zu bestimmen. In welcher Entfernung befand sich der Mörder in dem Augenblick, als er Feuer gab?«

»Ich bin kein Wahrsager«, antwortete der Doktor in barschem Ton.

»Oh! nehmen Sie sich in acht, Herr Doktor, das Gericht, dessen Repräsentant ich bin, hat sowohl das Recht als die Mittel, sich in Respekt zu setzen. Sie sind Arzt, und heutzutage ist die Medizin in der Lage, mit fast mathematischer Gewißheit auf die Frage, die ich an Sie richte, zu antworten.«

Herr Seignebos lächelte höhnisch.

»In der Tat, die Medizin ist zu solchen Wundern gelangt!« sagte er. »Welche Art von Medizin? – Vermutlich nur die gerichtliche, die den Gerichten zu Befehl steht und dem Präsidenten des Schwurgerichts insbesondere ganz und gar ergeben ist?«

»Herr Doktor –«

Aber der Doktor hatte nicht das Temperament, einen zweiten Stoß zu ertragen.

»Ich weiß, was Sie mir sagen werden«, fuhr er ruhig fort. »Es gibt kein Handbuch der ›gerichtlichen Medizin‹, das nicht vollgültig die Frage, um die es sich handelt, löste. – Ich habe sie studiert, diese Handbücher, deren sich die Herren Untersuchungsbeamten als Waffen zu bedienen belieben. Ich kenne die Ansicht Devergies und Orfilas, das Prinzip Caspers, Tardieus und Briant de Chaudeys . . . Ich weiß sehr wohl, daß diese Herren behaupten, bis auf einen Zentimeter die Distanz bestimmen zu können, aus welcher ein Flintenschuß gefallen ist. Ich aber bin nicht so klug. Ich bin nur ein armer, einfacher Landarzt . . . Und wenn ich eine Ansicht aufgeben soll, die einem armen Teufel, und vielleicht einem Unschuldigen, den Kopf kosten kann, so muß ich Zeit haben nachzudenken, mich mit mir selbst beraten und zuvor eigene Erfahrungstatsachen durchgehen.«

Er hatte, wenn nicht in der Form, so doch in seinen Gründen so vollkommen recht, daß Herr Galpin-Daveline sich besänftigte.

»Es ist zum Zweck der Untersuchung, Herr Doktor«, sagte er, »daß ich Sie nach Ihrer Ansicht frage. Ihre begründete Aussage wird notwendig der Gegenstand eines von Beweisen unterstützten Berichts sein . . .«

»Ah – wenn es so ist . . .«

»Wollen Sie mir also aus Gefälligkeit die Mutmaßungen mitteilen, die Sie aus der Untersuchung der Wunden gezogen haben?«

Mit einer anspruchsvollen Gebärde setzte Herr Seignebos seine Brille zurecht.

»Mein Gutachten«, antwortete er, »ist unter allem Vorbehalt, daß Herr von Claudieuse sich von allem vollständig Rechenschaft gegeben hat. Ich bin ganz geneigt zu glauben, daß der Mörder sich in der Entfernung, die er angibt, versteckt hatte. Was ich zum Beispiel bestätigen kann, ist, daß die beiden Flintenschüsse aus sehr verschiedener Entfernung gefallen sind; der eine aus viel geringerer Distanz als der andere. – Der Beweis dafür ist, daß der eine Schuß in die Hüfte, wie der Jäger zu sagen pflegt, sich nur leicht versprungen hat, während der andere scharf getroffen hat.«

»Aber man weiß, auf wieviel Meter eine Flintenkugel scharf treffen kann«, unterbrach Herr Sénéchal, den der dogmatische Ton des Doktors ärgerte.

Herr Seignebos verneigte sich.

»Man weiß das?« rief er. »Wer? Sie, Herr Bürgermeister? Ich aber erkläre, es nicht zu wissen. Freilich vergesse ich nicht, was Sie zu vergessen scheinen, daß wir nicht mehr nur zwei oder drei Arten von Jagdflinten haben wie früher. Erinnern Sie sich nicht der unendlichen Mannigfaltigkeit französischer, englischer, amerikanischer und deutscher Waffen, die heutzutage überall verbreitet sind? Woraufhin erkühnen Sie sich, das so zuversichtlich auszusprechen? Wissen Sie nicht, als einstiger Staatsanwalt und Beamter der Gemeinde, daß auf diese wichtige Frage alle Debatten des Schwurgerichts hinausgehen werden?«

Entschlossen, keine Antwort weiter zu geben, zog der Doktor wieder sein Skalpell und seine Pinzetten hervor, als draußen ein so entsetzliches Geschrei erschallte, daß Herr Sénéchal, Herr Daubigeon und selbst Frau von Claudieuse ans Fenster stürzten.

