Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

31

Es war gegen elf Uhr, als der Wärter Blangin ganz erschrocken in die Zelle Jacques' von Boiscoran eintrat.

»Mein Herr«, sagte er atemlos, »Ihr Vater ist unten.«

Mit einem Satze war Jacques auf den Füßen. Herr von Chandoré hatte ihn am Abend vorher von der bevorstehenden Ankunft des Marquis unterrichtet, und seitdem hatte er all seine Zeit damit zugebracht, sich auf dieses erste Wiedersehen vorzubereiten. Welchen Ausgang würde es nehmen? Es war nicht vorauszusehen. Jacques nahm sich vor, eine reservierte Haltung zu bewahren, und während er Blangin folgte und die endlosen Gänge entlang und die tiefen Treppen hinabschritt, suchte er sich ein möglichst unbewegliches Gesicht anzueignen und bereitete eine sehr respektvolle Anrede vor.

Kaum aber war das erste Wort über seine Lippen, so lag er in den Armen seines Vaters, der ihn fest an seine Brust drückte und stammelte:

»Jacques, mein armer Sohn, unglückliches Kind!«

Nie in seinem doch so langen und vielgeprüften Leben war der Marquis so furchtbar erschüttert worden wie in diesem Augenblick. Er zog Jacques unter ein Fenster des Sprechzimmers, und selbst zurücktretend, um ihn besser betrachten zu können, begriff er die Zweifel nicht, die ihn so lange Zeit gefoltert hatten. Er schien sich selbst in der Jugenderscheinung Jacques' wiederzufinden; er erkannte in ihm seine Haltung und sein Gesicht, seine Züge, den freimütigen und etwas stolzen Ausdruck seiner Mienen, seinen geraden und hellen Blick . . .

Plötzlich aber beunruhigte ihn, als er seine Betrachtung auf die Einzelheiten richtete, die ungewöhnliche Abmagerung Jacques, seine Blässe, und er bemerkte mit Schrecken unter den dunklen Haarbüschen an den Schläfen einzelne weiße Haare . . .

»Unglückseliger!« rief er. »Wie schwer hast du schon leiden müssen!«

»Ich habe allerdings gefürchtet, daß ich wahnsinnig werden müsse«, erwiderte Jacques. Doch mit leisem Zittern seiner Stimme fügte er hinzu:

»Aber Sie, mein Vater, warum haben Sie kein Lebenszeichen von sich gegeben? Warum haben Sie so lange gezögert?«

Der Marquis von Boiscoran hatte diese Frage wohl erwarten können, aber was sollte er darauf erwidern? Konnte er seinem Sohne das traurige Geheimnis seiner absichtlichen Zurückhaltung offenbaren?

Er wandte das Gesicht halb ab und entgegnete befangen:

»Ich glaubte, dir nützlicher sein zu können, wenn ich in Paris bliebe.«

Seine Verlegenheit war aber allzu sichtbar, als daß sie Jacques hätte entgehen können.

»Lieber Vater«, sagte dieser betrübt, »haben Sie an Ihrem Sohne gezweifelt?«

»Niemals!« rief der Marquis lebhaft. »Niemals habe ich auch nur eine Minute gezweifelt. Frage deine Mutter, sie wird dir sagen, daß es die stolze Gewißheit deiner Schuldlosigkeit war, die mich zurückhielt, mit ihr zu reisen. Als ich hörte, wessen man dich anklagte, habe ich gesagt, es sei lächerlich.«

Jacques schüttelte den Kopf.

»Die Anklage ist allerdings lächerlich«, erwiderte er, »aber Sie sehen, wohin sie mich trotzdem gebracht hat.«

Zwei große, lange zurückgehaltene Tränen flimmerten in den Augen des Marquis.

»Du hast nach mir verlangt, Jacques, mein Sohn«, murmelte der Marquis.

Es gibt wohl kaum einen Menschen, dem, wenn er seinen Vater weinen sieht, das Herz nicht bräche. Alle Entschlüsse Jacques' gingen bei diesem Anblick in Rauch auf. Er nahm die Hände des alten Edelmanns in die seinen und rief bewegt:

»Nein, mein Vater, ich habe nicht verlangt, daß Sie kommen, nein! Und dennoch gibt es keine Worte, Ihnen all den Schmerz zu schildern, den Ihr Ausbleiben meinen tödlichen Ängsten hinzugefügt hat. Ich glaubte mich verlassen und verstoßen, und machte mir darüber die schmerzlichsten Gedanken.«

Zum ersten Male seit seiner Einkerkerung fand der Unglückliche ein Herz, um alle Bitterkeiten aussprechen zu können, von welchen ihm das eigene Herz überfloß. Vor seiner Mutter und vor Denise gebot ihm die Ehre, seine Verzweiflung zu verhehlen. Die Ungläubigkeit Magloires hatte ihm gleichfalls Zurückhaltung auferlegt, und Folgat war ihm, trotz aller seiner Teilnahme und seines lebhaften Mitgefühls, doch nur ein Fremder.

