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Fünfzehntes Kapitel

Als am Nachmittag des gleichen Tages Miltoun nicht erschien, überfielen all die eisigen Zweifel, die nur seine Gegenwart allein in Schach hielt, rasch und unwiderstehlich Audrey, die nur zu geneigt war, ihrem Glücke zu mißtrauen. Es konnte ja nicht dauern, das war ja nicht möglich.

Seine Natur war von der ihren so grundverschieden! Selbst während ihrer Hingabe, die solche Seligkeit gewesen war, hatte sie noch gezweifelt; denn er hatte so viel in sich, das für sie ein Geheimnis bedeutete. Alles, was er in der Natur und Poesie liebte, hatte etwas Rauhes und Überwältigendes an sich. Das Sanfte und das Innige, das Verfeinerte und Harmonische schien ihn kalt zu lassen. Er hatte keine besondere Vorliebe für alle jene einfachen und natürlichen Wesen und Dinge: Vögel, Bienen, Tiere und Blumen, die ihr so köstlich und göttlich schienen.

Obgleich es noch nicht vier Uhr war, begann sie den Kopf hängen zu lassen wie eine Blume, die nach Wasser dürstet. Doch sie setzte sich entschlossen ans Klavier, um zu spielen, bis der Tee käme; sie spielte immer weiter, aber nur mit halber Seele, die andere Hälfte ihrer Seele irrte in der Stadt umher und suchte Miltoun. Nach dem Tee begann sie erst zu lesen, dann zu nähen und ging endlich wieder zum Klavier zurück. Die Uhr schlug sechs; und als hätte der letzte Schlag die Schutzwehr ihrer Seele durchbrochen, fühlte sie sich auf einmal vor Angst ganz elend. Warum blieb er so lange aus? Doch sie spielte weiter, wandte die Blätter um, ohne die Noten aufgefaßt zu haben; der Gedanke, daß er wieder krank sein könnte, verfolgte sie. Sollte sie telegraphieren? Aber welchen Zweck hätte es, da sie keine Ahnung hatte, wo er sein mochte? Und der ganze unvernünftige Schrecken darüber, daß sie nicht wußte, wo der Geliebte war, packte sie derart, daß sie ganz starr ihre Hände von den Tasten sinken ließ. Nicht mehr imstande, ruhig zu bleiben, wanderte sie vom Fenster zurück. Unbestimmte, stets wachsende Angst brütete über ihr wie eine Wetterwolke. Wie, wenn dies das Ende wäre? Wie, wenn er es für barmherzig hielte, sie so zu verlassen? Nein, so grausam würde er gewiß nie sein! Auf diesen schmerzlichen Gedanken folgte sogleich die Reaktion: Sie schalt sich eine Närrin. Er war im Parlament; irgend etwas ganz Gewöhnliches hielt ihn dort zurück. Es war lächerlich, sich zu ängstigen! An Derartiges würde sie sich jetzt gewöhnen müssen. Ihm zur Last zu fallen wäre entsetzlich. Lieber – jawohl – lieber wollte sie, daß er gar nicht wiederkäme! Und sie griff wieder zu ihrem Buch, mit der Absicht, ruhig zu lesen, bis er käme. In dem Augenblick aber, da sie sich hinsetzte, kehrte ihre Angst mit verdoppelter Kraft zurück – das frostige, krankmachende, entsetzliche Gefühl der Ungewißheit, der Überzeugung, daß sie nichts andres tun konnte als warten, bis irgend etwas, das nicht in ihrer Macht stand, sie befreite. Und in dem Aberglauben, daß er nicht kommen würde, wenn sie vom Fenster nach ihm ausschaute, ging sie ins Schlafzimmer. Von dort konnte sie die dunkelroten Wolken des Sonnenuntergangs, die über der Themse standen, beobachten. Ein schwacher, säuselnder Wind schauerte an den Häusern entlang; die Dämmerung begann heranzuschleichen. Sie wollte das Licht nicht anzünden, da sie nicht zugeben mochte, daß es spät geworden war, sondern begann sich umzukleiden, wobei sie verzweifelt bei jeder kleinen Einzelheit ihrer Toilette verweilte; es verschaffte ihr einen leisen, geheimnisvollen Trost, wie sie sich dazu zwingen wollte, sich schön zu fühlen. Aus Angst, ins Wohnzimmer zurückzugehen, ehe er kam, löste sie ihr Haar und begann es zu bürsten, obgleich es ganz glatt gekämmt war. Plötzlich erschrak sie heftig über ihre Bemühungen, sich zu schmücken – dadurch, daß sie besondere Vorbereitungen zu seinem Empfange traf, schien sie das Schicksal herauszufordern. Bei dem leisesten Geräusch hielt sie inne und stand lauschend da – von ihrem Haar und ihren Augen abgesehen, so weiß von Kopf zu Fuß wie eine volle Narzisse, die in der Abenddämmerung sich einem leisen Lied entgegenbiegt, das irgendwo im Feld erklingt. Aber alle diese schwachen Geräusche hörten eines nach dem andern auf – sie hatten nichts bedeutet; und jedesmal begann ihr Geist, wenn er in das Zimmer mit den hellen Wänden zurückkehrte, aufs neue ihre zögernden Finger zu beseelen. Während jener Stunde im Schlafzimmer durchlebte sie Jahre. Es war dunkel geworden, als sie es verließ.


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