Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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12

Es bleibt niemals ungestraft, wenn man seine heiligsten Gefühle niederkämpft und verleugnet.

Als die Marquise von Boiscoran sich endlich in den ihr entgegengeschickten Wagen flüchten konnte, war sie dem Umsinken nahe, so sehr hatte die unerhörte Anstrengung sie erschöpft, den erbarmungslosen Neugierigen von Sauveterre eine zuversichtliche Haltung und ein lachendes Gesicht zu zeigen.

»Welch eine gräßliche Komödie!« murmelte sie, indem sie sich in die Polster zurückwarf.

»Sie werden wenigstens einsehen, gnädige Frau, daß sie notwendig war«, sagte Herr Folgat. »Sie haben vielleicht soeben Hunderte von Leuten für Ihren Sohn gewonnen.«

Sie gab keine Antwort. Die Tränen erstickten sie.

Was hätte sie nicht darum gegeben, allein zu sein und sich ungehindert ihrem Schmerz und ihrer mütterlichen Angst überlassen zu können! Nie war ein Weg ihr so unerträglich lang erschienen, wie der vom Bahnhof zur Rue de la Montagne hinauf.

Die Pferde flogen – dennoch schien es ihr, als käme sie nicht von der Stelle.

Endlich aber hielt der Wagen.

Der kleine Diener war schon herabgesprungen. »Wir sind da«, sagte er, den Wagenschlag öffnend.

Von Herrn Folgat unterstützt, stieg die Marquise aus; kaum hatte sie ihren Fuß auf den Boden gesetzt, als die Tür des Hauses sich öffnete und Denise sich in ihre Arme warf, zu bewegt, um mehr als die Worte ausrufen zu können: »Liebe Mutter, o liebe Mutter, welch schreckliches Unglück!«

Aus dem Schatten des Korridors trat Herr von Chandoré, der zugleich mit seiner Enkelin herabgeeilt war.

»Gehen wir hinein«, sprach er zu den beiden Unglücklichen, »bleiben wir nicht länger hier. Schon sieht man hinter jedem Fensterladen Augen hervorblitzen.«

Und er führte sie in den Salon.

Mittlerweile fühlte sich Herr Folgat nicht wenig um seine eigene Person verlegen.

Niemand schien seine Anwesenheit wahrzunehmen.

Und doch war er, den übrigen folgend, in den Saal getreten, in dessen Tür er stehenblieb; ergriffen durch die Aufregung aller, beobachtete er abwechselnd Fräulein Denise, Herrn von Chandoré und die Fräulein von Lavarande.

Denise zählte nun fast zwanzig Jahre. Es ließ sich nicht gerade sagen, daß sie auffallend hübsch war, und dennoch wäre es schwer gewesen, sie zu vergessen, wenn man sie einmal gesehen hatte. Klein von Wuchs, war sie die Grazie selbst, und jede ihrer Bewegungen zeichnete sich durch die vollendetste Feinheit aus.

Bei schwarzen Haaren von bewunderungswürdiger Fülle hatte sie blaue Augen und den Teint einer Nordländerin, einen Teint von so überraschendem Weiß, daß er alle von Poeten je ersonnenen Vergleiche, die Lilie und den Schnee gelb erscheinen ließ.

Alles an ihr drückte engelhafte Sanftheit und große Schüchternheit aus. Und doch ließ etwas im Schnitt ihrer Lippen und die Bewegung der Augenbrauen eine ungewöhnliche Energie vermuten.

Neben ihr fiel der Großvater Chandoré durch seine hohe Statur und die mächtige Breite seiner Schultern um so mehr auf. Zweiundsiebzig Jahre hatten nicht hingereicht, seinen Herkules-Rücken zu beugen, und er schien gemacht, um allen Stürmen des Lebens Trotz zu bieten.

Das Eigentümlichste an ihm war seine ziegelrote Hautfarbe, die Farbe eines alten Mohikanerhäuptlings, die seine schneeweißen Augenbrauen, Bart und Haare um so härter hervortreten ließ. Trotz alledem drückte sein Gesicht eine fast kindliche Gutmütigkeit aus.

