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Das Gefängnis von Sauveterre befindet sich in dem Schlosse, welches auf der Höhe der alten Stadt inmitten eines ärmlichen und fast verlassenen Viertels liegt.
In alten Zeiten stark befestigt, wurde das Schloß von Sauveterre zur Zeit der Belagerung von La Rochelle seiner Befestigung beraubt; es ist nichts davon übriggeblieben als schlecht ausgebesserte Trümmer, Wälle mit ausgefüllten Gräben, ein Tor mit darüber aufsteigendem Glockenturm, eine Kapelle, die nunmehr in ein militärisches Magazin umgewandelt ist, und endlich zwei massive Türme, die durch ein mächtiges Gebäude miteinander in Verbindung stehen.
Es gibt nichts, was düsterer wäre als diese Ruinen, die von einer mit Efeu überwucherten Mauer umgeben sind, und nur der Soldat, der Tag und Nacht vor dem Eingang seine einförmige Obliegenheit erfüllt, läßt ihre Bestimmung erraten.
Hundertjährige Ulmen beschatten den weiten Hof und die Plattformen, in den Mauerspalten wächst Lavendel und Dachwurz genug, um hundert Gefangene erfreuen zu können.
Aber es fehlt diesem malerischen Gefängnis an Gefangenen.
»Ein Käfig ohne Vögel«, pflegt der Gefängniswärter in schwermütigem Ton zu sagen.
Er zieht mit Bewilligung der Verwaltung seinen Nutzen daraus, indem er sich in einem der Türme eine hübsche Wohnung eingerichtet hat. Sie besteht aus zwei Zimmern im Parterre und aus einem Zimmer im ersten Stock, wohin man auf einer schmalen, in der dicken Mauer angebrachten Treppe gelangt. In dieses Zimmer zog die Frau des Gefängniswärters mit furchtsamer Eile das Fräulein von Chandoré. Das arme junge Mädchen war dem Ersticken nahe, so heftig schlug ihm das Herz in der Brust, und kaum eingetreten, ließ es sich auf einen Stuhl niederfallen.
»Gott! Jesus!« rief Frau Blangin, »ist Ihnen nicht wohl, mein liebes Fräulein? Warten Sie, ich gehe hinunter, um Ihnen Essig zu bringen.«
»Es ist nicht nötig«, sagte Denise mit schwacher Stimme, »bleibe bei mir, meine gute Colette, bleibe!«
Colette – so hieß Frau Blangin, eine kräftige und robuste Plaudertasche von fünfundvierzig Jahren, braun wie das Brot des Landvolks, mit einem dichten schwarzen Flaum auf der Oberlippe.
»Armes Fräulein!« fuhr sie fort, »es scheint Ihnen sonderbar vorzukommen, daß Sie hier sind.«
»Gewiß, sehr sonderbar. Aber wo ist dein Mann?«
»Er ist unten auf der Wache. Aber er wird sogleich heraufkommen.«
Alsbald vernahm man in der Tat einen schweren Tritt auf der Treppe, und Blangin erschien, bleich, mit trübem Blick, wie ein Mann, der soeben eine große Gefahr bestanden hat.
»Niemand hat etwas gesehen!« sagte er aufatmend. »Niemand ahnt etwas. Ich fürchtete mich nur vor dem Wachtposten, dem schlechten Kerl, und gerade, als das Fräulein ankam, ist es mir gelungen, ihn hinter die Mauer zu ziehen, um ihm einen Schluck Branntwein anzubieten. Ich fange an zu glauben, daß ich meinen Posten nicht verlieren werde.«
Fräulein von Chandoré nahm diese Worte als Einleitung.
»Ei! was liegt an Ihrem Posten«, sagte sie, eine Heiterkeit erheuchelnd, die ihrem wirklichen Gemütszustand fern genug lag, »da wir übereingekommen sind, daß ich Ihnen einen besseren verschaffe?«
Und indem sie ihre Tasche öffnete, legte sie die Rollen auf den Tisch.
»Ah! das ist Gold!« rief Blangin mit blitzenden Augen.
»Ja. Jede dieser Rollen enthält tausend Francs; hier sind ihrer sechzehn . . .«
Die Züge des Gefängniswärters verrieten eine unwiderstehliche Versuchung.
»Darf man sehen?« fragte er.