Ach, und dieses Geschrei war nur zu begründet!

Das Dach des Hauptgebäudes war soeben eingestürzt und hatte unter seinen brennenden Trümmern Bolton, den armen Trommler, der noch vor zwei Stunden Alarm geschlagen, und den Feuerwehrmann Guillebault, einen der geachtetsten Zimmerleute von Sauveterre, Vater von fünf Kindern, begraben.

Der Hauptmann Parenteau schien dem Wahnsinn nah. Aber alle Versuche, ihnen beizuspringen, mußten scheitern.

Ein Gendarm und ein Pächter aus der Umgegend, die versucht hatten, bis zu ihnen vorzudringen, wären fast selbst in dem Glutofen geblieben; nur mit unerhörter Anstrengung gelang es, beide in dem traurigsten Zustande herauszuziehen.

Jetzt erst fing man an, sich vollständig Rechenschaft über das fluchwürdige Verbrechen des Brandstifters zu geben.

Während die Rauchsäulen und die aufwirbelnden Funken zum Himmel stiegen, hörte man das Rachegeschrei: »Nieder, nieder mit dem Brandstifter!«

In diesem Augenblick gab der gerechteste Zorn dem Bürgermeister, Herrn Sénéchal, einen Gedanken ein: Er wußte sehr wohl, wie groß die Vorsicht der Landleute ist, und wie schwer es fällt, einem Bauern zu entlocken, was er weiß.

Indem er einen Trümmerhaufen bestieg, begann er mit klarer, starker Stimme: »Ja, meine Freunde, ihr habt recht, nieder mit ihm! Ja die tapferen Opfer des schändlichsten Verbrechens müssen gerächt werden. Das ist euer Wille, nicht wahr? Es hängt von euch ab. – Es ist unmöglich, daß unter euch nicht einer ist, der etwas weiß . . . Er möge vortreten und reden. – Erinnert euch, daß der geringste Hinweis das Gericht auf die Spur bringen kann. – Hier schweigen, das hieße, meine Freunde, sich selbst zum Mitverbrecher machen. Bedenkt, beratet euch . . .«

Ein hastiges Geflüster durchlief die Menge.

Plötzlich sagte eine Stimme: »Es ist einer da, der reden kann.«

»Wer?«

»Cocoleu! . . . Er war von Anfang an zugegen. Er war es, der die Töchter der Gräfin aus ihrem Zimmer getragen hat. Was ist aus ihm geworden? Cocoleu! . . . Cocoleu!«

Man muß selbst unter dem eigentlichen Landvolk in Dorf und Feld gelebt haben, um die Aufregung und den Zorn all der braven Leute ganz zu begreifen, die sich um die brennenden Ruinen von Valpinson drängten. Der Stadtbewohner kennt die Angst vor dem unheilvollen Verbrecher, der nur um zu stehlen, Mordtaten begeht, kaum. Die Polizei bewacht seinen Schlaf. Er fürchtet das Feuer wenig. Bei dem ersten aufsteigenden Funken ist immer einer oder der andere der Nachbarn da, der »Feuer« ruft. Die Spritzen erscheinen, das Wasser strömt wie durch Zauberkraft herbeigeschafft.

Der Bauer dagegen kennt und fürchtet die Gefahren seiner Einsamkeit. Ein einfacher Holzriegel schließt seine Hütte. Wird er von einem Mörder überrascht, so verhallt sein Geschrei, wenn er um Hilfe ruft, ohne gehört zu werden. Wenn sein Haus in Brand gesteckt wird, so liegt es vielleicht schon in Asche, ehe die erste Hilfe naht; und er muß sich glücklich schätzen, wenn es ihm gelingt, sich selbst und die Seinigen aus den Flammen zu retten.

Durch Herrn Sénéchals Worte in Erregung versetzt, machten sich auch die Bauern jetzt mit fieberhaftem Eifer daran, denjenigen aufzufinden, der, wie sie meinten, etwas wissen mochte: den Cocoleu.

Sie kannten ihn alle und seit langer Zeit.

