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»Elf Uhr,« sagte Crocker, als sie die Universität verließen. »Ich bin gar nicht schläfrig; wollen wir ein bißchen in der ›High‹ spazieren gehen?«
Schelton willigte ein: Er war allzu beschäftigt mit seinen Gedanken über sein Zusammentreffen mit den akademischen Würdenträgern, als daß er auf die Schmerzhaftigkeit seiner Füße geachtet hätte. Auch war es der letzte Tag seiner Wanderung, denn er hatte seine Absicht, den Juli in Oxford zu erwarten, nicht geändert.
»Man nennt in ganz England diesen Ort den Mittelpunkt des Wissens,« sprach er, da sie an einem großen Gebäude vorbeigingen, das weiß und still in die Dunkelheit hineinragte; »mir erscheint er ebensowenig als solcher, wie die moderne Gesellschaft als der Mittelpunkt wahrer Güte . . .«
Crockers Antwort bestand in einem Grunzen. Er betrachtete die Sterne und berechnete wahrscheinlich, wie lang es dauerte, bis er zu Fuß den Himmel erreicht haben würde.
»Nein,« setzte Schelton fort, »dort droben haben wir vielzuviel überlieferten gesunden Menschenverstand, um unseren freien, selbständigen Geist anzustrengen . . . Wir lernen zu wissen, wann wir rechtzeitig Halt zu machen haben . . . Wir häufen Kenntnisse über die Papias und alle griechischen Verba auf, aber was Lebenskunde und Selbsterkenntnis anbetrifft, läßt uns dies kühl bis ans Herz hinan! Wahre Wissensforscher müssen ganz anderer Art sein. Sie kämpfen in der Dunkelheit – Pardon wird nicht gegeben . . . Eine solche Art wird hier nicht großgezogen.«
»Wie ausgezeichnet dieser Lindenbaum duftet,« sagte Crocker.
Er war vor einem Garten stehen geblieben und hielt Schelton an einem Knopf seines Rockes fest. Seine Augen starrten, gleich denen eines Hundes, still und aufmerksam vor sich hin. Es schien, als ob er sprechen wolle, aber befürchte, irgendwelchen Anstoß zu erregen.
»Man sagt uns,« führte Schelton weiter aus, »daß man uns dort oben lehrt, ein Gentleman zu werden. Aber könnten wir dies nicht durch ein einziges Ereignis, das unser Herz in Aufruhr zu versetzen vermag, weit besser erlernen, als hier durch die ganze Studienzeit?«
»Hum!« murmelte Crocker, an dem Knopfe drehend, »und doch sind diejenigen Kerle, die hier oben die Besten ihres Semesters zu sein schienen, auch nachher die Besten ihrer Art geworden.«
»Ich hoffe, nicht immer,« sprach Schelton trübsinnig; »denn, als ich hier oben studierte, da war ich ein Snob, Philister . . . Alles, was man mir sagte, und was das Leben angenehm zu machen geeignet wäre, war mir heilig, ich glaubte fest daran . . . Mein ›Korps‹ war nichts als . . .«
Crocker lächelte in der Dunkelheit. Er war stets zu »morsch« gewesen, um in Scheltons »Korps« Aufnahme zu finden.
»Mein Lieber, du bist auch nie recht so wie dein ›Korps‹ gewesen,« sagte er.
Schelton wandte sich ab und zog den Duft der Linde durch die Nase ein. In seinem Geiste wälzten sich allerlei Vorstellungsbilder. Die Gesichter seiner älteren Freunde, merkwürdig vermengt mit denen von Leuten, die er erst neulich sah – das Mädchen auf der Bahn, Ferrand, die Dame mit dem kurzen, runden, gepuderten Antlitz, den kleinen Barbier. Auch noch andere flossen wirr durcheinander, geheimnisvoll – und mit ihnen allen verband sich Antonies Angesicht . . . Mit zauberhafter Süße wehte ihn der Wohlgeruch der Lindenbäume an. Und von der Straße hinter ihnen ertönten gedämpft, aber methodisch die Fußtritte der Passanten, und die Brise trug ihnen die alte englische Korpsweise in allen Melodien zu:
»For he's a jolly good fellow!
