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Noch immer Antonie suchend, begab sich Schelton nach dem Frühstückszimmer. In einer Fensternische saßen Thea Dennant und ein anderes Mädchen; sie redeten darauf los. An dem Blicke, den sie ihm zuwarfen, ersah er, daß es für ihn weit besser wäre, ungeboren geblieben zu sein. Hastig zog er sich zurück. In den Hausflur hinabsteigend, stieß er auf Mr. Dennant, der mit einer Handvoll amtlich aussehender Aktenstücke in sein Studierzimmer hinüber ging.
»Oh, Schelton!« sagte er, »Sie sehen ein bißchen zerstreut aus. Ist das Heiligtum unsichtbar?«
Schelton verzog die Miene, sagte »Ja« und setzte sein Suchen fort. Aber er hatte kein Glück . . . Im Speisezimmer saß, ihre Bücherliste ausfertigend, Mrs. Dennant.
»Seien Sie so freundlich, Dick,« sagte sie, »geben Sie mir doch Ihre Meinung. Jedermann liest dieses Ding von Katharine Asterick. Ich glaube, das geschieht bloß, weil sie von Adel ist.«
»Man muß wohl aus dem einen oder anderen Grund ein Buch lesen,« antwortete Schelton kurz.
»Well,« entgegnete Mrs. Dennant, »mir ist's aber zuwider, Dinge zu tun, weil andere Leute sie tun, und ich werde es nicht beziehen.«
»Sehr wohlgetan!«
Mrs. Dennant markierte den Katalog.
»Natürlich, hier ist Linseeds letztes . . . Obwohl ich sagen muß, daß ich mich nicht für ihn erwärmen kann, glaube ich doch, wir sollten das Werk im Hause haben. Und da ist Qualitys ›Die prächtigen Diatriben.‹ Das ist sicherlich gut, er drückt sich stets so gewählt aus, ist so zart . . . Was soll ich mit diesem da von Arthur Baal anfangen? Es heißt, er sei ein Charlatan, aber alles und jedes liest ihn. Sie wissen doch . . .« Und über den Rand des Kataloges hinweg fing Schelton einen schimmernden Augenaufschlag ihrer Albernheit auf.
Von ihrem Angesicht mit seiner gebogener Nase und dem leicht gesenkten Kinn war jegliche Entschiedenheit geschwunden, als ob plötzlich jemand sie aufgefordert hätte, ihren Instinkten zu vertrauen . . . Ein recht pathetischer Anblick, in der Tat! Immerhin gab es glücklicherweise ja noch die Zirkulation des Buches, wonach man sich richten konnte.
»Ich denke, es ist doch besser, es anzuzeichnen,« sprach sie, noch immer unschlüssig, »nicht wahr? Haben Sie Antonie gesucht? Wenn Sie Bunyan im Garten treffen, Dick, bitte, sagen Sie ihm, daß ich ihn sehen möchte. Er wird mir immer mehr zu einer lästigen Plage . . . Ich kann ihm ja alles nachfühlen, aber er treibt die Sache denn doch zu weit . . .«
Mit diesem Auftrag an den Untergärtner betraut, ging Schelton hinweg. Er warf einen Verzweiflungsblick in das Billardzimmer. Antonie war nicht dort. Statt ihrer ein hochgewachsener und pausbäckiger Gentleman mit einem netten Schnurrbart, der sich im Billardspiel übte. Er hielt, als Schelton eintrat, inne und fragte, wie ein Baby das Maul hängen lassend, in schläfriger Stimme:
»Spielen wir bis zu hundert?«
Schelton schüttelte den Kopf, stammelte sein Bedauern und war im Begriffe, weiterzugehen.
Der Gentleman namens Mabbey fragte, indem er die Stellen betastete, wo seine zwei Schnurrbartteile sich mit seinen rosigen und glänzend glatten Wangen vereinigten, mit einem Anflug des Erstaunens:
»Was ist denn sonst Ihr bevorzugtestes Spiel?«
»Wirklich, ich wüßte nicht . . .« sagte Schelton.
Der Gentleman namens Mabbey kreidete sein Queue ein, setzte seine runden x-beinigen Füße, die in enganschließenden Hosen staken, in Bewegung und stellte sich zum Stoße.
»Welchen Lorbeerpreis verdient das, he?« sagte er, sich senkrecht aufrichtend. Und seine wohlumpolsterten Augen verfolgten Schelton mit schläfriger Nachforschung. »Ein merkwürdiger Rappen, dieser Schelton,« schienen sie zu sagen.