In diesem Augenblicke aber und vor dem teuersten und treuesten Freunde, den ein Mensch auf Erden nur besitzen kann, vor seinem Vater, konnte er ohne Bedenken sein Inneres erschließen.

»Kann es wohl«, rief er, »in der Welt ein Beispiel von unerwarteterem Unheil geben? Schuldlos sein und doch sich nicht rechtfertigen zu können! Den Schuldigen kennen und ihn nicht zu nennen wagen! Oh, ich habe zu Anfang das Furchtbare dieser Lage gar nicht fassen können. Ich war wohl einen Augenblick entsetzt, als ich das Gewicht der gegen mich erhobenen Beschuldigungen erkannte, aber ich zögerte nicht, mich selbst zu beruhigen, indem ich mir sagte, daß die Justiz wohl die Wahrheit zu erforschen wissen werde. Die Justiz! Es war mein Freund Galpin-Daveline, welcher sie vertrat, und er kümmerte sich nicht viel um die Wahrheit, wenn er nur den Beweis zu erbringen vermochte, daß sein Angeklagter wirklich der Schuldige sei. Und warum hätte er diesen Beweis nicht erbringen sollen? Lesen Sie nur die Untersuchungsprotokolle, mein Vater, und Sie werden mit Staunen das Zusammentreffen höllischer Umstände sehen, deren Opfer ich bin. Nicht ein einziger Umstand, der nicht zur Erschwerung meiner Lage beitrüge. Niemals hat sich jene geheimnisvolle, blinde und lächerliche Macht, die so oft mit uns spielt und die man Verhängnis zu nennen pflegt, in so nichtswürdiger Weise dargestellt wie in meinem Falle!«

Fast beängstigt von der Heftigkeit seines Sohnes, verhielt der Marquis sich schweigend, und Jacques fuhr fort:

»Anfangs war es die Ehre und später die Vorsicht, welche auf meinen Lippen den Namen der Frau von Claudieuse zurückhielt. Am ersten Tage, da ich mich endlich aussprechen konnte, sagte mir Herr Magloire, daß ich lüge. Da schien es mir, als ob alles verloren sei, und weil ich keinen anderen Ausweg sah als das Geschworenengericht, das heißt Zuchthaus oder Schafott, war ich entschlossen, mich zu töten. Ich wollte mich einer Bürde entziehen, die für meine Kräfte zu schwer zu werden drohte. Meine Freunde machten mir begreiflich, daß ich mir nicht allein mehr angehöre und daß, solange mir noch ein Schimmer von Verstand und ein Funke von Mut bleibe, ich nicht das Recht hätte, über mein Leben zu verfügen . . .«

»Unglücklicher!« unterbrach ihn der Marquis. »Nein, du hattest nicht das Recht!«

»Gestern«, fuhr Jacques fort, »kam Denise . . . Wissen Sie, was sie mir anbot? . . . Ich solle die Flucht ergreifen; nicht allein, sondern mit ihr. Die Versuchung war groß, lieber Vater . . . Frei sein, Denise mit mir, was kümmerte mich die Meinung der Welt! Und sie war beharrlich, diese unvergleichliche Freundin, und siehe, hier, auf dieser selben Stelle, wo Sie sind, lag sie vor mir auf den Knien! Ich bin trotzdem geblieben. Ich verschmähte die Rettung und beschloß auszuharren.«

Er setzte sich nieder auf die elende Holzbank des Sprechzimmers und barg sein Gesicht in den Händen, um seine Tränen nicht sehen zu lassen. Plötzlich aber hatte er, wie schon mehrmals seit seiner Inhaftierung, einen Zornanfall.

»Was habe ich getan«, rief er, »was habe ich denn getan, um eine solche Züchtigung zu verdienen?«

Da verfinsterte sich die Stirn des Marquis.

»Mein Sohn«, sagte er ernst und streng, »du hast das Weib eines andern geliebt.«

Jacques zuckte die Achseln.

»Ich liebte Frau von Claudieuse«, erwiderte er, »und sie liebte mich.«

»Der Ehebruch ist ein Verbrechen, Jacques.«

»Ein Verbrechen! . . . Dasselbe sagte mir Herr Magloire. Aber Sie, mein Vater, glauben Sie das wirklich? Dann ist es wenigstens ein angenehmes Verbrechen, bei welchem alles anregt und ermutigt, dessen man sich ungezwungen rühmt und an welchem sich alle Welt beteiligt und vergnügt! Das Gesetz, es ist wahr, gibt dem Ehemann das Recht über Leben und Tod, aber wenn man sich an das Gesetz selbst wendet, so bestraft es die Schuldigen mit sechs Monaten Gefängnis, welche sie in einem Krankenhaus verbüßen.«

»Jacques«, unterbrach ihn der Marquis, »die Frau von Claudieuse behauptet, nach dem, was du gesagt hast, daß ihre jüngere Tochter dein Kind sei.«

»Es ist wohl möglich . . .«

Dem Marquis von Boiscoran schauderte.

