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Wie in vielen vornehmen Landhäusern der Wohlerzogenheit, so war auch in Holm Oaks die Stunde des zweiten Gabelfrühstücks – natürlich, es versteht sich, nur außerhalb der Jagdsaison – eine Stunde des höchsten Seelenaufschwunges. Die Gärung der Tagesereignisse hatte dann ihren Höhepunkt erreicht und das Getöse der Unterhaltung über das Wetter und die Hunde, Pferde, Nachbarn, über Kricket und Golfspiel vermengte sich mit einem literarischen Gemurmel . . . Denn die Dennants waren auch darin an erster Stelle, und es war bei ihnen etwas ganz Übliches, Bemerkungen wie diese zu vernehmen: »Haben Sie schon jenes entzückende Werk von Poser gelesen?« oder »Jawohl, ich habe bereits die neue Auflage über den alten ›Babington‹;Anhänger Maria Stuarts und Verschworener gegen Königin Elisabeth; enthauptet 1586 herrlich gebunden – so federleicht.« Und immer im Juli war Holm Oaks, als Sammelpunkt der Auserwählten, in bester Form. Denn dort war es im Juli zur Gewohnheitssache geworden, viele jener armen schönen Seelen willkommen zu heißen, die von London, erschöpft von den Strapazen der dortigen Saison, nun hier eintrafen, und im Vergleich mit welchen wohl keine Näherin im Hinterzimmer des zweiten Stockwerkes einer Zinskaserne einen Anspruch auf Feier- und Ruhetage hätte erheben können . . . Die Dennants selbst reisten nie nach London zur Saison. Es bildete ihren Hochgenuß, solches zu unterlassen. Eine oder zwei Wochen Aufenthalt in London befriedigten sie vollauf. Die ganze Familie besaß eine gewissermaßen radikale Schwäche für frische Luft. Und als Antonie vor zwei Jahren zur Saison in die Gesellschaft eingeführt worden war, bestand sie bald darauf, nach Hause zurück zu kehren. Sie stigmatisierte die Londoner Bälle als ›dumpfe, stickige Dinger‹.
Als Schelton eintraf, hatte der Zustrom von Gästen erst begonnen, aber jeder Tag brachte frische oder richtiger: abgehetzte Leute, die in die alten, dunklen, süßduftenden Schlafzimmer einzogen. Individuell waren ihm seine Gastgefährten ganz lieb, nur fand er, daß er sie fortwährend beobachtete . . . Er wußte, daß der Mensch, wenn er die Nebenmenschen einzeln beurteilt, fast alle besser findet, als sich selbst; nur in Bausch und Bogen, als Menge betrachtet, verdienen sie das vernichtende Urteil, das er, über sie zu fällen, sich stets geneigt fand. Er wußte dies ebenso gut, wie er auch begriff, daß die konventionellen Lügen, erfunden, um den Menschen daran zu hindern, seinen natürlichen Neigungen zu folgen, in ihren mißbilligenden Totalsummen bloß aus unzähligen individuellen Zustimmungen bestehen.
So war es denn die Masse, die er, wie er fand, scharf beobachtete. Allein mit seiner Liebenswürdigkeit und Scheu vor jeder Auffälligkeit verblieb er allem Anscheine nach ein wohlerzogenes, lenksames Geschöpf und behielt seine Werturteile streng für sich.
Was die vorhandenen Geistesgaben anbelangt, machte er zwischen all den Gästen einen beiläufigen Unterschied – er schied sie in diejenigen, die, ohne dagegen zu mucken, die bestehenden Verhältnisse als die besten aller Welten ansahen, und in solche, die sich mit höhnischer, krittelnder Lustigkeit über sie hinweg setzten. In allen Moralangelegenheiten unterwarfen sie sich alle den üblichen Anschauungen, ohne ihnen auch nur den Schein eines Widerstandes entgegen zu setzen. Schon die bloße Andeutung, eine eigene moralische Auffassung zu besitzen, bedeutete hier förmlich den Verlust seines Seelenheiles und, was wohl noch ärger war, daß man als ein denn doch kaum zu dieser Gesellschaft Gehörender betrachtet ward . . . All dies entnahm er mehr durch Intuition, als durch Gespräche; denn für Gespräche waren solche Probleme naturgemäß mit einem TabuEine Art Fetisch bei den Südseeinsulanern und anderen Naturvölkern, der Dinge und Personen unverletzlich und unberührbar macht. belegt und jene wurden in dem lauten und frohgemuten Tone geführt, der allen Leuten von guter Herkunft eigen. Schelton war es nie geglückt, sich diesen Ton anzueignen, und er konnte nicht umhin, zu empfinden, daß diese Unfähigkeit ihn mehr oder minder zu einem Gegenstand des Verdachtes machte . . . Wie nie zuvor bedrückte ihn diese Atmosphäre und veranlaßte ihn, seine Vornehmheit anzuzweifeln. Durfte ein Mensch infolge einer Leidenschaft, der Selbsterforschung seines Herzens oder sonst einer Befürchtung leiden und dabei auch noch ein Gentleman zu bleiben glauben? Nicht sehr wahrscheinlich . . . Einer seiner Gastgefährten, ein Mann namens Edgbaston, kleinäugig und halbkahl, mit seinem schwarzen Schnurrbart und distinguiertem Niedertrachtsgebaren, brachte ihn eines Tages in arge Verwirrung, als er über eine ihm unbekannte Person äußerte: »Ein Kerl, dem man es ansieht, daß er nur halbgebildet ist – wußte wahrscheinlich selbst nicht, was er eigentlich wollte.«
Ein schrecklicher Zweifel quälte Schelton.
