John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Elftes Kapitel

Die Vision

Einige Tage später erhielt er von Antonie einen Brief, der ihn mit Aufregung erfüllte:

». . . Tante Charlotte hat sich vorzüglich erholt, und so meint Mutter, wir könnten nach Hause reisen – hurra! Aber sie sagt, daß Du und ich unsere Verpflichtung, einander nicht vor Juli wiederzusehen, einhalten müssen. Es liegt etwas Nobles darin, so nahe beisammen zu sein und sich doch entfernt zu halten . . . Alle Engländer sind weg. Mir erscheint alles so leer dahier; die hiesigen Leute sind so komisch – lauter dumme Ausländer. Oh, Dick! Wie prächtig ist es, ein Ideal zu haben, dem man entgegenblickt! Schreibe sofort nach Brewers's Hotel und teile mir mit, daß auch Du so denkst . . . Wir treffen Sonntag, um halb acht, in Charing Cross ein, halten uns einige Nächte in Brewers's Hotel auf und fahren Dienstag nach Holm Oaks hinunter . . .

Auf immer Deine

Antonie.«

›Morgen!‹ dachte er, ›morgen kommt sie!‹

Er ließ sein vernachlässigtes Frühstück stehen und begab sich auf die Straße, um durch einen Spaziergang seiner Erregung Herr zu werden. Sein Square lief in eines jener schmutzigen Hintergäßchen aus, die in innigster Vertrautheit neben den exklusivsten Stadtgebieten Londons liegen und in demselben stieß er auf eine kleine Menge Leute, die eine Hundebalgerei umstanden. Einer der Hunde erhielt eine derbe Tracht Prügel, aber es war ein kotiger Tag und Schelton war, wie jeder wohlerzogene Engländer, von Grauen davor ergriffen, sich sogar in einer anständigen Angelegenheit hervorzutun; er hielt lieber Umschau nach einem Polizisten. Ein solcher stand wohl, um das ehrliche Spiel zu wahren, daneben, und Schelton bat ihn um seine Einmengung. Der Beamte meinte, er hätte einen bissigen Hund nicht herausbringen sollen und empfahl ihm, über beide Hunde einige Eimer kaltes Wasser zu gießen.

»Der Hund gehört nicht mir,« sagte Schelton.

»Dann ist's am besten, sich um die Köter nicht zu kümmern,« bemerkte der Polizist mit augenscheinlichem Erstaunen.

Unaufhörlich appellierte Schelton an die Angehörigen der unteren Volksklassen. Allein diese unteren Klassen befürchteten, gebissen zu werden.

»Ich würde mich vor dieser Arbeit hüten, wenn ich Sie wär',« sagte einer der Umstehenden.

»Scheußliche Rass' von einem Hund, das.«

So war er genötigt, sein ehrbares Aussehen aufzugeben, seine Beinkleider und Handschuhe zu verderben, seinen Regenschirm zu zerbrechen, den Hut in den Kot fallen zu lassen und die Hunde selbst voneinander zu trennen. Nach Beendigung seiner »Arbeit«, meinte, ein wenig beschämt, einer der unteren Klassen zu ihm:

»Well, hätt' nie geglaubt, daß Sie 's zusammenbringen, Sir.« Aber wie alle Menschen der Untätigkeit, war auch Schelton, nachdem er tätig gewesen, höchst gefährlich geworden.

»Verdammt sei's!« sprach er; »man kann doch den Hund nicht töten lassen.« Und er schritt weiter fürbaß, bugsierte den verwundeten Hund mit seinem Taschentuch und betrachtete höhnisch die Passanten. Da er nun einmal die glimmenden Flammen seines Innern gelöscht hatte, hielt er sich für berechtigt, diese Männer der Straße gering zu schätzen. ›Diese Kanaillen,‹ dachte er, ›würden keinen Finger rühren, um ein armes, stummes Geschöpf zu retten, und was den Polizisten anbetrifft . . .‹ Aber je mehr er seine Kaltblütigkeit wiedergewann, desto mehr fing er an, einzusehen, daß Leute, die von »ehrlicher Arbeit« fast erdrückt werden, es sich nicht leisten können, ihre Beinkleider zerreißen oder sich in die Hand beißen zu lassen; und daß selbst der Polizist, obwohl er einem Halbgott ähnlich sah, denn doch ganz bestimmt nur von Fleisch und Blut sei . . . Er nahm den Hund heim, sandte nach einem Tierarzt und ließ ihn vernähen.

