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So fand sich Schelton eines Morgens, eine Woche später, in Betrachtung versunken vor den Mauern des Princetowner Gefängnisses.
Schon früher hatte er diesen kummervollen Steinkäfig gesehen. Allein durch den Zauber seines Morgenganges quer durch das Heideland, den Anblick der gottlos schroffen Felsen und den Gesang des letzten Kuckucks, war er auf jenen grauen Bau nicht vorbereitet worden. Schelton verließ die Landstraße und begann, in den Graben trabend, einen Umweg im Kreise zu machen; dabei prüfte er, wie krankhaft bestrickt von ihren Reizen, mit sorgfältig messenden Augen die Mauern der grauen Bastille.
So also sah in England das System aus, wodurch die Menschen den Willen der Majorität erzwangen. Und im Nu ward es ihm klar, wie geradezu lächerlich alle die Ideen und Grundsätze, die seine christlichen Landsleute täglich zu erfüllen vermeinten, sich in jeglicher, aber auch der kleinsten Zelle der gesellschaftlichen Honigwabe ausnähmen. Solche Lehren wie ›Wer unter euch ohne Sünde ist . . .‹ waren doch von Pairs und Richtern, Bischöfen, Staatsmännern, Kaufleuten und Ehegatten als unpraktisch verkündet worden – wie in der Tat von jeder wahrhaft christlichen Person in England.
›Ja, ja,‹ dachte Schelton, als ob er etwas gänzlich Neues entdeckt hätte, ›je christlicher wir Engländer uns als Nation geben, desto weniger haben wir mit dem Geist des Christentums gemein.‹
Die ganze englische Gesellschaft war eben eine Wohltätigkeitsorganisation, die bekanntlich auch nichts für nichts, für sechs Pence nur sehr wenig gab. Und es war bloß die Furcht, die sie dazu zwang, überhaupt etwas zu geben.
Er setzte sich auf eine niedrige Mauer und begann einen Gefängnisaufseher zu beobachten, der langsam einen vorjährigen Apfel schälte. Der Gesichtsausdruck, die Art, wie er, seine soliden Füße auseinandergestellt, dastand, den Kopf vorgestoßen und seine untere Kinnlade nach außen getrieben, all dies machte ihn zu einer vollendeten Stütze der herrschenden Gesellschaft Englands. Er kümmerte sich nicht um Scheltons forschenden Blick, verfolgte, wie sich die Schale unter dem Apfel ringelte, bis sie in elastischer Spirale zu Boden fiel und gleich einer Spielschlange zusammenbrach. Er tat einen Biß; seine Zähne waren zackig und sein Mund immens. Es war offenbar, daß er sich für einen vortrefflichen Menschen ansah. Schelton runzelte die Stirn, stieg langsam von der Mauer hinunter und setzte seinen Weg fort.
Ein wenig weiter bergabwärts blieb er wieder stehen, um einer Gruppe von Sträflingen bei ihrer Feldarbeit zuzusehen. Ihm schien, als ob sie einen langsamen und traurigen Kotillon tanzten, während hinter der Hecke, auf jeder Seite postiert, Aufseher mit Gewehren wachten. Ersetzte man diese nur durch Speere, so mochte wohl das Rom des Altertums denselben Anblick geboten haben.
Während er in seine Betrachtung versunken dastand, blieb ein rasch einhereilender Mann neben ihm stehen und fragte ihn, wieviele Meilen es noch bis Exeter sei. Seine runde Visage und die länglichen braunen Augen, die sich unterhalb der Brauen einschoben, sein kurzgeschnittenes Haar und der gedrungene Hals kamen ihm bekannt vor.
»Ihr Name ist Crocker, nicht wahr?«
»Ha! es ist der Bird!« rief der Wanderer aus und streckte ihm die Hand entgegen. »Hab' dich nicht mehr gesehen, seit wir beide die Examina bestanden.«
Schelton erwiderte seinen Handdruck. Während seiner Universitätszeit hatte Crocker über ihm gewohnt und ihn halbe Nächte schlaflos erhalten durch seine unermüdliche Oboebläserei.
»Von wo bist du entsprungen?«
»Von Indien. Habe einen langen Urlaub. Sag' mal, gehst du in diese Richtung? Dann gehen wir zusammen.«
Sie gingen, und zwar sehr rasch, mit jeder Minute schneller und rascher.