»Gewiß«, antwortete das junge Mädchen, »überzeugen Sie sich.«
Sie irrte sich indes; Blangin fiel es nicht ein, das Gold zu zählen, sondern er wollte seinen Blick daran weiden und es klingen hören, es in die Hand nehmen. Mit fieberhafter Hast zerriß er die Papierhülle und ließ die einzelnen Stücke wie aus einem Füllhorn auf den Tisch niederregnen, und je mehr der Haufen anwuchs, desto bleicher wurden seine Lippen, und Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn.
»Alles das ist mein!« sagte er mit blödem Lachen.
»Ja, es gehört Ihnen!« antwortete Denise.
»Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Haufen von sechzehntausend Francs aussähe! Wie schön es ist, das Gold! Sieh doch, Frau!«
Aber die Gefängniswärterin wandte den Kopf ab.
Sie war nicht weniger gewinnsüchtig als ihr Mann und vielleicht noch aufgeregter, aber sie wußte sich zu verstellen.
»Ach! liebes Fräulein«, begann sie, »nie hätten mein Mann und ich Geld von Ihnen für einen Dienst gefordert, wenn wir nur für uns zu sorgen hätten. Aber wir haben Kinder!«
»Es ist eure Pflicht, für eure Kinder zu sorgen!« sagte Denise.
»Ich weiß wohl, daß sechzehntausend Francs eine große Summe sind! Das Fräulein wird vielleicht bedauern, uns so viel Geld zu geben.«
»Ich bedaure es so wenig, daß ich gerne noch etwas hinzufügen werde.«
Und sie zeigte ihm eine der vier Rollen, die sie noch in dem Täschchen hatte.
»Dann, wahrhaftig, zum Teufel mit dem Posten!« rief Blangin.
Und berauscht vom Anblick und von der Berührung des Goldes fuhr er fort:
»Sie sind hier zu Hause, mein Fräulein, und das Gefängnis und der Gefängniswärter stehen zu Ihrem Befehl. Was verlangen Sie? Ich habe hier neun Gefangene, Herrn von Boiscoran und Cheminot nicht mit eingerechnet. Wollen Sie, daß ich sie alle freilasse?«
»Blangin!« sprach die Frau in strengem Ton.
»Was? Steht es nicht in meiner Hand, die Gefangenen ausreißen zu lassen?«
»Ehe du den Übermütigen spielst, warte es ab, bis du dem Fräulein den Dienst geleistet hast, den sie von dir fordert!«
»Das ist richtig!«
»Dann«, fuhr die vorsichtige Gefängniswärterin fort, »verstecke das Geld, das uns verraten könnte.«
Mit diesen Worten nahm sie aus dem Schrank einen wollenen Strumpf, und ihr Mann ließ die sechzehntausend Francs hineingleiten, jedoch mit Ausnahme von etwa zwölf Stücken, die er in die Tasche steckte, um einen tatsächlichen Beweis seines neuen Vermögens in der Hand zu haben.
Als dies abgemacht und der Strumpf zum Platzen voll war, wurde er tief im Schrank unter einem Wäschehaufen versteckt.
»Und jetzt mach, daß du hinunterkommst«, befahl Frau Blangin ihrem Mann; »es kann noch jemand kommen, und wenn du nicht da bist, um zu öffnen, würde es Verdacht erregen.«
Als wohlerzogener Ehegatte gehorchte Blangin ohne Widerrede, und die Gefängniswärterin nahm es auf sich, Denise zu unterhalten.
Sie hoffe wohl, sagte sie, daß ihr teures Fräulein ihr die Ehre geben würde, etwas zu sich zu nehmen. Das würde eine Stärkung sein und außerdem helfen, die Zeit zu verbringen; denn es war sieben Uhr, und erst nach zehn konnte Blangin sie ohne Gefahr in Herrn von Boiscorans Zelle führen.
»Oh, ich habe schon gegessen«, wandte Denise ein, »und ich brauche nichts.«
Die andere beharrte nur um so mehr bei ihrer Einladung. Sie erinnerte sich noch genugsam der Lieblingsspeisen des teuren Fräuleins, hatte ihr eine vortreffliche Bouillon und eine unvergleichliche Creme bereitet.
Die lästigen Bemühungen der Frau Blangin hatten wenigstens das Gute, daß sie Denise von ihren schmerzlichen Gedanken abzogen.
Endlich war die Nacht gekommen. Es schlug neun, es schlug zehn Uhr. Dann hörte man den Schritt der Runde, welche den Wachtposten ablöste.