For he's a jolly good fellow!
For he's a jolly good fe-allow!
And so say all of us!«
»Denn er ist ein fideler alter Bursch!
Denn er ist ein fideler alter Bursch!
Denn er ist ein fideler alter Bursch –
Das sagen alle wir!«
»Ach ja,« sprach er, »sie alle waren gute Kerle . . .«
»Ich meinte immer,« sagte Crocker träumerisch, »daß manche von ihnen allzu vielseitig wären.«
Und Schelton lachte.
»Die Sache da ekelt mich,« meinte er – »das Ganze ist ein so aufgeblasenes, selbstsüchtiges Geschäft. Der Ort reizt mich zum Erbrechen – alles auswattiert, so bestialisch bequem eingerichtet . . .«
Crocker schüttelte seinen Kopf.
»Und ist doch ein so prächtiger, alter Ort,« sagte er, seine Augen schließlich auf Scheltons Stiefel heftend. »Weißt du mein Lieber,« stammelte er, »ich denke fast, du – du solltest dich – in acht nehmen!«
»In acht nehmen? Wovor?«
Konvulsivisch preßte Crocker seinen Arm.
»Sei nicht so übelgelaunt, alter Junge,« sagte er. »Ich meine nur, du scheinst dich sozusagen – selbst – selbst zu verlieren.«
»Mich selbst zu verlieren? Mich selbst zu finden, meinst du's vielleicht so?«
Crocker schwieg, sein Gesicht bekundete seine Enttäuschung. Woran er denken mochte? In Scheltons Herz regte sich ein bitteres Vergnügen in dem Bewußtsein, daß sein Freund sich seinetwegen unbehaglich fühle, eine Art Verachtung, eine Art von Weh ergriff ihn. Crocker unterbrach die Stille.
»Ich denke, ich werde heute Nacht noch etwas länger ausgreifen«, sprach er; »ich bin ganz dazu aufgelegt . . . Willst du wirklich nicht weiter als bis Oxford mit mir marschieren Bird?«
Und in seiner Stimme lag die Besorgnis, daß Schelton Gefahr liefe, etwas Wonnevolles einzubüßen. Jedoch des letzteren Füße hatten soeben stark zu schmerzen und zu brennen begonnen.
»Nein,« antwortete er; »du weißt, wozu ich mich hier aufhalte.«
Crocker nickte.
»Sie wohnt ganz in der Nähe. Well, so lebe wohl. Ich könnte heute Nacht noch zehn Meilen zurücklegen.«
»Mein Lieber, auch du bist müde und schon fast lahm.«
Crocker kicherte nur.
»Nein,« sagte er; »ich muß weiter. In London sehen wir uns wieder . . . Good-bye!« Damit ergriff er Scheltons Hand, wandte sich und hinkte dahin.
Schelton rief ihm noch nach: »Sei doch kein Idiot! Du wirst dann um so länger das Bett hüten müssen.«
Aber als Antwort leuchtete ihm nur Crockers, in der Dunkelheit ihm zugewandtes, blasses Mondgesicht und das Schwenken seines Stockes zu.