Schon aber peinigten ihn gewisse Bedenken, ob er es wagen sollte oder nicht, Antonie auf der Station entgegenzugehen, und nachdem er seinen Diener mit dem Hunde zu der auf dessen Kragen angegebenen Adresse gesandt hatte, faßte er den Entschluß, seine Mutter aufzusuchen; er hatte so ein unbestimmtes Gefühl, sie würde ihm helfen, sich zu entscheiden. Sie wohnte im vornehmen Stadtteil Kensington, und als er die Brompton-Road kreuzte, befand er sich bald in jenem Irrgarten von Häusern, in dessen Strukturfasern die Architekten die Devise einmeißelten: »Behalte, was du besitzest, für dich allein – Weiber, Geld, einen guten Namen und all die Segenssprüche eines tugendsamen, englischen Staates!«

Schelton grübelte darüber nach, während er Haus auf Haus von solch intensiver Ehrbarkeit passierte, daß bekanntlich sogar die Hunde sie anbellten. Noch war sein Blut in zu stürmischer Wallung; ist es doch geradezu höchst erstaunlich, welche Zufälle den erhabensten Geistesaufschwung in uns fördern . . . Er hatte in seiner ihm liebsten Zeitschrift einen Artikel gelesen, der die Freiheit und Entfaltung rühmte, die im oberen Mittelstand Englands eine so vorzügliche Verkörperung fänden. Und mit Augen, die von einer Seite auf die andere wanderten, nickte er ironisch mit dem Kopfe. »Entfaltung und Freiheit« – so rannen die Gedanken in seinem Hirn – »Freiheit und Entfaltung!«

Jede Vorderseite der Häuser war kalt und in herkömmlicher Form gestaltet. Sie bildete die Muschel ihres Eigentümers mit einem Jahreseinkommen von drei bis fünftausend Pfund Sterling, und jegliche war durch eine Art dreister Regelmäßigkeit gepanzert gegenüber allen nachbarlichen Meinungen. »Im Bewußtsein meiner Korrektheit und durch die strikte Befolgung von genau so viel, als gerade nötig ist und nicht mehr, bin ich imstande, in der ganzen Welt mein Haupt stolz zu erheben. Die Person, die in mir lebt, hat jährlich bloß viertausendzweihundert und fünfzig Pfund Sterling mit gehörigem Abzug der Einkommensteuer.« Derart schien die Legende dieser Häuser zu lauten.

Schelton schritt an Damen vorüber, die einzeln, zu zweit oder dritt ihre Runde durch die Kaufläden der City machten, oder zu Zeichenschulen, in Kochkurse, zu Spitalhilfsdiensten gingen. Kaum einige Männer waren auf der Straße sichtbar und von diesen waren die meisten Polizisten. Nur mehrere frühreife Kinder wurden von frischwangigen Pflegerinnen in den Park gefahren, und ihnen folgte eine große Armee haariger oder unbehaarter Hunde.

Um Mrs. Schelton lag jenes Etwas großzügiger Hochsinnigkeit, das auch ihren Bruder umgab – sie war eine winzige Dame mit zärtlich-liebevollen Augen, warmen Wangen und stets fröstelnden Füßen; gleich einer Katze froh über einen Armsessel vor einem Kaminfeuer und voller Sympathie ohne tieferes Verständnis. Ihren Sohn küßte sie sofort in heller Entzückung und begann von seiner Verlobung zu plaudern. Zum ersten Male durchlief es ihren Sohn wie ein Beben des Zweifels. Die Ansicht seiner Mutter darüber verletzte ihn so empfindlich, wie etwa der Anblick irgendeines blaurosafarbenen grellen Kleides es getan hätte. Sie sah alles zu rosig. Ihr prachtvoller Optimismus drückte ihn nieder, er stand denn doch in zu entfernter Beziehung zu den Erwägungen der Vernunft.

›Mit welchem Recht,‹ fragte er sich, ›ist sie ihrer Sache so gewiß? Mir kommt ihre übermäßige Zuversicht wie eine Art von Blasphemie vor . . .