Aber man brauchte ihn nicht zweimal anzusehen, um zu begreifen, daß es unvorsichtig gewesen wäre, dem milden Lächeln, das seine fleischigen Lippen umspielte, allzuviel Vertrauen zu schenken.

Die Tanten Lavarande, welche lang und hager wie Weidenruten, bleich, in ihrem Benehmen gemessen und von ultra-aristokratischer steifer Kälte waren, hatten jene selbstzufriedene Physiognomie und jenen Ausdruck ergebener Empfindsamkeit, der alten Jungfern eigen ist, welche sich durch das Zölibat nicht in ihren Einbildungen haben beirren lassen.

Sie trugen immer genau dieselben Kleider, wie es seit vierzig Jahren ihre unabänderliche Gewohnheit war, Kleider von unbestimmten Farben, bescheiden wie ihre ganze Person.

Sie weinten in diesem Augenblick, und Herr Folgat fragte sich, welches Opfer sie nicht bringen würden, um die Tränen ihrer Nichte zu stillen.

»Arme Denise!« flüsterten sie.

Das junge Mädchen hörte diese Worte, und sofort aufspringend und die lästige Stille unterbrechend, rief sie: »Unser Benehmen ist unwürdig! Was würde Jacques sagen, wenn es ihm möglich wäre, uns aus der Tiefe seines Gefängnisses zu sehen! Warum sollten wir bedrückt sein? Ist er denn schuldig?«

Ihre Augen leuchteten in eigentümlichem Glanze, in ihrer Stimme klang eine zitternde Bewegung, die Herrn Folgat bis auf den Grund seiner Seele erschütterte.

»Ich kann mir wenigstens diese Gerechtigkeit widerfahren lassen«, fuhr sie fort, »daß ich keinen Augenblick an ihm gezweifelt habe. Und wie sollte ich eines Zweifels fähig sein? Am Abend der Feuersbrunst selbst schrieb Jacques mir einen Brief von vier Seiten, den er mir – um neun Uhr abends – durch einen seiner Pächter schickte. Ich habe ihn dem Großvater gezeigt, diesen Brief; er hat ihn gelesen und sogleich ausgerufen, daß ich tausend- und abertausendmal recht hatte und daß ein Mann, der über einem entsetzlichen Verbrechen brütete, niemals so geschrieben hätte.«

»Ich habe es gesagt, und ich denke es«, bestätigte Herr von Chandoré, »und jeder verständige Mann muß meine Meinung teilen, aber –«

Seine Enkelin ließ ihn nicht zu Ende kommen.

»Also ist es klar«, sagte sie eifrig, »daß Jacques das Opfer irgendeiner fluchwürdigen Intrige ist, und an uns ist es, ihr entgegenzuwirken. Genug der Tränen, jetzt heißt es handeln.«

Und sich an Frau von Boiscoran wendend, fuhr sie fort: »Um uns bei diesem Rettungswerk zu helfen, liebe Mutter, haben wir Sie herbeigerufen.«

»Und hier bin ich«, sagte die Marquise, »nicht weniger als Sie, liebes Kind, von der Unschuld meines Sohnes überzeugt.«

Das war offenbar nicht alles, was Herr von Chandoré erwartet hatte.

»Und der Marquis?« fragte er, ihr ins Wort fallend.

»Mein Mann bleibt in Paris.«

Der Greis schnitt eine sehr bezeichnende Grimasse.

»Ah, daran erkenn' ich ihn!« rief er. »Nichts kann ihn in Bewegung setzen. Sein einziger Sohn ist schändlicherweise eines Verbrechens angeklagt, verhaftet, ins Gefängnis geworfen . . . Man setzt ihn in Kenntnis, man erwartet, ihn herbeieilen zu sehen . . . Man irrt sich . . . Sein Sohn mag sich allein aus der Affäre ziehen. Er bleibt ruhig zu Hause, um seine Töpfe zu bewachen. Oh! . . . wenn ich noch einen Sohn hätte!«

»Der Marquis, mein Herr«, entgegnete Frau von Boiscoran, »glaubt, daß er Jacques von Paris aus nützlicher sein kann. Es können Maßregeln von dort zu treffen sein.«

»Ist dazu die Eisenbahn nicht da?«

»Kurz«, erwiderte Frau von Boiscoran, »er hat mich diesem Herrn anvertraut.«

Mit diesen Worten wies sie auf den jungen Anwalt: »Herr Manuel Folgat, von dessen Erfahrung, Talent und Ergebenheit wir vergewissert worden sind.«

Nunmehr regelrecht vorgestellt, verbeugte sich Herr Folgat.