Langsam trollte Schelton einher. Über die Brücke gelehnt, beobachtete er den fettigen Strahl der Lampen auf dem dunklen Gewässer, unterhalb der Bäume . . . Er fühlte sich erleichtert, aber auch traurig. Seine Gedanken liefen aufs Geratewohl durcheinander, spähend, neugierig, zur Hälfte aufrührerisch, zur anderen Hälfte sanftmütig. Wie leibhaftig stand vor seinem Geistesauge jener Nachmittag vor fünf Jahren, da er mit Antonie vom Fluß zurück, über die Christchurch-Wiesen einherschritt. Nie vermochte der Duft jenes Nachmittags in ihm zu ersterben – bildete er doch das Aroma seiner Liebe. Bald würde sie nun sein Weib – sein Weib sein! Vor ihm sprangen die Gesichter der akademischen Würdenträger von Oxford auf. Auch sie hatten Gattinnen, schon möglich – fleischig, mager, satirisch – und kompromittierend! Was war es, daß sie bei aller Verschiedenheit dennoch gemeinsam besaßen? Unduldsamkeit gegenüber der freien Kultur! . . . Ehrbarkeit! Ein seltsames Diskussionsthema . . . Ehrbarkeit! Eine Ehrbarkeit, die viel Aufhebens von sich machte und ihre Rechte bis zum letzten Zoll beanspruchte! Und Schelton lächelte. ›Als ob eines Mannes Ehre Abbruch erlitte, wenn man ihn kränkte oder beleidigte!‹ Und langsam ging er die widerhallende menschenleere, Straße entlang, bis zu seinem Zimmer in Bishopshead.
Am nächsten Morgen erhielt er das folgende Telegramm:
»Dreißig Meilen. Noch achtzehn Stunden. Fuß schmerzt sehr. Gehe doch drauf los. Crocker.«
In Bishopshead verbrachte er zwei Wochen in Erwartung des Ablaufs seiner Probezeit; und das Ende schien so langsam zu kommen . . . Antonie so nahe zu sein und doch zugleich so fern, als ob er auf einem anderen Planeten lebte, das schmerzte ihn ärger als je . . . Tagtäglich nahm er ein WrickerskiffEnglisches schmales Wett-Ruderboot für einzelnen Ruderer und schleppte sich in die Nähe von Holm Oaks, auf den Zufall lauernd, ihr auf dem Flusse zu begegnen. Allein das Haus lag zwei Meilen entfernt, und jener Zufall war kaum denkbar. In der Tat, sie kam auch nie . . . Hatte er die Nachmittage auf solche Weise verbracht, dann kehrte er, sich straff gegen den Wellenschlag stemmend, mit einem merkwürdigen Gefühl der Erleichterung zurück, speiste wohlgemut und verfiel über einer Zigarre in Träumereien . . .
An jedem Morgen erwachte er in aufgeregter Stimmung, verschlang seinen Brief von ihr, wenn er einen erhalten hatte, und setzte sich nieder, um an sie zu schreiben. Diese seine Briefe bildeten den erstaunlichsten Teil jener zwei Wochen. Sie waren darin bemerkenswert, daß sie es unterließen, auch nur einen einzigen seiner wirklichen Gedanken ihr mitzuteilen. Hingegen waren sie voll sentimentaler Rührseligkeiten, die er keineswegs empfand. Und hob er an, sich selbst zu analysieren, dann hatte er solche Momente der Geistesverwirrung, daß ihn Entsetzen erfaßte, würgte und er zum Schreiben überhaupt unfähig ward. Er machte die gewichtige Entdeckung, daß es keine zwei Menschen gebe, die einander das gestehen, was sie wirklich empfinden, außer vielleicht in Lebenslagen, die er mit Antonies eisbläulichen Augen und strahlend kaltem Lächeln unmöglich in logische Verbindung bringen konnte. Sonst aber war die ganze Welt tatsächlich allzu beschäftigt damit, sich den äußeren Anschein des Anstandes zu geben.
Ganz in Anspruch genommen von seiner Sehnsucht, vergegenwärtigte er sich nur undeutlich die Ankunft des englischen Commemorations-Feiertages. Er bereitete sich fieberhaft auf seinen Besuch in Holm Oaks vor, ließ sich den Bart abnehmen und einige Anzüge von London senden. Zusammen mit diesen wurde ihm ein Brief von Ferrand zugestellt, der folgendes schrieb:
»Imperial Peacock Hotel in Folkestone.
20. Juni.
Werter Herr!
Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht früher schrieb, aber ich bin so geplagt, daß ich keine Lust zum Schreiben hatte. Sobald ich die Zeit dazu habe, werde ich Ihnen einige merkwürdige Geschichten erzählen. Wieder einmal begegnete mir jener Dämon des Mißgeschickes, der mir auf Schritt und Tritt nachgeht. Den ganzen Tag und fast die ganze Nacht mit Angelegenheiten beschäftigt, die mir einen Haufen Plackerei und fast gar keinen Nutzen eintragen, habe ich nicht einmal Zeit, mich um meine Sachen zu kümmern. Diebe erbrachen mein Zimmer, stahlen alles und ließen mir einen leeren Schrank. Wieder einmal stehe ich fast ohne Kleider da und weiß nicht, was ich tun soll, um als jene Figur auftreten zu können, die zur Erfüllung meiner Pflichten nötig ist. Sie sehen, ich habe kein Glück. Seitdem ich in Ihrer Heimat eintraf, war der einzige glückliche Zufall, der mir zuteil ward, über einen Menschen gleich Ihnen zu stolpern. Entschuldigen Sie mich, wenn ich Ihnen in diesem Augenblick nicht mehr schreibe. In der Hoffnung, daß Sie bei bestem Wohlbefinden sind, Ihnen liebevoll die Hand drückend, zeichnet Ihr stets ergebener
Louis Ferrand«.
Nachdem er diesen Brief gelesen, kam wieder einmal über Schelton das Gefühl, ausgebeutet zu werden; aber er schämte sich dessen. Sofort setzte er sich nieder und schrieb die folgende Antwort:
»Bishopshead Hotel in Oxford.
25. Juni.
Mein lieber Ferrand!
Es betrübt mich sehr, von Ihrem Mißgeschick zu vernehmen. Ich hoffte doch so sehr, daß Sie mehr Glück beim Beginn Ihrer neuen Laufbahn haben würden. Beifolgend eine Geldanweisung auf vier Pfund Sterling. Es wird mich stets freuen, von Ihnen zu hören,
Herzlichst grüßt Sie
Richard Shalton«.
Mit der Genugtuung eines Menschen, der wohlweislich fühlt, seine Verantwortlichkeiten abgeschüttelt zu haben, sandte er den Brief ab.
Drei Tage vor Anbruch des Juli passierte ihm einer jener störenden Zwischenfälle des Lebens, die bei jenen Leuten, die still und sittsam ihre Eigentums- und Leumundsinteressen wahren, nie vorkommen.
Unerträglich schwül war die Nacht, und er begab sich mit seiner Zigarre auf die Straße. Da trat eine Frauensperson von der Seite an ihn heran und sprach ihn an. Er erkannte, daß sie eine derjenigen sei, die für die Männerwelt ein Medium ihres Vergnügens bilden und mit denen es, gelinde gesagt, sentimental wäre, ein tieferes Mitgefühl zu besitzen. Ihr Antlitz war über und über rot, rauh ihr Geflüster. Sie besaß außer den Linien einer geschmacklos aufgeputzten Gestalt keine sonstigen Vorzüge. Schelton fühlte sich abgestoßen von dem eigentümlichen Tonfall ihrer Stimme, ihrem zerzausten Gesicht und dem ihr entströmenden Patschuliparfüm. Ihre Berührung seines Armes ließ ihn erschreckt auffahren, bis aufs Mark erschauern. Er sprang fort zur Seite und ging rascher. Aber ihr Atem schien, während sie ihm folgte, schwerer zu gehen, und plötzlich kam es ihm bemitleidenswürdig vor, daß eine Frau in dieser Weise hinter ihm einher keuchen sollte.
»Wenigstens das Eine muß ich tun,« dachte er, – »zu ihr sprechen.« Er blieb stehen und sprach mit einer Mischung von Härte und Erbarmen: »Mir ganz unmöglich . . .«
Trotz ihrem Lächeln ersah er aus ihren enttäuschten Augen, daß sie sich in die Unmöglichkeit schickte.
»Ich bedauere,« sagte er.
Sie murmelte etwas. Schelton schüttelte seinen Kopf.