»Die Teure!« gurrte sie. »Und sie kommt morgen zurück? Hurra! wie sehne ich mich danach, sie zu sehen!«

»Aber Mutter, du mußt wissen, wir vereinbarten, uns nicht vor Juli zu sehen.«

Mrs. Schelton schaukelte ihren Fuß; und ihren Kopf, wie ein Vögelchen, nach einer Seite neigend, blickte sie ihren Sohn mit glänzenden Augen an.

»Mein teurer, lieber Dick,« sprach sie, »wie glücklich du sein mußt!«

Ein halbes Jahrhundert von Sympathie mit Hochzeiten aller Arten – glücklichen, unglücklichen und gleichgültigen – strahlte von ihr aus.

»Ich glaube,« sagte Schelton mißmutig, »ich sollte nicht zur Station gehen, sie dort zu sehen?«

»Sei vor allen Dingen fröhlich!« antwortete seine Mutter, und ihr Sohn fühlte sich schrecklich verstimmt.

Jenes ›Sei vor allen Dingen fröhlich!‹ – dieser Universalrat, der sie blindlings und wohlgemut jedes Übel überwinden ließ – war für ihn so bedeutungslos, wie Wein ohne Geschmack es gewesen wäre.

»Und wie steht's mit deinem Hüftweh?« fragte er.

»Oh, ziemlich schlecht,« erwiderte seine Mutter; »aber ich hoffe, es wird besser werden, wirklich. Sei du nur fröhlich!« Sie reckte ihre kleine Gestalt und neigte ihren Kopf, noch heuchlerischer winselnd, zur Seite.

›Ein geradezu wunderbares Weib!‹ dachte Schelton. In der Tat, sie hatte, gleich vielen ihrer Landsleute, die Schattenseiten des Lebens einfach verlegt; und leichten Gewissens im freudigen Besitz der Vergünstigungen des orthodoxen Glaubens, erhielt sie sich in ihrem Herzen so jung, wie irgendein Mädchen von nur dreißig Jahren.

Schelton verließ ihr Haus in derselben Ungewißheit, ob er Antonie entgegen eilen solle, oder nicht, mit der er es betreten hatte. Er verbrachte einen unruhigen Nachmittag.

Der nächste Tag – der ihrer Ankunft – war ein Sonntag. Er hatte Ferrand versprochen, mit ihm zu einer Predigt in einer verrufenen Stadtgegend zu gehen, und da er nach jeder Ablenkung griff, die seine Aufregung beschwichtigen mochte, erfüllte er sein Versprechen. Der betreffende Prediger – ein Dilettant, wie Ferrand ihm mitteilte – hatte eine höchst originelle Methode in der Verteilung jener Geldmittel, die ihm für Zwecke der Barmherzigkeit zuflossen. Den männlichen Schäflein gab er überhaupt nichts, den häßlichen weiblichen Schäflein nur sehr wenig, den hübschen weiblichen Schäflein aber den ganzen reichlichen Rest. Gern hätte Ferrand das Wagnis einer bestimmten Schlußfolgerung auf sich genommen, aber er war ein Ausländer. Der Engländer wieder zog es vor, anzunehmen, daß der Prediger von einer reinen abstrakten Liebe zur ästhetischen Schönheit geleitet werde . . . Auf jeden Fall war dessen Rednertalent unbestreitbar, und Schelton kam, zum Erbrechen geneigt, aus dem Gottesdienst heraus.

Es war noch nicht sieben Uhr, und um die halbe Stunde vor Antonies Ankunft totzuschlagen, trat er in eine italienische Restauration, bestellte für seinen Begleiter eine Flasche Wein, für sich eine Tasse Kaffee und preßte, indem er sich eine Zigarette anzündete, die Lippen fest zusammen. In seinem Herzen empfand er ein unerklärliches, süßes Versinken alles Peinlichen. Sein Begleiter trank, dieser Regung unbewußt, seinen Wein, zerkrümelte seine Semmel und blies den Rauch durch seine Nasenflügel, während er kaustische Blicke auf die Reihen kleiner Tische, die billigen Spiegel, den feuerroten Vorhangsamt, die Kronleuchter warf. Seine saftigen Lippen schienen zu murmeln: ›Ach! wenn du nur den Schmutz hinter all diesem Zierat kenntest!‹

