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Seit der verhängnisvollen Nacht der Feuersbrunst von Valpinson langweilte man sich nicht mehr in Sauveterre. Der Ort ging seitdem in fort und fort erneutem Interesse für einen unerschöpflichen, an Widersprüchen und Auseinandersetzungen fruchtbaren Unterhaltungsstoff auf: in dem Prozeß Boiscoran.
»Wie steht's mit dem Prozeß?« Damit begrüßte man sich auf der Straße.
Sooft Herr Galpin-Daveline sich aus dem Gerichtshof in das Gefängnis begab und in seinem feierlichen und steifen Schritt die Rue nationale heraufkam, suchten die hinter ihren Gardinen verborgenen Bürgersleute aus seinen Mienen die Geheimnisse der Untersuchung zu erraten. Sie konnten in ihnen nur den Stempel der nagendsten Sorgen wahrnehmen und eine von Tag zu Tag sichtbarer werdende Blässe, so daß sie untereinander sagten:
»Ihr werdet sehen, dieser arme Herr Galpin wird noch mit der Gelbsucht enden.«
So trivial der Ausdruck war, so entsprach er durchaus den Empfindungen des ehrsüchtigen Beamten.
Dieser Prozeß Boiscoran war ihm zu einer jener offenen Wunden geworden, deren unaufhörliche Reizung nichts zu sänftigen vermag.
»Ich habe darüber den Schlaf verloren«, sagte er zu dem Staatsanwalt.
Der treffliche Herr Daubigeon aber, der die größte Mühe hatte, das Feuer seines Eifers zu beschwichtigen, bedauerte ihn nur sehr mäßig.
»An wem liegt die Schuld?« antwortete er ihm. »Aber man will sein Ziel erreichen, und die Sorgen folgen dem wachsenden Glück auf dem Fuß . . .
›Crescentem sequitur cura pecuniam
Majorumque fames.‹«
»Ach was . . . ich habe nur meine Pflicht erfüllt«, rief der Untersuchungsrichter, »und wenn es gälte, noch einmal von vorn anzufangen, so würde ich ebenso handeln.«
Dennoch fiel von Tag zu Tag ein immer schieferes Licht auf seine Lage.
Die öffentliche Meinung, obgleich dem Herrn von Boiscoran feindlich, war weit entfernt, für Daveline günstig zu sein.
Man glaubte allgemein an Jacques' Schuld und rief die ganze Strenge des Gesetzes auf ihn herab; aber andererseits wunderte man sich darüber, daß Herr Galpin-Daveline die Aufgabe des Untersuchungsrichters übernommen hatte.
Diese Handlungsweise – einen alten Freund in Kriminaluntersuchung zu nehmen, die Beweise seines Verbrechens aufzuspüren mit der Absicht, ihn dem Schwurgericht, das heißt dem Schafott oder den Galeeren auszuliefern – stellte ihn in das Licht eines Verräters und empörte die Gemüter.
Schon an der Art, wie die Leute seinen Gruß erwiderten oder ihm aus dem Wege gingen, konnte der Richter die Meinung erkennen, die man von ihm hegte.
Dadurch verdoppelte sich sein Zorn gegen Jacques und zugleich seine Unruhe.
Er war allerdings von dem Oberstaatsanwalt beglückwünscht worden, aber ist man je sicher über den Ausgang eines Prozesses, ehe der Schuldige gestanden hat?
Gewiß waren die Beschuldigungen, die sich gegen Jacques erhoben, so vernichtend, daß die Entscheidung der Anklagekammer nicht zweifelhaft sein konnte. Aber über der Anklagekammer steht das Geschworenengericht.
»Und in Summa, mein Lieber«, wandte der Staatsanwalt ein, »haben Sie nicht einen einzigen Augenzeugen, und doch ist's, wie Loisel in seinen ›Maximen über das Gewohnheitsrecht‹ sagt: ›Ein einziges Auge sieht mehr, als zwei Ohren zu hören vermögen. Ein Augenzeuge ist besser als der, welcher nach Hörensagen spricht.‹«
»Ich habe Cocoleu«, unterbrach Herr Daveline, dem die beständigen Zitate Herrn Daubigeons eine sehr bittere Gabe waren.