Eine Viertelstunde später erschien Blangin, eine Laterne und einen mächtigen Schlüsselbund in der Hand. »Ich habe Cheminot schlafen geschickt«, sagte er, »das Fräulein kann kommen.«
Denise stand schon bereit.
»Gehen wir«, sprach sie gefaßt.
Und dem Gefängniswärter folgend, durchschritt sie die endlosen Gänge, dann einen mächtigen gewölbten Saal, wo die Schritte wie in einer Kirche widerhallten, dann eine lange Galerie.
Endlich sagte Blangin, auf eine starke Tür weisend, durch deren Ritzen einzelne Lichtstrahlen fielen:
»Hier sind wir!«
»Warten Sie einen Augenblick«, antwortete sie.
Denn sie war nahe daran, den vielen auf sie einstürmenden Aufregungen zu unterliegen. Sie fühlte ihren Blick sich trüben, ihre Füße schwanken. Ihre Seele behielt immer ihre wunderbare Kraft, aber der Körper entzog sich ihrem Willen und wollte versagen.
»Sind Sie krank?« fragte der Gefängniswärter. »Was ist Ihnen?«
Sie bat Gott, ihr Mut und Kraft zu geben, und nach beendetem Gebet sagte sie:
»Treten wir ein!«
Mit großem Geräusch die Schlüssel und Schlösser handhabend, öffnete Blangin Jacques von Boiscorans Tür . . .
Es waren nicht mehr die Tage, es waren die Stunden, die Jacques von Boiscoran zählte, seit er in Einzelhaft war. Am 23. Juni, einem Freitag, war er in die Gefangenenliste eingetragen worden, und heute zählte man Mittwoch abend, den 28.
Es waren also 132 Stunden, daß er, nach des Rechtslehrers Ayrault schrecklichem Ausdruck, »lebend aus der Liste der Lebendigen gestrichen und in das Grab gemauert« war.
Und in der Tat hatte jede dieser 132 Stunden wie ebenso viele Monate auf seinem Haupte gelastet.
Man hätte auch in dieser bleichen, abgemagerten Gestalt mit zerwühltem Bart- und Haupthaar, mit den in Fieber glänzenden Augen, die wie halbverlöschte Kohlen leuchteten, kaum den glücklichen und sorglosen Schloßherrn von Boiscoran erkannt, diesen Benjamin des Glücks, dem von seiner Wiege an alles gelächelt hatte, diesen trotzigen, stolzen Jüngling, der von der Höhe seiner Vergangenheit die Zukunft herausgefordert.
Denn, unter allen Martern, welche die menschliche Gesellschaft gezwungen war, zu ihrer Verteidigung zu ersinnen, gibt es nichts Schrecklicheres als die Einzelhaft; nichts, was so unfehlbar die Kraft des Körpers lahmlegt, die Willenskraft zerfrißt, den unbeugsamsten Charakter bricht.
Im ersten Augenblick vernichtet, hatte Jacques zwar bald begonnen, sich dieses Zustandes zu erwehren, den Freitag und den Sonnabend hatte er sich ruhig, voller Zuversicht, gesprächig, ja fast heiter gezeigt.
Der Sonntag aber war ihm verhängnisvoll geworden.
Zur Aufhebung der Siegel zwischen zwei Gendarmen nach Boiscoran geführt, war er während des ganzen Weges von Leuten, die er kannte, mit Flüchen und Verwünschungen überhäuft worden und in einem Zustande tödlicher Niedergeschlagenheit zurückgekehrt.
Am Montag war er während des ganzen Tages von dem Untersuchungsrichter gemartert worden, und als man ihm sein Essen brachte, hatte er gesagt: Seine Gesundheit würde nicht lange mehr Widerstand leisten, und es wäre barmherziger, ihn gleich ohne weiteres zu töten.
Am Dienstag hatte er den Brief von Denise erhalten und beantwortet. Es war dies für ihn der Anlaß zur entsetzlichsten Aufregung gewesen, und während eines Teils der Nacht hatte Frumence Cheminot ihn mit den Gebärden und zusammenhanglosen Verwünschungen eines Wahnsinnigen in seiner Zelle auf- und niederschreiten sehen.
Er hatte für den Mittwoch auf eine Antwort gehofft.