»Das ist möglich?« rief er. »Und du sprichst dies in einem so leichten Tone aus? Unglücklicher! Ist dir denn nie eingefallen, mit welchem Schmerze Herr von Claudieuse die Wahrheit vernehmen würde? Und wenn er die Wahrheit auch nur vermutete! Du hast gewiß keine Vorstellung davon, wie ein bloßer Verdacht ausreichen würde, sein ganzes Leben zu vergiften und wahrscheinlich ihm auch den Besitz jener Tochter zu vergällen, welche dir zugeschrieben wird. Du hast dir wohl niemals gesagt, daß ein so gräßlicher Zweifel dem Betreffenden mehr Leiden verursachen kann, als du selbst als Opfer eines Irrtums erduldest.«

Zwanzig Worte mehr, und der Marquis hätte vielleicht sein eigenes Geheimnis preisgegeben, aber es gelang ihm durch eine heroische Anstrengung, sich zu bemeistern.

»Doch genug davon«, sagte er gemäßigter. »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten, sondern um dir zu sagen, daß dein Vater von nun an dich nicht mehr verlassen wird und daß, wenn es gilt, den Schimpf einer Schwurgerichtsverhandlung zu ertragen, du ihn an deiner Seite finden wirst.«

So groß auch die geistige Verstörung Jacques' war, fühlte er sich doch betroffen von der Aufregung und dem schneidenden Ausdrucke der plötzlichen Heftigkeit seines Vaters. Es war ihm einen Augenblick, als trete die unbestimmte Vorstellung der betrübenden Wahrheit vor seine Seele, aber sie entschwand noch im Aufgehen wieder vor dem Versprechen, welches ihm soeben sein Vater gegeben hatte, daß er seinerseits der unvermeidlichen Demütigung eines gerichtlichen Urteils Trotz bieten wolle; ein bewegendes Versprechen väterlicher Zuneigung. Fortgerissen vom Gefühl der Dankbarkeit, rief er:

»Ich empfinde es nur zu tief, mein Vater, daß ich, der an Ihrer Güte zweifelte, Sie um Verzeihung zu bitten habe.«

Der Marquis tat sein möglichstes, die Wirkung der tiefen Gemütserschütterung von sich abzuschütteln.

»Ja, ich liebe dich, mein Sohn,« sagte er ernst, »aber ich bin dennoch von Natur kein Held, und ich hoffe also noch, daß uns das Schwurgericht erspart bleiben möge.«

»Hat sich irgend etwas von Bedeutung ereignet?«

»Nun, wenn auch die Ermittlungen des Herrn Folgat bis jetzt nicht gerade von entscheidenden Erfolgen gewesen sind, so haben sie doch gewisse Anzeichen ergeben, auf welche sich berechtigte Hoffnungen gründen lassen.«

»Ach, nur Anzeichen!« murmelte Jacques entmutigt.

»Warte es ab, mein Sohn! Ich gebe zu, daß diese Indizien nur schwach und von der Art sind, daß es unsinnig wäre, sie vor den Geschworenen geltend machen zu wollen, aber sie versprechen von Tag zu Tage entscheidender zu werden und sind bereits von solchem Werte, daß sie dir Magloire zurückgewonnen haben.«

»Herr des Himmels! Wenn ich doch gerettet würde!«

»Ich will Herrn Folgat das Verdienst lassen, dir selbst den Erfolg seiner Schritte mitzuteilen. Er wird dir besser als ich ihre Tragweite erklären können. Und du wirst nicht lange auf ihn zu warten haben, da er gestern abend oder vielmehr heute in der Frühe, als wir uns trennten, mit Magloire verabredet hat, dir nach zwei Stunden einen gemeinsamen Besuch zu machen.«

In der Tat vernahm man einige Augenblicke später rasche Schritte im Gange, und Frumence Cheminot erschien. Es war derselbe Häftling, den Blangin zu seinem Gehilfen gemacht und den Méchinet als Vermittler der Korrespondenz zwischen Jacques und Denise benutzt hatte.

»Was ist, Cheminot?« fragte ihn Jacques.

»Gnädiger Herr«, erwiderte der Vagabund, »Herr Blangin läßt Ihnen sagen, daß die Herren Anwälte Sie in Ihrer Zelle sprechen wollen.«

Der Marquis von Boiscoran umarmte seinen Sohn ein letztes Mal.

»Laß sie nicht warten«, sagte er ihm. »Ich sehe dich wieder – habe guten Mut!«


 << zurück weiter >>