Schelton beobachtete ihn mit Widerwillen. Obwohl sein Anzug nun so nett war, hatte er seine Fingernägel nicht sehr gründlich gereinigt, und seine Fingerspitzen sahen gelb bis aufs Bein aus. Ein blutarmer Kellner in einem etwa vier Tage alten Hemd stand, auf seinem Gewand schmierige Fettflecken und eine zerknüllte Serviette über dem Arm, den Ellbogen zwischen zweifelhaftem Obst angelehnt, und las eine italienische Zeitung. Abwechselnd seine müden Füße ausruhend, sah er wie die personifizierte Überarbeit aus, und wenn er sich bewegte, dann klagte jedes seiner Glieder die ganze schmutzige Trostlosigkeit der Wände an. In der entlegensten Ecke speiste eine Dame und ihr gefiederter Hut, ihr kurzes, rundes Gesicht, dessen Puderlage und schwarze Augen sich ihr gegenüber im Wandspiegel zeigten, verursachte einen Schauer des Abscheus bei Schelton.

»Monsieur, entschuldigen Sie mich,« sagte Ferrand plötzlich. »Ich glaube, diese Dame zu kennen.« Und indem er seinen Gastgeber verließ, durchquerte er das Zimmer, verbeugte sich, sprach sie an und setzte sich zu ihr nieder. Mit echt pharisäischem Zartgefühl unterließ es Schelton, hinüber zu blicken. Allein bald kam Ferrand zurück, die Dame erhob sich und verließ die Restauration; sie hatte geweint. Der junge Ausländer war über und über rot, sein Gesicht verzerrt; er ließ den Wein unberührt.

»Ich sah recht,« sprach er, »sie ist die Gattin eines alten Freundes. Ich kannte sie ehemals sehr gut.«

Er litt unter den traurigen Regungen seines Gefühles, aber ein anderer, weniger in Gedanken vertiefter Mensch als Schelton, hätte eine Art von Wohlgefallen in seiner Stimme bemerkt; als ob er sich weidete an den Gerichten des Lebens und froh wäre, wieder etwas Neues, mit tragischer Brühe gewürzt, seinem Gönner darreichen zu können.

»Ihre Geschichte können Sie in Ihren englischen Straßen hundertfach treffen, allein nichts hindert diese Tugendbolde« – er nickte dem Strome von Droschken draußen zu – »ihre Augen sittsam abzuwenden, wenn sie Damen ihrer Gattung vorübergehen sehen. Sie kam vor gerade drei Jahren nach London. Nach einem Jahr erkrankte eines ihrer Knäblein an Fieber – man gab die Bude auf –, ihr Mann streckte sich auch aus und starb bald. Da stand sie nun mit zwei Kindern allein; und alles war dahin, sobald sie die Schulden bezahlt hatte. Sie versuchte, Arbeit zu finden, aber niemand half ihr. Es fehlte ihr das Geld, irgendjemand dafür zu bezahlen, daß er bei den Kindern bleibe; und alle Hausarbeiten, die sie aufzutreiben vermochte, reichten nicht hin, sie alle am Leben zu erhalten. Auch ist sie kein kräftiges Weib . . . Well, sie gab die Kinder in Pflege und ging auf die Straße. Die erste Woche war entsetzlich, aber nun ist sie's schon gewöhnt – man gewöhnt sich eben an alles mögliche . . .«

»Könnte denn nichts für sie getan werden?« fragte Schelton erschüttert.

»Nein,« erwiderte sein Begleiter kalt. »Ich kenne diese Sache; wer ihr einmal verfällt, mit dem ist's vorbei. Man gewöhnt sich an Luxus. Und man gibt den Luxus nicht mehr auf, hat man einmal Not und Entbehrung gekostet . . . Sie erzählt mir, es gehe ihr ganz gut; die Kinder sind glücklich; sie ist imstande, anständig zu bezahlen und sie hie und da zu sehen. Sie entstammt sogar einer recht guten Familie, liebte ihren Mann und opferte viel für ihn. Was wollen Sie haben? Drei Viertel Ihrer tugendhaften Damen würden, in ihre Lage versetzt, ganz dasselbe tun, wenn sie bloß das nötige Aussehen dazu hätten.«

Allein es war doch offenkundig, daß diese Entdeckung ihn arg aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, und Schelton begriff, daß die persönliche Bekanntschaft doch einen gewissen Unterschied machte, selbst bei dem Gleichmute eines, dem sozialen Elend gegenüber schon abgestumpften Landstreichers.