Als diese nicht eintraf, war er in eine Geisteslähmung verfallen, aus der Herr Galpin-Daveline ihn nicht hatte herausreißen können. Den ganzen Tag hatte er nichts zu sich genommen als eine Tasse Fleischbrühe und ein wenig Kaffee.
Nachdem der Richter fort war, hatte er sich, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, dem Fenster gegenüber hingesetzt und war hier regungslos wie eine Statue verblieben, so in seine Gedanken vertieft, daß er, auch als man ihm das Licht hereinbrachte, sich nicht regte.
In dieser Stellung verharrte er noch, als er bald nach zehn Uhr den Riegel seiner Tür kreischen hörte.
Schon war er mit den Gebräuchen des Gefängnisses vertraut genug, um sie genau zu kennen.
Er wußte, um welche Stunde man ihm das Essen brachte, wann Cheminot kam, seine Zelle in Ordnung zu bringen, und wann er endlich gefaßt sein mußte, den Richter erscheinen zu sehen. Nach Einbruch der Nacht gehörte er sich selbst bis zum Morgen.
Ein so später Besuch kündigte also unfehlbar ein außergewöhnliches Ereignis an.
Die Freiheit vielleicht – diesen von allen Gefangenen erflehten Gast.
Er hatte sich aufgerichtet.
Und kaum erkannte er im Schatten das rauhe Gesicht des Gefängniswärters, als er hastig fragte:
»Was will man von mir?«
Blangin verbeugte sich. Er war ein freundlicher Gefängniswärter.
»Mein Herr«, antwortete er, »ich bringe Ihnen hier jemand . . .«
Und im Eingang verschwindend, machte er Denise Platz oder schob sie vielmehr in das Zimmer, denn sie schien die Kraft, sich zu bewegen, verloren zu haben.
»Jemand«, wiederholte Herr von Boiscoran.
Aber schon hatte der Gefängniswärter seine Laterne erhoben, und der Gefangene erkannte seine Braut.
»Du!« rief er, »du hier!«
Und er warf sich zurück, fürchtend, von einem Traumbild betrogen oder das Opfer einer jener erschreckenden Sinnestäuschungen geworden zu sein, die dem Wahnsinn vorhergehen und sich in dem kranken Gehirn einnisten wie der Adler inmitten einer Ruine.
»Denise«, murmelte er wieder, »Denise!«
Das arme junge Mädchen war nicht fähig, ein Wort herauszustoßen, so schnürte die Aufregung ihm die Kehle zusammen und verschloß ihm die Lippen.
Der Gefängniswärter antwortete an ihrer Stelle.
»Ja«, sagte er, »das Fräulein von Chandoré.«
»Zu dieser Stunde, in meinem Gefängnis!«
»Sie hat Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen und hat mich aufgesucht!«
»O Denise«, stammelte Jacques, »unvergleichliches Mädchen!«
»Und ich habe eingewilligt«, fuhr Blangin in väterlichem Ton fort, »sie heimlich hereinzuführen. Es ist ein großer Fehltritt, den ich begehe, und wenn es an den Tag käme –! Aber man mag immerhin Gefängniswärter sein, man hat ein Herz wie jeder andere. Wenn ich das erwähne, mein Herr, so geschieht es, weil das Fräulein vergessen könnte, Sie daran zu mahnen. Wenn das Geheimnis nicht bewahrt bliebe, so würde ich meinen Posten verlieren, und ich bin ein armer Mann, habe Weib und Kinder.«
»Sie sind der vortrefflichste Mensch!« rief Herr von Boiscoran, weit entfernt, den Preis zu ahnen, für welchen Blangins Empfindsamkeit erkauft worden war; »und an dem Tage, der mich befreien wird, werde ich Ihnen beweisen, daß Sie nicht einem Undankbaren geholfen haben.«
»Ganz zu Ihren Diensten, mein Herr«, antwortete in bescheidenem Ton der Gefängniswärter.
Nach und nach hatte Denise wieder die Herrschaft über sich gewonnen.
»Lassen Sie uns allein, mein Freund«, sprach sie sanft zu Blangin.