Alles erschien in Klassen eingeteilt, sorgfältig registriert und gewertet. So zum Beispiel war ein Großbritannier von höherem Werte als ein Mensch schlechthin und Gattinnen höher als Frauen. Jene Dinge oder Phasen des Lebens, mit denen diese Leute hier nicht persönlich in Berührung standen, wurden mit einer leichten Heiterkeit und gewissen Mißbilligung betrachtet. Strengstens befolgt wurden in der Tat nur die Grundsätze der höheren Klassen Englands.
Er befand sich in jener übersensitiven und nervösen Verfassung, die ihr unähnliche Strömungen fest ins Gedächtnis einprägt. Dinge, die er früher nie wahrgenommen hatte, lösten nun eine tiefe Wirkung bei ihm aus; wie etwa der Ton, in dem Männer von Frauen sprachen . . . Man konnte eigentlich nicht behaupten, daß es der der Feindseligkeit, oder auch nur jener der Verachtung gewesen wäre; am besten ließ er sich vielleicht als Ton einer wohlkultivierten Verspottung bezeichnen. Selbstredend nicht dann, wenn die Herren von ihren eigenen Gattinnen, Müttern, Schwestern oder ihnen nahestehenden Damenbekanntschaften, sondern nur dann, wenn sie von irgend welchen anderen Frauen sprachen . . . Er grübelte darüber nach und kam zu der Schlußfolgerung, daß unter den höheren Klassen Englands das persönliche Eigentum jedes Mannes heilig ist, während die anderen Frauen nur dem Zwecke dienen, ihn mit Klatsch, Witzen und Würze zu versorgen. Eine andere Sache, die ihn sehr verblüffte, war die Art, in der der damals geführte Krieg gegen die Buren behandelt, zu einer Klassenangelegenheit gemacht ward. Ihrer aller Ansicht nach war das Ganze nur deshalb ein böses Geschäft, weil ein gewisser Jack Blank und Peter Blank-Blank ihr Leben dabei verloren, und der bedauernswerte Teddy Blank nun einen Arm statt deren zwei hatte. Die allgemeine Menschheitsfrage wurde völlig außer acht gelassen, nicht aber die Interessen der oberen Klassen, noch etwa, wenn auch nur sehr beiläufig, das ihnen zugehörige Land. Denn letztere waren ja gerade sie, diese wackeren Engländer allesamt, wie sie da in einer Reihe saßen und die Augen auf dem Horizont ihrer Rasengefilde haften ließen.
Eines Abends spät, man hatte das Billardspiel und Konzertieren satt und die Damen hatten sich bereits zurückgezogen, kam Schelton nach mancherlei Wechselfällen in den Rauchsalon und fiel in einen jener umfangreichen Armstühle, die selbst im Sommer einen Halbkreis rund um den vergitterten Kaminherd bildeten. Er hatte soeben Antonien gute Nacht gesagt und saß vielleicht zehn Minuten, ehe er all die anderen Gestalten wahrnahm, die in eigenen Raucherkostümen mit gekreuzten Beinen dasaßen, Trinkgläser in den Händen und Zigarren zwischen den Zähnen hielten.
