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Vierzehntes Kapitel

Auf einem Ausläufer der zum Meer abfallenden Sussex-Hügel, landeinwärts von Nettlefold, steht ein Buchenhain. Der Wanderer, der aus der Hitze und dem grellen Licht des Tages kommt, legt, ehe er ihn betritt, vor diesem Heiligtum im Geist die Schuhe ab; und wenn er über den grünen Teppich schreitend die Mitte des Buchenwalds erreicht hat, läßt er sich nieder, die Stirn von der frischen Luft und der Stille gekühlt. Denn das Spiel des Sonnenlichtes auf dem Boden unter jenen Zweigen ist blaß und spärlich, kein Insekt summt, die Vögel sind fast stumm. Und nahe den Bäumen am Rande des Hains sind die friedfertigen, milchweißen Schafe versammelt, die der Mittagshitze entfliehen wollen. Hier, den Gefilden und Wohnstätten, dem unentwirrbaren Netzwerk menschlichen Tuns und dem Dunst menschlicher Reden entrückt, fühlt sich der Wanderer feierlich gestimmt. Alles scheint hier die Gottheit zu verkünden: die großen, weißen, beschwingten Wolken über ihm, das leise, sehnende Raunen der Zweige, und in weiter Ferne die See. Und für kurze Zeit schwindet seine Rastlosigkeit und Angst vor dem Frieden Gottes.

So erging es Miltoun, als er drei Tage nach jener leidenschaftlichen Nacht diesen Tempel erreichte, nachdem er stundenlang schwer mit sich kämpfend allein umhergeirrt war. Während jener drei Tage hatte ihn die steigende Flut mit fortgerissen; und nun war er aus London, wo das Nachdenken unmöglich war, geflohen und hatte sich in die Einsamkeit des Hügellands begeben, um sich über seine neue Lage klarzuwerden.

Denn diese Lage schien ihm sehr ernsthaft zu sein. Im Taumel der Erfüllung existierte für ihn keine Frage des Verzichts. Sie gehörte ihm, er ihr, das stand fest. Was aber sollte er nun tun? Es war keine Aussicht vorhanden, daß sie frei werden könnte. Nach der Anschauung ihres Gatten schien eine Ehe unter keinen Umständen lösbar zu sein. Auch hätte eine Scheidung Miltoun die Sache nicht erleichtert, da er sich und sie für schuldig hielt, und für Schuldige eine Ehe unmöglich gewesen wäre. Sie wünschte allerdings nichts Besseres, als ihm im geheimen anzugehören; und diesen Ausweg würden, wie er wußte, die meisten Männer ohne weitere Bedenken einschlagen. Es gab keinen stichhaltigen Grund in der Welt, warum er nicht so handeln und sein sonstiges Leben unverändert weiterführen sollte. Es wäre bequem und nichts Außergewöhnliches. Und er wußte, daß sie in ihrer Selbstverleugnung nicht unglücklich darüber sein würde. Doch das Gewissen in Miltoun war eine furchtbare und leidenschaftliche Macht. Während er im Delirium gelegen hatte, war es zu dem großen Antlitz geworden, das über ihn hinweggeschritten war. Und obgleich während der Wochen seiner Erholung alle Kämpfe aufgehört hatten, überfiel ihn jetzt, da er seiner Leidenschaft nachgegeben, das Gewissen in einer neuen und traurigen Gestalt, um wieder über seinem Herzen zu Gericht zu sitzen. Er wollte und mußte die Sache ihrem Gatten mitteilen; aber selbst wenn das keinen offenen Skandal hervorriefe, durfte er die Leute weitertäuschen, die sich von ihm nicht länger vertreten lassen würden, wenn sie von seiner unerlaubten Liebe wüßten? Wenn es bekannt würde, daß sie seine Geliebte war, so konnte er seine Stellung im öffentlichen Leben nicht länger behalten – gebot ihm daher nicht seine Ehre, freiwillig zurückzutreten? Tag und Nacht verfolgte ihn der Gedanke: ›Wie kann ich, wenn ich die Autorität mißachte, selbst Autorität über meine Mitmenschen ausüben wollen? Wie kann ich in öffentlicher Stellung bleiben?‹ Wenn er aber nicht in öffentlicher Stellung bliebe, was sollte er dann anfangen? Eine solche Lebensführung lag ihm im Blut; dafür war er geboren und erzogen worden; schon als Knabe hatte er an nichts anderes gedacht. Es gab keine andere Beschäftigung, kein anderes Interesse, das ihn auch nur einen Augenblick lang hätte fesseln können – und er sah nur zu deutlich, daß seine eigentliche Existenz durch diesen Verzicht vernichtet wäre.

So wütete der Kampf in seiner stolzen, zerrissenen Seele, die alles so entsetzlich schwer nahm: seine Natur befahl ihm gebieterisch, seine Arbeit und die Möglichkeit, sich nützlich zu erweisen, nicht fallen zu lassen; sein Gewissen sagte ihm ebenso unerbittlich, daß er, wenn er Autorität üben wollte, ihr erst selbst gehorchen müsse.

