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Als die Glocke zum letzten Male erklang

Wie ein Riß ging es durch alle Herzen im Dörflein, als es hieß: Die Glocke ist beschlagnahmt. Die Glocke wird gebraucht für den Krieg. Aus der Glocke werden Kanonen und Geschosse gemacht. Auf der Straße redeten sie davon, in den Häusern, im Wirtshaus, am Felde, bei der Arbeit, überall.

Nur in den beiden letzten Häusern von Mittergraben, die schon hart am Walde oben standen, wurde nichts darüber geredet. Warum? Weil in jedem der beiden Häuser nur ein einziger Mensch wohnte: die Wisgrill Leni und die Grimsenbacher Resl. Weder die eine noch die andere hatte jemand, mit dem sie das Ereignis hätte besprechen können. Das klingt recht sonderbar: zwei alte Weibsleute, die Häusl an Häusl wohnen, die sollten nach der allgemeinen Regel nur ein Wolkenbruch oder der Gottseibeiuns selber auseinanderjagen können. Hier war die Sache anders. Mehr als ein Jahrzehnt war schon verflossen, seit die Leni mit der Resl das letzte Wörtl geredet hatte, und das war nicht eben ein liebes, gutes Reden gewesen, sondern im Gegenteil ein recht böses, gehässiges. Damals war der Streit wegen der Wiese hinter den beiden Hütten zugunsten der Grimsenbacher Resl entschieden worden. Die Leni schrie, was ihre guten Lungenflügel herausbrachten, über den Zaun, der die beiden Gemüsegärtchen trennte, allerlei von Ungerechtigkeit, Falschheit und Niedertracht, worauf die Resl ihrerseits wacker die ausgewachsenen Keppelzähne gebrauchte.

Seither herrschte tiefes Schweigen hüben und drüben. Wenn die Resl in ihrem Gemüsegarten neue Pflanzen setzte, hörte die Leni daneben sofort mit dem Umgraben auf. Lieber sollte ihr Kohl vierzehn Tage später gut werden, wenn sie nur nicht Seite an Seite mit ihrer Freundin arbeiten mußte.

Es war daher immer der Wisgrill Leni sehr zuwider, wenn ihr die Grimsenbacher Resl auf der Dorfstraße über den Weg lief. In der Kirche war es weniger gefährlich. Ein vorahnend Geschick hatte vorgesorgt, daß die beiden Kirchstuhlplätze auf entgegengesetzten Seiten lagen, daß nicht leicht ein Zusammenstoß der beiden feindlichen Mächte erfolgen konnte. Der alte, milde Pfarrer war tief bekümmert über die beiden Böcke. Er predigte des öftern gar eindringlich über das Thema: »Wenn du deinem Bruder zürnest, so laß die Sonne nicht untergehen über deinem Groll!« Doch weder die Leni noch die Resl schien die Sache auf sich zu beziehen, sondern jede ließ in ihrem Innern die gesamte Männerwelt von Mittergraben Spießruten laufen, und jede fand wirklich zwei feindliche Brüder, nämlich den Straßengler Toni und seinen Bruder Martl, die sich wegen des mütterlichen Erbteils herumstritten. Also wegen »die« hat der Pfarrer so ernst geredet! Ja, ja, es is auch aus der Weis', wenn leibliche Brüder aufeinander sind wie Hund und Katzen! Sowohl die Leni als auch die Resl gingen sittlich entrüstet über den ärgerniserregenden Zwist im Hause Straßengler und verstockter als je aus der Kirche.

Als die Resl am Tage darauf beim Kaufmann Flitz Kneippkaffee kaufte – der Flitz war seines Zeichens ein »Schlankl« und erlaubte sich manches zu sagen, woran nicht einmal der Pfarrer zu rühren wagte – bekam sie zur Draufgabe die Mahnung: »Na, alsdann, Resl, hiaz wirst do der Leni so a Bußl geb'n hab'n nach der gestrig'n Predi!«

Der Resl gelbliches Gesicht, das ohnedies immer aussah wie eine eingeschrumpfte Zitrone, wurde jetzt orangegelb, und ihre schwarzen Augen durchbohrten den kecken Flitz, der sich lachend hinter die »Pudel« flüchtete.

»Die Predi? Die soll'n s' beherzig'n, die s' anganga is. Bin i leicht a Mannsbild, was an Bruad'rn hat? Und was mit eahm streit'?«

»Na, aber a Nachbarin hast, auf die d' a G'sicht schneidst wia 'n Teifi sei' Großmuatta!«

»Ah, das wär' guat! Möcht' mir der predig'n, was i für a G'sicht z' mach'n hab'. So a kecker Kerl!«

Warf das Geld hin, nahm das Paket und war bei der Tür draußen.

Nach zehn Minuten kam die Leni und verlangte ein Kilo Würfelzucker.

Gleich fing der Flitz wieder von »derer wunderschönen Predi« an, die der Herr Pfarrer gestern g'halt'n hat.