»Tut mir leid,« sagte er nochmals. »Gute Nacht!«
Das Weib biß sich in die Unterlippe.
»Gute Nacht,« antwortete sie dumpf.
An der Straßenecke wandte er sich um. Die Frau hastete beunruhigt davon. Da hielt sie ein Polizist von hinten an.
Sein Herz begann stärker zu klopfen. ›Himmel, was soll das werden!‹ dachte er, ›was soll ich jetzt tun?‹ Sein erster Impuls war, unbekümmert weiter zu gehen und nicht mehr an die Sache zu denken – so zu handeln, wie tatsächlich jeder Mann von durchschnittlichem bürgerlichen Anstandsgefühl, der in derlei Dinge nicht verwickelt zu werden wünscht, gehandelt hätte.
Dennoch machte er kehrt und blieb in einer Entfernung von einem halben Dutzend Schritte vor beiden Gestalten stehen.
»Fragen Sie doch den Gentleman! Er sprach mich an,« sagte sie mit ihrer blechernen Stimme, aus deren Emphase Schelton ihre Angst entnehmen konnte.
»Schon recht,« erwiderte der Polizist, »all das wissen wir schon . . .«
»Die verfluchte Polizei!« schrie das Weib weinend aus. »Ich muß mich doch auch durchs Leben schlagen, ganz so wie Sie, oder nicht?«
Schelton zögerte. Aber als er den Ausdruck ihres furchtverzerrten Gesichtes auffing, trat er näher. Der Polizist wandte sich und beim Anblick seiner blassen wanstigen Backe mit ihrem Einschnitt vom Helmriemen, wie den einschüchternden Augen, stieg beides, Haß und Furcht, in ihm empor, als ob er sich von Angesicht zu Angesicht mit all dem befände, was er verachtete und verabscheute, aber doch auch sonderbarerweise fürchtete. Die überlegene Selbstsicherheit von Gesetz und Ordnung, die auf Englands Insel dem Starken Macht verleihen und den Schwachen mit Füßen treten, die geschniegelte Miene der Niedertracht, wider die sich nur die auserlesensten Geister zu wenden wagen, schien ihn da anzustarren. Und das Unheimliche der Sache war, daß dieser Mensch nur seine Pflicht erfüllte. Schelton befeuchtete seine Lippen.
»Sie wollen sie doch nicht etwa verhaften?«
»Warum nicht?« entgegnete der Polizist.
»Herr Konstabler, Sie irren . . .«
Der Polizist zog sein Notizbuch hervor.
»Oh so, ich irre mich? . . . Bitte um Ihren Namen und Ihre Adresse. Wir müssen derlei zur Anzeige bringen.«
»Nur zu,« sagte Schelton und gab sie ihm ärgerlich an. »Ich sprach sie zuerst an.«
»Vielleicht bemühen Sie sich morgen zu Gericht und wiederholen Ihre Angabe dort,« antwortete unhöflich der Polizist.
Schelton sah ihn mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft an.
»Konstabler, seien Sie vorsichtig, ich empfehle es Ihnen,« sprach er; aber während er diese Worte äußerte, war ihm auch klar, wie jämmerlich sie jenem klangen.
»Mit uns ist nicht gut spassen,« entgegnete der Polizist mit drohender Stimme.
Schelton fiel nichts anderes ein, als zu wiederholen:
»Nehmen Sie sich in acht, Konstabler!«
»Sie sind ein Gentleman,« antwortete der Polizist, »ich bin nur ein Polizist. Sie haben den Reichtum, ich habe die Macht meines Amtes.«
Den Arm des Weibes ergreifend, begann er sie entlang zu stoßen.
Schelton machte Kehrt und schritt hinweg.
Er ging in den Grinnings-Klub und warf sich auf ein Sofa nieder. Sein Gefühl war nicht das des Mitleids mit dem Weibe noch eines besonderen Ingrimms mit dem Polizisten, eigentlich eher eines der Unzufriedenheit mit sich selbst.