»Und ich hege die beste Hoffnung«, setzte er hinzu, vollständig gewonnen durch Denises Vertrauen. »Aber ich teile die Meinung des Fräuleins von Chandoré: es muß gehandelt werden, ohne eine Sekunde zu verlieren. Ehe indes ein Plan definitiv gemacht werden kann, muß ich die Tatsachen genauer kennen.«

»Unglücklicherweise wissen wir nichts davon«, antwortete Herr von Chandoré. »Nichts, als daß Jacques sich in Untersuchungshaft befindet.«

»Gut, wir werden uns erkundigen. Sie kennen doch wohl die Beamten von Sauveterre?«

»Sehr wenig, mit Ausnahme des Staatsanwalts.«

»Und der Untersuchungsrichter?«

Die ältere der Schwestern Lavarande erhob sich.

»Dieser«, rief sie schneidend, »dieser Herr Galpin-Daveline ist ein Ungeheuer von Heuchelei und Undankbarkeit. Leider liebte ihn Jacques so sehr, daß er uns, meine Schwester und mich, zu bestimmen wußte, diesem unbedeutenden Menschen die Hand einer unserer Cousinen, einer Lavarande, zu bewilligen . . . Armes Kind! Als sie die schreckliche Wahrheit erfuhr, war ihr erster Ausruf: ›Gott sei gedankt, daß er mir die Schande erspart hat, die Frau eines solchen Mannes zu werden!‹«

»Und in der Tat«, fügte die andere Schwester hinzu, »wenn ganz Sauveterre Jacques für schuldig hält, so ist es, weil jedermann sagen kann: ›Einer seiner Freunde ist sein Richter.‹«

Herr Folgat schüttelte den Kopf.

»Ich muß genauere Informationen haben«, sagte er, »Herr von Boiscoran sagte mir von dem Bürgermeister der Stadt, Herrn Sénéchal.«

Herr von Chandoré sprang, nach seinem Hut greifend, auf: »Der ist in der Tat unser Freund, und wenn uns jemand die nötigen Nachrichten geben kann, so ist er es. Kommen Sie, wir wollen ihn aufsuchen, kommen Sie!«

Herr Sénéchal war den Chandorés, den Lavarandes und ebenso den Boiscorans wirklich aufrichtig ergeben.

Man mag noch sehr »Anwalt« sein, immerhin ist es nicht unmöglich, Zuneigung zu den Leuten zu fassen, deren Vertrauter und Ratgeber man zwanzig Jahre lang gewesen ist.

Längst nachdem er seine Anwaltskanzlei aufgegeben, besaß Herr Sénéchal noch immer allein das volle Vertrauen seiner früheren Klienten. Keiner von ihnen hätte einen ernsten Entschluß gefaßt, ohne vorher seinen Rat eingeholt zu haben.

Sie wandten sich an seinen Nachfolger, aber zuvor versicherten sie sich seiner Ansicht.

Übrigens waren diese Gefälligkeiten gegenseitig. Die juristischen Ratschläge, welche Herr Sénéchal dem Onkel des Herrn von Boiscoran und dem Großvater Chandoré geleistet, hatten ihm gar manchen prozeßlustigen Landmann als Klienten verschafft.

Ihre Unterstützung war für ihn nachher nicht ohne Wert gewesen, als er, vom Schwindel des Ehrgeizes ergriffen, sich »für das Vaterland opferte«, indem er sich um den Posten des Bürgermeisters und um ein Mandat für den Generalrat bewarb.