Und kaum hatte er sich zurückgezogen, da flüsterte sie, ohne Herrn von Boiscoran Zeit zu einem Wort zu geben:
»Jacques! mein Großvater hat mir gesagt, daß, wenn ich allein im Verborgenen in der Nacht zu dir käme, ich mich der Gefahr aussetzte, deine Liebe und deine Achtung für mich zu vermindern.«
»Oh, du hast es nicht geglaubt!«
»Mein Großvater hat mehr Erfahrung als ich, Jacques. Dennoch habe ich nicht gezaudert; hier bin ich. Und ich hätte noch ganz andere Gefahren bestanden, weil es sich um deine Ehre handelt, die die meinige, und um dein Leben, das das meinige ist, und um unsere Zukunft, um unser Glück, um alle unsere Hoffnungen hier auf Erden.«
Ein fieberhaftes Entzücken hatte das Antlitz des Gefangenen verwandelt.
»Großer Gott!« rief er, »ein solcher Augenblick wiegt Jahre der Marter auf!«
Aber Denise hatte sich, als sie kam, geschworen, daß nichts sie von ihrem Werk abbringen sollte.
»Ich bezeuge es beim Gedächtnis meiner Mutter, Jacques«, fuhr sie fort, »daß ich nie eine Sekunde an deiner Unschuld gezweifelt habe.«
Der Unglückliche antwortete mit einer trostlosen Gebärde.
»Du!« sagte er; »aber die übrigen, aber Herr von Chandoré!«
»Wäre ich denn hier, wenn er dich schuldig glaubte? Meine Tanten und deine Mutter glauben ebenso an dich wie ich selbst.«
»Und mein Vater? Du sagst mir nichts von ihm in deinen Briefen?«
»Dein Vater ist in Paris geblieben für den Fall, daß es von dort aus Schritte zu tun gäbe.«
Herr von Boiscoran schüttelte den Kopf.
»Ich bin gefangen in Sauveterre«, murmelte er, »eines verruchten Verbrechens angeklagt, und mein Vater bleibt in Paris. So ist es wahr, daß er mich nie geliebt hat? Und dennoch bin ich ihm bis zu dieser entsetzlichen Katastrophe stets ein guter Sohn gewesen; er hat sich nie über mich zu beklagen gehabt. Nein, mein Vater hat keine Liebe für mich.«
Denise konnte sich nicht so ablenken lassen.
»Hör mich an, Jacques«, unterbrach sie ihn. »Höre, warum ich diesen Schritt gewagt habe, der so bedenklich ist und mich so viel kostet. Im Namen aller deiner Freunde bin ich gekommen, im Namen Herrn Folgats, jenes Anwalts aus Paris, den deine Mutter mitgebracht hat und den du noch nicht kennst; und auch im Namen von Herrn Magloire, in den du so viel Vertrauen setzest. Alle sind einverstanden. Du hast ein unheilvolles System verfolgt. Bei deinem Schweigen verharren, das heißt sich geflissentlich in den Abgrund stürzen. Verstehe wohl, was ich dir sage. Wenn du mit deiner Rechtfertigung zögerst, bis die Untersuchung abgeschlossen ist, bist du verloren. Von dem Tage an, da die Anklagekammer sich des Prozesses bemächtigt hat, wird es vergeblich sein, zu sprechen. Und du, der Unschuldige, wirst die unselige Liste der Justizirrtümer mehren.«
Schweigend, mit zu Boden gesenkter Stirn, hatte Jacques von Boiscoran Denise von Chandoré angehört.
»Ach!« murmelte er, als sie zitternd innehielt, »alles, was du mir sagst, habe ich mir selbst schon gesagt!«
»Und du hast geschwiegen?«
»Ich habe geschwiegen!«
»Oh, das hast du getan, Jacques, weil du die Gefahr nicht ahnst, die du selbst heraufbeschwörst, weil du nicht weißt –«
»Ich weiß«, sprach er, »daß mir das Schafott oder die Galeere droht!«
Denise war starr vor Entsetzen. Armes Kind! Sie hatte sich eingebildet, daß sie nur zu erscheinen brauchte, um über Jacques von Boiscorans Hartnäckigkeit zu triumphieren, und daß sie beruhigt sein würde, sobald er gesprochen hätte. Und statt dessen . . .!
»Unglücklicher!« rief sie, »diese schrecklichen Gedanken sind dir aufgestiegen und du bist dabei geblieben, dein Schweigen nicht zu brechen!«
»Ich muß es.«
»Es ist unmöglich, du hast es nicht überlegt.«
»Nicht überlegt!« wiederholte er.