Es war nicht einer unter ihnen, der ihm nicht ein Stück Brot oder einen Löffel Suppe gegeben hätte, wenn ihn hungerte; nicht einer, der ihm nicht einen Bund Stroh in irgendeinem Winkel seiner Ställe überlassen hätte, wenn es regnete oder kalt war und er schlafen wollte. Denn Cocoleu war einer jener Unglücklichen, welche irgendein fürchterliches Gebrechen, physischer oder moralischer Natur, mit sich durchs Leben schleppen.

Es war vor einigen zwanzig Jahren, da hatte ein wohlhabender Besitzer von Bréchy für die Bauten, die er errichten ließ, ein halbes Dutzend Dekorationsmaler aus Angoulême kommen lassen, die fast den ganzen Sommer bei ihm verbrachten.

Einer dieser Maler hatte ein armes Mädchen namens Colette aus der Umgegend der Pächterei verführt. Aber dann war der Verführer mit seinen Kameraden auf und davon gezogen, ohne sich um die Unglückliche mehr zu kümmern als um die letzte Zigarre, die er geraucht.

Und doch war sie in gesegnetem Zustande.

Als sie ihre Umstände nicht mehr verbergen konnte, wurde sie aus dem Hause, wo sie gedient, zur Tür hinausgewiesen, und ihre Eltern, die selbst kaum ihr Dasein fristen konnten, verstießen sie unbarmherzig.

Von da an irrte sie, durch Kummer, Schande und Reue fast stumpfsinnig geworden, um Almosen flehend, beleidigt, verspottet, zuweilen selbst mißhandelt, von Haus zu Haus. In einer entlegenen Waldecke brachte sie an einem Winterabend, verlassen, ohne Hilfeleistung, einen Knaben zur Welt. Wie war es aber nur möglich, daß Mutter und Kind nicht vor Hunger, Kälte und Elend umkamen? – Es geschehen gleichwohl derartige Wunderdinge, die unbegreiflich bleiben.

Während mehrerer Jahre sah man sie in ihren Lumpen in der Gegend von Sauveterre herumziehen, von der schwer erkauften Großmut der Bauern lebend. Dann starb die Mutter verlassen, wie sie gelebt hatte. Vom Rande eines Grabens las man eines Morgens ihren Leichnam auf.

So war das Kind allein geblieben. Es stand im Alter von acht Jahren und sah verhältnismäßig stark aus. Ein Pächter erbarmte sich seiner und gab ihm seine Kühe zu hüten.

Das kleine, unglückliche Geschöpf aber war dessen nicht fähig.

Als er noch bei seiner Mutter war, schrieb man seine Stummheit, seine verstörten Blicke, die Gebärden eines gehetzten Wildes, die er an sich hatte, seinem wilden Leben zu. Aber als man anfing, sich mit ihm zu beschäftigen, sah man, daß in dem armen, verwahrlosten Gehirn keine Spur von Intelligenz sich entwickelt hatte.

Er war schwachsinnig und überdies einer jener entsetzlichen nervösen Krankheiten unterworfen, die den ganzen Körper, besonders aber die Gesichtsmuskeln in krankhafte Zuckungen versetzen.

Er war nicht stumm, aber nur unter unerhörten Anstrengungen und unter jämmerlichem Stottern gelang es ihm, einige Silben zu artikulieren.

Zuweilen, um sich einen Spaß zu machen, riefen die Bauern ihm zu: »Sag uns, wie du heißt, du sollst einen Groschen dafür bekommen.«

Dann dauerte es wohl fünf Minuten, bis er unter allerlei Grimassen den Namen seiner Mutter hervorstotterte: »– Co . . . co . . . co . . . lette.«

Daher sein Spitzname.

Man war darüber einig geworden, daß er zu nichts taugte; man hörte auf, sich für ihn zu interessieren. – Er fing wieder an, wie früher umherzuvagabundieren.

Es war um diese Zeit, daß der Doktor Seignebos ihm eines Morgens auf der Hauptstraße begegnete.

Unser vortrefflicher Doktor behauptete damals unter anderen außergewöhnlichen Theorien, der Schwachsinn sei nichts als eine gewisse Eigentümlichkeit des Gehirns, ein Vergessen der Natur, das durch gewisse Substanzen, zum Beispiel Phosphor, leicht behoben würde. Die Gelegenheit, ein denkwürdiges Experiment zu machen, war zu günstig, als daß er sie nicht begierig ergriffen hätte.