Schelton eilte hinaus und wollte eben zu dem entfernteren Rasenplatz hinunterlaufen, als eine andere Person, die im Sonnenschein umherspazierte, ihn ansprach – ein schmächtig gebauter Mann mit einem Umlegekragen, schütterem und blondem Schnurrbart und blaß-bläulicher Schattierung auf der einen Hälfte seiner hohen Stirn, verursacht durch ein dünnes Aderngeäste. Sein Angesicht wies etwas von jenem jugendlichen, optimistischen, wie durch farbiges Glas gesehenen Ausdruck dar, der dem höher kultivierten Typus des Engländers eigen ist . . . Er ging elastisch, dabei mit peinlicher Genauigkeit, als ob er einen ästhetischen Geschmack für feine Möbelstücke und Kathedralen hegte, und hielt den Spectator in der Hand.
»Ah, Schelton!« sagte er in hochgestimmter Laune und ließ seine Beine in solch legerer Stellung Halt machen, daß es unmöglich war, ihn zu unterbrechen: »Kommen Sie auch heraus, um Luft zu schöpfen?«
Scheltons eigenes gebräuntes Gesicht, seine schwer zu beschreibende Nase und sein leutseliges, obwohl verbissenes Kinn, kontrastierten aufs seltsamste mit den wie von farbigem Glas bedeckten regelmäßigen Gesichtszügen des Mannes.
»Ich habe von Halidome vernommen, daß Sie fürs Parlament kandidieren werden,« sprach letzterer.
Schelton erinnerte sich Halidomes autokratischer Methode, mit der dieser über die Angelegenheiten anderer Leute entschied; er lächelte.
»Sehe ich wie ein politischer Kandidat aus?« fragte er.
Die Augenbrauen des Mannes aus farbigem Glase zuckten. Es mochte ihm wohl nie eingefallen sein, daß man, wenn man sich ins Parlament wählen ließ, einem Politiker ähnlich sehen müsse . . . Mit Neugierde betrachtete er Schelton.
»Ah, well,« meinte er flüchtig, »verstehe schon . . . Also vielleicht nicht.« Auch seine Augen, obwohl von den Augen Mabbeys verschieden, schienen Schelton vorsichtig-ironisch zu fragen, was für eine Art von Rappen er eigentlich wäre . . .
»Sie sind wohl noch immer im englischen Ministerium des Innern?« fragte ihn Schelton.
Der Mann von farbigem Glase bückte sich, um an einem Rosenstrauch zu riechen.
»Ja,« sagte er, »dort geht's mir ganz gut. Ich gewinne dabei viel freie Zeit für meine Kunstarbeit!«
»Muß höchst interessant sein,« sprach Schelton, dessen Blick nach Antonie umherschweifte. »Mir ist's nie geglückt, mir so ein Steckenpferd von Liebhaberei zurecht zu machen.«
»Nie irgend ein Steckenpferd gehabt?« fragte verwundert der Mann aus farbigem Glase, sein Haar – er spazierte ohne Hut – zurückkämmend; »wie das, was zum Teufel tun Sie denn sonst?«
Schelton vermochte ihm nicht zu antworten; dieser Gedanke hatte ihn nie bekümmert.
»Wahrhaftig, ich weiß es nicht,« erwiderte er verlegen; »irgend etwas ist ja doch immer los, das weiß ich . . .«
Der Mann aus farbigem Glase versenkte seine Hände innerhalb seiner Taschen, und sein heller Blick überflog seinen Gefährten.
»Jeder echte englische Gentleman muß irgend ein Steckenpferd haben, damit er ein Lebensinteresse besitzt,« sagte er dann.
»Ein Lebensinteresse?« wiederholte Schelton grämlich. »Mir genügt das Leben an sich . . .«
»Oh!« antwortete der Mann aus farbigem Glase, als ob er es tadeln müßte, das Leben an sich für interessant zu erachten.
»Alles recht schön und gut, aber man braucht etwas mehr als das . . . Warum verlegen Sie sich nicht auf Holzschnitzerei?«
»Holzschnitzerei?«
»So oft ich mit Aktenbündeln und derlei Kanzleidingen überarbeitet bin, wende ich mich der Holzschnitzerei zu. Mindestens so gut wie ein Spiel Hockey.«Englisches Ballspiel, wobei mit Hackenstöcken hölzerne Kugeln in ein Loch zu schlagen sind
»Ich habe keine Lust zu dergleichen . . .«
Die Augenbrauen des Mannes aus farbigem Glase zuckten krampfhaft; er drehte seinen Schnurrbart.
»Sie werden schon sehen – ohne Steckenpferd kommt man nicht aus. Man wird älter . . . und was dann?«
Er schien selbst überrascht, daß er die Worte »kommt man nicht aus . . .« gebrauchte. Über sein ganzes Wesen lag eine Art von Glasur, wie sie bei modernen, ihres Marktwertes unbewußten Bijouteriewaren üblich ist.
»Sie haben wohl die Advokaturspraxis an den Nagel gehängt? Wird Ihnen denn die Zeit nicht furchtbar lang, wenn Sie so gar nichts zu tun haben?« fuhr, vor einer altertümlichen Sonnenuhr stehen bleibend, der Mann aus farbigem Glase fort.