»Die Ärzte haben also festgestellt, daß er nicht schwachsinnig ist?«
»Nein; Herr Seignebos steht nach wie vor allein mit seiner Ansicht da.«
»Dann versteht sich Cocoleu wenigstens dazu, sein Zeugnis zu wiederholen?«
»Nein.«
»Es ist also ebenso gut, wie wenn Sie niemand hätten.«
Herr Daveline begriff es nur zu wohl. Daher alle seine Qualen.
Je mehr er seinen Angeklagten studierte, je mehr fand er in dessen Verhalten etwas Rätselhaftes und Drohendes, was ihm nichts Gutes verkündigte.
»Sollte er ein Alibi haben?« dachte er. »Hält er es für den letzten Augenblick in Reserve, als eines jener unvorhergesehenen Mittel, die den ganzen Aufbau der Anklage niederwerfen und den Untersuchungsrichter der Lächerlichkeit preisgeben?«
Wenn solche Gedanken ihm kamen, so bewirkten sie, trotz all ihrer Unwahrscheinlichkeit, daß ihm die Schweißtropfen von den Schläfen perlten. Und dann behandelte er seinen armen Gerichtsschreiber Méchinet wie einen Negersklaven.
Und das war nicht alles. So zurückgezogen er seit dem Prozeß lebte, so kam ihm doch manches Echo aus der Rue de la Montagne zu Ohren.
Allerdings war er so weit als möglich davon entfernt zu glauben, daß man mit seinem Angeklagten in Verbindung stand, und zwar in einer Verbindung, die durch seinen eigenen Gerichtsschreiber, durch Méchinet, angeknüpft und betrieben wurde.
Er hätte mit den Achseln gezuckt, wenn man gekommen wäre, ihm zu sagen, daß Denise die Nacht im Gefängnis verbracht und eine Zusammenkunft mit Jacques gehabt habe.
Dennoch gelangte hin und wieder etwas über die Pläne und Hoffnungen der Verwandten und Freunde Jacques' bis zu ihm, und nicht ohne geheime Furcht dachte er daran, wie mächtig sie waren durch Reichtum und Ansehen, durch die vornehmsten Verbindungen unterstützt und von allen geliebt und geachtet; wie um Denise sich aufgeklärte, zu jedem Opfer bereite Männer vereinigten: Großvater Chandoré, Herr Sénéchal, der Doktor Seignebos, Herr Magloire und endlich Herr Folgat, jener Pariser Anwalt, den die Marquise von Boiscoran mitgebracht hatte.
»Und Gott mag wissen«, dachte er bei sich, »was sie nicht alles unternehmen können, um den Schuldigen den Händen der Justiz zu entziehen.«
Und deshalb kann man sagen, daß nie eine Untersuchung mit so leidenschaftlichem Eifer, mit so brennender Begier geleitet wurde.
Jeder Punkt, den die Anklage anführte, war für Herrn Galpin-Daveline der Gegenstand der sorgsamsten Untersuchung. In weniger als fünfzehn Tagen passierten siebenundsechzig Zeugen sein Zimmer. Er ließ den vierten Teil der Bevölkerung Bréchys vorladen. Er hätte die ganze Gemeinde vernommen, wenn er es gewagt hätte.
Vergebliches Bemühen! Nach mehreren Wochen eifrigster Nachforschungen stand die Untersuchung noch auf demselben Punkte; das Geheimnis war ebenso undurchdringlich wie vorher.
Der Beschuldigte hatte nicht eine einzige der vernichtenden Anklagen, die auf ihm lasteten, aufgeklärt, aber der Richter hatte den am ersten Tage entdeckten Beweisen nicht einen einzigen neuen hinzugefügt.
Es mußte endlich abgeschlossen werden.
An einem heißen Julinachmittage glaubten die Bürger der Rue nationale zu bemerken, daß Herr Galpin-Daveline noch sorgenvoller einherschritt als gewöhnlich.
Und sie täuschten sich nicht.
Nach einer langen Konferenz mit dem Staatsanwalt und dem Präsidenten des Gerichts hatte der Untersuchungsrichter seinen Entschluß gefaßt.
Im Gefängnis angelangt, ließ er sich in Jacques von Boiscorans Zelle führen. Seine Aufregung durch eine noch gesteigerte Schroffheit verbergend, begann er:
»Meine peinliche Aufgabe naht ihrem Ende, die Untersuchung, die mir oblag, ist nunmehr abgeschlossen. Von morgen an werden die Akten des Prozesses und die zum Beweise dienenden Gegenstände dem Oberstaatsanwalt übergeben, um der Anklagekammer unterbreitet zu werden.«
Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, antwortete Jacques:
»Gut.«
»Haben Sie nichts hinzuzufügen?« bemerkte der Richter.