Der kleine Kopf der Leni, der fast immer in Bewegung war, nickte eifrig, daß die grauen Haarsträhne hin- und herflogen.

»Wohl! Aber wia 's halt scho' allerweil is: Die, was s' anganga is, die war'n net.«

»Net?« wunderte sich der Flitz. »I denk', i hab' s' g'sehn!« »Koa Spur net!« ereiferte sich die Leni. »All zwoa Plätz' war'n leer. San do' grad vor mi. Da wir i 's do' wiss'n.«

Jetzt wußte der Flitz auch darüber Bescheid und war still. Sich's mit beiden zu verderben, war doch gar zu gefährlich.

Bald darauf erkrankte die Grimsenbacher Resl gefährlich an Lungenentzündung. Die Leni war nun ganz unbehelligt in ihrem Garten und Hof. Sie konnte zum Brunnen gehen oder unter den Krautpflanzen Unkraut jäten, wann sie wollte, das heißt, ohne daß sie erst durch Eckfenster einen Späherblick ins Nebenhaus werfen mußte, um zu sehen, daß sie mit »derer bösen Person« nicht zusammentreffen würde.

Die böse Person lag ächzend auf dem großen Himmelbett in der muffigen Stube, und der Doktor, der eine Stunde Radfahrt nach Mittergraben hatte, war schon zweimal dagewesen und hatte ein bedenkliches Gesicht gemacht. Die Pruggmaierin, die eine entfernte Verwandte der Resl und die mutmaßliche Erbin war, hatte sich im Grimsenbacher Häusl einquartiert und hantierte gewissenhaft mit Umschlägen und Salben an dem verschrumpften Körper der Resl herum, wie es der Doktor angeordnet.

Die Leni, die ganz triumphierend im Hofe saß und Erbsen las, hörte das Ächzen und Jammern der Resl in die tiefe Stille herüber. Aber sie dachte dabei nichts als: »Das sin' die Gewissensbiss'. Hiatz fürcht' sie fi' vor'n Grasbeiß'n. Weil s' gar a so bös' war. Ja, ja.«

Und die Resl auf dem Krankenbett jammerte in einem fort: »Das möcht' ich wiss'n, warum grad i a so dalieg'n muaß. Die Böse daneb'n, die rennt umanander wia a Wiesel.«

Der Herr Pfarrer besuchte die Kranke mehrmals. Einmal, als ihm ihr Zustand bedenklich erschien, sagte er mit seiner sanften, eindringlichen Stimme: »Nit wahr, Resl, und Groll im Herzen – das darf eine gute Christin nit haben. Dagegen heißt es wacker ankämpfen. Das schönste Beispiel in der Nächsten- und Feindesliebe gibt uns ja Christus selbst.«

»Herr Pfarrer!« krächzte da die Stimme der Resl aus den turmhohen, violett bezogenen Polstern heftig hervor: »Daß die daneb'n a so a böse Person is, mir mei Recht net lass'n will, da kann do i nix davor! Da waß scho' der Herrgott. Der sieht ihr eini in ihr kohlschwarz's Herz. Da fürcht' i mir gar net. Und überhaupt i stirb net. Die Freud' wir' i derer machen! Freili'!«

Der gute Pfarrer ging traurig heim.

Die Resl starb denn auch wirklich nicht, sondern ging nach drei Wochen wieder rüstig ihrer häuslichen Arbeit nach; molk und betreute die zwei Ziegen, führte sie auf die heißerstrittene Wiese, besorgte ihren Gemüsegarten und kochte sich die gewohnte Riesenration Kaffee.

So lebten die beiden Haus an Haus, Garten an Garten nebeneinander, nur von einem dünnen Lattenzaun und von ihrem Haß, der größer, breiter und höher war als die dickste, dauerhafteste Steinmauer, getrennt. Trugen beide ihre Einsamkeit, ihre Mühsale, die täglichen Hauskreuzlein, kurz das ganze Lebenskreuz, das auf den Schultern solch eines alten Weibleins lastet, und seit zwei Jahren noch dazu das Kriegskreuz mutterseelenallein. Und waren recht, recht unglücklich dabei.

Von drüben tönte die Stimme der Leni herüber. Die Resl horchte. Mit wem tratscht die daneben? Sieht ihr gleich, derer. Muß allweil Lärm machen. Bei der Arbeit mit den Händen oder jetzt wieder mit dem Mund. Die Resl äugt eifrig durchs Küchenfenster. Da sieht sie die Leni, wie sie mitten unter ihren Hühnern steht und ernsthaft sagt:

»Ja, meine liab'n Biberln, hiatz is aus mit'n Woaz, hiatz haßt's fast'n und mit a paar Kleib'n z'frieden sein. Hiatz is Krieg, wißt's?«

Die Hühner stehen ruhig da und sehen erwartungsvoll zu ihrer Herrin auf. Zufrieden picken sie das Kleienfutter, das ihnen die Leni in einem Holztröglein hinstellt und dabei seufzt:

»Ja, ja, ös seid's halt meine brav'n Biberln. Hab' eh neamd als eng. Eng und meine Goaß'ln, gelt's?«

Es klang eine geheime Sehnsucht aus der Stimme des alten Weibleins. Die Vogelbeeraugen wanderten hinüber in den Nachbarhof. Der war leer und schien zu schlafen. Daß sich der kleine rote Vorhang am Küchenfenster der Resl auffallend bewegte, nahm die Leni nicht wahr.