Der Mann im Nebensessel brachte ihn in einige Aufregung, als er mit gelindem Schlag sein Tumblerglas niederstellte und sich auf das gepolsterte Kamingitter setzte. In dem dichten Rauchschleier, mit den etwas gekrümmten Schultern, Ellbogen und Knien nach außen gebogen, die Zigarre wie ein Schnabel unter der Nase hervorstehend, und dem Purpurkragen seines Raucherjacketts, wie ein Gefieder auf seiner Brust, bis oben zugeknöpft, mit all dem ähnelte er einem prächtigen Raubvogel.
»Man unterhält sich dort grausig gut,« sagte er.
Eine Stimme aus dem Stuhl zur Rechten von Schelton antwortete:
»Aber noch besser unterhält man sich bei Verado.«
»Der beste Vergnügungsort ist aber doch Veau d'Or. Dort bekommt man gratis türkische Bäder!« schleppte ein korpulenter Mann mit winzigem Mündchen die Worte heraus.
Allen offenbarte sich gleichsam wie ein Segensspruch die Lieblichkeit dieser Meinungsäußerung. Und auf einmal, wie unter der Berührung eines Zauberstabes, verwandelte sich in dem alten, eichengetäfelten Saal die Welt auf ganz natürliche Weise in drei Abteilungen: in eine, in der man sich bloß gut unterhält; in jene, in der man sich schon besser unterhält; und in die dritte, in der man türkische Bäder umsonst erhält . . .
»Wenn Sie just an türkischen Bädern Wohlgefallen finden,« sagte ein hochgebauter Jüngling mit reinem weißem Antlitz, der mit halboffenem Mund ins Zimmer getreten war und dessen Füße in süßer Hilflosigkeit etwas zu weit vorsprangen, »dann sollten Sie, das können Sie mir schon glauben, nach Budapest reisen! Wirklich, dort geht's großartig, famos zu« . . .
Schelton bemerkte, wie auf aller Angesicht eine unbeschreibliche Wertschätzung emporstieg, als ob ihnen etwas mit Trüffeln Gespicktes oder sonst etwas Köstliches, was ebenso delikat mundete, gereicht worden wäre.
»Oh, nicht doch, Poodles,« sprach der auf der Aufsitzstange des Kamingitters hockende Mann, »mir hat irgend ein mir bekannter Johnny erzählt, daß das alles nichts im Vergleich zu Sofia sein soll.« Der verschmitzte Genuß des Lasters in Vertretung eigener Person verklärte sein Angesicht.
»Ah, was!« dehnte der kleinmündige Mann aus, »alles muß sein Licht unter den Scheffel stellen im Vergleich zu Bag–da–d.«
Abermals hüllte seine Äußerung alle wie in himmlische Seligkeit und abermals verwandelte sich die Welt in ihre drei Abteilungen: dort, wo man sich gut unterhält; dort, wo man sich besser unterhält; und – in Bagdad.
Schelton sprach zu sich: ›Warum kenne ich keinen Ort, der noch besser als Bagdad ist?‹
Er fühlte sich recht unbedeutend. Wie es schien, kannte er keinen einzigen dieser reizenden Orte; so daß er von keinem Wert für seine Mitmenschen war. Privat jedoch war er fest davon überzeugt, daß alle diese Redner so wenig wie er von jenen Orten wußten und sich dabei nur wohlig fühlten, wenn sie solche Dinge, die sie vernommen hatten, vor einander aufsteigen ließen und mit einem merkwürdigen gegenseitigen Blick sich daran weiden konnten . . . Wahrlich! Niemals würden ihm seine Anekdoten jenen Ehrenpreis für einzelne erlauchte Personen der englischen Gesellschaft, die Etikette: ›Ein guter Kerl‹ oder etwa ›Sportsman‹, eintragen; das verstand er sehr wohl . . .
»Sind Sie je in Bagdad gewesen?« fragte er matt.
Der korpulente Herr gab ihm keine Antwort. Er hatte eine Anekdote zu erzählen begonnen, und in der breiten Ausdehnung seines Gesichtes wand sich sein winziges Mündchen wie eine Raupe. Die Anekdote klang sehr humoristisch.
Mit Ausnahme von Antonie, sah Schelton nur sehr wenig von den Damen; denn in Ausführung der üblichen Herrenhaussitte vermieden es Damen und Herren, so viel sie nur konnten, einander zu begegnen. Sie trafen sich bei den Mahlzeiten und wirkten gelegentlich im Tennis- oder Krocketspiel zusammen. Sonst aber schien man – mit fast orientalischer Strenge – darin übereingekommen zu sein, sich möglichst gesondert zu halten.