Natürlich war dieser würdige und ausgezeichnete Mann im höchsten Grade bestürzt, als er am Morgen nach der Feuersbrunst von Valpinson in Sauveterre anlangte.

Er war so bleich und hinfällig, daß seine Frau bei seinem Eintreten entsetzt ausrief: »Großer Gott, Auguste, was ist dir begegnet?«

»Etwas ganz Fürchterliches!« antwortete er in so tragischem Ton, daß es der Frau Sénéchal schauderte.

Allerdings schauderte ihr leicht.

Sie war eine Frau von achtundvierzig bis fünfzig Jahren, sehr brünett, kurz, dick, mit einem Busen ausgestattet, der die Korsetts, welche die Jungfern Méchinet, die Schwestern des Gerichtsschreibers, ihr lieferten, auf die stärksten Proben stellte.

In ihren jungen Jahren war sie verteufelt schön gewesen. Auch jetzt noch hatten ihre Wangen, obgleich sie schon alterte, die Frische eines kräftigen Blutdrucks.

Dazu besaß sie einen Wald stets wohlgeordneter schwarzer Haare und bewunderungswürdige Zähne.

Dennoch war sie nicht glücklich. Ihr Leben war in dem Sehnen nach einem Kind aufgegangen, und dieses Sehnen war unerfüllt geblieben.

»Das muß«, pflegte sie zu sagen, »allen, die mich und Herrn Sénéchal kennen, unerklärlich erscheinen, denn er war einer der stattlichsten Männer von Sauveterre, während ich mich stets einer ausnehmenden Gesundheit erfreut habe.«

Und bei jeder Gelegenheit, ob man nun zu ihrem engeren Bekanntenkreise gehörte oder nicht, ging sie in diesen Gegenstand bis in die zartesten Details ein, indem sie von ihren Täuschungen und von denen ihres Gatten erzählte, von den Wallfahrten, die sie mitgemacht, von den Namen der Ärzte, die sie zu Rate gezogen, und wie viel Monate sie am Meeresstrande zugebracht, fast ausschließlich von Fischen lebend, die durchaus nicht ihr Leibgericht gewesen seien.

Aber alles blieb vergebens. Ihre Hoffnung schwand mit den Jahren, sie verzichtete, und die Bitterkeit ihrer Klagen hatte sich in eine Art sentimentaler Schwermut umgewandelt, die sie mit Romanen und Poesien nährte.

Ihre Tränen waren bereit, für jeden Unglücklichen zu fließen; für jeden Gram wußte sie tröstende Worte zu finden. Ihre Mildtätigkeit war sprichwörtlich geworden. Nie hatte eine arme Wöchnerin sich vergebens an ihr Herz gewandt.

Doch hinderte dies alles sie durchaus nicht, eine Hausfrau abzugeben, die sich nicht leicht täuschen ließ, die ihr Hauswesen wie am Schnürchen leitete, ob sie nun eine Wäsche zu beaufsichtigen oder ein Mittagessen zu bereiten hatte, worin keine Frau in Sauveterre ihr gleichzukommen vermochte.

Mit Seufzern hörte daher die gute Frau den Bericht ihres Mannes über die Begebenheiten der verflossenen Nacht an.

»Arme Denise», sagte sie, als er geendet hatte, »daran kann sie sterben. An deiner Stelle würde ich sogleich zu Herrn von Chandoré gehen und ihm mit aller möglichen Schonung diese unglückliche Nachricht bringen.«

»Davor werde ich mich wohl hüten«, rief Herr Sénéchal, »ja ich verbiete dir sogar ausdrücklich, hinzugehen!«

Die Wahrheit zu gestehen, war er nichts weniger als ein stoischer Held, und wenn er es hätte ermöglichen können, würde er sich am liebsten mit dem Eisenbahnzuge hundert Meilen weit geflüchtet haben, um den Schmerz des Großvaters Chandoré, des Fräuleins Lavarande und vor allem die Verzweiflung Denises nicht mit anzusehen, welch letztere er besonders gern hatte und deren Aussteuer er seit so vielen Jahren mit solcher Sorgfalt verwaltete und vergrößerte, als wäre sie seine eigene Tochter.