»Wohin in diesem Marschtempo?«
»Nach London.«
»Oh, nicht weiter, als bis London!«
»Ich habe mir vorgenommen, die Strecke in einer Woche zurückzulegen.«
»Trainierst du dich?«
»Nein.«
»Du wirst dich selbst zugrunde richten.«
Crocker antwortete ihm kichernd.
Mit Unruhe nahm Schelton den Ausdruck seines Auges wahr; es lag eine Art halsstarriger Strebsucht darin. ›Noch immer Idealist!‹ dachte er, ›armer Kerl!‹ »Well,« erkundigte er sich laut, »wie ist es dir in Indien ergangen?«
»Oh,« sagte der indische Zivilbeamte zerstreut, »ich erkrankte an der Pest.«
»Mein Gott!«
Crocker lächelte und setzte hinzu:
»Wurde im Hungersnotdienst angesteckt.«
»Ich begreife,« sprach Schelton. »Pest und Hungersnot! Und vielleicht denkt ihr bureaukratischen Kolonialpioniere dabei gar noch, daß ihr dort draußen Gutes tut, nicht wahr?«
Überrascht betrachtete ihn sein Begleiter und antwortete dann bescheiden:
»Wir beziehen sehr gute Gehälter.«
»Ist euch schließlich die Hauptsache,« antwortete Schelton.
Nach einem Augenblick des Schweigens fragte ihn Crocker, gerade vor sich hin blickend:
»Denkst du nicht, daß wir dennoch etwas Gutes leisten?«
»Ich bin keine Autorität, allein in der Tat, ich glaube – nein.«
Crocker schien wie aus der Fassung gebracht.
»Warum?« fragte er barsch.
Schelton war nicht darauf erpicht, ihm seine Ansichten zu erklären und gab keine Antwort.
Sein Freund wiederholte:
»Warum bist du der Meinung, daß wir in Indien nichts Gutes leisten?«
»Well,« erwiderte Schelton schroff, »ist es denn denkbar, daß man einer Nation von außen den Fortschritt auferlegen kann?«
Der indische Zivilbeamte warf Schelton einen wohlwollenden und zweifelnden Blick zu; dann antwortete er:
»Du hast dich wirklich nicht im Geringsten geändert, alter Junge.«
»Nein, nein,« sprach Schelton, »auf diese Weise entkommst du mir nicht. Gib mir ein einziges Beispiel einer Nation oder meinetwegen eines Individuums, das je etwas Gutes erreichte, ohne sich vorerst innerlich dazu durchgerungen zu haben.«
Grunzend murmelte Crocker: »Freilich, nur Unheil.« . . .
»So ist's,« sagte Schelton. »Wir nehmen Völker, die völlig verschieden von uns sind und gebieten ihrer natürlichen Entwicklung plötzlich Einhalt, indem wir sie durch eine Zivilisation ersetzen, die uns vielleicht nützlich geworden ist. Nehmen wir als Beispiel ein tropisches Farnkraut in einem Treibhaus. Wie wäre es denn, wenn du da sagtest: ›Diese Wärme ist für mich ungesund, darum muß es auch dem Farnkraut schädlich sein. Ich reiße es aus und pflanze es in freier Luft an.‹«
»Weißt du, daß all dies eigentlich bedeutet, Indien aufzugeben?« warf der indische Zivilbeamte scharfsinnig ein.
»Nicht ich habe das gesagt . . . Aber davon zu reden, daß wir Indien Gutes erweisen, ist – hm! . . .«
Crocker zog die Augenbrauen zusammen, als ob er es versuchen wollte, den Gesichtspunkt, den sein Freund ihm zeigte, ernsthaft zu würdigen.
