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Von der Hüttentüre führt ein schmaler Gang durch die Schneemassen. Wenn er nach der Schnur gemacht wäre, sähe man durch ihn in das Tal hinab. Vor den beiden Hüttenfenstern ist die Schneemauer mehr als drei Meter hoch. Der an dem einen Fenster sitzenden Großmutter zeigt sich über dem vielen Weiß kaum ein Streifchen des Himmels. Sie blickt auch gar nicht empor, sondern immer mit starren, leeren Augen in den Schnee hinein. Neben ihr steht ein fünfzehnjähriger schlanker Junge. Der scheint nicht glücklicher zu sein als die Alte. In dem alten Gesicht fällt der Ausdruck der Sorgen nicht auf, aber das junge entstellt er auf eine schier schreckhafte Art. Das wäre sonst ein außergewöhnlich hübsches Gesicht. Eine Weile schauen die beiden geradeaus. Hinter ihnen im dunklen Stubenraum tollen unterdessen zwei Kinder, ein fünfjähriger Knabe und ein dreijähriges Mädchen. Die sind glücklich. Die Großmutter blickt jetzt einmal nach den Kleinen zurück, dann seufzt sie und spricht leise zu dem jungen Burschen: »Ja, es geht nicht anders, Sepperl. Die zwei dürfen es nicht erfahren, daß jetzt Weihnacht ist, sonst fangen sie zu wünschen an, und wir haben diesmal nichts, um ihnen eine halbwegs richtige Weihnacht bereiten zu können. So müssen wir ihnen das liebe Christkindlein verleugnen. Das ist recht traurig, aber es geht nicht anders.«
Sepperl war an die Armut schier so weit gewöhnt, als das möglich ist. Aber diesmal tat sie ihm recht besonders weh. Er und die Alte hatten sich seit Wochen bemüht, um doch etwas für das Fest aufzubringen. Aber ihrem Werk blieb das nötige Glück aus. Noch im strengsten Winter hatten sie auf ihrer Berghalde Kies gegraben und für eine Fuhre recht schöner weißer Steine bekamen sie unten in der Glashütte vier Kronen. Ehe sie den Kies verfrachten konnten, stellte der Schnee in der Gegend alles Fuhrwerk ein. Anderswie konnten die zwei hier unmöglich etwas verdienen. Die Großbauern des Tales hatten im Winter für ihr eigenes Gesinde zu wenig Arbeit, und sonst gab es hier niemanden, der den Armen Verdienst gewähren konnte.
Sepperl hatte übrigens in der Hütte genug zu tun. Die Großmutter war in der letzten Zeit recht arbeitsuntüchtig geworden, da fielen ihm fast alle häuslichen Geschäfte zu. Die Erlebnisse des nun zu Ende gehenden Jahres hatten der Kraft des alten Weibes den Rest gegeben. Im Frühjahr war der Vater der drei Kinder gestorben und im Herbst die Mutter. Mit dem Schmerz kehrte auch die Armut hier ein. Der Vater war ein Holzflößer gewesen. Er verdiente bei seinem Geschäft mehr, als der zu Hütte gehörende Acker abwarf. In einem guten Erntejahre hätten die Hinterbliebenen von diesem Acker leben können. Aber heuer war das Korn schlecht geraten. Sie mußten mit ihrem Wintervorrat recht sehr sparen, sonst kam für sie eine gar böse Zeit.
Sepperl glaubte nun trotz allem noch nicht daran, daß es diesmal in der Hütte ohne Christbescherung abgehen müsse. Es gab hier nichts, was er hätte verkaufen können, ohne es nachher schwer zu entbehren. Auf dem Dachboden lag ein kleines Häuflein Hafer, das sollte im Frühjahr ausgesät werden. Davon wollte er die Hälfte nehmen und in das Tal zum Krämer tragen; der gab ihm dafür gewiß gerne Nüsse, Äpfel und Christbaumkerzen. Der Großmutter war alles recht, was Sepperl tat, die brauchte er um nichts zu fragen. Er fragte sie nun aber doch, und sie billigte seinen Entschluß.
So ging er denn mit einem halben Metzen Hafer in das Tal. Die Rückenlast machte ihm bei aller Kälte des klaren Wintertages warm genug. Der Krämer war zu dem ihm zugemuteten Handel gerne geneigt. Sepperl bekam für den Hafer mehr, als er erhofft hatte, und war nun ganz glücklich. Vom Krämer wollte Sepperl auf einem weiten Umweg nach Hause gehen. Im oberen Tal hatte er einen alten Verwandten, den bat er um einen kleinen Tannenbaum. Der Alte besaß ein Stück Wald. »Dort kannst du dir einen jeden Baum nehmen, den du erträgst«, sagte er zu Sepperl.