Auch wußte er im Grunde selbst nicht mehr, was er glauben sollte; beeinflußt von Herrn Galpin-Davelines Zuversicht, verwirrt durch die Entfesselung der öffentlichen Meinung, fing er an, sich zu fragen, ob Jacques wirklich das Verbrechen begangen habe, dessen man ihn beschuldigte.

Seine Beschäftigungen waren glücklicherweise an jenem Tage zu zahlreich, um ihm Zeit zum Nachdenken zu geben. Er hatte den Transport der formlosen Überreste Boltons und des armen Guillebault zu sichern. Er mußte die Mutter des einen und das Weib des andern kommen lassen, ihre Wehklagen anhören und sie zu trösten versuchen; der ersteren eine kleine Pension versprechen, und der anderen versichern, daß er dem ältesten ihrer Knaben einen Freiplatz im Gymnasium von Sauveterre oder im Seminar zu Pons verschaffen würde.

Er hatte alsdann Befehl geben müssen, mit aller nötigen Vorsicht die bei der Feuersbrunst Verletzten, den Bauern und den Gendarmen, herfahren zu lassen.

Gleich darauf hatte er gesucht, ein Haus für den Grafen und die Gräfin von Claudieuse ausfindig zu machen, und hatte es nicht ohne Mühe gefunden.

Endlich war ein guter Teil des Nachmittags unter heftigen Diskussionen mit dem Doktor Seignebos vergangen.

Der Doktor nämlich reklamierte im Namen der beleidigten Wissenschaft, im Namen der Gerechtigkeit und der Humanität, die sofortige Verhaftung Cocoleus, dieses miserablen Krüppels, dessen unzurechnungsfähiges Zeugnis die Grundlage der Voruntersuchung gewesen war. Er verlangte, so schwur er, mit der Faust auf den Tisch schlagend, daß dieser epileptische Schwachsinnige in das Hospital gebracht, auf Verfügung der Verwaltungsbehörde eingeschlossen und der Untersuchung von Männern der Wissenschaft unterworfen werde.

Lange hatte sich der Bürgermeister diesen Forderungen widersetzt, die ihm übertrieben schienen, aber der Doktor hatte so heftig und so entschieden gesprochen, daß er endlich zwei Gendarmen nach Bréchy schickte mit dem Befehl, Cocoleu mitzubringen.

Einige Standen später waren diese mit leeren Händen zurückgekehrt.

Der Schwachsinnige war verschwunden. Niemand in der ganzen Umgegend hatte ihnen Auskunft über ihn erteilen können.

»Und Sie glauben, das sei mit rechten Dingen zugegangen!« schrie der Doktor Seignebos, dessen Augen unter seiner goldnen Brille Funken sprühten. »Ich erkenne darin den unwiderleglichen Beweis des Komplottes, das gegen Boiscoran geschmiedet ist, um ihn zu verderben.«

»Zum Teufel, so beruhigen Sie sich doch!« hatte der Bürgermeister Sénéchal ungeduldig geantwortet, »Cocoleu ist nicht aus der Welt, man wird ihn auffinden.«

Der Doktor hatte sich, ohne länger zu beharren, entfernt, aber ehe er nach Hause zurückkehrte, war er in seinen Klub gegangen und hatte dort in Gegenwart von mehr als zwanzig Menschen behauptet, den Beweis zu haben, daß Jacques von Boiscoran das Opfer seiner extremen politischen Ansichten sei, daß die monarchische Partei ihm nicht verzeihen könne, ihre Fahne verlassen zu haben, und daß die Jesuiten jedenfalls die Hände mit im Spiel hätten.

Diese Auslassung mußte notwendig Herrn von Boiscoran mehr schaden als nützen, und die Folge blieb nicht aus. An demselben Abend, als Herr Galpin-Daveline über den Neumarkt ging, wurde er schmählich ausgepfiffen.