Und leiser fügte er hinzu:
»Was glaubst du denn, was ich getan habe in allen den tödlichen Stunden, die ich in diesem Gefängnis bin, allein angesichts einer schrecklichen Beschuldigung und der fürchterlichsten Möglichkeiten?«
»Das ist das Unglück, Jacques, du bist das Opfer deiner Einbildung geworden! Wem wäre es an deiner Stelle anders ergangen? Herr Folgat sagte mir gestern noch, daß es keinen Menschen gibt, der nach vier Tagen der Isolierhaft noch seine Kaltblütigkeit behielte. Der Schmerz und die Einsamkeit sind schlechte Ratgeber. Jacques, komm zu dir! Hör deine teuersten Freunde, deren Ratschläge dir durch meine Stimme überbracht werden . . . Jacques, deine Denise beschwört dich, sprich!«
»Ich kann nicht.«
»Warum?«
Sie wartete einige Sekunden; da er aber nicht antwortete, fuhr sie nicht ohne einen Beiklang von Bitterkeit fort:
»Ist es nicht die erste Pflicht, seine Unschuld zu beweisen, wenn man unschuldig ist?«
Mit einer verzweifelten Gebärde preßte der Gefangene seine Stirn in die zusammengekrampften Hände. Sich zu Denise herabbeugend, so dicht, daß sie seinen Atem in ihren Haaren fühlte, sprach er:
»Und wenn man es nicht kann? Wenn man seine Unschuld nicht beweisen kann?«
Sie wich zurück, bleich zum Sterben. Schwankend, so daß sie sich an die Mauer stützen mußte, richtete sie ihren Blick, in dem sich die ganze Qual ihrer Seele spiegelte, auf Jacques von Boiscoran.
»Was redest du, mein Gott!« stammelte sie.
Er lachte, der Unglückliche, mit jenem finsteren Lachen, das der Ausdruck der äußersten Verzweiflung ist.
»Ich sage«, antwortete er, »daß es Umstände gibt, die so verhängnisvoll sind, daß sie die Vernunft verwirren, und Zusammentreffen so unerhörter Zufälle, daß sie uns an uns selber zweifeln machen. Ich sage, daß alles mich niederdrückt, alles mich anklagt, alles gegen mich zeugt. Ich sage, daß, wenn ich an Galpin-Davelines Stelle und er an der meinigen wäre, ich ohne Zweifel ebenso handeln würde!«
»Das ist Wahnsinn!« rief Fräulein von Chandoré.
Aber Jacques von Boiscoran hörte sie nicht. Alle Bitterkeit der letzten Tage stieg in ihm auf; er wurde lebhafter; sein Wangen überzogen sich mit Purpur.
Und immer rascher fuhr er in atemlosen Sätzen fort: »Meine Unschuld beweisen! Ja, das ist leicht geraten . . . Aber wie? Nein, ich bin nicht schuldig, aber ein Verbrechen ist begangen worden, und für dieses Verbrechen braucht die Justiz einen Schuldigen. Wenn ich es nicht bin, der auf den Grafen von Claudieuse geschossen hat und Valpinson in Brand gesteckt, wer ist es denn? Wo waren Sie, sagt man mir, im Augenblick des Attentats? – Wo ich war? Kann ich es sagen? Mich rechtfertigen, hieße einen andern anklagen! Und wenn ich mich täuschte? Und wenn ich mich nicht täuschte, die Wahrheit meiner Anklage aber nicht beweisen könnte? Hat der Mörder, hat der Brandstifter nicht alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um der Strafe zu entgehen und sie auf mein Haupt zurückfallen zu lassen? Ich war gewarnt! Es gibt einen Haß, der so fluchwürdige Rache wohl ausbrütet. Oh, wenn man vorhersehen könnte! . . . Wie soll ich den Kampf bestehen? . . . Ich, der ich mir am ersten Tage sagte: Eine solche Verdächtigung kann mich nicht erreichen; es ist eine Wolke, die ein Windhauch zerstreuen wird . . . Armseliger Narr! Ich bin kein Kind, ich bin kein Feigling, und ich bin stets auf jedes Gespenst geradewegs zugegangen . . . Ich habe die Gefahr ermessen, sie ist ungeheuer!«
Denise bebte.
»Was soll aus uns werden?« rief sie.