»Was hätte ich tun sollen?« dachte er. »Der Schurke handelte innerhalb seiner Befugnisse.«
Er starrte auf die Gemälde an der Wand, und eine Welle des Ekels wogte in seinem Innern auf.
›Der eine oder der andere von uns,‹ überlegte er nachdenklich, ›wir selbst machen diese Weiber zu dem, was sie sind. Und wenn wir sie endlich dazu gebracht haben, können wir es ohne sie nicht mehr aushalten, wollen es auch nicht. Aber wir gewähren ihnen keine passenden Aufenthaltsorte, so daß sie genötigt sind, in den Straßen umherzustreifen . . . Und dann – verhaften wir sie, werfen sie ins Gefängnis. Haha! wirklich gut – ausgezeichnet! Wir arretieren sie einfach. Und hier sitzen wir dann und spötteln. Was aber tun wir? Nichts! Ist doch das englische System als das moralischeste bekannt. Wir Männer ziehen, ohne auch nur die Einfassung unserer Reliquienkästchen zu besudeln, den Vorteil daraus – die Frauen sind die einzigen, die darunter leiden . . . Und warum auch nicht – soll man etwa Rücksicht nehmen auf diese inferioren Geschöpfe?«
Er zündete eine Zigarette an und befahl dem Kellner, ihm einen Trunk zu bringen.
»Ich gehe morgen zu Gericht,« dachte er. Doch plötzlich durchzuckte es ihn, daß die Lokalblätter über den Fall berichten könnten. Die Zeitungen würden sich einen solch netten kleinen Skandal kaum entgehen lassen. ›Gentleman gegen Polizisten‹, mochte so die Spitzmarke der betreffenden Notiz lauten. Und die Vision von Antonies Vater, eines benachbarten und peinlich gewissenhaften Friedensrichters, entstand vor ihm . . . Er sah ihn, den Gerichtssaal-Bericht feierlich lesend . . . Auf jeden Fall würde irgendjemand seinen Namen sehen und es sich zur Aufgabe machen, dessen in der Gesellschaft Erwähnung zu tun; – so etwas war doch zu köstlich, um übersehen zu werden! . . . Und mit Schrecken erkannte er plötzlich, daß er, um dem Weibe vor Gericht zu helfen, nochmals würde zu erklären haben, daß er sie zuerst angesprochen habe . . .
›Ich muß dennoch zu Gericht gehen!‹ Fortwährend wiederholte er den Gedanken, als ob er sich vergewissern wollte, kein Feigling zu sein.
Die halbe Nacht lag er wach und quälte sich damit ab, einen Ausweg aus dieser Klemme zu finden.
›Aber – ich habe doch eigentlich sie nicht angesprochen . . .‹ sprach er auf einmal zu sich. ›Ich soll eine Lüge aussagen, und man wird mich sogar unter Eid einvernehmen.‹
Nun versuchte er, sich zu überreden, daß solches Tun gegen seine Grundsätze verstoße. Aber auf dem Grunde seines Herzens wußte er ganz genau, daß er nichts dagegen einwenden würde, eine solche Lüge zu sagen, wenn er nur die Gewähr besäße, von üblen Folgen verschont zu bleiben . . . Letzteres erschien Schelton tatsächlich als eine in die Augen springende Pflicht der Menschlichkeit ihm gegenüber.
›Aber warum soll ich darunter leiden müssen?‹ fragte er sich. ›Ich habe doch tatsächlich nichts getan . . . Das wäre weder vernünftig noch recht und billig . . .‹
Er haßte nun das unglückliche Weib, das ihm diese Schrecken der Ungewißheit verursachte. So oft er sich auf die eine oder andere Weise entschieden hatte, erstand das Gesicht des Polizisten – mit seinen tyrannischen und trüben Augen – gleich einem Nachtmahr vor ihm und zwang ihn zu einer entgegengesetzten Überzeugung . . . Endlich schlief er mit dem festen Entschluß ein, zu Gericht zu gehen und zu sehen, was sich dort zutragen würde.