»Hör' mir damit auf! Würden wir auch dann durchaus fortfahren wollen, Indien zu beherrschen, wenn die ganze Sache mit einem totalen Verlust abschlösse? Nein, gewiß nicht. Well, also davon zu reden, daß wir das Land zu dem Zwecke administrieren, um unseren Profit einzustreifen, ist allerdings zynisch, aber gewöhnlich steckt im Zynismus einige Wahrheit . . . Allein von der Administration eines Landes, aus der wir Profit ziehen, in einem Tone zu reden, als ob wir eine große und edle Sache vollbrächten, das ist scheinheilige Heuchelei . . . Ich schlage dich zu meinem Vorteil in Stücke – gut und recht: so will es das Naturgesetz. Aber dann zu sagen, daß es zugleich zu deinen Gunsten geschähe, das übersteigt denn doch mein Können.«
»Nein, nein,« entgegnete Crocker gravitätisch und eifrig, »du kannst mir nimmer einreden, daß wir dort gar nichts Gutes leisten.«
»Wart' ein wenig. Das Ganze ist eigentlich eine Frage der Gesichtskreise. Du stehst der Sache allzu nahe. Verlege doch den Horizont in weitere Ferne. Ihr schlagt Indien in Stücke und sagt dabei, dies sei edles Wohltun. Well, sehen wir einmal zu, was nun geschieht. Entweder gewinnt Indien seine ursprüngliche Kraft nie wieder und stirbt einen unzeitgemäßen Tod, oder es gewinnt jene Kraft wieder, und dann ist euer Schlag – das heißt, eure koloniale Arbeit – innerhalb der nun aufkochenden Rückwirkung verloren, moralisch wertlos – es ist Arbeit, die ihr zu Hause hättet besser verrichten können, da sie hier nicht verloren gewesen wäre.«
»Bist du denn nicht auch Imperialist?« fragte, diesmal wirklich tief betroffen, Crocker.
»Vielleicht. Aber ich halte hübsch meinen Mund über die Wohltaten, die wir anderen Völkern erweisen.«
»Dann vermagst du sicher auch nicht an abstraktes Recht oder Gerechtigkeit zu glauben?«
»Was in aller Welt haben unsere Ideen über Gerechtigkeit oder Recht mit Indien zu tun?«
»Dächt' ich gleich dir,« seufzte der unglückliche Crocker, »so würde ich bald den Boden unter den Füßen verlieren . . .«
»Ganz richtig. Wir erachten unsere Standorte, Normen und Maßstäbe stets als am besten für die ganze Welt. Aus diesem Glauben schlagen wir Engländer wirklich Kapital. Lies einmal die Reden unserer Staatsmänner. Kommt es dir nicht ganz verwunderlich vor, wie positiv sie immer dessen sicher sind, im Recht zu sein? Es ist ja ganz nett, sich selbst zu nützen und sich dabei einzureden, zugleich andern zu nützen, obwohl wenn man der Sache auf den Grand geht, die Portion Fleisch des einen gewöhnlich Gift für den andern ist . . . Betrachten wir doch die Natur! Aber in England betrachtet man die Natur nie – wir haben's nicht nötig. Unser nationaler Standpunkt hat uns unsere Taschen gefüllt und das allein spielt eine Rolle . . .«
»Heda, alter Bursche, das alles klingt schrecklich verbittert,« sprach Crocker mit einer Art verwunderter Traurigkeit.
»Die Methode, mit der wir englischen Pharisäer uns fett mästen und zur gleichen Zeit uns das moralische Aussehen eines bis in die Wolken sich erhebenden Luftballons geben, genügt, um jedermann gegen uns zu verbittern. Ich habe manchmal das Bedürfnis, eine Stecknadel hineinzustechen, damit ich das Gas sich verflüchtigen höre.«
Schelton war selbst überrascht ob der Wärme, mit der er sprach, und aus irgend einem sonderbaren Grund fuhr ihm der Gedanke an Antonie durch den Kopf – ganz gewiß, sie war keine Pharisäerin!
Sein Gefährte ging mit Riesenschritten einher, und Schelton bedauerte die Anzeichen von Verdruß in seinem Gesicht.
»Seine Taschen zu füllen,« sagte Crocker endlich, »ist uns sicherlich nicht die Hauptsache. Alles, was man tut, soll man so tun, daß man nicht daran denkt, warum man es tut.«
»Siehst du je die andere Seite einer Frage?« erkundigte sich Schelton. »Ich glaube kaum. Du beginnst stets zu handeln, ehe du zu denken aufgehört hast, nicht wahr?«
Crocker fletschte die Zähne.
»Auch er ist Pharisäer,« dachte Schelton, »und sogar ohne des Pharisäers Stolz . . . Eine wirklich querköpfige Zunft!«
Nachdem sie eine gewisse Strecke gegangen waren, kicherte Crocker, als ob er über das Vernommene tief nachgedacht hätte, endlich heraus:
»Aber eigentlich bist du nicht konsequent. Du solltest dafür eintreten, Indien aufzugeben.«
Schelton lächelte mißmutig.
»Warum sollen wir unsere Taschen nicht füllen? Ich wende mich nur gegen den Humbug des Faselns.«
Schüchtern schob der indische Zivilbeamte seine Hand unter Scheltons Arm.