Er betrat den Buchenhain, als sein Elend den Höhepunkt erreicht hatte, vor Empörung flammend über den Zwiespalt, in den das Schicksal ihn gestürzt hatte; von plötzlichem Groll gegen eine Leidenschaft heimgesucht, die ihn dazu zwang, entweder seine Karriere oder seine Selbstachtung zu opfern; von Gewissensbissen gefoltert, daß er seine Liebe zu jenem sanften Wesen auch nur einen Augenblick so verraten konnte. Das Antlitz Luzifers war nicht finsterer, sah nicht gequälter aus, als das Antlitz des Mannes im Zwielicht des Hains, der so hoch erhaben war über jenen Königreichen der Welt, um die sein Ehrgeiz und sein Gewissen kämpften. Er warf sich zwischen den Bäumen nieder, und wie er die Arme ausstreckte, berührte er zufällig einen Käfer, der über den unbewachsenen Boden zu kriechen versuchte. Irgend ein Vogel hatte ihn verstümmelt. Miltoun faßte das kleine Geschöpf. Der Käfer konnte zwar nicht weiter, aber das Schicksal, das Miltoun selbst bevorstand, blieb ihm erspart. Der Käfer war sich der Vernichtung seines Lebens nicht bewußt, wie Miltoun es sein würde, wenn er keine Bewegungsmöglichkeit mehr hätte. Miltoun würde sich noch immer als überflüssiges Geschöpf herumkriechen sehen, nachdem seine Kraft von ihm genommen wäre. Dieser Gedanke marterte ihn. Warum hatte es geschehen dürfen, daß er sie kennen lernte, sie liebte und von ihr geliebt ward? Was hatte ihm vom ersten Augenblick an ein so zuversichtliches Gefühl gegeben, wenn sie nicht für ihn bestimmt war? Wenn er auch hundert Jahre alt würde, er würde nie mehr wieder eine andere lieben. Warum mußte er um seiner Liebe willen Kraft und Wollen eines Mannes begraben? Wenn in der göttlichen Weltordnung nicht mehr Logik zu finden war, dann könnte auch er ohne Logik handeln! Dann könnte er Autorität üben und dabei außerhalb der Autorität leben! Warum sollte er seine Kräfte einer Folgerichtigkeit zuliebe ersticken, die gar nicht existierte? Das wäre tatsächlich eine Tollheit, noch ärger als die einer tollen Welt!

Aber aus dem stillen Hain kam keine Antwort auf seine Fragen, es sei denn das Girren einer Taube oder das leise Stampfen der Schafe, die wieder ins Sonnenlicht hinaustraten. Unmerklich aber stahl sich diese Stille in Miltouns Herz. ›Wird es im Grab einmal so sein?‹ dachte er. ›Sind die Zweige dieser Bäume die dunkle Erde über mir? Und das Säuseln in ihnen das Geräusch, das die Toten vernehmen, wenn die Blumen wachsen und der Wind über sie hinstreicht? Und ist das Empfinden dieser Erde dem Empfinden gleich, wenn man so daliegt und immerzu ins Nichts emporblickt? Ist das Leben etwas andres als ein Alpdrücken, ein schwerer Traum, und ist nicht dies die Wirklichkeit? Und warum rase ich, wenn meine im All so unwichtige Flamme flackert, da doch gar kein Wind sie bewegt und nur die Blüten des Sonnenlichts auf mich niederrieseln? Warum nicht meinen Geist schlummern lassen, statt daß er sich in Raserei verzehrt? Warum soll ich nicht gleich verzichten, um auf das Wesentliche zu warten, von dem dies Leben nur der Schatten ist?‹

Und mit angehaltenem Atem lag er da und blickte zu den regungslosen, dunklen Zweigen empor, die nur kleine Fleckchen des glänzenden Himmels durchschimmern ließen.

›Ist Frieden nicht genug?‹ fragte er sich. ›Ist Liebe nicht genug? Kann ich mich damit nicht zufriedengeben wie ein Weib? Bedeutet nicht dies das Glück und die Erlösung? Was ist alles übrige? Nur Schall und Rauch?‹

Und als fürchte er, diese Gedankenreihe zu verlieren, erhob er sich und eilte aus dem Hain.

Die ganze weite Landschaft von Feld und Wald, die von den blassen Straßen durchschnitten wurde, schimmerte in der Nachmittagssonne. Dies Land war nicht wild und winddurchbraust, es leuchtete nicht rot und purpurn und wurde von keinen grauen Felsen bewacht; es war kein Heim der Winde und der heidnischen Götter. Alles atmete heitere Ruhe und lag silbern-golden da. An Stelle des schrillen, klagenden Pfeifens des jagenden Falken, das sich im Winde halb verliert, ließen unsichtbare Lerchen Hymnen an die Ruhe zur Erde niederschweben; und selbst das Meer, dessen Ufer kein abenteuernder Geist mit seinen Schwingen streifte, schien an der Seite des Landes ruhevoll dazuliegen.


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