Im Sommer hätte nun Sepperl die Grenzen dieses Waldes ganz genau an den Rainsteinen erkannt, aber jetzt waren die Markungen tief verschneit. So kam es, daß Sepperl nicht auf dem Grunde seines Vetters, sondern auf demjenigen des jungen Fentnerbauern ein Tannenbäumchen abschnitt. Der Fentner war nun gerade in seinem Walde. Er stellte hier den Füchsen und Mardern Fallen auf, das war im Winter seine Lieblingsbeschäftigung. Er sah jetzt Sepperl früher als dieser ihn, und er dachte es sich gleich, warum der arme Junge in den Wald kam. Der Fentner gehörte zu den Leuten, die es für unrecht halten, daß zu Weihnachten junge Bäume umgebracht werden. Auf seinen eigenen Wald war er besonders bedacht. Er wollte sich nicht einmal einen Tannenzapfen oder eine Fichtennadel nehmen lassen. So betrachtete er nun das, was Sepperl tat, für ein großmächtiges Verbrechen. Bei seiner Entrüstung über den Jungen freute er sich auch, daß er denselben abfassen konnte. Er schlich sich zu dem keine Gefahr ahnenden Jungen hin, während dieser den gefällten Tännling von den untersten, schon dürr gewordenen Asten säuberte. Sepperl schrie vor Schreck laut auf, als er sich plötzlich angepackt fühlte. Der kraftvolle junge Bauer griff gleich grob genug zu.
»So einen Waldmörder hätte ich schon längst gerne erwischt«, sagte er. »Jetzt hab' ich einen!«
»Laßt mich doch aus!« schrie Sepperl. »Mein Vetter hat mir ja den Baum geschenkt.«
»So?« lachte der Zentner. »Einen Baum, der auf meinem Grund steht? Komm nur mit! Du sollst sehen, was der Baum kostet!«
Sepperl bekam eine unbeschreibliche Angst. »Ihr werdet mich doch nicht quälen wollen?« sagte er. »Ich bitte Euch, laßt mich zu den hilflosen Armen gehen, die auf mich matten.«
Dem Mann machte die Angst des Jungen ein großes Vergnügen. »Du wirst ganz wo anders hingehen«, sagte er. »Heute sperr' ich dich in meinen Keller und morgen führ' ich dich in das Kirchdorf und übergebe dich den Gendarmen. Du wirst solche Feiertage kriegen, wie du sie verdienst. Und jetzt reich' mir deine Hände, daß ich sie dir wie einem richtigen Verbrecher binden kann.«
Sepperl machte nun, anstatt zu gehorchen, einen Fluchtversuch. Aber der Mann holte ihn gleich ein. Dann warf er ihn nieder und band ihm mit einer Rebschnur die Hände am Rücken zusammen. Das Ende der Schnur nahm er in die Faust, und dann trieb er den armen Jungen vor sich her. Als Sepperl seine Ohnmacht einsah, ließ er alles mit sich geschehen. An ihm selbst lag ihm nichts. Er fühlte nur das Leid um seine Lieben.
Das Haus des Fentner war nicht gar weit. Es lag einschichtig auf der Berghalde. Der Fentner bewohnte es über Winter mit seinem Weibe allein. Er brauchte keine Dienstboten. Im Sommer bewältigte er die Feldarbeit mit Hilfe einiger Taglöhner. Im Winter wurden die zwei rüstigen Eheleute mit dem fertig, was es auf dem Hofe zu tun gab. Das Weib hatte kein Kind zu betreuen. Der Eifer, mit dem sie sich auf die Wirtschaft warf, war zum Teil deshalb so groß, weil sie beim Feiern zu viel an dasjenige denken mußte, was ihr zum vollen Eheglück abging. Jetzt sah sie den zwei Ankommenden durch das offene Hoftor entgegen. In ihrem hübschen Gesicht malte sich ein großes Entsetzen. Sie hatte ihren Mann sehr lieb, aber die in seinem sonst rechtlichen Wesen liegende Härte tat ihr manchmal weh genug.