»Nichts, als daß ich unschuldig bin.«
Kaum gelang es Herrn Daveline, eine Bewegung der Ungeduld zu unterdrücken.
»Dann beweisen Sie es«, sagte er. »Dann vernichten Sie die Anklagen, die gegen Sie bestehen, die Sie in den Staub ziehen, die Sie vor mir, vor dem Gericht, vor aller Welt schuldig erscheinen lassen.«
Hartnäckig verharrte Jacques bei seinem Stillschweigen.
»Ihr Entschluß ist also gefaßt?« begann der Richter noch einmal; »Sie wollen nichts sagen?«
»Ich bin unschuldig.«
Es lohnte der Mühe nicht, noch länger zu beharren; Herr Galpin-Daveline sah dies wohl ein.
»Von diesem Augenblick an, mein Herr«, sagte er, »ist Ihre Isolierhaft aufgehoben. Sie können im Sprechzimmer des Gefängnisses den Besuch Ihrer Familie empfangen. Es wird dem Verteidiger, den Sie bezeichnen, der Einlaß in Ihre Zelle gestattet sein, um sich mit Ihnen zu beraten.«
»Endlich!« rief Jacques mit einem Freudenausbruch. »Wird es mir erlaubt sein«, fragte er dann, »Herrn von Chandoré zu schreiben?«
»Ja«, antwortete der Richter, »und wenn Sie ihm augenblicklich schreiben wollen, so kann mein Gerichtsschreiber den Brief noch heute abend an seinen Bestimmungsort tragen.«
Ohne weiteres benutzte Jacques von Boiscoran die Gelegenheit, und dies war bald geschehen, denn der Brief, den er Méchinet einhändigte, enthielt nur die beiden Zeilen:
»Ich erwarte Herrn Magloire morgen früh um neun Uhr.
J.«
Von dem Augenblick an, da sie begriffen hatten, daß ein falscher Schritt die unglücklichsten Folgen nach sich ziehen könnte, hatten Jacques von Boiscorans Freunde sich auf das sorgfältigste vor jedem Eingriff gehütet.
Nur das Gesuch des Doktor Seignebos war teilweise angenommen worden. Um über Cocoleus Geisteszustand zu entscheiden, hatte der Gerichtshof einen berühmten Irrenarzt aus Paris kommen lassen.
Es war an einem Sonnabend, als der Doktor Seignebos triumphierend in der Rue de la Montagne erschien, um diese glückliche Nachricht anzukündigen. Am Dienstag darauf kam er bleich vor Zorn wieder, um sein Mißlingen zu berichten.
»Es gibt Esel in Paris wie überall!« rief er mit einer Stimme, die die Fensterscheiben erzittern ließ: »In dieser Zeit eigensüchtiger Memmen und gieriger Kriecherei ist in Paris ein unabhängiger Mann ebensowenig zu finden wie in der Provinz. Ich hoffte auf einen Gelehrten, der jedem kleinlichen Interesse unzugänglich wäre. Man schickt mir einen Gecken, der untröstlich wäre, den Herren vom Gericht mißliebig zu sein. Das war eine grausame Überraschung.«
Und seiner Gewohnheit gemäß unaufhörlich seine goldene Brille mißhandelnd, fuhr er fort:
»Ich war von der Ankunft meines Kollegen aus der Hauptstadt unterrichtet, und ich war in eigener Person hingegangen, um ihn am Bahnhof zu erwarten. Der Zug kommt an, und augenblicklich erkenne ich meinen Mann in der Menge. Ein schöner Kopf, mit ergrauendem Haar wohl eingefaßt, kluge Augen, die Lippen eines Gourmands und Schalks . . . ›Der ist es‹, sag' ich mir. Hm! Er hatte wohl etwas von einem Hasenfuß an sich, sehr viel Dekoration im Knopfloch, den Modebart zugestutzt wie die Büsche in meinem Garten, und statt einer ehrlichen Brille einen impertinenten Kneifer . . . Aber niemand ist vollkommen. Ich trete heran, ich stelle mich vor, wir tauschen einen Händedruck aus, ich lade ihn zum Frühstück ein, er nimmt die Einladung an; bald darauf sitzen wir bei Tische, er läßt meinem Bordeaux Gerechtigkeit widerfahren, ich setze ihm die Angelegenheit methodisch auseinander. Nach beendeter Mahlzeit verlangt er Cocoleu zu sehen. Wir begeben uns ins Hospital. Hier angelangt, ruft er beim ersten Blick, den er auf Cocoleu wirft: ›Dieser Bursche ist der vollendetste Typus eines Schwachsinnigen, den ich je gesehen habe!‹