Natürlich verfügte sich der Untersuchungsrichter sogleich in höchster Wut zu dem Bürgermeister, indem er ihn für die Beleidigung verantwortlich machte, die der Justiz in seiner Person widerfahren sei, und die strengsten Maßregeln dagegen forderte.

Herr Sénéchal versprach ihm, seine Maßregeln zu treffen, und eilte zu Herrn Daubigeon, um sich mit diesem zu beraten. Hier erfuhr er, was in Boiscoran geschehen war, und das schreckliche Ergebnis des Verhörs.

Sehr traurig war er nach Hause zurückgekehrt, ohne Macht über Jacques' Lage und über die politische Färbung, welche die Angelegenheit zu gewinnen drohte.

Von diesen Gedanken verstört, hatte er eine schlechte Nacht verbracht und war in so übler Laune aufgestanden, daß seine Frau selbst es kaum wagte, ihn anzureden.

Es war bei der Sache kein Ende abzusehen. Genau um zwei Uhr sollte die Beerdigung Boltons und Guillebaults stattfinden, und er hatte dem Hauptmann Parenteau versprochen, dieser mit seiner Schärpe umgürtet und an der Spitze eines Teiles des Gemeinderats beizuwohnen.

Soeben hatte er Befehl gegeben, seine Galakleider in Bereitschaft zu halten, als der Diener ihm den Besuch des Herrn von Chandoré und eines andern Herrn meldete.

»Das fehlte gerade noch!« ächzte er; sich aber alsbald besinnend, fuhr er fort: »Früher oder später muß die Szene doch vor sich gehen . . . Sie mögen eintreten.«

Herr Sénéchal hatte wohl daran zu tun geglaubt, sich schon im voraus gegen einen herzzerreißenden Schmerzausbruch zu wappnen, aber er blieb starr vor Staunen, als er Herrn von Chandoré mit heiterer Miene auf sich zutreten und ihm seinen Begleiter vorstellen sah.

»Herr Manuel Folgat, mein lieber Sénéchal, einer der namhaftesten Anwälte von Paris, der die Marquise von Boiscoran, die heute morgen angekommen ist, begleitet hat.«

»Ich bin fremd hier, Herr Bürgermeister«, fügte Herr Folgat hinzu, »ich kenne die hier geltenden Anschauungen, die Gewohnheiten, die Sitten, die Interessen, die Vorurteile, kurz das alles nicht, und ich würde Gefahr laufen, die gröbsten Mißgriffe zu begehen, wenn ich nicht einen erfahrenen, geschickten und sicheren Ratgeber fände . . . Herr von Boiscoran und Frau von Chandoré haben in mir die Hoffnung erweckt, daß Sie mir ein solcher Ratgeber sein würden.«

»Gewiß, mein Herr, und von Herzen gern«, antwortete der Bürgermeister, indem er sich, augenscheinlich geschmeichelt durch die Ehrerbietigkeit des Pariser Anwalts, verbeugte.

Er hatte seinen Gästen Stühle hingeschoben. Er selbst hatte sich, den Ellbogen auf die Lehne seines ledernen Armstuhls gestützt, niedergesetzt und streichelte mit der Hand sein frisch rasiertes Kinn.

»Die Sache ist sehr ernst«, sagte er endlich.

»Eine kriminelle Beschuldigung ist das stets«, erwiderte Herr Folgat.

»Sapperment, meine Herren!« rief Herr von Chandoré, »zweifeln Sie etwa an Jacques' Unschuld?«

Herr Sénéchal sagte nicht nein, sondern schwieg und suchte nach einem der weisen Milderungsgründe, die seine Frau ihm gestern aufgetischt hatte.

»Wie will man«, begann er endlich, »alle Ideen berechnen, die in einem fünfundzwanzigjährigen Gehirn gären können? Der Zorn ist ein sehr hinterlistiger Ratgeber.«

Großvater Chandoré gewann es nicht über sich, ihn länger anzuhören.