Mit einen unruhigen Gefühl der Gemütsschwere erwachte er. ›Es hat doch gar keinen Wert, hinzugehen,‹ dachte er, sich seinen Entschluß in Erinnerung bringend und blieb still liegen. ›Es ist ganz bestimmt, daß man dem Polizisten mehr Glauben schenken wird; ich würde mich nur ganz zwecklos anschwärzen . . .‹
Und wieder erhob sich in ihm ein Kampf, aber schon mit weit geringerer Erbitterung. Daran, was andere Leute von ihm dächten, war ihm ja herzlich wenig gelegen, nicht einmal die Gefahr des Meineides spielte eine Rolle (all dies machte er sich weis) – aber es handelt sich um Antonie. Ihr gegenüber wäre es doch sehr unbillig gewesen, sich in eine solche verkehrte Lage zu bringen. In der Tat, es wäre nicht gentlemanlike gehandelt . . .
Er verzehrte sein Frühstück. Im Saale befanden sich einige Amerikaner, und das Antlitz des einen jungen Mädchens dort drüben erinnerte ihn ein wenig an Antonie. Undeutlicher und immer undeutlicher ward jener Zwischenfall; er schien sein inneres Gleichmaß wieder gefunden zu haben.
Einen Blick auf die Uhr werfend, entdeckte er, zwei Stunden später, daß es schon Lunchzeit sei. Er war also nicht gegangen, hatte keinen Meineid geschworen. Aber dafür schrieb er an eine Tageszeitung und wies auf die Gefahr für das Gemeinwesen hin, die dieses angesichts jener Macht laufe, die, im Glauben an deren Unfehlbarkeit, in die Hände der Polizei gelegt werde. Daß, da sie die beeideten Helfershelfer von Recht und Gerechtigkeit seien, das Wort ihrer Organe notwendigerweise das Gewicht eines Evangelienwortes besitze; daß sie, einer für alle, zusammenhielten, infolge ihres gemeinsamen Interesses und ihres esprit de corps! Sei es nicht vernunftgemäß, so schrieb er weiter, anzunehmen, daß unter den Tausenden von Menschenwesen, die mit solchen Machtmöglichkeiten bekleidet sind, sich auch Gewaltselemente vorfinden müßten, die sich derselben mißbräuchlich bedienten gegenüber der Hilflosigkeit von Unglücklichen, wie der Feigheit von Leuten, die etwas zu verlieren haben, nur damit jene sich in ihrer Amtstätigkeit auszeichnen konnten? Um der Freiheit und Menschlichkeit willen seien diejenigen, in deren Händen die geheiligten Pflichten der Auswahl und Zusammenstellung einer solchen – praktisch unverantwortlichen – Körperschaft liege, streng und heilig zu verpflichten, nur mit der äußersten Sorgfalt und Gründlichkeit ihrer Pflicht zu walten . . .
Wie wahr all dies auch sein mochte, es trug nicht dazu bei, daß er sich im Innersten seines eigenen Herzens höher achtete. Ein vages Gefühl, als ob in seinem Falle ein standhaftes und rechtschaffenes Meineidchen mehr wert gewesen wäre, als ein Brief an eine Tageszeitung, suchte ihn unablässig heim . . .
Er sah seinen Brief nie im Druck, denn er enthielt immerhin die Keime einer unschmackhaften Wahrheit, die in der Zeitungspresse keinen Raum findet.
Im Laufe des Nachmittags mietete er ein Pferd und galoppierte nach Port Meadow. Die Spannung seiner Unentschlossenheit war überwunden, und er fühlte sich wie ein vom Krankenlager auferstandener Mensch. Vorsichtigerweise unterließ er es, die Lokalblätter durchzusehen. Dennoch wollte ein Etwas in ihm, das sich dagegen auflehnte, wie er seine ritterliche Mannesehre zu Schanden geschlagen hatte, nicht verstummen.