Diesmal hatte sie sich auf eine friedliche Weihnacht gefreut. Und nun sah sie, daß er ihr mit einer grausamen Tat die Friedenszeit verderben wollte. Sie erriet gleich, warum er den Jungen so daherbrachte. Einige Schritte trat sie den beiden vor das Hoftor entgegen und verstellte ihnen den Weg. Sie sah den Mann mit ihren großen Augen ernst und verweisend an. »Mir scheint, du bringst mir eine unrechte Weihnachtsbescherung«, sagte sie. »Lasse mir die vor der Tür! Störe uns nicht die heilige Zeit, wenn es nicht sein muß!«
Er drängte das Weib auf dem in den Schnee geschaufelten Wege gegen das Tor zu. »Du wirst mich nicht anderen Willens machen«, sagte er fest. »Ich tue, was ich für recht halte. Und du sollst mir da nicht einreden.«
Im Hofe stellte sie sich ihm wieder entgegen. »Gut«, sagte sie, »so tue halt wieder, was du willst. Aber vielleicht bringst du mich diesmal doch zu einem eigenen Wollen. Was hat dir denn der arme Zunge da getan?«
»Einen jungen Baum hat er mir um das Leben gebracht.«
»Und dafür quälst du ihn so? Einen Menschen um eines Baumes wegen? Gewiß wollte er jemandem ein Glück bereiten, das hundertmal größer ist als der Schaden, den er dir machte.«
Der Mann zuckte die Achseln. »Mir hat er geschadet. Und die Freuden der anderen gehen mich nichts an.«
»So sprichst du am Christabend?« fragte sie vorwurfsvoll.
Er nickte. »Ja, ich sage heute meine Meinung so klar wie zu jeder anderen Zeit. Der Bub wird in den Keller gesperrt, und morgen kriegen ihn die Gendarmen.«
»So«, sagte sie. »Und derweil du den Buben leiden läßt, soll ich mit dir den Christabend feiern. Anstatt daß wir heute ein Kind erfreuten und dieses uns, bringst du eines her, um es zu quälen. Du willst diese Weihnacht gar zu gottlos abhalten. Wir verlebten ja noch nie so einen richtigen Christabend miteinander. Wir haben noch nie einen Baum angezündet. Du hättest wohl keinen aus deinem Wald gebracht, wenn wir auch ein Kind hätten.«
»Nun vielleicht hat uns Gott darum keines beschert«, sagte sie. Dann fügte sie fest und entschieden fordernd hinzu: »Laß den Buben heimgehen! Es wird Abend.«
»Nein«, antwortete er wieder.
Da wandte sie ihm den Rücken zu und ging in das Haus.
Und er sperrte den armen Sepperl wirklich in den stockfinsteren Erdäpfelkeller. Dann ging er in den Stall, um nach dem Vieh zu sehen. Das Weib zog in der Kammer ein warmes Gewand an. Hernach füllte sie einen großen Henkelkorb mit Selchfleisch, Obst und vielen andern guten Sachen. Mit dem Korb ging sie dann zum Hoftore hinaus. Sie sah gar nicht nach, ob sie von dem Manne bemerkt würde. Er bemerkte sie erst, als sie weit draußen durch den Schnee dahineilte. Es durchfuhr ihn gleich ein wilder Zorn. Er wußte, daß sie nach der Hütte der Armen hinüberging. Ein Weilchen überlegte er. Dann folgte er ihr. Sie kam eine gute Weile vor ihm in der Hütte an. Die zwei Kinder und die Großmutter hatten zuletzt schon recht sehnsüchtig auf Sepperl gewartet. Nun sagte ihnen die Bäuerin, daß sie seiner Statt komme. »Mein Mann hält ihn unten auf«, sagte sie leichthin. »Er will ihm was zu verdienen geben. Es braucht euch nicht bange werden, wenn er euch eine Weile ausbleibt. Sein Aufenthalt bei uns bringt euch sicher etwas ein.« Dann kramte sie ihren Korb aus und sagte zu den Kindern: »Da hat mir das Christkindl etwas für euch mitgegeben. Es will euch aber zu dieser Weihnacht noch mehr schicken.«
Die Kleinen staunten die Bescherung an und die Großmutter sagte: »Das Christkindl hat schon recht, wenn es sich bei uns recht gehörig einstellt. Es soll lieber dort vorübergehen, wo Überfluß ist, und zu uns kommen. Viel fehlte nicht mehr, und wir hätten den Glauben daran verloren, daß es heuer zu uns kommt. Wir meinten, es den Kindern schon verschweigen zu müssen, daß jetzt das Christkindl umgeht.«
Jetzt trat der Fentner in die Stube. Als ihn das Weib sah, setzte es sich so gemächlich auf die Ofenbank, als ob es in der Hütte daheim wäre. Er sah sie finster und dabei doch ein wenig ängstlich forschend an.