Etwas enttäuscht versuche ich, ihm die Sache noch einmal zu erklären; er will mich nicht hören. Ich beschwöre ihn, Cocoleu noch einmal in Augenschein zu nehmen; er schickt mich zum Kuckuck. Beleidigt frag' ich ihn, wie er sich das klare Zeugnis des Schwachsinnigen in der Unglücksnacht erklärt. Er antwortet mir, vor sich hinpfeifend, daß er es sich gar nicht erklärt. Ich will diskutieren er läßt mich da stehen, um sich in den Gerichtshof zu begeben . . . Und wollen Sie wissen, wo er am selben Abend speiste? Im Hotel, mit unserem Kollegen, dem Oberarzt. Und da haben sie gemeinschaftlich einen Bericht verfaßt, der Cocoleu mit vollkommenstem Schwachsinn belastet.«
Mit großen Schritten im Saal auf und ab schreitend, fuhr er fort:
»Aber der Herr Galpin irrt sich gewaltig, wenn er jetzt schon meint, Viktoria rufen zu können. Das letzte Wort ist noch nicht gefallen. Man wird den Doktor Seignebos so leichten Kaufs nicht los . . . Ich habe gesagt, daß Cocoleu ein gemeiner Betrüger, ein elender Heuchler, ein falscher Zeuge ist; ich werde es beweisen . . . Boiscoran kann auf mich zählen.«
Mit diesen Worten hielt er inne, und sich dicht vor Herrn Folgat hinstellend, fügte er hinzu:
»Denn ich habe meine Gründe! Ich habe einen seltsamen Verdacht gefaßt, Herr Anwalt – einen sehr seltsamen Verdacht!«
Herr Folgat, Denise und die Marquise von Boiscoran drangen in ihn, sich zu erklären, aber er behauptete, daß der Augenblick noch nicht gekommen sei und daß er überdies nicht sicher genug sei . . .
Damit machte er sich davon und beteuerte, daß er in der höchsten Eile sei, da er seit achtundvierzig Stunden alle seine Kranken vernachlässigt habe und von Frau Claudieuse erwartet werde, mit deren Gemahl es von Tag zu Tag schlechter gehe.
»Welchen Verdacht kann der alte Sonderling haben?« fragte Herr von Chandoré sich noch stundenlang nach dem Aufbruch des Doktors.
Herr Folgat hätte ihm antworten können, daß es wahrscheinlich kein anderer war als der, den auch er hegte, nur genauer und auf positivere Anzeichen gegründet.
Aber wozu etwas sagen, da jede Nachforschung untersagt war, da ein einziges unvorsichtig ausgesprochenes Wort Verdacht erregen konnte?
Wozu durch vielleicht ebenso schnell enttäuschte Hoffnungen die dumpfe Traurigkeit dieser langen Tage unterbrechen, die damit hingingen, Herrn Galpin-Davelines Maßnahmen abzuwarten?
Schon wurden um diese Zeit die Nachrichten von Jacques seltener.
Da das Verhör nur nach ziemlich langen Zwischenräumen erneuert wurde, vergingen oft vier oder fünf Tage, ohne daß Méchinet einen Brief brachte.
»Es ist die unerträglichste Pein«, wiederholte beständig Frau von Boiscoran.
Aber die Stunde der Erlösung nahte heran.
Eines Nachmittags befand Denise sich allein im Saal, als sie im Vorzimmer die Stimme des Gerichtsschreibers zu erkennen glaubte.
Hastig eilte sie hinaus. Und sie hatte sich nicht getäuscht.
»Oh! die Untersuchung ist abgeschlossen!« rief Denise, wohl begreifend, daß nur dieses Ereignis Méchinet bewegen konnte, sich am hellen Tage in der Rue de la Montagne zu zeigen.