Eines Tages betrat er, Antonie suchend, zufällig den Damensalon. Er erkannte, daß er in eine Frauendiskussion geraten war. Selbstverständlich hätte er sich anstandsgemäß rasch zurückgezogen, aber es war ja doch handgreiflich, daß er bloß nach seiner Braut Ausschau hielt. So setzte er sich denn und lauschte.
Die Honourable Charlotte Penguin strickte noch immer an einem seidenen Zupfband – dem sechsten seit demjenigen, an dem sie zu Hyères gestrickt hatte. Sie saß auf dem niederen Fenstersitz, in der Nähe einer Hortensie, deren runde Blumenblätter ihre vollblütige Wange fast küßten . . . Ihre Augen hafteten in müder Strebsamkeit auf der eben vortragenden Dame. Diese, eine vierschrötige Frau von mittlerer Höhe, das graue Haar aus der niederen Stirn zurückgekämmt, besaß ein Gesicht, dessen Ausdruck lebhaft und zugleich verärgert war. Sie stand mit einem Buche aufrecht da, als ob sie eine Predigt hielte. Wäre sie ein Mann gewesen, so hätte man sie als einen flotten, jungen Handelsangestellten bezeichnen können; denn wenn auch schon ergraut, so konnte sie doch nie alt werden, noch die Gabe rascher Entschließungen je einbüßen . . . Ihre Züge und Augen waren rege und etwas herb schattiert von einem fanatischen Glauben an die Unfehlbarkeit ihrer Urteile, und sie wies jene schreiend aufdringliche Einfachheit der Kleidung dar, die das Recht, sich unberufen in fremde Angelegenheiten zu mengen, andeutet. Nicht rot noch weiß, weder gelb noch ganz blaß, war ihre Gesichtsfarbe, dem Klima angepaßt, mit einer gewissen Mischung all jener Farben übergossen. Und ihr Lächeln hatte eine sonderbare saure Süße, mit nichts zu vergleichen, als mit dem Wohlgeruche eines schon faulig angefressenen Apfels.
»Mich kümmert es nicht, was man Ihnen erzählt,« so sprach sie – nicht etwa beleidigend, obwohl ihrer Stimme zu entnehmen war, daß sie keine Zeit vertrödeln wollte, um zu gefallen; »in all meinen Beziehungen zu ihnen, fand ich, daß es am besten ist, sie ganz so wie kleine Kinder zu behandeln . . .«
Eine Dame lächelte hinter der großen Tageszeitung »Times«. Ihr Mund – nein, ihr ganzes feistes, hübsches Gesicht erinnerte an scheckige Schaukelpferde, wie sie im Sohobazar anzutreffen sind. Sie legte ihre Füße übereinander, und irgend ein teurer Seidenstoff raschelte. Ihre ganze Persönlichkeit schien das, was sie jetzt, ohne aufzusehen, in einem harten Tonfall antwortete herauszukreischen:
»Mich dünkt, daß die Armen höchst angenehme Leute sind.«
Mit launischem Lächeln schleuderte Sybil Dennant, auf dem Sofa sitzend, Schelton ein bellendes weißes und glatthaariges Terrierhündchen zu.
»Dick ist da,« sagte sie. »Well, Dick, wie lautet denn Ihre Meinung?«
Erschrocken blickte sich Schelton im Kreise um . . . Die älteren Damen, die schon gesprochen hatten, wandten ihm ihre Augen zu und aus ihrem Blicke las er seine absolute Bedeutungslosigkeit für sie.
»Oh, ein so junger Mann! . . .« schien ihr Blick zu sagen. »Kann man von ihm auch eine Äußerung praktischer Erfahrung erwarten? Laß uns doch mit ihm in Ruh'!«
»Meine Meinung,« stammelte er, »über die Armen?« Ich habe keine darüber . . .«
Die Person, die stand, deren Name Mrs. Mattock lautete, wandte sich mit ihrem sonderbaren süßlich-sauren Lächeln jener distinguierten Dame mit der »Times« zu und sprach:
»Lady Bonington, vielleicht sammelten Sie in London keinerlei Erfahrung über sie.«
Statt eine Antwort zu geben, raschelte Lady Bonington.
»Oh, Mrs. Mattock, bitte, erzählen Sie uns von den Armenvierteln, den Londoner Slums!« rief Sybil. »Es muß so herrlich sein, sie zu durchwandern! Hier ist's so langweilig – nichts als Flanellunterröcke . . .«
»Meine Liebe, die Armen,« begann Mrs. Mattock, »sind nicht im geringsten das, wofür Sie sie halten . . .«
»Oh, glauben Sie mir, ich denke, sie sind so ziemlich nett!« fiel Tante Charlotte bei der Hortensia ein.