»Wäre ich deiner Gesinnung,« sagte er, – »ich könnte keinen Tag mehr in Indien bleiben.«
Schelton unterließ es, ihm darauf zu antworten.
Der Wind hatte nun nachzulassen begonnen, und wieder stahl sich etwas von dem Morgenzauber über das Heideland . . . Sie näherten sich den an der äußeren Grenze gelegenen Anbaufeldern. Es war nach fünf, als sie, von der Höhe der Hügelspitzen herabkommend, das sonnige Monklandtal erreichten.
»Da steht,« sprach Crocker, aus seinem Reisehandbuch vorlesend, – »hier heißt es, daß dieser Ort sich einer einzigartigen Isolierung erfreut.«
In ungestörter Einsamkeit lagerten sich die zwei Wanderer unter eine alte Linde auf dem Dorfrasen. Der Rauch ihrer Pfeifen, die schläfrige Luft, die Wärme des gedörrten Bodens, das fortwährende Summen machte Schelton schlaftrunken.
»Erinnerst du dich wohl noch,« fragte sein Gefährte, »jener ›Bockstreiche‹, die du mit Busgate und dem alten Halidome an den Sonntagabenden in meinen Zimmern austauschtest? Wie geht's denn dem alten Halidome?«
»Verheiratet,« antwortete Schelton.
Crocker seufzte. »Und bist auch du es?« fragte er.
»Noch nicht,« sagte Schelton mit einem mürrischen Ausdruck des Gesichts; »ich bin – verlobt.«
Crocker faßte oberhalb des Ellbogens seinen Arm, drückte ihn und knurrte dabei. Schelton hatte wohl noch keine Beglückwünschungen empfangen, die ihn mehr erfreuten. Denn in ihnen lag die Würze des Neides.
»Möchte auch gern heiraten, während ich in der Heimat weile,« sagte der indische Zivilbeamte nach einer langen Pause. Er streckte die Beine auseinander; sie warfen einen Schatten auf die grüne Fläche, und er hielt die Hände tief vergraben in den Taschen, den Kopf ein wenig seitwärts geneigt. Ein zerstreutes Lächeln spielte um seinen Mund.
Die Sonne war hinter einem Spitzhügel untergegangen, aber dem Boden entstieg Wärme und die Weinrose auf einem Landhäuschen badete sie in ihrem würzigen Duft. Hier und da kamen Gestalten aus den konvergierenden Heckenwegen und schritten an ihnen vorbei. Sie schlenderten gemächlich dahin, starrten die Fremden an, plauderten miteinander und entschwanden in den Landhäusern auf der Höhe des Abhanges . . . Eine Turmuhr schlug sieben, und rund um den schattigen Lindenbaum hob ein Käfer oder sonst ein schwerfälliges Insekt seine brummenden Sturzflüge an. Alles war so ganz wundersam bei gesundem Verstand und schlummerhaft . . . Die weiche Luft, die beim Sprechen gedehnten Worte, die Gestalten und das leise Rauschen, der hinansteigende Geruch von dem Holzrauche frisch angezündeter Feuer – all das war erfüllt vom Geist der Sicherheit und Heimatlichkeit. Wahrlich wie fern lag die Außenwelt. Typisch für eine gewisse Inselnation war dieses Zufluchtsnest – wo die Menschen stille in die Höhe wuchsen, sich mästeten und ohne viel Aufhebens ihre Lebenszweige durchsägten; wo die Genügsamkeit wie in der Sonne blühende Sonnenblumen erblühte . . .
Crockers Mütze glitt herab. Er nickte ein und Schelton sah ihn an. Er war der Sprößling eines Herrenhauses in irgendeinem solchen Dorfe. Zu einem von tausenden solcher Heime sollte auch er schließlich seinen Weg finden – weder berührt von den Kämpfen mit Hungersnöten oder der Pest, noch gar angesteckt in seinen Fibern, seinen Vorurteilen und seinen Grundsätzen, unverändert, trotz Berührung mit fremden Völkern, neuen Verhältnissen, seltsamen Gefühlen oder eigenartigen Gesichtspunkten . . .
Der Käfer schwirrte gegen seine Schulter, ergriff abermals die Flucht und brummte hinweg. Crocker richtete sich auf. Und sein liebenswürdiges Antlitz Schelton zuwendend, versetzte er dessen Arm einen leichten Stoß.
»Worüber denkst du denn so nach, Bird?« fragte er.