Diesmal hörte Herr von Boiscoran sie und schämte sich seiner Schwäche. Aber ehe es ihm gelang, seine Aufregung zu beherrschen, fuhr das junge Mädchen fort:
»Gleichviel, diese Betrachtungen sind eitel. Über der geschicktesten Berechnung, über allen Systemen, sie mögen noch so geschickt aufgebaut sein, steht die Wahrheit unwandelbar und unbesieglich. Du mußt die Wahrheit sagen, Jacques, ohne Hintergedanken, ohne Rückhalt, ohne Umweg.«
»Das ist nicht möglich«, murmelte Jacques.
»Also ist sie so fürchterlich?«
»Sie ist unwahrscheinlich.«
Nicht ohne inneres Grauen sah Denise ihn an. Sie erkannte weder den Ausdruck seines Gesichts, noch seinen Blick, noch seine Stimme wieder.
Seine Hand ergreifend, flüsterte sie:
»Aber mir, deiner Geliebten, kannst du sie sagen, diese Wahrheit?«
Er trat erbebend zurück und rief:
»Dir weniger als allen anderen!« Und das Betrübende dieser Antwort wohl begreifend, fuhr er fort:
»Zu rein ist dein Gemüt für diese schändlichen Intrigen. Ich will nicht haben, daß ein Fleck des Schmutzes, in den man mich hinabgezogen, dein Hochzeitskleid besudle.«
Blieb sie ahnungslos? – Nein, aber sie hatte den Mut, es zu scheinen.
»Es sei«, fuhr sie fort, »aber diese unglückselige Wahrheit, früher oder später wirst du sie doch aussprechen müssen.«
»Ja, gegen Herrn Magloire.«
»Wohlan! Jacques, was du ihm sagen würdest, schreib es ihm. Ich werde den Brief getreu besorgen.
»Es gibt Dinge, die man nicht schreiben kann, Denise.«
Sie fühlte sich überwunden, sie fühlte, daß nichts diesen eisernen Willen brechen würde; dennoch begann sie wieder:
»Aber wenn ich dich anflehe, Jacques, um unserer Vergangenheit und um unserer Zukunft willen, um dieser einzigen und ewigen Liebe willen, die du mir gelobt hast?«
»So willst du«, unterbrach er sie, »die Stunden meiner Haft noch tausendfach verbittern; mir alles rauben, was mir noch an Mut und Kraft geblieben ist! Hast du so gar kein Vertrauen mehr zu mir? Willst du mir nicht noch auf einige Tage Frist geben?«
Er hielt inne. Man klopfte an die Tür. Fast gleichzeitig rief Blangin durch das Guckloch herein:
»Die Zeit vergeht. Ich muß unten sein, wenn man den Wachtposten ablöst. Ich spiele ein gewagtes Spiel. Ich bin Familienvater!«
»Entferne dich, Denise«, sagte Jacques heftig. »Der Gedanke, daß man dich hier überraschen könnte, ist mir fürchterlich.«
Wie wenig sie die Gefahr scheute, überrascht zu werden! Fräulein von Chandoré hatte sie teuer bezahlt, diese Furchtlosigkeit! Dennoch widerstand sie nicht. Sie senkte ihm ihre Stirn entgegen, die er mit einem Hauch seiner Lippen berührte; alsdann erreichte sie, mehr tot als lebendig, die Kammer der Gefängniswärterin.
Man hatte ihr ein Bett bereitet, sie warf sich nieder, ohne sich zu entkleiden, und blieb bewegungslos wie eine Tote liegen, in einen Zustand von Entkräftung verfallend, der ihr selbst das Gefühl des Leidens nahm.
Es war heller Tag und acht Uhr vorüber, als sie sich am Arm gezogen fühlte.
»Mein liebes Fräulein«, sagte ihr die Gefängniswärterin, »die Stunde wäre günstig, sich ungesehen zu entfernen. Man wird sich vielleicht wundern, Sie so früh in den Straßen zu sehen, aber man wird annehmen, daß Sie aus der Sieben-Uhr-Messe kommen.«
Ohne ein Wort der Erwiderung sprang Denise auf. Mit einer Handbewegung hatte sie die Verwirrung ihrer Toilette in Ordnung gebracht.
Als auch Blangin herbeikam, um unruhig nachzusehen, ob sie zum Aufbruch bereit sei, reichte sie ihm die letzten Rollen von tausend Francs hin, die noch in ihrer Tasche geblieben waren, und sagte: »Da – nehmt das, damit Ihr Euch meiner erinnert, falls ich Eurer noch bedürfte.«
Und ihren Schleier über das Gesicht ziehend, ging sie hinaus.