»Meinen Sie?« sagte Mrs. Mattock spitz. »Ich dagegen finde, daß sie nichts tun, als über ihr Schicksal murren.«
»Über mich murrten sie nie; mir erscheinen sie als ganz angenehme Leute . . .« Und Lady Bonington gewährte Schelton ein häßliches Lächeln.
Er konnte nicht umhin, daran zu denken, daß es einer geradezu übermenschlichen Kühnheit bedürfe, in Anwesenheit jener reichen, despotischen Persönlichkeit zu murren!
»Sie sind die undankbarsten Menschen auf Erden,« sprach Mrs. Mattock. Also wozu, dachte Schelton, suchen Sie sie denn auf? Sie aber fuhr fort: »Man muß ihnen Gutes erweisen, man muß seine Pflicht ihnen gegenüber erfüllen, was aber den Dank anbetrifft . . .«
Hämisch sagte Lady Bonington:
»Die armen Leute! sie haben genug zu ertragen . . .«
»Die kleinen Kinder!« murmelte, mit errötender Wange und glänzenden Augen Tante Charlotte; »eine ziemlich pathetische Sache das . . .«
»Ja, eben die Kinder!« sagte Mrs. Mattock. »Mir reißt die Geduld, wenn ich sehe, in welcher Weise sie die Kleinen vernachlässigen. Manche Leute sind so sentimental wegen der Armen . . .«
Wieder kreischte Lady Bonington auf. Ihre prachtvollen Schultern waren fest eingekeilt in den Armstuhl. Ihr feines dunkles Haar, von Silber durchschimmert, stach von ihrer Augenbraue ab. Ein Rubinarmband glühte um ihr mächtiges Handgelenk, das die Tageszeitung hielt; sie schaukelte ihren Fuß, der in einem bortengeschmückten Pantoffel stak. Wahrhaftig, an ihr war nicht allzuviel von Sentimentalität . . .
»Ich weiß, daß es bei ihnen sehr oft äußerst flott zugeht,« sprach würdevoll Mrs. Mattock, als ob irgend jemand sie ernstlich verletzt hätte. Und nicht ohne Mitleid gewahrte Schelton, daß das Schicksal in ihr gütiges und musartig platschiges Gesicht einige Runzeln eingekerbt hatte, aus deren winzigen Furchen aufs beredteste all die guten Absichten sprachen, die ihr von den unpraktischen und ewig unzufriedenen Armen vereitelt wurden. »Man mag tun, was man will, sie sind nie zufrieden! Oft nehmen sie den Beistand, den man ihnen gewährt, auch noch übel auf – oder sie nehmen die Hilfe wohl an, vergessen aber ganz, sich dafür zu bedanken!«
»Oh!« murmelte Tante Charlotte, »es ist ziemlich schwer . . .«
In Schelton steigerte sich die Unruhe. Plötzlich meinte er schroff:
»Ich würde auch so handeln, wenn ich sie wäre . . .«
Mrs. Mattocks braune Augen flogen auf ihn zu. Lady Bonington sprach zur »Times«. Ihr Rubinarmband und ein Goldreif klingelten.
»Wir sollten uns in ihre Lagen versetzen.«
Schelton konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Lady Bonington in der Lage eines armes Weibes!
»Oh!« entfuhr es Mrs. Mattock, »ich versetze mich vollständig in die Lage der Armen. Ich verstehe ihre Gefühle voll und ganz. Aber die Undankbarkeit ist dennoch eine abstoßende Eigenschaft.«
»Sie scheinen eben außerstande zu sein, sich in Ihre Lage zu versetzen,« murmelte Schelton. Und in einem Anfall von Mut ließ er einen vernichtenden Blick über den ganzen Raum schweifen . . .
Jawohl, dieser luxuriöse Raum war wundervoll konsequent in seinem Wesen vollendeter modischer Entlehnung, als ob jedes Bild und jedes Möbelstück, jedes Buch und jede anwesende Dame nach einem Muster gemacht wäre. Sie alle waren voneinander ungemein verschieden, und doch hatten alle – wie irgendwo zur Besichtigung ausgestellte Kunstwerke – das Aussehen, nach dem Entwurf irgend eines originellen Geistes zu sein . . . Das ganze Zimmer war so keusch, zurückhaltend, nach dem Herkommen geregelt, praktisch und bequem. Weder über Tugend noch Arbeit, weder über Sitte, Sprache, Erscheinung noch Weltanschauung vermochte es, aus der Schule zu plaudern.