Er ließ Cocoleu neben sich in sein Kabriolett steigen, quartierte ihn in seinem Hause ein und unterwarf ihn einer Behandlung, deren Geheimnis zwischen ihm und einem für seine seltsamen Ansichten in Sauveterre bekannten Apotheker geblieben ist.

Nach achtzehn Monaten hatte Cocoleu zusehends abgenommen. Er sprach vielleicht etwas weniger schwerfällig, aber in seinem Denkvermögen ließ sich kein merklicher Fortschritt spüren.

Auf sein Resultat verzichtend, machte der Doktor ein Bündel aus den wenigen Sachen, die er seinem Pflegebefohlenen geschenkt, gab es ihm in die Hand und warf ihn hinaus, indem er ihm verbot, jemals wiederzukommen.

In der Tat ein trauriger Dienst, den er so dem Cocoleu geleistet.

Der Entbehrungen entwöhnt, sowie des Wanderns von Haus zu Haus, um sein Brot zu erbetteln, wäre der arme Blödsinnige aus Not umgekommen, hätte sein guter Stern ihn nicht nach Valpinson geführt.

Durch sein Elend gerührt, beschlossen der Graf und die Gräfin von Claudieuse, sich seiner anzunehmen.

Vergebens versuchten sie, ihn in einer ihrer Meiereien festzuhalten, wo sie ihm ein Bett geben ließen. Cocoleus Vagabunden-Natur trug den Sieg über alles, selbst über den Hunger davon. Im Winter, bei Schnee und Kälte, hielt man ihn noch zurück. Aber beim ersten Grün des Frühlings unternahm er von neuem seine Wanderungen kreuz und quer durch Wald und Feld und ließ sich dann wochenlang nicht sehen. Mit der Zeit aber entwickelte sich doch etwas in ihm, gleich dem Instinkt eines mit Geduld dressierten Haustieres.

Seine Anhänglichkeit für Frau von Claudieuse äußerte sich, wie bei einem Hunde, durch Freudengeschrei und Sprünge, sobald er ihrer ansichtig wurde. Ebenso liebte er die beiden kleinen Mädchen und schien darunter zu leiden, daß man sie von ihm entfernt hielt; denn man erlaubte ihm die Annäherung nicht, weil man bei so zarten Kindern die Ansteckung seines nervösen Leidens fürchtete.

Mit der Zeit war er sogar fähig, einige kleine Dienstleistungen zu verrichten. Es gab gewisse Besorgungen, die man ihm auftragen konnte. Er begoß die Blumen, man schickte ihn hin und wieder nach einem Dienstboten; er wußte einen Brief richtig auf die Post nach Bréchy zu bringen.

Diese Fortschritte waren sogar fühlbar genug, um in einigen mißtrauischen Bauersleuten allerlei Zweifel zu erregen; sie behaupteten, Cocoleu sei gar nicht so unschuldig, wie er aussehe; er sei ganz im Gegenteil ein Spitzbube, der den Einfältigen spiele, um ohne Arbeit leben zu können . . .

»Da haben wir ihn«, riefen plötzlich einige Stimmen. »Da – da ist er!«

Die Menge teilte sich hastig; zu gleicher Zeit erschien ein junger Bursche, von mehreren Männern gehalten und vorwärts gestoßen.

»Er hatte sich dort in einer Hecke versteckt und wollte nicht kommen . . . der Hund!«

Die Unordnung, in der sich Cocoleus Kleider befanden, bezeugte in der Tat einen hartnäckigen Widerstand.

Er war ein großer Bursche von achtzehn Jahren, bartlos, sehr groß, außergewöhnlich mager und von so schlotterigem Körperbau, daß er fast mißwachsen schien. Ein Wald roter struppiger Haare erhob sich über seiner flachen, zurückweichenden Stirn.

Seine kleinen Augen, der große Mund mit seinen spitzen Zähnen, die breite platte Nase und die mächtigen Ohren gaben seiner Physiognomie einen unheimlichen Ausdruck von Schwachsinn und Verstörtheit und doch zugleich von bestialischer Schlauheit.

»Was werden wir mit ihm machen?»sagte einer der Bauern zu Herrn Sénéchal.

»Man muß ihn zum Untersuchungsrichter führen, meine Freunde«, antwortete der Bürgermeister, »dort in dem kleinen Hause, wo ihr Herrn von Claudieuse hingetragen.«

»Und auf jeden Fall muß man ihn zum Sprechen bringen«, brummten die Bauern. »Verstehst du uns? Nur vorwärts, vorwärts mit ihm!«


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