Schelton besaß wahrlich zu viel Zartgefühl – wie dies für einen Engländer geziemend ist –, ihm auseinanderzusetzen, daß der Umstand, verliebt zu sein, ihm schon an und für sich genug zu tun gebe . . . Unwürdig wäre es eines Mannes, absolut nichts zu tun! Allein er hatte noch nie das besondere Bedürfnis nach irgend einer Beschäftigung empfunden . . . Sein Schweigen versetzte seinen Bekannten in keiner Weise in Verlegenheit.
»Das ist ein hübscher Wertgegenstand,« sagte er, mit seinem Kinn darauf deutend; und indem er die Sonnenuhr umschritt, machte er von der anderen Seite ihre Bekanntschaft. Ihre graue Seitenansicht warf einen dünnen, verkürzten Schatten auf den Rasen, Moosfäden ragten an ihr empor, büschelförmig dicht lagerten Tausendschönblümchen um ihr Fußgestell, wodurch das Ganze den Anschein bekam, dem Boden zu entwachsen. »Wäre froh, wenn's mir gehörte,« bemerkte der Mann aus farbigem Glase. »Erinnere mich nicht, je irgendwo ein feineres Meisterstück gesehen zu haben . . .« und abermals umschritt er die Sonnenuhr.
Noch waren seine Augenbrauen ironisch gewellt, aber unterhalb derselben sah man, wie die Augen förmlich kalkulierten, und wieder unterhalb derselben hatte sich sein Mund ein ganz klein wenig geöffnet. Jemand mit einem größeren Scharfblick hätte behauptet, sein Gesicht habe den Ausdruck von Habgier angenommen . . . Selbst Schelton war darüber so überrascht, als ob er im Börsenteil des »Spectators« ein Bekenntnis zum Schacher gelesen hätte . . .
»Eine so feine Idee läßt sich nicht entwurzeln,« meinte er; »sie würde ihren ganzen Reiz verlieren.«
Ungeduldig wandte sich sein Gefährte und seine Gesichtszüge gewannen einen ungemein natürlichen Ausdruck.
»Warum nicht gar?« sprach er. »Bei Gott! Ich dachte mir's gleich. 1690! Die seltenste Zeitperiode.« Er ließ seinen Finger rund um die Kante der Sonnenuhr gleiten. »Prächtige Linie – ganz unverwittert, wie am Tage, als sie gemacht ward . . . Sie scheinen sich um derlei Kunstdinge wenig zu kümmern . . .« Und abermals, wie an die Gleichgültigkeit von Vandalen gewöhnt, zeigte sein Gesicht dessen Gewohnheitsmaske.
Sie schlenderten weiter in der Richtung der Gemüsebeete für den Küchengebrauch, und noch immer forschte Schelton bei jedem schattigen Fleck nach Antonie. Es lag ihm sozusagen auf der Zunge, zu sagen: »Bedauere« und wegzueilen. Aber von dem Manne aus farbigem Glase ging ein gewisses Etwas aus, das, während es Scheltons Gemüt verletzte, es ihm unmöglich machte, dies zu bekunden. »Gemüt!« schien diese Person zu sagen, »recht schön und gut, aber man braucht mehr als das. Warum sich nicht auf Holzschnitzerei verlegen? . . . Gemüt! Ich bin in England geboren worden und habe zu Cambridge studiert!«
»Bleiben Sie längere Zeit da?« fragte er Schelton. »Ich fahre morgen zu Halidome. Sie werden wohl nicht dort sein? Ein guter Kerl, der liebe Halidome. Besitzt eine prachtvolle Kollektion von Radierungen!«
»Nein, ich bleibe noch hier,« sagte Schelton.
»Oh, ja!« warf der Mann aus farbigem Glase ein, »wirklich reizende Menschen, die Dennants!«
Schelton wandte, langsam errötend, den Kopf nach der anderen Seite. Er pflückte eine Erdbeere und murmelte leise: »Jawohl.«
»Besonders das älteste Mädel . . . Gibt sich nicht mit dummem Zeug ab. Mir erscheint sie als ein außergewöhnlich schönes Mädchen.«
Mit einem absonderlichen Gefühl vernahm Schelton dieses Lob Antonies. Ihm bereitete es, als ob jene Worte ein neues Licht auf sie würfen, das Gegenteil von Vergnügen . . . Hastig knurrte er:
»Ich glaube, es dürfte Ihnen doch bekannt sein, daß wir miteinander verlobt sind?«
»Wirklich!« rief der Mann aus farbigem Glase aus, und abermals flog sein heller, klarer, sich-nicht-bloßstellender Blick über Scheltons Gestalt – »wirklich! War mir bisher unbekannt. Ich gratuliere Ihnen!«
Es war, als ob er spräche: »Sie sind ein Mann von Geschmack. Meiner Ansicht nach, würde sie sich in sozusagen jedem Empfangssalon gut ausnehmen!«
»Besten Dank!« sagte Schelton, »da ist sie. Bitte um Entschuldigung, ich möchte sie sprechen.«