»Dies da ist ihr Revier,« sagte der junge Ausländer, als sie den illuminierten Mondsichel-Bogen von Piccadilly durchschritten, auf den allnächtlich die Schatten von Heuchlern und den von ihnen gebrauchten Frauen fallen. Schelton wandte sich von diesen Kommentaren über das Christentum eilends der Charing Cross-Station zu. Und dort schlug ihm, während er wartend im Schatten stand, das Herz bis in die Kehle hinauf; es berührte ihn höchst merkwürdig, daß er zu dieser Begegnung ganz frisch aus der Gesellschaft eines Vagabunden gekommen sei.

Auf einmal erblickte er, in Mitte des Gewühles der Reisenden, Antonie. Sie war dicht bei ihrer Mutter, die mit einem Lakaien unterhandelte; hinter ihnen eine Zofe, die eine Handtasche trug und ein Gepäckträger mit den Reisekoffern. Antonies Figur, der Vorderteil des Halses sanft im Mantelkragen eingebettet, schlank, hoch und ernst, sah ungeduldig und wie weit entfernt von all dem Lärme rings um sie aus. Ihre Augen, wie traumhaft von der Reise, blickten eifrig nach allen Seiten, alles, was sie sah, willkommen heißend. Oberhalb des Ohres war eine Haarlocke los, ihre Wangen glühten rosig vor Kälte. Nun erblickte sie Schelton; und sie stand, mit vorgebeugtem Hals, wie ein Edelhirsch, ihn anblickend, stille. Ein strahlendes Lächeln teilte ihre Lippen, und Schelton erbebte. Hier befand sich die Verkörperung all dessen, wonach er sich seit Wochen sehnte . . . Er vermochte nicht zu sagen, was sich hinter diesem ihrem Lächeln verbarg – leidenschaftliches Weh oder nur irgend ein Ideal, irgend eine keusche und eisige Unberührbarkeit? Sie schien, über ihn hinweg, in die düstere Bahnstation hinein zu leuchten . . . Kein Zittern und keine Ungewißheit, keine Heftigkeit des Besitzes gab es in jenem strahlenden Lächeln; in ihm lag ein schwacher, aber deutlicher Schimmer von Festigkeit, wie im Lächeln eines Sternes . . . Was tat's zur Sache? Sie stand dort, schön, gleich einem jungen Tag und ihm zulächelnd! und sie gehörte ihm, nur noch durch eine Spanne Zeit von ihm getrennt . . . Er machte einen Schritt ihr entgegen. Sofort senkten sich ihre Augen, ihr Gesicht gewann wieder den deutlichen Ausdruck »Bleib-mir-vom-Leibe!« Er sah, wie sie, umkreist von Mutter, Lakai, Zofe und Gepäckträger, ihren Sitz einnahm und davonfuhr.

Es war vorbei. Sie hatte ihn gesehen, gelächelt, aber Seite an Seite mit seiner Freude lauerte ein anderes Gefühl, und in dessen bitterer Laune stieg nicht ihr Gesicht vor ihm auf, sondern das Gesicht jener Dame in der Restauration – kurz, rund und gepudert, mit schwarzumkreisten Augen. Mit welchem Recht rümpfen wir über sie die Nase? Hatten auch sie Mütter, Lakaien, Gepäckträger, Zofen? Er schauderte, aber diesmal vor physischem Ekel. Das gepuderte Gesicht mit den dunkel eingefaßten Augen war entschwunden; die helle, ferne Gestalt auf der Bahnstation kehrte wieder . . .

Lang saß er beim Mittagessen, trank, träumte. Er saß noch lange danach, rauchte, träumte, und als er endlich in seinem Wagen davonfuhr, wallten Wein und Träume wirr durcheinander in seinem Hirn. Der Tanz der Lampen, der Mond wie ein Sahnenkäse, die Strahlen eines reinen, dunstigen Lichtes auf dem Geschirre seines Pferdes, das Geklingel seiner Fiakerschelle, die schwirrenden Räder, die Nachtluft und die Zweige – all dies war so gut! Er schlug die Türen seines zweirädrigen Hansom-Kabrioletts zurück, um den Hauch der warmen Brise atmend zu fühlen. Die Menge auf dem Trottoir erzeugte ein besonderes Entzücken in ihm; sie glichen Schattenbildern irgendeiner großen Illusion, glücklichen Schatten, die sich ausschließlich rings um die köstlichste Ausgestaltung seiner Welt drängten, drehten . . .



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