So ging die Zeit dahin. Erst die ruhige, satte Friedenszeit, dann die sorgenschwere Kriegszeit.

Da war es an einem heißen Augusttag, daß der seltene Fall eintraf, daß beide, die Leni und die Resl, dringend im Garten zu arbeiten hatten. Die Leni mußte unbedingt heute noch die Erdäpfel »anhäufeln« und die Resl mußte den »Endifei« setzen, wenn in diesem Herbst noch was draus werden sollte.

Die Sonne verschwendete nur so mit ihren goldenen Strahlen, und beiden, der Leni und der Resl, stand der Schweiß auf der Stirne. Aber sie wischten sich nicht ab. Sie nahmen sich nicht Zeit und – da hätte etwa eine dabei vom Boden aufgesehen und wäre dem Blick der anderen begegnet ...

»Nur bald firti' werd'n«, dachte sich die Resl. »Wann die Pflanz'n net ganz abwelk'n tat'n, ließet i's für auf d' Nacht.«

»Nur ferm weiter!« munterte sich die Leni auf. »Wann net na'mittag a Wetter kummert, schiabet i's no' auf. Aber heut' wird's noch krach'n. Die Hitz' hiatz und is no net neune!«

Da rennt die Pruggmaierin in den Hof der Resl. Stürzt aus 'm Gartentürl und schreit: »Waßt es scho', Resl-Mahm, unsa Glocken wird hiatz bald abag'numma. Um neune wird's zum letzten Male g'läut'.« Wie der Blitz ist das junge Weib wieder draußen.

Die Resl steht jetzt groß und erschrocken da.

Die Leni – klein und auch erschrocken.

Die Salatpflanzen der Resl liegen welkend in der Sonne. Die Haue der Leni liegt schief über einer Erdäpfelstaude. Jetzt schlägt's vom Turme neun Uhr. Es ist Freitag. Freitag um neun Uhr hat die Glocke immer geläutet: »Scheidung Christi«. Und die Mittergrabener haben für ein paar Minuten die Arbeit ruhen lasten, haben zum Kreuz in der Ecke aufgeblickt und gebetet: »Es sind Finsternisse geworden über dem ganzen Erdenkreis um die Stunde, als die Juden den Herrn Jesum gekreuzigt hatten ...«

Als der letzte Schlag der Turmuhr verklungen war, horch, da hub die todgeweihte Glocke an zu läuten: ernst und traurig, leidvoll und ergeben sang sie ihr Abschiedslied – »Scheidung«.

Da drang es heiß in die Augen der Resl, und da würgte es die Leni im Hals, und sie standen da mit gefalteten Händen und ihre Augen begegneten sich ... Und in beiden Augenpaaren war ein und derselbe Schmerz und ein und dieselbe Traurigkeit.

So standen sie eine Weile, unbeweglich, starr, erstaunt und dann wieder so seltsam bewegt, bis die Resl laut zu beten anfing:

»Es sind Finsternisse geworden über dem ganzen Erdkreis ...«

Und die hohe Stimme der Leni fiel mit einem Male ein:

»Und um die neunte Stunde rief der Herr Jesus: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Worauf die Resl weiterbetete:

»Jesus rief abermals mit lauter Stimme und gab seinen Geist auf ...«

Und beim darauffolgenden Vaterunser, bei der Bitte »Vergib uns – wie auch wir vergeben –«, klang da nicht die Stimme der scheidenden Glocke mit einem Male so süß, so versöhnend, so mild, wie die Stimme einer sterbenden Mutter, die ihre Kinder zum Frieden mahnt?

Es mußte wohl so sein. Denn die Resl und die Leni gaben sich plötzlich weinend die Hände über den Zaun – o, es ging so leicht! Sie staunten jetzt, wie leicht das ging – und die Leni, deren Zünglein doch immer das flinkere blieb, sagte:

»Unser liabe, schöne Glock'n! Wie mir load is!«

»Mir is a so load!« sagte die Resl.

Und die Glocke schloß mit einem Male die ganze Zwietracht und Abneigung der beiden in sich ein und wollte all das Häßliche bei ihrem Scheiden für immer mit sich nehmen.

Jetzt war es der Resl und auch der Leni, als läute die Glocke nicht mehr so traurig.

Sie hörten recht. Das bittere Scheiden war ihr versüßt: denn sie hatte, da sie Abschied nahm, um in den Krieg zu ziehen, ein selig Friedenswerk vollbringen dürfen.


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