»Ja, so ist's, mein Fräulein!« antwortete er, »und auf Herrn Galpin-Davelines Befehl überbringe ich Ihnen dieses Billett von Herrn von Boiscoran.«
Sie ergriff es, überflog es mit einem Blick ihrer Augen und eilte, alles vergessend und vor Freude halb von Sinnen, zu ihrem Großvater und zu Herrn Folgat, indem sie zugleich einem Diener befahl, Herrn Magloire so schnell als möglich kommen zu lassen.
In weniger als einer Stunde langte der erste Anwalt von Sauveterre an.
»Ich habe Herrn von Boiscoran meine Unterstützung zugesagt«, sagte er, nachdem man ihm Boiscorans Brief ausgehändigt, »und sie wird ihm nicht fehlen . . . Ich werde morgen nach Öffnung des Gefängnisses bei ihm sein und Ihnen von unserer Zusammenkunft Bericht erstatten.«
Weiter konnte man nichts aus ihm herausbringen; es war augenscheinlich, daß er nicht an die Unschuld seines Klienten glaubte.
»Jacques ist wahnsinnig«, rief Herr von Chandoré, als er kaum hinaus war, »sich der Verteidigung eines Mannes anzuvertrauen, der so an ihm zweifelt.«
»Herr Magloire ist ein Ehrenmann, liebster Großvater«, sagte Denise; »wenn er fürchten sollte, Jacques bloßzustellen, würde er sich zurückziehen.«
In dieser Beziehung war Magloire ohne Zweifel ein Ehrenmann, und überdies weicheren Empfindungen zugänglich, so daß ihm der Gedanke schrecklich vorkam, einen Mann, den er geliebt hatte und den er trotz allem noch liebte, als Gefangenen wiederzusehen, eines gräßlichen Verbrechens, wie er fürchtete, gerechtermaßen angeklagt. Er schlief die ganze Nacht nicht, und jedermann konnte seine sorgenvolle Miene wahrnehmen, als er am folgenden Tage die Stadt durchschritt, um sich in das Gefängnis zu begeben.
An der Tür erwartete ihn der Gefängniswärter Blangin.
»Kommen Sie rasch, mein Herr«, rief er ihm zu, »der Angeklagte ist rasend vor Ungeduld.«
Langsam, mit dumpfem Herzklopfen, stieg der Anwalt die enge Treppe hinauf. Er durchschritt die lange Galerie. Blangin öffnete ihm die Tür . . .
»Sind Sie es? Endlich!« rief der unglückliche junge Mann, indem er sich Herrn Magloire an den Hals warf. »Endlich seh' ich das Gesicht eines Freundes; endlich drück' ich eine ehrliche Hand! . . . Oh, ich habe grausam gelitten! So grausam, daß ich mich frage, wie meine Vernunft widerstanden hat! Aber Sie sind hier, Sie sind bei mir; ich bin gerettet.«
Wenn der Anwalt bisher geschwiegen hatte, so geschah es aus Schreck über die Verwüstung, die der Gram in Jacques' edlen und geistvollen Zügen angerichtet hatte. Sein wüstes Aussehen, der fieberhafte Glanz seiner Augen, das krampfhafte, verzweifelte Lächeln, das seine Lippen zusammenpreßte, machten Herrn Magloire schaudern.
»Unglücklicher!« murmelte er endlich.
Jacques mißverstand diesen Ausruf, und er mußte ihn mißverstehen. Weißer als die Tünche der Mauer, wich er einen Schritt zurück.
»Sie halten mich für schuldig!« rief er.
»Ich glaube, mein armer Freund, daß alles gegen Sie spricht«, antwortete der Anwalt.
»In der Tat«, unterbrach er ihn, in ein entsetzliches Lachen ausbrechend, »die Anklagen müssen vernichtend sein, da sie meine teuersten Freunde überzeugt haben. Ach, warum habe ich auch am ersten Tage geschwiegen! Die Ehre! . . . Unglückselige Torheit . . . Und dennoch würde ich, als Opfer einer beispiellosen Rache, noch heute schweigen, wenn es sich nur um mein Leben handelte! Aber meine Ehre steht auf dem Spiel, die Ehre der Meinigen und Denises Leben . . . Ich werde sprechen. Ihnen, Magloire, Ihnen werde ich die Wahrheit sagen, ich kann mich mit einem Wort rechtfertigen.«
Und Herrn Magloires Hand erfassend und sie in der seinigen fast zerdrückend, sprach er mit dumpfer Stimme: »Mit einem Worte werde ich Ihnen alles erklären. – Ich war der Geliebte der Gräfin von Claudieuse.«