»Geh heim«, befahl er ihr dann.
»Ja«, sagte sie. »Ich habe nur hier noch etwas zu tun. Dann gehe ich heim.«
»Tummle dich aber!«, sprach er. »Es gibt dringende Arbeit daheim.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte sie. »Bei uns daheim ist es niemals so eilig. Mein Mütterl und meine zwei Brüder verrichten alles leicht bei uns daheim. Ich werde ihnen zu jeder Stunde recht kommen.«
Jetzt verstand er sie erst. Und da durchfuhr ihn ein gewaltiger Schrecken. Er kannte sein Weib. Sie zeigte selten einen eigenen Willen. Aber wenn sie sich einmal zu etwas fest entschlossen hatte, war sie darin nicht leicht wankend zu machen.
»Ach so«, sagte er. »Du denkst an eine andere Heimat als an deine richtige.«
Sie sah ihn verwundert an. »Ja, glaubst du denn, daß ich noch zu dir gehen will?« fragte sie dann. »Ich habe keine Ursache mehr, zu dir zu gehen. Zum Beieinanderbleiben gehört das, was ich heute verloren hab'. Ich hab' keine Achtung mehr für dich. Und wenn ich früher erkannt hätte, wie hart du bist, da wäre ich früher von dir fort. Jetzt weiß ich, wir gehören nicht zusammen. Ich bin zu weich für dich und du für mich zu hart. Da müßt' ich neben dir zugrunde gehen. Und das mag ich nicht. Da bin ich mir zu lieb. Nicht eine Stunde bleib' ich mehr bei dir. Ich müßte mich zuviel fürchten vor der gottlosen Grausamkeit, die du mir heute bewiesen hast. Heim geh' ich. Dort werde ich mit tausend Freuden wieder aufgenommen. Dort krieg' ich auch eine gute Weihnacht. So lange ich bei dir war, ist der heilige Christ nie recht zu mir gekommen. Neben einem, der die rechte Menschenliebe nicht kennt, da gibt's keine Weihnacht. Und heuer mag ich sie nimmer entbehren. Ja, ich geh' heim.«
Er glaubte nun wirklich, daß sie Ernst habe. Auf so etwas war er nicht gefaßt gewesen. Es schlug ihn förmlich nieder, denn er liebte das Weib mit aller Liebe, deren er fähig war. Eine Weile stand er ganz hilflos da wie einer, um den die Welt zugrunde geht. Dann fragt er in einem Tone, den man von ihm sonst niemals hören konnte: »Sag, was muß ich denn tun, damit du mir wieder gut wirst?«
Da hatte sie nun ihre heimliche Freude. Sie sah, daß sie nun leicht das erreichen würde, was sie sich vornahm. Daß er nicht gar so schlecht war, als sie gerade behauptet hatte, das wußte sie wohl. Und diesmal wollte sie ihn völlig mürbe machen und ihn sein letztes Unrecht büßen lassen. Zunächst stellte sie sich noch ganz unversöhnlich. »Laß doch alles, was dir doch nicht vom Herzen käme«, sagte sie. »Und geh –«
Er dachte nun nach, womit sie wohl umzustimmen wäre, und begann sie auch gleich, innig schmeichelnd, auszuforschen: »Aber gelt, wenn ich mich doch zu einem milderen Sinn bekehren möcht', dann wirst du mir wieder gut? Wenn ich gleich damit anfinge, daß ich dem Buben das Leid mit Freud' vergält' –«
»Wie könntest du das?« fragte sie, als ob sie kaum an die Möglichkeit einer Sühne glaubte. »Ich kann die Armen da glücklich machen«, entgegnete er. »Ich schenke ihnen ein Stück Feld zu ihrer Hütte und ein Stück Wald, und Geld, soviel ich entbehren kann. Wenn du nur wieder mit mir gehst, so tue ich alles, was du willst.«
»Alles?«
Er schwor.
Da war sie nun versöhnt und zufrieden. »Laß nur mich für die Armen da das Rechte tun«, sagte sie. »Weiter brauchst du dich dann nicht zu demütigen.«
Sie befreite den armen Sepperl. Dann wurde noch gehörige Weihnacht gehalten. Sepperl und die Großmutter brauchten das Christkindlein nicht zu verleugnen. Die junge Bäuerin sorgte dafür, daß die Not in der Hütte ein Ende nahm. Der Fentner wurde deswegen nicht arm. Und die vier Armen fühlten sich dann reich.