»Was reden Sie mir von Zorn?«, unterbrach er ihn, »und wo sehen Sie eine Spur davon in dieser Angelegenheit von Valpinson? Ich meinerseits sehe hier nichts als ein gemeines Verbrechen, lang überlegt und kaltblütig ausgeführt.«

Mit ernstem Kopfschütteln antwortete der Bürgermeister:

»Sie wissen nicht alles, was vorgefallen ist.«

»In der Erwartung, genauer unterrichtet zu werden«, sagte Herr Folgat, »sind wir hierhergekommen.«

»Nun gut, meine Herren«, entgegnete Herr Sénéchal. Und mit der Gewandtheit eines alten Anwalts, der es gewohnt war, den Faden der verwickeltsten Angelegenheiten zu entwirren, begann er die Tatsachen, deren Zeuge er in Valpinson gewesen, und diejenigen, die der Staatsanwalt ihm mitgeteilt hatte, darzulegen.

»Wollen Sie nun auch wissen«, schloß er, »was Daubigeon mir gesagt hat? Folgendes waren seine eigenen Worte: ›Daveline konnte nicht anders, als Herrn von Boiscoran verhaften. Ist er schuldig? Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Die Anklagen sind vernichtend. Er schwört bei Himmel und Hölle, daß er unschuldig ist, weigert sich aber, sein Alibi nachzuweisen.‹«

Herr von Chandoré, dieser schwer zu erschütternde Mann, schien dem Umsinken nahe, obgleich sein Gesicht noch immer den karmoisinroten Ton behielt, den auch die stärkste Aufregung nicht zu bleichen vermochte.

»Mein Gott, was wird Denise sagen«, murmelte er.

Dann sich zu Herrn Folgat wendend, fuhr er mit lauter Stimme fort:

»Und doch hatte Jacques für diesen Abend irgendeinen Plan.«

»Glauben Sie das?«

»Ich bin dessen gewiß. Wäre er sonst nicht wie jeden Abend seit einem Monat zu uns gekommen? . . . Er sagt es übrigens selbst in dem Brief, den er durch einen Pächter an Denise schickte . . . In demselben Brief, von dem sie Ihnen sagte, schreibt er ihr: ›Aus dem Grunde meines Herzens verwünsche ich die Angelegenheit, die mich hindert, den Abend bei Dir zu verbringen, aber es ist mir unmöglich, sie zu verschieben. Auf morgen also!‹«

»Da sehen Sie es!« rief Herr Sénéchal.

»Der Brief war derart«, fuhr der Greis fort, »daß er unmöglich, ich wiederhole es, unmöglich von einem Menschen erdacht und geschrieben werden konnte, der einer verabscheuenswerten Untat nachsann. Doch, Ihnen kann ich es gestehen, als ich die Unglücksnachricht erhielt, berührte der Gedanke an jenen Umstand, an jene dringende Angelegenheit mich peinlich.«

Der junge Anwalt aber schien bei weitem nicht überzeugt zu sein. »Es ist klar«, sprach er, »daß Herr von Boiscoran um keinen Preis erfahren lassen will, wohin er gegangen ist.«

»Er hat gelogen, mein Herr«, beharrte Herr Sénéchal; »er hat von vornherein geleugnet, den Weg genommen zu haben, wo die Zeugen ihm begegnet sind.«

»Natürlich, weil er den Ort geheimhalten will, an den er sich begeben hatte.«

»Als man ihm zu erkennen gab, daß er verhaftet sei, sagte er kein Wort.«

»Weil er hofft, sich aus der Sache zu ziehen, ohne zu sagen, wo er gewesen ist.«

»Wenn es sich so verhält, so ist es sehr seltsam.«

»Man hat schon seltsamere Dinge erlebt.«

»Sich eines Mordes, einer Brandstiftung anklagen zu lassen, wenn man unschuldig ist?«

»Unschuldig sein und sich verurteilen lassen, das ist noch viel mehr. Und doch gibt es Beispiele dafür.«

Der junge Anwalt drückte sich in jenem kurzen und entscheidenden Ton aus, der das Vorrecht seines Berufes ist, und mit dem Anstrich solcher Sicherheit, daß Herr von Chandoré wieder aufzuleben schien.

Herr Sénéchal saß fast bestürzt da.

»Was ist denn Ihre Ansicht, Herr Folgat«, fragte er endlich.

»Daß Herr von Boiscoran unschuldig sein muß«, antwortete der Anwalt. Und ohne einen Einwand zu gestatten, fuhr er fort: »Das ist die Ansicht eines Menschen, dessen Urteil durch keinerlei Rücksicht beirrt wird. Ich komme hier ohne irgendeine vorgefaßte Meinung an; ich kenne Herrn von Claudieuse ebensowenig wie Herrn von Boiscoran. Ein Verbrechen ist begangen worden; man setzt mir die Umstände auseinander, und sogleich erkenne ich, daß dieselben Gründe, welche die Verhaftung des Angeklagten veranlaßt haben, mich bestimmen würden, ihn in Freiheit zu setzen.«

»Oh!«

»Ich werde mich näher erklären. Wenn Herr von Boiscoran schuldig ist, so hat er in der Art und Weise, wie er Herrn Galpin-Daveline empfangen, eine unerhörte Selbstbeherrschung und ein unvergleichliches Verstellungstalent bewiesen. Wenn er also schuldig wäre, so wäre er äußerst fest . . .«

»Aber –«

»Erlauben Sie! Wenn er schuldig ist, so hat er in seinem Verhör einen ausnehmenden Mangel an Kaltblütigkeit und, um das rechte Wort zu gebrauchen, namenlose Einfalt an den Tag gelegt . . . somit wäre er als Schuldiger sehr schwach.«

»Aber –«

»Verzeihung! Lassen Sie mich zu Ende kommen. Kann derselbe Mensch zugleich so stark und so schwach sein? Entscheiden Sie selbst. Aber noch mehr: Wenn Herr von Boiscoran schuldig ist, so hätte man ihn ins Irrenhaus statt in das Gefängnis schaffen sollen. Denn jeder andere, der nicht wahnsinnig ist, hätte das Wasser, in dem er sich seine von Kohlen geschwärzten Hände gewaschen, weggeschüttet und jenes Gewehr, von welchem in der Anklage so viel Aufhebens gemacht wird, vergraben, gleichviel wo.«

»Jacques ist gerettet!« rief Herr von Chandoré.

Herr Sénéchal ließ sich indes nicht so rasch mitreißen.

»Ihre Gründe scheinen nicht übel«, sagte er. »Unglücklicherweise aber fordert der Richter, der die Hände voll Beweise hat, etwas anderes als eine bloße Schlußfolgerung, so logisch sie immer sein mag.«

»Man wird deren noch stärkere ausfindig machen.«

»Was gedenken Sie denn zu tun?«

»Noch weiß ich es nicht. Ich teile Ihnen jetzt nur meinen ersten Eindruck mit. Zunächst muß ich die Sache untersuchen, die Leute vernehmen, vor allem den alten Antoine.«

Herr von Chandoré hatte sich erhoben.

»Wir können in einer Stunde in Boiscoran sein. Soll ich den Wagen kommen lassen?«

»Je eher, je besser«, antwortete der Anwalt.

In weniger als einer Viertelstunde erschien der Diener, um zu melden, daß der Wagen vor der Tür sei.

Alsbald nahmen Herr von Chandoré und Herr Folgat Platz, und während sie einstiegen, empfahl der Bürgermeister dem Pariser Anwalt, vor allem vorsichtig und behutsam zu sein.

»Nur zu sehr erhitzt diese Affäre schon die öffentliche Meinung . . . Die Politik mischt sich hinein . . . Ich fürchte eine Demonstration bei der Beerdigung der Feuerwehrleute, und man meldet mir, daß der Doktor Seignebos auf dem Kirchhof eine Rede halten wird. Leben Sie wohl! Viel Glück!«

Der Kutscher trieb das Pferd an, und während der Wagen durch die Vorstadt dahinfuhr, sagte Herr von Chandoré:

»Es ist mir unerklärlich, warum Antoine mich nicht alsbald nach der Verhaftung aufgesucht hat. Was mag ihm zugestoßen sein?«


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